Kapitel 2 - Ein neuer Tag
Warme, allerdings auch noch schwache Strahlen der Morgensonne erhellen die Umgebung, ein etwas höher gelegenes Waldstückchen. Von der Anhöhe aus, kann man das Tal, in welchem sich ein Flusslauf, sowie ein kleines Dorf befinden, wunderbar überblicken. In den Getreidefeldern, welche an die Siedlung angebaut sind und die zusammen wie ein riesiges grün-gelbes Meer wirken, sind ab und an mal einige Bewegungen von Tieren, wie Rehe, zu erkennen. Dort, sowie auch hier schwirren zahlreiche Vögel und noch mehr Insekten durch die Luft und gehen ihrem morgendlichen Treiben nach. Auf dem Boden krabbeln tausende von Ameisen und kleinen Käfern und ab und an kann man auch Mäuse über den Waldboden huschen sehen, welche allesamt auf der Suche nach ihrem Frühstück sind. Mit etwas Glück ist es ebenfalls möglich, Eichhörnchen, die sich in den hohen Baumkronen sonnen, sowohl als auch Grashüpfer zu finden, welche absprungbereit, auf Blättern von Bäumen oder Kräutern, warten. Parallel zu den sichtbaren Aktionen, lassen auch die zahlreichen Geräusche, welche die Luft schwängern, den Wald bereits so früh am Morgen schon sehr belebt wirken. Sei es das Zwitschern der Vögel, dass Surren der Insekten, das Klopfen eines Spechtes an einem Holzstamm, das Zirpen der Grillen, das Quaken von Kröten oder auch das Grunzen einer Wildschweinfamilie, welche sich ihren Weg durch den Forst bahnen. Der herrliche, erfrischende Duft von Morgentau auf den wilden Gräsern, Kräutern oder Blumen, wie Farnen, wilden Erdbeeren oder Gänseblümchen, rundet die Waldatmosphäre ab. Wie ein Fremdkörper in dieser Umgebung, steht ein junges Mädchen, in relativ hochwertiger Jagdkleidung, mit Köcher sowohl Bogen und anderen Jagdutensilien, auf der Anhöhe und lässt ihren Blick hinunter ins Dorf schweifen.
Vorsichtig strecke ich meine noch müden Gliedmaßen im mildwarmen Sonnenschein, um sie zurück in Betriebstemperatur zu bringen. Ein weiterer ereignisreicher Tag steht an. Schmunzelnd blicke ich runter in die Siedlung, welche mein nächstes Etappenziel sein wird, da sich meine Vorräte dem Ende neigen und ich die Absicht habe, diese dort wieder aufzufüllen. Ein halber Tagesmarsch bin ich wohl noch entfernt der Mauer, einzelnen Baumstämmen deren oberen Enden gespitzt und die nebeneinander gestellt sind. Vorsichtig greife ich in meine eine Taschen von meiner Jagdjacke, wo meine Hand kaltes, rundes Metall berührt. Mein Notgroschen, den ich immer dabei habe. Nicht viel, aber für ein paar Laibe Brot wird es schon reichen. Kurz seufze ich. Ich werde das Geld wahrscheinlich benutzen müssen, denn zum Eintauschen habe ich nicht viel mehr als einige kleine Hasenfelle. Mit etwas Glück kann ich noch andere tauschbare Waren erlegen, wenn nicht, dann muss ich halt die Silberstücke benutzen. Auf einmal reißt mich ein Piepen von neben mir aus meinen Gedankenspielen und ich drehe meinen Kopf nach links. Auf meiner Schulter, sitzt seelenruhig ein Falke mit auffälligem, silbernem Gefieder und schaut ebenfalls in die Richtung vom Dorf. Irgendwie scheine ich silberfarbige Tiere in letzter Zeit anzuziehen, wie den Fuchs, oder jetzt zum Beispiel den Falke, wundere ich mich. Ebenfalls wirken beide so, als würden sie zu friedlich zu mir stehen, denn keiner der beiden hat mich bisher angegriffen. Nein, stattdessen schaut es aus, dass sie mir irgendetwas sagen möchten. Aber was? Und warum? Oder wer sind diese Tiere? Nach raschem Überlegen schließe ich meine Augen und nicke dem Vogel lächelnd zu. Kurz darauf öffne ich sie wieder, doch er ist verschwunden, ohne einen Laut dabei zu machen. Nicht einmal einen Windhauch konnte ich fühlen. Perplex schüttle ich den Kopf und fixiere wieder das Dorf an. Ein letztes Mal atme ich tief durch, bewege meine Kleidung ein bisschen um festzustellen, dass alles fest hält, und gehe die ersten paar Schritte des noch jungen Tages.
Am späten Nachmittag erreiche ich den Wall der Siedlung. Wie auch von weiterweg zu erkennen war, einige, aneinander gestellte, braune Holzpfähle. Die inzwischen abgekühlte und tiefstehende Sonne taucht die die Umgebung, bestehend aus Gräsern, Feldern und dem Dorf, in einen wunderschönen, goldgelben Schimmer. Dazu kommt noch ein frischer Wind der mich ein wenig erschaudern lässt. Vorsichtig schaue ich den weiteren Weg vor mir an, wo zwei Männer bei dem Durchgang Wache stehen, beide kräftig gebaut und an ihren Gürteln je einen Dolch hängend. Trotz der vorangeschrittenen Uhrzeit hört man von innerhalb der Schutzmauer noch belebtes Treiben, vielleicht bekomme ich die zwei Sachen, die ich erfolgreich gejagt habe, noch an den Mann. Ein Hermelin und ein Kaninchen stehen zu Buche, vor Allem bei ersterem hoffe ich auf ein gutes Geschäft. Meinen Erinnerungen zufolge, habe ich vor kurzen gehört, das Hermelinfelle sehr gefragt unter wohlhabenderen Dorf-und Stadtbewohner sein sollen. Was ich im Gegenzug brauche, ist insbesondere Wasser. Meine beiden Schläuche haben sich inzwischen stark dem Ende zugeneigt, und während des Marschs durch den Wald, konnte ich keine Quelle ausfindig machen, wo ich sie hätte auffüllen können. Ein bisschen Proviant würde auch nicht schaden, einerseits besitze ich noch einige Brocken trockenes Fleisch, doch dies wird auf Dauer nicht reichen. Kurz werfe ich meine Gedanken beiseite und laufe in Richtung der Tore, dessen Distanz ich rasch überbrückt habe und an den Wachen stehe. In meinen Gedanken eine Ausrede eingefallen, die ich eventuell sagen werde.
„Wer bist du und was willst du hier? Für Landstreicher, Huren oder anderes Gesindel haben wir hier keinen Platz“, raunt mich einer der Wachen rüde an. Er, ebenfalls wie sein Partner neben ihm, ein kräftiger Mann mit Bart, die eher den Anschein vermitteln, Bauern zu sein. Dafür spricht auch die Kleidung, die zusätzlich noch den Dolch am Gürtel hängen hat.
„Ich…ich bin auf der Durchreise. Meine Eltern schicken mich zu Bekannten, welche noch zwei Tagesmärsche entfernt sind, zum Arbeiten und ich suche ein Ort, wo ich meinen Proviant aufstocken kann und ein Platz heute Abend zum schlafen“, gebe ich so glaubhaft wie ich kann meine Gedanken wieder und der eine von meinen Gegenüber, vermutlich der etwas schlauere, schmunzelt.
„Hmm, und wofür brauchst du denn den da,“, er deutet auf meinen Bogen, „wenn du nur arbeiten willst?“
„Die Tage aktuell sind gefährlich, vor allem in den Wäldern. Wilde Tiere und Monster zum Beispiel“, entgegne ich ruhig.
„Ja, das stimmt schon. Und du willst wirklich nur die Vorräte auffüllen und morgen dann wieder verschwinden?“, fragt die Wache nach einer kurzen Weile, sich am Unterkiefer kratzend, woraufhin ich nicke. „Gut, du darfst passieren. Derzeit sind einige reisende Händler auf dem Marktplatz, bei denen du Proviant kaufen kannst. Von uns paar Bewohnern kannst du allerdings nicht viel erwarten. Das was wir an Lebensmittel haben, benötigen wir selbst. In der Nähe der Kaufleute ist ein Gasthaus, wo du schlafen kannst. Aber wir werden dich beobachten, solltest du Unfrieden stiften, werden wir dich finden und bestrafen.“ Akzeptierend bewege ich meinen Kopf und betrete, nachdem mir der Mann den Durchlass gewährt hat, die kleine Siedlung.
Seufzend lege ich mich auf die alte Holzpritsche, welche bei jeder kleinsten Bewegung anfängt zu knarzen. Nichts Besonderes und auch schlechtere Qualität als bei uns zuhause, aber es reicht für die Nacht. Wenigstens können ich, sowie die einigen Ratten, die im Schatten über den Holzboden huschen und mit denen ich mir das Zimmer teile, im trockenen schlafen. Als Schutz vor eben diesen kleinen Nagern habe ich meinen Bogen, Proviant und Ausrüstung auf den kleinen Tisch gelegt, welcher als einziges weiteres Möbelstück neben dem Bett und einem Stuhl, im Zimmer steht. Lediglich mein Bärenfell befindet sich nicht da, sondern bedeckt meinen Körper. Bei den Händlern habe ich wie erhofft etwas Nahrung erhalten, drei Laibe Brot, etwas Trockenfleisch und zwei Silbermünzen. Eigentlich habe ich mir mehr erhofft, aber wenn die sagen, dass ein Hermelin und ein Hase nicht mehr wert sind, wird’s wohl stimmen. Die kennen sich im Geschäft aus, nicht ich. In dem Brunnen der Siedlung durfte ich mir meine Schläuche auffüllen und die Nacht im Gasthaus kostet eine Münze. Ich habe also meinen Notgroschen noch vollständig zusammen. In der Siedlung gibt es ebenfalls einen kleinen, vor Witterung geschützten, Platz, wo Leute ihre Gebete sprechen und Opfergaben hinbringen konnten. Insbesondere Demeter und Helios scheinen verehrt zu werden. Eigentlich kein Wunder, wenn man bedenkt, dass das Dorf von der Landwirtschaft lebt und dass Demeter die Göttin von unter Anderem der Landwirtschaft und Helios der Gott der Sonne ist. Auch ich habe eine kleine Gabe verrichtet, zwar lediglich ein Stück von meinem alten Brot, aber mehr besitze ich nicht, was ich abgeben kann und sollten die Götter vom Olymp aus auf uns hinab schauen, dann sehen sie das auch. Gebetet habe ich zu keinem Bestimmten, früher in der Familie war es meist Hestia, die Göttin des Herdfeuers und der Familie, aber derzeit weiß ich nicht, welchen ich anbeten soll. Klar weiß ich, wer für was zuständig ist, aber welcher derzeit für mich am meisten passt, ist ein wenig fraglich. Vermutlich Hermes, als Gott der Reisenden. Götter, ein Thema was mich unheimlich interessiert und ich spannend finde. Für viele mag es normaler Alltag sein, Gaben zu bringen und Gebete auszusprechen, aber meine Faszination hat schon früher begonnen, als mir mein Vater und meine Mutter über sie gelehrt haben. Vor Allem erst genannter erklärte immer, dass das Wissen über die höheren Lebewesen, sowie eine gesunde Götterfurcht sehr wichtig seien. Und ich glaube ihm das, ebenfalls dass die Götter irgendwo in der menschlichen Welt oder auf dem Olymp sind und über uns alle wachen. Mutter, Vater, die beiden Worten tuen in den Gedanken weh. Der Schmerz über ihren, sowie den von meiner kleinen Schwester, Verlust, ist noch zu groß. Wie hat meine Mama früher immer gesagt, ‚die Zeit heilt alle Wunden‘. Vermutlich stimmt das, aber bei mir noch nicht. Vielleicht, wenn ich irgendwann meine Familie gerächt habe. Kurz seufze ich. Das kann aber noch eine gute, lange Weile dauern. Wenigstens habe ich ein kleines Andenken, mit der Strohpuppe, eins der kaum vorhandenen, physischen Erinnerungen an mein altes Leben.
Ein leises Fiepen einer Ratte lässt mich in die Realität zurück schweifen. Herzhaft gähne ich und schließe meine schweren Augen. Ich sollte schlafen, morgen wird ein anstrengender, langer Tag. Meine Reise wird weitergehen, aber nicht wie heute Nachmittag bei den Wachen angegeben zu Bekannten der Familie, sondern zieht es mich wieder in die Natur. Die Siedlung werde ich durch die andere Seite verlassen. Wer weiß, vielleicht finde ich schon zeitnah die Frau der die Stimme und die schattenhafte Person in meinen Gedanken oder Traum gehört hat oder passiert etwas anderweitig Spannendes. Vor Vorfreude auf den folgenden Tag bemerke ich nicht, dass meine Gedanken meinem Körper entfliehen und ich in das Reich der Träume entschwinde.
Vorsichtig öffne ich meine Augen und das erste was meinen Blick fängt sind saftige, grüne Gräser, sowie meterhohe Bäume. Der mir so vertraute, herrliche frische Duft des Waldes dringt in meine Nase und lassen das Gefühl der Heimat in mir aufkommen. Durch einige Lücken im Geäst dringen warme Sonnenstrahlen in den Forst und zieren die Umgebung in einen goldfarbenen Schimmer. Weiches Moos kitzelt meine Beine und durch einen raschen Blick erkenne ich, dass ich an einen Baum angelehnt auf dem Boden sitze. Nur eine Armlänge von mir befindet sich eine große Wiese, auf welcher Millionen von kleinen Blümchen, wie Butterblumen oder Gänseblümchen, in die Höhe schnellen. Ebenso bahnen sich zahlreiche Vögel sich ihren Weg in den Lüften und erhellen diese mit schönen, lautem Gezwitscher. Daneben vernehme ich noch etwas anderes, etwas, was eher meine Aufmerksamkeit erhält. Das Geräusch von platschendem Wasser, welches nicht natürlich, durch ein Wasserfall oder anderem, ist. Nein, ebenfalls aus der Richtung aus dieser ich es vernehme, sind auch einige ausgelassene Stimmen hörbar und es scheint unweit entfernt zu sein. Vorsichtig stehe ich auf und husche lautlos wie eine schleichende Katze an das Gehörte heran, doch bleibe hinter einem breiten Baum stehen um hinter ihm zu spähen. Schnell steigt mir die Schamesröte ins Gesicht. Unweit entfernt in einem See baden nackt einige schöne, weibliche Gestalten im Wasser, planschen und reden ausgelassen miteinander. Die, meiner Ansicht nach, Schönste allerdings, befindet sich eher etwas außerhalb und scheint die Mädchen vor ihr zu beobachten. Lange, silberne Haare fallen ihr den Schultern hinab und sie hat einen schlanken, femininen Körper, der seinesgleichen sucht. Auf einmal blickt sie genau in meine Richtung und mir gefriert das Blut in den Adern. Was passiert jetzt? Was wird sie machen, wenn sie bemerkt, dass ich sie und ihr Gefolge heimlich beobachtet habe. Wenn sie mich überhaupt sieht. Wird es so Enden, wie damals in der Scheune und meiner Familie? Panisch überlege ich mir, was ich nun tun soll, als ich erkenne, wie die hübsche Frau sich wieder von mir wegdreht, woraufhin mir ein großer Stein vom Herzen fällt. Erleichtert schließe ich meine Augen und atme tief durch.
Als ich meine Augen wieder öffne, hat sich die Umgebung verwandelt. Nun befinde ich mich nicht mehr an einem See, aber ebenfalls in einem Wald in einer Art Camp. Die Sonne ist bereits unter gegangen und lediglich der silbrige Schein des Halbmondes erhellt zusammen mit einem Lagerfeuer die finstere Nacht. Kurz blicke ich mich um. Einige Mädchen sitzen um das Feuer herum im Kreis und direkt links von mir sehe ich die Hübsche vom See, welche gedankenverloren in die Mitte schaut. Trotz der Wärme die von dort aus verstrahlt wird, erfasst mich ein kühler Luftzug, woraufhin ich mir die Decke näher an den Leib presse. Ab und an ist heulen eines Wolfes oder der Laut eines Uhus vernehmbar, doch regelmäßig hört man nur das leise Knacken des brennenden Holzes. Vorsichtig drehe ich meinen Kopf ebenfalls in Richtung der Mitte, in das Züngeln der Flammen in warmen gelb, orange und Rottönen. Und, auch wenn es nur ein Hirngespinst sein mag, es scheint, dass in den Flammen ab und an ein Gesicht zu erkennen ist. Der würzige Geruch vom Feuer, gepaart mit dem frischen von den wilden Gräsern und Pflanzen, erwecken in mir etwas Vertrautes. Eine friedliche Atmosphäre, dann noch in Gesellschaft und Natur, es fühlt sich so richtig an. So sollte es sein, das ist Heimat für mich. Zwar kein fester Wohnsitz aber zusammen mit anderen. Meine Lippen umspielt ein Lächeln ehe ich meine Augen zufrieden schließe.
Sanft erwache ich in einem unbequemen, harten Bett und strecke meine müden Arme und Beine. Lächelnd setze ich mich auf die Kante und denke an vergangene Nacht. Die Träume, so real, wie das letzte Mal und auch jetzt, nach dem Schlaf, kann ich mich noch an jedes kleinste Detail erinnern. Doch es sind schöne Gedanken, irgendwo auf jemanden zu treffen, denen es ähnlich wie mir ergangen ist und auch mit diesen zu reisen und zu leben, in einer Gemeinschaft. Doch wie finde ich diese und wer sind sie? Ein leises Piepen reißt mich in die Realität zurück. Doch es wäre schön auf diese zu stoßen, vielleicht finde ich sie ja mal zufällig. Kurz seufze ich. Erstmal müsste ich mich wieder auf die Reise begeben. Mit flinken Schritten gehe ich zum Tisch in meinem Zimmer und mache mich abreisefertig, währenddessen ich ein Stückchen trockenes Brot verspeise. Ist jetzt zwar nicht das tollste, aber es reicht. Eine kurze Weile später stehe ich fertig, in meiner Jagdkleidung, mitsamt Köcher, Bogen und dem Beutel, im Raum und schaue zur Sicherheit erneut, ob ich alles dabei habe, was dem so ist. Ein letztes Mal atme ich tief durch, ehe ich mein Zimmer verlasse und einen weiteren, neuen Tag von meiner Reise starte.