Kapitel 2:
Eine Weile schon stehe ich neben der Pforte im Central Park, welche in die Unterwelt führt, und starre nachdenklich hinein. Fünf Tage sind mittlerweile vergangen. Fünf Tage nachdem Perseus und ich unseren ersten Kuss geteilt haben. In diesen vergangenen Tagen sind wir uns noch einmal sehr viel näher gekommen und unsere Zuneigung zueinander hat sich um ein vielfaches erhöht. Wir haben im Lichte des Mondes romantische Abende zu zweit an einer abgelegenen Stelle am Strand verbracht. Sehnsüchtig starrten wir auf das Wasser, teilten Küsse miteinander und genossen die Nähe zueinander. Oft saß ich auf seinem Schoß und lehnte mich an seine Brust, während er gegen einen Felsen angelehnt war und seine Arme um meinen Körper legte. Am liebsten würde ich mich für immer in seinen warmen und schützenden Armen verlieren. Später gingen wir in meine Hütte im Camp und schliefen dort rasch eng aneinander gekuschelt ein, noch ohne dass wir unsere Körper vereinigt haben. Ich war bisher noch nicht bereit dafür, aber er gab mir alle Zeit der Welt, bis ich das irgendwann wäre. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. In der Zeit, die wir mittlerweile schon zusammen teilen, ist mir eines immer klarer geworden. Percy ist der erste und einzige Mann, den ich meinem ganzen Leben lieben werde. Er ist so … charmant, süß, aufmerksam. Auch wenn ich das offen nie aussprechen würde und es sehr selbstsüchtig klingt, ich bin Annabeth dankbar. Dankbar, dass sie und Percy sich getrennt haben und ich die Möglichkeit habe, ihn als meinen Freund zu haben.
Leise seufzend schweife ich in die Gegenwart zurück. Es gibt einen Grund weshalb ich neben der Pforte stehe. Ich suche eine Göttin, die mir als einzige bei einer Sache helfen kann. Nach der heutigen Zusammenkunft der Götter auf dem Olymp, habe ich mich ein wenig mit Kore* unterhalten. Sie hat mir geraten auf der Suche nach der gewissen Göttin mit Charon zu sprechen, den Fährmann des Totenreichs.
Ich mag die Unterwelt nicht. Alles darin ist so trostlos und dunkel. Aber ich muss nun mal hinein, für mich und auch für Percy. Es hinauszuzögern macht keinen Sinn, besser ich bringe es schnell hinter mich, als noch ewig zu warten. Leise seufze ich erneut. Dann betrete ich die Unterwelt und nach einem kurzen Moment erkenne ich alles, was ich in ihr hasse. Ich befinde mich auf einem fünf Meter breiten Weg wieder, welcher noch einige Meter, wenn nicht Kilometer, weiter führt. Ringsherum sind Flächen auf denen sich nur einzelne spitze Steine befinden und die wie Zähne angeordnet sind. Vielleicht sind es auch Zähne, herausfinden möchte ich das nicht. Nirgendwo wächst Gras, nicht mal eine einzige Blume. Und dazu diese Kälte. Zudem gibt es kein Sonnenlicht, nur ein gedämpftes, düsteres Licht, welches der Unterwelt ebenfalls eine bedrohlichen und ausladende Atmosphäre verleiht. Ich bewundere Kore dafür, wie sie es schafft, hier mit Hades zu wohnen. Mit meiner linken Hand umgreife ich mir fest den Knauf meines Dolches aus himmlischer Bronze, den ich mir zur Sicherheit mitgenommen habe, und gehe los. In der Ferne höre ich das Rauschen eines Flusses. Dieser Fluss hat aber kein Wasser, er besteht aus Gift. Alles hier ist Gift. Die Steine, der Boden, die Flüsse … alles. Tödliches Gift, selbst wir Götter sind vor ihm nicht ungeschützt. Bei uns verdirbt es den Charakter. Kore ist sehr freundlich und nett, doch das Gift der Unterwelt hat sie verbittert und teilweise verdorben. Aber ich muss hier her, eine große Last ablegen. Mein Ziel ist der Fluss, dort werde ich bestimmt Charon finden. Also gehe ich weiter, Meter für Meter. Die Umgebung um mich verändert sich nur gering, einige Steine sind dunkler geworden. Ich weiß schon jetzt nicht mehr wie lange ich hier bin. Ein paar Minuten erst? Schon ein paar Stunden? Oder sogar schon einen ganzen Tag? Trotzdem gehe ich weiter. Weil ich es muss. Spontan erscheint in meinen Gedanken ein Bild von Percy, auf dem er herzlich und liebevoll lächelt. Obwohl es nur ein Gedanke ist, gibt es mir Kraft. Kraft dafür, diesen Weg weiterzugehen und mich nicht zurück in den Olymp zu teleportieren. Nach einer Weile fühle ich, wie ich eine magische Barriere durchbreche. So ähnlich wie im Camp Half-Blood. Nur dass es hier nicht freundlicher und wärmer, sondern noch mehr feindselig und kühler wird. Noch fester umfasse ich meinen Dolchknauf, sodass mir schon meine Hände schmerzen. Doch ich gehe weiter. Vereinzelt laufen jetzt Geister herum und einige blicken mich verachtend und bedrohend an. Mittlerweile bin ich fast an dem Fluss angekommen. Plötzlich versucht mich ein Geist mit zusammengeballten Fäusten voller Wut anzugreifen. Blitzschnell zücke ich meinen Dolch um ihm zuvorzukommen, doch die Klinge geht … durch den Körper? Entsetzt blicke ich auf die Klinge und den Geist und werde kurz darauf von einem grimmigen, tiefen Lachen überrascht. Hastig drehe ich mich in die Richtung aus der das Lachen kommt und erkenne einen Mann, hinter dem sich ein kleines Boot befindet. Er ist ungefähr genauso groß wie ich, jedoch ist er dürr und man sieht im Gesicht deutlich seine Knochen. Seine Haare verdeckt von einem schwarzen Umhang und dort wo eigentlich Augen seien müssten, sind nur leere Höhlen. Das muss wohl Charon sein.
„Sie sind schon tot, du kannst sie nicht mehr verwunden, sie dich aber auch nicht“, spricht der Mann mit einem amüsierten Unterton, seine Stimme hart und kalt. Perplex schaue ich tief in seine leeren Augenhöhlen. Scheinbar hat er das bemerkt, denn er fängt erneut an zu lachen. „Was willst du hier, Göttin? Du kannst dich überall hinteleportieren, wohin du willst. Was willst du also hier, ich denke nicht, dass du freiwillig hier bist“, fragt er mich nun direkt mit seiner tiefen, rauen Stimme.
„Ich suche Styx“, entgegne ich ihm knapp, woraufhin er wieder kurz auflacht.
„Den Styx also“, antwortet er mir und dreht sich um. Mit einem knochigen Finger deutet er über den Fluss, auf welchem sich auch das Boot befindet. „Das ist der Styx, meine liebe Göttin des Herdes, das alles.“
„Nein. Nicht den Styx, sondern die Styx, die Göttin“, erwidere ich ihm inzwischen auch leicht angesäuert. „Kannst du mich zu ihr bringen, mein Lieber Charon?“, das ‚mein Lieber‘ mit vollem Sarkasmus in der Stimme ausgesprochen.
„Woher willst du wissen, dass ich weiß, wo sie ist?“, die Frage mit unechter Neugier gesprochen. Inzwischen erblicken seine leeren Augenhöhlen nicht mehr mich, sondern eine Stelle auf seiner linken Hand.
„Komm schon, halte mich nicht für blöd. Du bist der Fährmann der Unterwelt, du kennst den Fluss. Du weißt auch, wo sich Styx momentan aufhält“, entgegne ich ihm mit deutlich zu hörender Wut in meiner Stimme. Doch er lächelt nur. Es ist kein freundliches, es ist ein selbstgefälliges und mich verspottendes Lächeln, was meine Wut noch mehr anfeuert. Tief in meinen Gedanken höre ich die warme Stimme Percys, die mir rät, ruhig und besinnt zu bleiben und augenblicklich vermindert sich meine Wut ein wenig.
„Nun gut. Nehmen wir einmal an, ich wüsste tatsächlich wo Styx ist; was hätte ich davon, wenn ich dich zu ihr bringen würde?“, fragt er mich mit einem arrogantem Lächeln, bei dem man seine vergilbten Zähne gut sehen konnte. Was ein unsympathischer Mann. Kore wurde durch das Gift der Unterwelt nur wenig verdorben, Charons Charakter allerdings von ihm vollständig zerfressen. Ich habe gewusst, dass er mich nicht einfach so zu Styx bringen würde, nur weil ich eine Göttin bin, gehofft habe ich es allerdings. Zur Absicherung habe ich mir einen Beutel voller goldener Drachmen eingesteckt, da Gerüchte kursieren, dass Charon leicht bestechlich sei. Zähneknirschend, aber stumm, greife ich in meine Jackentasche und hole den Beutel hervor. Es ist eine Menge, 50 Drachmen, aber das ist es mir wert. Noch immer stumm werfe ich ihm den Sack entgegen. Neugierig öffnet er die Schnur, welche ihn zusammenhält und schaut in den Beutel. Als er den Inhalt erblickt, fällt ihm die Kinnlade hinunter und nach einem Moment der Bewunderung besteigt er sein Boot und deutet mir an, es ihm gleichzutun. Ohne ein Wort zu sagen, steige ich auf das Boot, welches sich sanft auf dem flüssigen Gift des Styx wiegt. „Dann wollen wir mal“, entgegnet Charon mir auf einmal in einem freundlichen und versöhnlichen Ton und fängt an zu paddeln.
Nach einer Weile legt Charon dann das Boot an. Es war eine langweilige und unspektakuläre Fahrt. Ich habe mir für mein kommendes Gespräch mit Styx meine Gedanken geordnet und mir überlegt, was ich sagen werde.
„So, ich denke wir sind quitt. Da vorne ist sie“, spricht Charon plötzlich und deutet in eine Richtung, in der sich unweit entfernt eine Frau befindet, die an einen Felsen gelehnt auf den Fluss starrt. Leise flüstere ich dem Mann neben mir ein Danke zu, und laufe auf Styx zu. Meine Anspannung inzwischen fast greifbar, gehe ich, während ich laufe, erneut durch, was ich sagen möchte. Als ich angekommen bin, blickt sie immer noch, wie eine Statue auf ihren Fluss, vielleicht hat sie mich noch gar nicht bemerkt.
„Hallo Lady Styx“, versuche ich das Gespräch zu beginnen in der Hoffnung, dass sie reagiert. Langsam dreht sie ihren Kopf zu mir und ich erkenne in ihren Augen einen merkwürdigen Glanz.
„Lady Hestia, welch Überraschung. Dann seid Ihr doch real“, entgegnet sie mir und streicht sich ein widerspenstiges, schwarzes Haar aus ihrem schönen Gesicht.
„Wie meint Ihr das?“, frage ich sie neugierig.
„Lassen wir doch diese dämlichen Anreden und das Ihr“, sagt sie warm lächelnd, woraufhin ich akzeptierend nicke. „Nun Hestia, wie du weißt bin ich ebenso der Fluss und weiß was an allen meinen Ufern passiert. Ich spüre schon eine Zeit lang, dass du hier bist, aber ich habe geglaubt, dass du nur ein Streich meiner Gedanken bist. Es ist schön, dass dies nicht so ist“, erwidert sie mir flüsternd und in ihren Augen spiegelt sich tiefe Traurigkeit und Einsamkeit.
„Du wurdest schon lang nicht mehr besucht, nicht wahr“, stelle ich leise, mitfühlend fest.
„Ja“, entgegnet sie seufzend, woraufhin ich die andere Göttin einmal kurz, fest umarme. „Danke“, flüstert sie mir leise zu.
„Styx, komm doch mal Percy und mich auf dem Olymp besuchen. Es würde dir gut tun, hier mal für ein paar Stunden rauszukommen“, biete ich der Göttin mir gegenüber an und sie mich überrascht anschaut.
„Der Percy? Percy Jackson, der Sohn des Poseidon?“, fragt sie mich perplex, woraufhin ich kichernd nicke und sie mich verstehend anlächelt. „Ich freue mich für dich, dass du in all den Jahren jetzt einen Partner gefunden hast, der dich liebt. Er ist ein guter Kerl, das hab ich gespürt als er in meinem Fluss gebadet hat“, antwortet sie mir mit voller Ehrlichkeit in ihrer Stimme, wovon ich leicht erröte. „Ich schätze ich weiß jetzt auch, was dein Grund ist, hierher zu kommen“, sagt sie zu mir mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht.
„Richtig. Ich möchte dich gerne bitten, dass du meinen Schwur auf deinen Namen, von mir nimmst, den ich von Äonen von Jahren geschworen hatte. Ich hatte damals geglaubt, dass ich niemanden finden werde, den ich liebe und der auch diese Gefühle erwidert, weshalb ich geschworen hatte, für immer jungfräulich zu bleiben. Doch nun ist es anders gekommen. Percy und ich lieben uns sehr und irgendwann möchte ich mich auch mit ihm körperlich vereinigen. Bitte Styx, bitte nehme meinen Schwur von mir“, tu ich der Göttin gegenüber mir, mit puderroten Kopf kund, woraufhin sie leise kichert.
„Dann soll es so sein. Ich, Styx, Göttin der Schwüre und des mir benannten Flusses, nehme somit den Schwur der Jungfräulichkeit von Hestia, der Göttin des Herdes“, entgegnet sie mir lächelnd und schnippt mit ihren Fingern. Auf einmal spüre ich ein sanftes Kribbeln unter meiner Haut und es fühlt sich so an, als sei eine große Last von mir abgefallen. Leise hauche ich Styx ‚Danke‘ zu und umarme sie ein weiteres Mal fest.
„Und Hestia. Ich werde dein Angebot, dich und Percy zu besuchen dankbar annehmen. Aber nun geh, geh zu deinem Liebsten“, fügt die Göttin warmherzig hinzu. Mit einer weiteren Umarmung verabschieden wir uns und ich teleportiere mich in meinen Tempel auf dem Olymp, wo ich bereits Perseus erkenne, der auf der Couch sitzt und in die züngelnden Flammen im Ofen starrt. Lächelnd gehe ich auf ihn zu.