Woher diese Aussagen? SARS und MERS sind beides Coronaviren und standen sehr wohl im öffentlichen Fokus. Und nur weil es "Coronaviren" schon lange gibt, bedeutet das nicht automatisch, dass jede Mutation ungefährlich sein muss. Die virologische Klassifikation eines Virus ist für dessen Letalität vergleichsweise irrelevant.
An SARS sind 774 Menschen weltweit gestorben (zu lesen auf Wikipedia). An MERS 538 (zu lesen auf statista.com). Beides Coronaviren. Beides damals "sehr schlimm" und "gefährlich" betitelt.
Ich will jetzt gar nicht groß auf die ganzen, unwissenschaftlichen Dinge, den du hier von dir gibst, eingehen, aber das Argument ist so dumm, dass ich es so nicht stehen lassen kann. Dir ist bewusst, dass diese Krankheiten erwiesenermaßen beide über 10% der Leute, die an ihnen erkranken, töten? Und dir ist auch bewusst, dass die geringen Opferzahlen nur dadurch zustande kommen, dass sich die Viren im Gegensatz zu Sars-CoV-2 eben nur schwer oder gar nicht von Mensch zu Mensch übertragen lassen? Das konnte man aber als die Krankheiten neu waren noch gar nicht wissen, also war SARS-1 2002 definitiv "gefährlich". Wenn sich SARS-1 so hätte verbreiten können wie Sars-CoV-2 wären unsere jetzigen Maßnahmen ein Witz dagegen gewesen.
Dein Argument ist in etwa dieses: "Russisches Roulette ist ungefährlich. Sicher stirbt daran einer von sechs Menschen, aber es wird ja nur selten gespielt. Deswegen kann man gerne Russisches Roulette erlauben, auch wenn es dann häufiger gespielt wird, denn es ist ja jetzt gerade selten." Warum das logisch absolut verquer ist, sollte dir eigentlich klar sein, und wenn es dir nicht klar ist, bist du leider nicht mehr zu retten und wir sollten deine abstrusen Theorien von nun an ignorieren.
Damit, dass nicht bekannt ist, wie viele Menschen an Covid-19 tatsächlich versterben, sprichst du allerdings durchaus einen wunden Punkt an, dazu aber gleich.
Ich wollte nun nämlich kurz meine Eindrücke von der Pressekonferenz mitteilen. Offen gestanden bin ich ziemlich ernüchtert. Das liegt nicht daran, was genau verkündet wurde - ich hatte exakt mit einer Öffnung kleinerer Geschäfte gerechnet und habe recht behalten. Die Art und Weise der Verkündung stößt mir allerdings ungemein sauer auf. Primär stören mich Formulierungen wie "dass erst ein Impfstoff oder ein Medikament die Epidemie beenden kann", verbunden mit einem "kleinen Spielraum für Lockerungen". Stattdessen wurde davon geschwafelt, dass wir uns bis auf weiteres an eine "neue Normalität", an das "Leben in der Pandemie" "gewöhnen" müssen. Das klang teilweise arg defätistisch, und verfassungsrechtlich halte ich diese Narrativen schlichtweg für unakzeptabel. Die Lage ist nicht "normal", und sie wird nie "normal" sein. Wir dürfen uns nicht an diese beispiellosen Einschränkungen unserer Grundrechte gewöhnen, denn wenn Politiker so reden, ist unser Rechtsstaat in Gefahr. Und langfristig ist das deutlich gefährlicher als diese Epidemie.
Wir müssen uns bewusst machen, dass kein Mensch weiß, wann und ob es derartige Impfstoffe und Medikamente geben wird. Wenn es schnell geht, gibt es vielleicht in einem Jahr einen Impfstoff und vielleicht sogar schon im Herbst ein Medikament oder eine wirkungsvolle Therapien mit Antikörpern. Das sind aber keine Garantien. Um so wichtiger ist es, dass die Politiker sich jetzt Gedanken darum machen, wie man die grundgesetzlich garantierten Freiheiten möglichst schnell - unter Abwägung der Gefahren für Leib und Leben durch Covid-19 - wieder gewährleisten kann. Und da kommen neben einem Impfstoff noch andere Ansätze in Betracht. Einerseits die schnelle Nachverfolgung und Eindämmung der Krankheitsfälle, um R bei einer weitestgehenden Beibehaltung unseres normalen Lebens dauerhaft unter 1 zu drücken. Das ist, wenn ich gestern richtig verstanden habe, zur Zeit das erklärte Ziel der Regierung. Wir sind davon aber bei aller Liebe, selbst wenn wir weiter Großveranstaltungen verbieten, weit entfernt. Andererseits lässt sich Herdenimmunität auch durch Durchseuchung der Bevölkerung erreichen, ein Ansatz, der durchaus auch von führenden Virologen (Kekulè) angedacht wird, gestern aber überhaupt nicht vorkam.
Die Entscheidung, welcher dieser Ansätze letztlich verhältnismäßiger ist, kann noch nicht getroffen werden. Dazu wissen wir einfach noch zu wenig über das Virus. Das kann ich der Politik aber kaum nachsehen, denn ich hatte gestern nicht den Eindruck, dass hier großartig versucht wird, Erkenntnisse zu gewinnen. Ich bin überzeugt, dass das RKI etwa bis jetzt noch keine Dunkelzifferstudie in Auftrag gegeben hätte, wenn Laschet in Heinsberg nicht vorgeprescht wäre. Mir persönlich - und jetzt kommt wieder die juristische Perspektive - fehlen einfach noch extrem viele Daten, um eine Abwägung der Verhältnismäßigkeit zu treffen.
- Zum einen wissen wir noch nicht genau, wie tödlich Covid-19 tatsächlich ist. Die Studie aus Heinsberg liefert da mit einem Wert von 0,37% einen ersten Anhaltspunkt. Bei aller Kritik an der Studie erscheint mir das auch realistisch, denn der Wert bewegt sich in der Spannweite von 0,3% bis 0,7%, die führende Virologen von Anfang an vorhergesagt haben. Wenn wir das für den Fall einer Durchseuchung mal auf Deutschland hochrechnen, kommt man da auf etwa 200.000 Tote. Eventuell weniger, wenn es uns gelingt, Risikogruppen zu isolieren und die Behandlung zu verbessern, deutlich mehr, wenn das Gesundheitssystem überlastet wird.
- Apropos Risikopatienten. Wir wissen auch noch nicht, wer überhaupt Risikopatient ist. Behauptungen, dass Risikopatienten nicht isoliert werden können, beruhen meiner Ansicht nach - ich bin wie gesagt kein Virologe - also auf einer unvollständigen Tatsachenlage. Ich persönlich habe da offen gestanden schon Fragen und Zweifel. Beispiel Asthma. Angeblich eine Risikokrankheit, und zwar eine, die oft seit der Kindheit vorliegt. Wenn man sich die Daten ansieht, scheint die Sterblichkeit auch bei Asthmatikern unter 40 aber gering bis nicht vorhanden zu sein. Das deckt sich auch mit den Ergebnissen aus Italien, die in über 50% der Todesfälle nicht nur eine, sondern zwei oder sogar drei Vorerkrankungen aufweisen. Da wird man doch sicher mal eine ausreichend große Stichprobe an Einzelfällen untersuchen und Daten zu den Krankheitsverläufen veröffentlichen können?
- Ein drittes Problem, und hier greifen leider auch Verschwörungstheoretiker einen wunden Punkt an, ist tatsächlich die Frage, wie viele Menschen an und wie viele Menschen nur mit Covid-19 versterben. Exzessmortalitäten jedenfalls gibt es bis jetzt nahezu ausschließlich in Staaten, in denen entweder die medizinische Versorgung teilweise zusammengebrochen ist (Italien, Spanien, Frankreich) oder in Staaten, die viel zu lange bedingungslos auf das Konzept der Herdenimmunität gesetzt haben (Niederlande, England). Auch der auf den ersten Blick astronomische Wert von über 15% aller 80-Jährigen, die an Corona sterben, relativiert sich recht schnell, wenn man die Dunkelziffer berücksichtigt und bedenkt, dass jeder 80-jährige sowieso eine 9%-Chance hat, seinen 81. Geburtstag nicht zu erreichen. Corona erscheint in vielen dieser Fällen tatsächlich eher wie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das heißt wohlgemerkt nicht, dass diese Leute ohne Corona auch jetzt gestorben wären. Es ist aber durchaus denkbar, dass sie im Laufe dieses oder des nächsten Jahres an etwas anderem gestorben wären und sich die Exzessmortalität bezogen auf das gesamte Jahr im Herbst wieder angleicht. Letztlich läuft das auf das unschöne Tirage-Argument hinaus, dass in einer Pandemie absoluter Lebensschutz kaum zu gewährleisten ist und man deshalb schon sehen muss, wie viel qualitativ hochwertige Lebenszeit man da eigentlich rettet. Dass dieses Argument unschön ist, ist aber leider kein Grund, es zu ignorieren.
- Viertens wissen wir auch zu wenig über die anderen Folgen der Coronakrise. Etwa lässt sich recht genau berechnen, wie viele Menschen wohl an den Folgen der Depression sterben werden, wie viele Menschen an den starken psychischen und sozialen Folgen sterben werden lässt sich zumindest schätzen. Ganz zu schweigen von den gravierenden, wenn auch nicht tödlichen Effekten, die entstehen würden, würde man die Menschen jetzt über ein Jahr in ihrer Entwicklung bremsen. Die drei Monate bis zu den Sommerferien mögen ja geschenkt sein, aber spätestens für das nächste Schuljahr brauchen wir ein Konzept, Unterricht normal (!) zu gestalten. Denn für eine Krankheit, deren durchschnittliche Opfer 80-jährige Vorerkrankte sind, Millionen an Schülern ein Jahr in ihrer Entwicklung zurückzuwerfen, erscheint mir offen gestanden kaum verhältnismäßig.
- Und fünftens, und das halte ich fast für den wichtigsten Aspekt, müssen auch die sozialen Folgen erwogen und abgewogen werden. Wir bewegen uns hier gerade auf einen gigantischen Generationenkonflikt zu, dessen Ausmaße sich mir kaum erschließen. Alle Menschen unter 50, deren persönliches Risiko durch Corona selbst nachweisbar gen null geht, werden gerade zum Schutz der älteren Generation erheblich in ihrer persönlichen Freiheit beschnitten. Ich bin zugegebenermaßen auch persönlich betroffen und gehe davon aus, dass das keine 18 Monate lang gut geht. Ich habe Bekannte, die schon jetzt Entzugserscheinungen von der Disko haben. Und während ich da nur den Kopf schütteln kann, wollte ich persönlich dieses Jahr mein Studium abschließen und mit dem Referendariat beginnen. Und wenn ich das jetzt im September nicht kann, verzögert sich meine gesamte Lebensplanung erheblich und ich habe letztlich weder wirtschaftlich noch sozial Aussichten auf Besserung. Und das geht nicht nur mir so, das passiert dann sehr vielen Leuten unter 30. Die wird man nicht lange mit der diffusen Aussicht auf einen Impfstoff vertrösten können, sondern die werden sich irgendwann gegen aus ihrer Sicht unverhältnismäßige Maßnahmen wehren. Und das kann sehr schnell unschön werden.
Eins muss uns halt klar sein: An Covid-19 werden auch in Deutschland noch zehntausende Menschen sterben. Das lässt sich nicht mehr verhindern. Wir müssen unser bestes tun, möglichst viele Leben zu retten, aber letztlich können wir wohl nur festlegen, ob wir jetzt direkte oder später mittelbare Corona-Tote haben werden. Mittelbare Tote haben natürlich für die Politik den Vorteil, dass sie nur berechenbar, nicht aber zählbar sind. Dadurch kann man sie den Politikern schwerer zurechnen. Es können aber halt dennoch mehr sein, als wir sie jetzt durch Corona kriegen. Deshalb erwarte ich von unseren Politikern in der Krise, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen, auch wenn diese gerade unpopulär sein mögen.
Ich habe in meinem ersten Beitrag in diesem Thema gesagt, dass ich es für richtig halte, der Politik bis zum 20. April Zeit für eine Neubewertung der Lage zu geben. Ich muss nunmehr ernüchtert feststellen, dass eine derartige Bewertung kaum geschehen ist. Stattdessen scheint hier der Versuch unternommen zu werden, Maßnahmen als alternativlos hinzustellen, von denen wir noch gar nicht wissen (können), ob sie alternativlos sind. Auf der derzeitigen Faktenbasis lassen sich keine endgültigen Aussagen treffen, und ausreichende Anstrengungen zur Schaffung einer solchen Faktenbasis lassen sich nicht erkennen. Wenn die im Hintergrund geschehen, dann soll mir das recht sein. Wenn es aber nur darum geht, unsere Regierung vor unpopulären Entscheidungen zu schützen, so ist das ziemlich sicher verfassungswidrig. Und das werden auch die Maßnahmen bald sein, wenn sich die Faktenbasis nicht ändert. Wie sich die Lage weiter entwickelt, werden wir natürlich erst in den nächsten Wochen sehen. Ich persönlich habe kein Problem damit, noch den ganzen Mai und Juni zu Hause zu bleiben, wenn danach eine klare Linie ersichtlich ist.
Was also erwarte ich in dieser Zeit von der Politik? Ich erwarte zunächst, dass sie die Beantwortung der von mir oben aufgeworfenen Fragen prioritisiert wird. Und dann möchte ich, dass Konzepte erarbeitet werden. Ein einfaches "man kann Risikogruppen nicht schützen" oder "man muss auf den Impfstoff warten" genügt mir nicht. Man muss sehen, ob eine Immunisierung auf anderen Wegen möglich ist, wie man Risikogruppen möglichst gut isolieren kann und wie man eine Überlastung der Krankenhäuser verhindern kann. Nur um mal ein konkretes Beispiel zu nennen, muss man sich zum Beispiel überlegen, ob es einen Sinn hat, etwa Ferienlager zu verbieten. Denn dort sind in der Regel fast ausschließlich Kinder und Jugendliche, deren persönliches Risiko ausgesprochen gering ist und die deshalb im Falle einer Ansteckung recht problemlos zur Durchseuchung beitragen können. Durch Tests könnte dann auch sichergestellt werden. dass sie niemanden sonst anstecken. Das erscheint mir also zum Beispiel ein Konzept zu sein, das gleichzeitig jungen Menschen den Alltag ermöglicht und virologisch sogar sinnvoll ist.
Es kann durchaus sein, dass viele Konzepte dann verworfen werden, weil ein Shutdown selbst über ein Jahr geringere Folgen hat. Aber sie müssen dennoch erarbeitet und diskutiert werden, um Politik und Bürgern eine unvoreingenommene Entscheidung über die weiteren Maßnahmen zu ermöglichen.