Einsicht - Aussicht - Weltsicht
Eine Depression ist nicht anstrengend. Man hat ja gar keine Energie, die abgezweigt werden könnte. Da ist nur Leere. Eine schwere, dunkle Leere, die einen runter zieht. Eine Kälte tief in meinem Inneren. Dort, wo kein Sonnenstrahl je hinkommt und wohin niemand gehen mag. Es ist einsam dort. Still und reglos. Mein Herz schlägt dort nicht mehr. Es schweigt und blutet vor sich hin. Manchmal vergesse ich diese Welt. Ich drehe mich um, schaue in eine andere Richtung und erlebe eine Pause. Ein Durchatmen, ein wenig Licht bevor der Vorhang wieder fällt.
Ich bewege mich auf einer Bühne im Dunkeln. Die Zuschauerränge sind leer; milchiges Licht dringt durch ein kleines Loch in der Wand. Überall liegt Staub, der Putz bröckelt. Ich kann mich nicht erinnern, wann das letzte Mal jemand hier war – ob überhaupt jemals jemand hier war – und was ich hier eigentlich tue. Ich tanze und singe ohne das jemand es sieht. Der einzige, der mit mir auf der anderen Seite des Vorhangs steht, ist mein Bruder. Er sieht mir lächelnd zu, aber er sagt nichts. Denn alles, was er sagen würde, wäre nur das Echo seiner Stimme, das auch nach zwei Jahren noch in diesem einsamen Theater nachhallt.
Seine Umarmungen sind nur vage Erinnerungen; alles was bleibt, ist ein blasser Dunst, ein weicher Schatten, der sich meinem Griff entzieht. Nichts, was ich hier berühre, ist real. Die Luft ist erfüllt von einer zarten Sehnsucht, die der Härte der Wirklichkeit nichts entgegenzusetzen vermag. Die Worte bleiben mir immerzu im Hals stecken; so oft schon wollte ich sie freilassen. Doch immer dann, wenn sie mir bis auf die Zunge rutschen, bemächtigt sich meiner die Erinnerung daran, dass keines meiner Worte je so genommen, so gehört wurde, wie ich es wollte.
Eine innere Ruhe überkommt mich. Eine Art Friede. Ein kleines Lächeln nur für mich. Vielleicht wird mich niemals jemand hier singen hören, tanzen sehen. Aber ich werde dennoch weiter singen und tanzen. Es ist doch nur ermüdend mit Gewalt gegen diese Schwere anzugehen. Der Staub, die Dunkelheit, die Kälte und die Einsamkeit wohnen hier. Immer wieder kriechen sie zurück und krallen sich in meinem zerrissenen Herzen fest – treiben ihre Klauen tief in das empfindliche Fleisch.
Hier schneit es immerzu. Aber ich kann das reine Weiß nicht sehen; es vermischt sich mit dem Staub und das fehlende Licht lässt mich nicht einmal die Flocken erkennen. Ich kann meine eigene Stimme nicht hören, denn nichts wirft sie zurück. Hier unten herrscht absolute Windstille ganz gleich wie chaotisch es um mich herum zugeht. Akzeptanz. Sie bringt ein klein wenig Wärme und erinnert mich daran, nicht zu vergessen, was ich geschafft habe. Es mag nicht viel sein und so vieles hätte besser und schöner gemacht werden können.
Gleichzeitig hätte es in so vielen Momenten für immer zu Ende sein können. In all den Momenten, in denen der Schmerz unerträglich wurde. Diesen Momenten, in denen die Welt ein besserer Ort ohne die eigene Existenz erschien. Diese Momente verräterischer Stille, die ihre Messer rücksichtslos in den Rücken stießen, der sich unter Verzweiflung krümmte. Momente, die so viele Tränen kannten, dass die Schultern ganz wund wurden. Ob es nun die Hoffnung auf bessere Zeiten oder die Angst vor dem Ende war – irgendwas türmte sich wie eine unsichtbare Mauer auf und verhinderte den einen letzten Schritt, der den Abgrund hinab führt.
Vielleicht liegt hier der größte Schatz verborgen. Das eine Geheimnis. Die Antwort auf die Frage, was meinem Leben Sinn verleiht. Eine ruhige Wasseroberfläche, die nur selten in kleinen Wellen kräuselt. Unendliche Tiefen bergen ein Geheimnis so alt wie die Welt und doch mit und in mir geboren. Ich kann diese Welt keinem begreiflich machen. Ich kenne weder die passenden Worte noch Bilder oder Töne.
Schon möglich das man eines Tages ein Buch über mein Leben schreibt. Aber selbst, wenn man alle Menschen, die mich kannten, befragen würde und all meine Texte und Bilder dazu nähme – es wäre dennoch nur ein Mosaik. Mühsam zusammengesetzt aus lauter kleinen und großen Fragmenten, hier und da etwas geschliffen und bearbeitet. Es wird ein Abbild der Wahrheit sein; nicht die Wahrheit selbst. Dieses Wissen stimmt mich traurig. Niemals wird jemand wirklich verstehen, was in mir vorgeht. Zugang zu meiner Bühne haben. Das Stück meines Lebens in seiner Gesamtheit begreifen.
Ich fühle mich dem Leben entrückt. Ich sollte mich wieder auf die Bühne zurückziehen. Denn dort ist das Leben. Es steckt nicht in der inhaltsleeren Darstellung einer Person, die immer lacht und nur Stärke kennt. Das Leben steckt in Tanz und Gesang. Hier wartet es auf mich. Und ich werde mich in seine offenen Arme fallen lassen.
Lebewohl, wer oder was immer du zu sein dich verpflichtet fühlst.
Lebewohl, wen und was du dich abzulehnen verpflichtet fühlst.
Lebewohl.
Lebe. Wohl.
Lebe wohl.
Lebe.
Wohl.
Lebe, denn nichts anderes ist wichtig.
Lebe, als wärst du der Held deiner eigenen Geschichte.
Lebe, denn niemand kann es für dich tun.