Langsam einatmen, kurz halten, ausatmen.
Wenn Blicke töten könnten-
Sie biss sich auf die Zunge. Es war alles ok. Einatmen, halten, ausatmen.
Ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handfläche. Sie zitterten unter dem Druck.
Sehr gut machte sie das.
Sie spürte, wie ihr Puls hämmerte.
Noch ein Atemzug. Ein, halten, aus. Ein. Halten. Aus.
Die Anspannung in ihren Körper schien sie zu zerreißen.
Sie würde nicht nachgeben.
Sie würde nicht nachgeben.
Sie würde nicht-
"Was zur Hölle war das eben?! Bist du des Wahnsinns?!" Verdammt. Die Worte schnitten scharf durch die abgestandene Höhlenluft. Sie hatte Belaine abseits der Gruppe gezerrt, um Aufsehen zu vermeiden. Ein sinnloses Unterfangen, huschten nun doch manche Augen zu ihnen herüber. Eve ließ sich davon jedoch nicht abbringen, ihrem Entsetzen weiter Gehör zu verschaffen.
"Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie lebensgefährlich das war? Das hätte ins Auge gehen– Du hättest sterben können! Denkst du überhaupt über irgendetwas jemals nach? Kannst du das oder wurden andere dafür bezahlt, dir diese tragische Last früh abzunehmen?" Sie hielt inne, holte Luft. Das war nicht notwendig gewesen, unangebracht. Unter der Gürtellinie und sonst gar nicht ihre Art. Doch das war in diesem Moment gleichgültig.
Ihr Blick bohrte sich in Belaines helle Augen. Brodelnde, fassungslose Wut hielt sie an der Kehle gepackt. Schon seit Kalypso sie angehalten und ihre Emotionen somit eine Chance hatten, sie einzuholen. Ihre Gedanken rasten seitdem umher, verzweifelt versucht, die Dummheit, die sie soeben miterlebt hatte, zu verarbeiten.
Die Papiertüten in ihrer Hand knisterten laut, als ihre Finger sich in sie gruben; kramphaft, als wären sie der Anker, an dem der Rest ihres Verstandes hing.
Sie trat näher zu Belaine, die Kiefermuskeln sichtbar angespannt. Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie auf den Tunnel, dessen Dunkelheit die Gefahr, der sie soeben nur knapp entronnen waren, so irreführend verborgen hielt.
"Verstehst du das überhaupt? Das war ein verdammtes Stolloss, das dich da hätte erschlagen können! Und du, du stellst dich mitten ins Geschehen und bettelst darum, von dreihundert Kilo zerquetscht zu werden?! Verdammt nochmal!" Bei den letzten Worten verlor ihre Stimme an Kraft, sie klangen heiser und frustriert.
Das Adrenalin, das ihr zuvor Antrieb gewährt hatte, ließ langsam aber stetig nach und Erschöpfung machte sich seiner statt breit.
Eve wandte sich ab. Sie zwang sich, tief durchzuatmen, ihre Wut zu zügeln. Ihre vorigen Worte hingen schwer in der Luft, während sich eine unangenehme Stille zwischen den beiden Frauen ausbreitete.
Den unantastbaren Schutzkreis der Ignoranz, der in Tat und Wahrheit aber nur in der persönlichen Welt Belaines gänzlich undurchdringlich war, mit schockierender Bodenständigkeit durchbrechend hatte Eve ihre Kollegin gepackt und vom Krisenherd weggeschleift, noch bevor sich diese Luft verschaffen konnte. Und dabei sollte es vorerst bleiben: Eine so aus tiefstem Herzen kommende Schimpftirade hatte sie nicht mehr erlebt seit… Belaine konnte sich an kein vergleichsbares Erlebnis erinnern, selbst eingeweihte Berichterstatter hatten ihre Mühe, eine Standpauke dieser Intensität in der bisherigen Lebensgeschichte der Ms. Bates aufzuspüren. Der Schock hatte ihren Kopf leergefegt, der Schock, dass jemand so mit ihr redete, als hätte sie es verdient, mitnichten weil sie bereit war, die Situation aus einer anderen, womöglich klareren Perspektive als der ihren zu betrachten. Fassungslos starrte sie also Eve an, mit einem Blick, der dem des sprichwörtlichen Rattfratz vor dem Rettan nicht unähnlich war. Die Rügen prasselten auf sie ein, Belaine konnte sich nicht schützen. Gelegentlich zeigten sich kurze, intensive emotionale Regungen auf ihrem Gesicht, sie führten jedoch nirgendwo hin und erstarben so schnell wie sie gekommen waren.
Ausgelaugt vor Empörung hatte sich Eve indessen abgewandt. Belaine öffnete den Mund, schloss ihn, dann öffnete sie ihn wieder und hatte noch immer Probleme, sich zu artikulieren. Stattdessen ließ sie ihre Gestik sprechen; instinktiv nahm ihr Körper eine defensive Haltung ein, sie streckte erst die Hand aus gegen Eve, nahm sie dann zurück und trat schließlich einige unkoordinierte Schritte zurück.
„EX-“, doch sie war sich nicht selbst Herrin genug, um laut zu werden, „excuse… me?“
Sicherlich hatte sie sich verhört. Sicherlich war nicht einmal die sagenhafte, phänomenale, unvergleichliche, nepotistische Ms. Bates derart anstandslos und illusioniert, ihr Ego über die Vernunft zu stellen. Ihr Kopf schoss zurück bei dem kläglichem Protestversuch. Wenn ihre Wut zuvor noch von Sorge und Panik befeuert wurde, waren es nun Empörung und Unverständnis. Sie verengte die Augen.
"... Exc-... 'Excuse me?' Oh, don't you even dare." Die Worte kamen überraschend ruhig aus ihrem Mund, ruhiger, als sie es sich zugetraut hatte, doch auch um einiges frostiger, zynischer. Ihr Griff wurde eisern, wie ihre Finger sich tiefer in das Papier krallten, bereitete ihr allmählich Schmerzen. Undankbar.
"Excuse you for what? Trying to dismiss me? Nearly killing yourself?" Sie presste ihre Lippen zusammen. Nein, sie würde nicht wieder ausfällig werden. Sie würde sich nicht auf dasselbe niedere Niveau wie Bates begeben. Sie war besser als das. Zum Narren gehalten fühlte sie sich. Hier stand sie, darum ringend, ihre brüchige Fassung unter Kontrolle zu halten, die Ernsthaftigkeit der Situation zu verdeutlichen - Belaine die Tragweite ihres Handelns bewusst zu machen. Doch ihre halbherzige Reaktion hatte sie zugleich schockiert und enttäuscht. Ganz offenbar lag ihr nichts Reue oder Einsicht - oder ihrer eigenen Sicherheit. Stattdessen schien Belaine sich lieber in ihre vertraute, kleine, unantastbare Blase der Ignoranz zurückzuziehen, wo sie immer hauste, wo niemand sie je erreichen konnte. Unfähig, angemessen zu reagieren; so, wie sie es nie tat, vollkommen gleichgültig, worum es ging. Schande. Weshalb gab sie sich überhaupt solche Mühe?
Im nächsten Augenblick überwältigte sie die Resignation und auch der letzte Kampfgeist verließ ihren Körper. Ohne die Anspannung sackte ihre Haltung zusammen, die Knurspe fielen dabei beinahe zu Boden, wo ihr Blick nun ziellos und entmutigt umherirrte, im Versuch, irgendetwas haltsuchendes ausfindig zumachen.
"Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Ich dachte wirklich, du wärst vernünftiger..." Ein bitterer Unterton schwang in den Worten mit. Es war ohnehin hoffnungslos, was hatte sie sich dabei auch gedacht? So führte es zu nichts.
Sie ließ die erstarrte Belaine stehen und sich einige Schritte entfernt erschöpft gegen die feuchte Felswand fallen. Sie benötigte jetzt einen Moment für sich, um das Geschehene zu verdauen, diesmal richtig, und ihre Ruhe hoffentlich wiederzuerlangen. Sonst sah ihr weiterer Ausflug düster aus. Sicher würde etwas Abstand Belaine auch guttun, ihre eigenen Gedanken zu sortieren.
Eves wütender Ausbruch war das eine – ihre Enttäuschung, die gleich darauf über Belaine brandete, das andere; mit keinem davon kam sie klar. So viel Ablehnung auf einmal ertrug ihr ohnehin schon labiles Gemüt nicht, sieben Jahre der (diskutablen) Entwicklung verflüchtigten sich in einem einzigen Augenblick und auf einmal war sie wieder vierzehn und missverstanden vom gesamten Universum, alleine im Recht in einer Welt, in der ihr alle nur das Schlechteste wollten. Ihre Regression hin zu weniger erwachsenen Verhaltensmustern vollzog sich so gründlich, dass sie sogar mit dem Fuß aufstampfte.
„Aber ich bin nicht gestorben!“, maulte sie in kindischem Trotz, die Stimme zunehmend zitternd und der Blick verschwimmend. Während die Tränen kamen, ging die kühle Berechnung, mit der sie sich ansonsten durch menschliche Interaktionen zu schlängeln vermochte. Eve hatte in ihrer ehrlichen Empörung ein Loch in die glänzend polierte, aber papierdünne Oberfläche von Stolz und Abgeklärtheit gerissen, und nun rauschte das ganze eklige, infantile, vorwurfsvolle, argwöhnische, verzogene und vor allem verunsicherte Reservoir dahinter durch besagtes Loch und erodierte dabei rasend schnell die Überreste der Staumauer. Denn tatsächlich war ein solcher Umgang ein absolutes Novum für Belaine, die sich mangels Erfahrung damit keinerlei Schutzvorkehrungen gegen einen solchen Notfall hatte aufbauen können – natürlich war sie auch schon in der Vergangenheit kritisiert worden, besonders hier in Alola, doch Ignoranz und Umbewertung hatten die Reaktion auf den resultierenden Schaden stets auf verschlossene Grübelei begrenzen können. Diesmal war es anders.
„Warum bist du so?! Ich hatte alles im Griff…!“
Es war ein Vorwurf gewesen, doch Belaines brüchige Stimme, ihr gequälter Ausdruck und die laufenden Tränen entlarvten die Verzweiflung dahinter.
„Ich- ich… don’t patronize me! Und, und das Glurak, wenn es jetzt verletzt wird, ich-“, es war ein Greifen nach Strohhalmen, ein haltloser Versuch, den Sinn hinter ihrem Handeln, das Belaine irgendwo im Hinterkopf tatsächlich mit jeder Sekunde achtloser vorkam, mit Händen und Füßen erklären zu wollen. Sie schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen, sank gegen die Höhlenwand, jaulte auf, als sich eine fiese Kante in ihren Rücken bohrte und rutschte ob dieser kosmischen Ungerechtigkeit einige Schritte davon weg, zu einem glatteren Abschnitt, wo wenigstens nicht auch noch die Natur gegen sie war.
„… du hasst mich.“
Dass Belaines bewusst aufrecht erhaltene Fassade der Exaltiertheit in sich zusammengestürzt war wie ein Kartenhaus bedeutete nämlich nicht, dass ihr Unterbewusstsein das Evozieren von Schuldgefühlen seinlassen würde – es war ihr letzter Trumpf, um die versöhnliche Reaktion aus Eve herauszulocken, die sie jetzt so dringend brauchte. ‚Nein, Belaine, ich hasse dich nicht‘, ‚Nein, Belaine, wir sind doch Freunde‘, ‚Es tut mir leid, dass ich so harsch war, ich habe überreagiert‘, einfach irgendetwas, das ihr Erleichterung verschaffen und die erdrückende Last, sich ein Upsi geleistet zu haben, von ihren Schultern nehmen würde.
„Du denkst, ich bin nur dumm und“, sie schniefte und schluckte, „und unmündig und pretentious. Das denkst du nämlich.“
Manipulativ hätte sich ebenfalls hervorragend in dieser Aufzählung gemacht, doch Belaine, zusammengesunken in den Scherben ihres Selbstbewusstseins, war naiv und bedürftig geworden.
Die Vorwürfe waren kindisch und ehrlos. Ein letzter, sinnloser Akt der Rebellion, um das geheuchelte Selbstbild der Unfehlbarkeit aufrechtzuerhalten. Eine Charaktereigenschaft, die Eve bei jedem anderen mit Verachtung gestraft hätte. Doch Belaine wusste sich wahrscheinlich gerade nicht anders zu helfen. Was da neben ihr saß, das Gesicht verzogen und rot gefleckt vor Kummer und Hilflosigkeit, war nicht die schlagfertige, selbstverliebte Frau, die ihr Blut sonst so leidenschaftlich zum Kochen brachte. Sicherlich empfand sie den Verzögling des Öfteren als dumm und überheblich. Belaine schien ihr ganzes Herzblut lieber in die Maskerade der unerschütterlichen Egomanin zu gießen, die als Grundlage ihres Seins diente, als sich dem zu stellen, was immer darunter ungesehen schmorte. Alles nur, um einen sicheren Abstand zu ihren Mitmenschen zu wahren. In ihren Augen waren sie vielleicht eine Bedrohung, Täter, die ihr verräterisches Verbrechen nur noch nicht begangen hatten, weil sie keine Gelegenheit dazu bekamen. Der Gedanke stach ihr in der Brust. Wie ungerecht, wie traurig, wie... fruchtlos. Ein Teufelskreis. Es wäre nicht das erste Mal, das sie mit einer solche Denkweise und manchmal auch dem Grauen, in dem sie oft Wurzeln schlug, konfrontiert wurde. Unter all der Farce saß ein kleines, verängstigtes Mädchen, das sich weder zu helfen noch zu schützen wusste vor den himmelschreienden Ungerechtigkeiten, die ihm widerfahren waren, aufgezwungen von verletzten Kindern wie es selbst, die sich hinter der Gaukelei eines zuversichtlichen und fähigen "Erwachsenen" verbargen - als wären sie eine vertrauenswürdige Bezugsperson und seit jeher nicht selbst in Verlangen nach einer, die aufnahm, wo die eigene einst versagt hatte. Ein Trauerspiel, wie es sie zu tausenden auf der Welt gab, doch nichts, dem Eve trotz all ihrer medizinischen Expertise Linderung hätte verschaffen können. Vielleicht klang es herzlos, aber am Ende war jedes noch so arge Leiden eine Begründung, aber keine Rechtfertigung für falsches Verhalten. Und Belaines Wahl zur Flucht war nicht ihre Verantwortung.
So ließ sie Belaine eine Weile weinen und behielt das Mitleid, das sie beim Anblick des Häufchen Elends verspürte, für sich. Ihre düsteren Gedanken jagte sie fort in das schwache Dämmerlicht, das sie umgaben, zu ihren unbekümmerten Kameraden, die sie um ihre Unbekümmertheit in diesem Moment fast beneidete. Tränen reinigen das Herz, hatte ihre Mutter früher immer gesagt. Damals, wenn sie selbst im Stillen geweint und sich dafür geschämt hatte, weil sie sich vor ihren eigenen Bedürfnissen entfremdet hatte.
Ob sie das Richtige tat, wusste sie nicht. Eigentlich hätte sie herübergehen und Belaine in den Arm nehmen und ihr versichern müssen, dass alles gut war. Dass sie nichts falsch gemacht hatte, und es keinen Grund gab, nachtragend zu sein …oder nicht? Aber Belaine hatte etwas falsch gemacht und es war nicht alles gut. Hatte sie überreagiert? Eine Antwort darauf hatte sie nicht, doch die Stärke ihrer Reaktion, der Affekt, sprachen ausreichend für ihre Sorge und die gute Absicht dahinter, nicht? Hasste sie Belaine? Nein, natürlich nicht. Doch sie wusste auch, dass sie Belaines Versuche der Validierung nicht anerkennen durfte - das hatte sie in der Vergangenheit auf die harte Weise lernen müssen. Falsche Aufmerksamkeit würde den bestehenden Teufelskreis nur bestärken und auf die nässende, blutende Wunde ein Pflaster kleben, ihr aber keine Chance zur Heilung lassen.
Die Stille zwischen ihnen war unerträglich. So gern sie Belaine eine Stütze gewesen wäre, sie wusste nicht, wie. Die Situation überforderte sie und etwas anderes zu behaupten, wäre eine glatte Selbstlüge gewesen. Wie konnte es überhaupt passieren, dass alles so entgleist war? Wäre Belaine nicht- Sie schüttelte rege den Kopf. Genug mit den Vorwürfen und der Wut. Das führte doch so zu nichts. Die folgenden Worte rutschten ihr mehr unreflektiert heraus, ihr Ton brüchig und gedankenverloren: „Ich hasse dich nicht, nur weil du einen Fehler gemacht hast, aber… warum hast du das getan? War es nicht offensichtlich, dass das gefährlich ist? Was war der Sinn dahinter? Ich verstehe es einfach nicht, verstehst du?“
OT: Partnerpost mit Fatalis Pt. 1, ich bin müde