Ein interessantes Thema, über das man in seinen Nuancen meiner Meinung nach ziemlich ausführlich diskutieren kann. Fragen, die mir neben den Diskussionsansätzen in den Sinn kommen, sind u.a., wie weit darf Meinungsfreiheit gehen, wie viel muss eine Gesellschaft aushalten, nach welchen Kriterien canceln wir und welche Instanz entscheidet das?
Gibt es Cancel Culture? Je nach Definition des Kulturbegriffs durchaus. Wenn dazu die Wertvorstellungen und Denkweisen einer Gesellschaft gehören, die sich auch in konkreten Handlungsweisen und der Verteidigung dieser Wertvorstellungen äußern, gehört es auch zu der jeweiligen Kultur dazu, bestimmte Meinungen und Haltungen aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, wenn nicht gar unter Strafe zu stellen (z.B. Holocaustleugnung), und das muss nichts schlechtes sein, weil manche Haltungen nun mal derart im Widerspruch zu unseren Werten stehen, die wir als so konsensfähig ansehen, dass es da kaum bis keinen Diskussionsspielraum gibt. Und heutzutage ist unsere Gesellschaft auch stärker sensibilisiert gegenüber bestimmten Themen.
Vorweg würde ich auch sagen, auch wenn „Cancel Culture“ in erster Linie aus konservativer Ecke dazu genutzt wird, die politische Linke zu diskreditieren und eine Meinungsdiktatur heraufzubeschwören, sehe ich die Cancel Culture die aus eben jener konservativen Seite ausgeübt wird, als weitaus besorgniserregender an, weil hier teils wirklich menschenverachtende Positionen vertreten werden und das auch noch mit dem Wunsch einer konkreten, politischen Umsetzung. Besonders in den USA nimmt das ganze durchaus krasse Formen an, wo erzkonservative, religiöse Fundamentalisten hohe Positionen in staatlichen Institutionen.
That being said, nehme ich es im öffentlichen Diskurs, vor allem auf Social Media, durchaus so wahr, dass das Verlangen bestimmte Aussagen und Haltungen oder dahinterstehende Personen zu canceln – ob durch direkte Aufrufe oder indirekt Shitstorms, die die Person aus dem öffentlichen Raum drängen - zu voreilig Verwendung finden. Ironischerweise trifft’s dann früher oder später auch diejenigen, die ganz vorne mit dabei sind. Ich weiß nicht genau in welchem Kontext, aber soweit ich weiß hat auch Jasmina Kuhnke vor kurzem nen harten Shitstorm abbekommen, weil sie sich wohl mit der „falschen“ Person solidarisiert hat, ihren Twitter Account anschließend deaktivieren und dann ein ellenlanges Statement raushauen musste.
Ich will an dieser Stelle gar nicht ausdiskutieren, was die Dame denn „verbrochen“ hat, mir geht es eher darum zu sagen, dass sich Teile der Gesellschaft scheinbar schwer damit tun, auch mal kontroverse Diskussionen oder Haltungen über sich ergehen zu lassen. Ob das jetzt auf Twitter ist, oder auch in diesem Forum, wo 50% einer jeden Diskussion daraus besteht, die moralisch-ethische Haltung des Gegenübers in Frage zu stelle. Ich habe auch schon ziemlich sachliche Takes gesehen, die von eher linken Personen aus dem akademischen Umfeld getätigt wurden, die ansonsten nie wirklich kontrovers aufgefallen sind, aber aufgrund eines entsprechend kontroversen Topics auf Social Media dementsprechend von der Masse – teils mit persönlichen Angriffen – auseinandergerissen wurden. Das ist einer (wissenschaftlichen) Diskussion halt nicht würdig, die auch mal damit enden darf, dass man sich einig ist, dass man sich nicht einig ist. Ohnehin sind Geistes- und Sozialwissenschaften dahingehend durchaus kontrovers, worauf ich aber später nochmal genauer eingehe.
Wir leben halt in einer pluralistischen Gesellschaft, in der Menschen unterschiedliche Ansichten dessen haben, wie eine Gesellschaft im Kern funktionieren sollte, was Abhängig ist von ihren Erfahrungen, Weltanschauungen, Werten aber auch Biases. Was der eine als verletzend und diskriminierend wahrnimmt, muss es aus Sicht des Gegenübers nicht unbedingt sein, ebenso, wie wir die moralische Tragweite unterschiedlich bewerten und unterschiedlich abwägen, in wie weit ein Aspekt (z.B. Meinungsfreiheit) einem anderen (z.B. Gefühlen) weichen muss – es allen recht zu machen wird niemals möglich sein. Natürlich besteht ein gewisser Konsens über die Werte und Normen, die als unverhandelbar gelten (sollten), wie etwa unsere freiheitliche demokratische Grundordnung samt der Menschenrechte (die natürlich auch in Staaten, die sich als demokratisch labeln, nicht immer einwandfrei Verwendung finden), aber darüber hinaus bin ich ziemlich tolerant gegenüber Meinungsvielfalt, auch wenn ich manche Meinungen und Haltungen als fragwürdig empfinde. Natürlich gehört zur Meinungsfreiheit auch dazu, mir menschenfeindliches Verhalten vorzuwerfen, wenn ich das Tragen einer Maske zum jetzigen Zeitpunkt als nicht so unabdingbar ansehe, muss ich auch aushalten. Ich sehe es ja auch ein, dass bestimmte Themen emotional aufgeladen sind und auch mal unsachlich werden können, das bringt finde ich niemanden um.
Was canceln im akademischen Raum angeht, sehe ich es als durchaus berechtigt an, Wissenschaftlern als wissenschaftliche Institution keine Plattform zu bieten, die nicht in der Lage sind, bestimmte Qualitätsstandards einzuhalten, die förderlich sind für einen Diskurs. Ne Meeresbiologin hat halt wirklich nichts verloren bei nem Vortrag über Geschlechtlichkeit und Sexualität von Menschen. Besonders, wenn sie als Privatperson dafür bekannt ist, in rechten Netzwerken unterwegs zu sein und gegen Transmenschen zu hetzen. Ähnlich war das ja während der Corona Pandemie, wo sich „kritische“ Ärzte darüber beschwert haben, aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen zu werden, wo sie halt nachweislich einfach nur nicht die Qualitätsstandards für die Teilhabe an einem öffentlichen Diskurs erfüllt haben. Wohingegen es ja nicht so ist, als wären Wissenschaftler einer bestimmten Fachgesellschaft immer einer Meinung; sich zu streiten und zu widerlegen ist gängige Praxis.
Um auf meinen vorherigen Punkt zurückzukommen, würde ich da aber auch einen Unterschied machen zwischen Naturwissenschaften sowie Geistes- und Sozialwissenschaften. Während Geistes-/Sozialwissenschaften natürlich auch mit empirischen Daten arbeiten, lassen sich hier (bestimmte) wissenschaftliche Methoden in der Form nicht anwenden. Wie, dass man eine Hypothese anhand von Beobachtungen aufstellt, die man auch in einer kontrollierten Umgebung auf diverse Variablen immer wieder nachprüfen und gegebenenfalls auch falsifizieren kann, um eine wirklich robuste Theorie aufzustellen, die die Realität widerspiegelt. Auch existieren Geistes- und Sozialwissenschaften in der Regel auch immer irgendwo im Kontext dahinterstehender Weltanschauungen und sind demnach weniger objektiv. Wenn Sozialwissenschaften z.B. überwiegend von Personen aus dem linken Spektrum betrieben werden, dementsprechend eine gewisse politische Diversität fehlt, dann werden bestimmte Phänomene auch nur durch diese ideologische Brille untersucht. Als beim Thema Polizei und Staat gesagt wurde, dass unser Verständnis von Staat und der Notwendigkeit von Staatsgewalt unumstritten ist in den Rechtswissenschaften, wurde entgegnet, dass auch ein solches System nicht frei von Biases sein kann, die bei der Etablierung dieses Systems eine Rolle gespielt haben. Dementsprechend ist es schwieriger, hier objektive Maßstäbe für cancel-würdige Thesen zu setzen.