In Kapitel 12 pasiert nicht sooo viel, aber Kapitel 13 ist ziemlich geladen und bisher mein bestes, würde ich sagen.
Kapitel 12: Im Wald mit lauter Bäumen
„Hast du auch nichts vergessen?“, fragte Rose,
als Lily am Morgen das Haus verließ.
„Ich glaube nicht, schließlich haben wir
zusammen dreimal nachgesehen“, antwortete sie.
Rose wuschelte ihr über den Kopf. „Dann bist du
ja jetzt bereit, dich wieder auf die Reise zu machen. Soll ich schon
mal bei Tante Darcy anrufen und ihr Bescheid sagen, dass du abends
bei ihr sein wirst?“
„Danke, aber ich werde wohl erst mal im Pokémon
Center übernachten und sie morgen besuchen.“ Der Bus kam um die
Ecke gefahren, und die Schwestern umarmten sich zum Abschied. „Ich
werde dich vermissen.“ Lily hätte schwören können, in Rose'
Augen Tränen glitzern zu sehen. Dabei gab sie sich selbst doch
solche Mühe, stark zu sein. Nach ein paar Tagen daheim fiel es ihr
umso schwerer, wieder aufzubrechen. Doch so sehr sie ihr Zuhause auch
liebte, wollte sie doch noch viel mehr von der Welt sehen, und vor
allem wollte sie Antworten, die sie in Teak City hoffentlich bekommen
würde.
Sie stieg in den Bus und winkte mit dem rechten
Arm. Auf dem linken hielt sie Evoli, welches aus Mangel an Armen mit
wem Schwanz wedelte. Endivie hielt sich zurück, aber Lily hatte
nicht damit gerechnet, dass es in der kurzen Zeit große Gefühle für
ihr Zuhause entwickeln würde. Vermutlich freute es sich eher darauf,
Bisasam wiederzusehen.
Dieses wartete schon mit seinem Trainer in der
Lobby das Pokémon Centers, als Lily dort ankam. Ausnahmsweise war
Alex mal nicht mit seinen Pflanzen beschäftigt, sondern las in einem
Reiseführer über Johto. Als Lily ihn begrüßte, blickte er auf und
lächelte. „Guten Morgen. Ich wollte schon mal ein paar
Sehenswürdigkeiten in Teak City aussuchen, die ich mir auf jeden
Fall anschauen muss.“
„Zeig mal her.“ Sie ließ sich in den Sitz
neben ihn fallen und warf ebenfalls einen Blick in das Büchlein, das
gerade bei der Beschreibung des Tanztheaters aufgeschlagen war.
„Wusstest du, dass meine Großmutter ein Kimono-Girl war?“
Alex blickte sie überrascht an. „Nein, woher?
Das ist aber ziemlich cool, dann musst du dich ja auskennen, oder?“
„Nicht wirklich. Ich erzähle dir aber gern
alles, was ich weiß, im Bus.“ Sie erhoben sich und gingen zur
Bushaltestelle, um wie zuvor auch den Bus in Richtung Nationalpark zu
nehmen. Von dort aus würden sie über Route 36 und 37 zu Fuß weiter
gehen.
„Also“, begann Lily, als sie im Bus saßen.
Sie hatten einen Viererplatz ergattert und saßen beide jeweils am
Gang, Lily in Fahrtrichtung, Alex rückwärts, sodass sie über ihre
Pokémon hinweg aus aus dem Fenster sehen konnten. Etwas wehmütig
betrachtete Lily die Hochhäuser von Dukatia City, die sie rasch
hinter sich ließen, als der Nationalpark näher kam. „Meine
Großmutter war, wie gesagt, früher ein Kimono-Girl. Mit ungefähr
20 hat sie dann aber das Tanztheater verlassen, um zu heiraten, und
dann meine Tante und meine Mutter bekommen. Mein Großvater ist schon
vor einigen Jahren gestorben, aber meine Großmutter lebt noch mit
meiner Tante in Teak City.“
Alex musterte sie eingehend. „Vielleicht sollte
ich das lieber nicht fragen, aber... wo ist denn deine Mutter?“
Lily streichelte Evoli, welches auf ihrem Schoß
saß, und blickte aus dem Fenster auf die Randsiedlung ihrer
Heimatstadt. „Ehrlich gesagt, wissen wir das nicht. Ich dachte bis
letzte Woche, dass sie tot wäre, aber nun habe ich erfahren, dass
sie in den Alph-Ruinen bei ihrer Forschungsarbeit verschwunden ist.“
Auf Alex' Gesicht spiegelte sich echtes Mitgefühl.
„Das tut mir Leid. Ich hoffe wirklich für dich, dass ihr sie bald
gesund wiederbekommt.“
„Danke.“ Lily rang sich ein Lächeln ab.
Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, bis
der Bus sie vor dem Nationalpark absetzte. Dort beschlossen sie,
nicht über Route 35 zu laufen, sondern durch den Park zu gehen.
Lilys Stimmung besserte sich erheblich, als ein wildes Smettbo nur
wenige Meter an ihren vorbei flog und dabei glitzernden Staub in der
Luft hinterließ, den Evoli zu erhaschen versuchte. Als es danach
aussah, als hätte es einen Kampf mit Lametta hinter sich, konnten
die Kinder sich das Lachen einfach nicht verkneifen. Glücklicherweise
war Evoli nicht nur verspielt, sondern auch gutmütig und nahm es
ihnen nicht übel.
„Johto ist wirklich schön“, meinte Alex, der
neben sein Bisasam getreten war und genau wie das Pflanzenpokémon
eine seltene Blumenart in einem Beet betrachtete. „In Kanto ist die
Erde nicht besonders fruchtbar, deshalb ist es auch schwer, Beeren
und so anzupflanzen.“
„Bist du deshalb hergekommen?“, neckte Lily
ihn.
„Unter anderem.“ Er grinste.
Sie verließen den Nationalpark in östliche
Richtung und gingen ein gutes Stück im Schatten der Bäume, bis sie
an eine Gabelung kamen. Bevor sie weiter nach Norden und somit nach
Teak City gingen, beschlossen sie, eine Pause einzulegen, und ließen
sich auf einem Baumstamm nieder.
„Ich gebe dir ein vegetarisches Reisbällchen
gegen eins deiner Eiersandwiches“, schlug Alex vor.
„Abgemacht.“ Der Tausch war besiegelt und
ermöglichte beiden mehr Vielfalt beim Mittagessen.
Während des Essens begannen die Pokémon
plötzlich, unruhig zu werden. „Was ist denn los?“, fragte Alex
verwundert.
„Vielleicht wollen sie einen Nachschlag, heute
haben sie ja unheimlich schnell alles aufgegessen.“ Erstaunt
blickte Lily auf die leeren Näpfe, zuckte dann aber mit den
Schultern und füllte Futter nach. Als sie sich wieder gesetzt hatte,
traf sie etwas am Hinterkopf. „Autsch!“ Sie blickte nach oben,
konnte aber nichts entdecken. „Wenn ich es nicht besser wüsste,
würde ich sagen, jemand hat mit Steinchen nach mir geworfen.“
„Merkwürdig.“ Auch Alex blickte sich um. „Und
das hier auch: So schnell können unsere Pokémon doch niemals
gegessen haben.“ Tatsächlich waren die Futterschüsseln schon
wieder leer.
Lily stand auf und ging zu ihren Pokémon. „Nicht
einmal Evoli kann solche Mengen in der kurzen Zeit verdrücken.“
Als sie das kleine Wesen prüfend musterte, sprang es plötzlich auf
und rammte seinen Kopf gegen einen nahestehenden Baum. Der schien
jedoch härter zu sein als andere, die Evoli gewohnt war, denn es
taumelte zurück und verzog das Gesicht. Lily eilte an seine Seite
und nahm es tröstend in den Arm.
Alex runzelte die Stirn. „Bilde ich mir das ein,
oder hat der Baum gerade getreten?“
„Ich glaube, Evoli hat es einfach nur mit der
Kopfnuss übertrieben. Bäume treten doch nicht. Es sei denn...“
„Es sei denn, es handelt sich um einen
speziellen Baum.“ Der Junge zuckte seinen PokéDex und hielt ihn
auf die Baumgruppe.
„Mogelbaum. Das Imitations-Pokémon versteckt
sich in Wäldern, um nicht gefangen zu werden“, ertönte die
blecherne Stimme des Geräts.
„Das erklärt natürlich alles.“ Lily
beobachtete, wie Alex in seinem Rucksack nach einem Pokéball kramte
und dann Bisasam gegen Mogelbaum in den Kampf schickte. Offenbar
hatte er vor, das Pokémon zu fangen. „Bisasam, setz Rasierblatt
ein!“
Das Pflanzenpokémon gehorchte aufs Wort und
schickte eine Ladung scharfer Blätter auf den Gegner. Dieser wurde
getroffen, reagierte aber gleich mit einer Steinwurf-Attacke. Dann
flüchtete es in den Wald und tarnte sich in einer Reihe Bäume. Alex
grinste nur und folgte ihm mit Bisasam, Lily und ihre Pokémon auf
dem Fuße.
„Wie willst du es denn jetzt wiederfinden?“,
flüsterte Lily.
„Sieh zu und lerne.“ Alex nahm seine
Wasserflasche und spritze etwas daraus auf die Baumreihe vor ihnen.
Augenblicke später zuckte einer der „Bäume“ und wollte
weglaufen, doch Bisasams Rankenhieb hielt ihn an Ort und Stelle. Noch
ein Rasierblatt-Angriff und Mogelbaum war so weit geschwächt, dass
der Junge versuchsweise den Pokéball warf. Es wackelte ein paar Mal,
doch dann erlosch das Licht am Knopf und der Ball lag still. Alex
hatte ein neues Mitglied im Team.
„Wow, Glückwunsch!“, gratulierte Lily.
„Danke! Ich glaube, ich lasse es aber erst
später raus, lass uns jetzt erst mal unsere Pokémon in Ruhe
füttern.“
Sie kamen nun endlich dazu, ihre Mittagspause in
Ruhe fortzusetzen, und machten sich dann gestärkt und ohne weitere
Zwischenfälle auf den Weg in Richtung Norden, wo sie am frühen
Abend Teak City erreichten. Die Dämmerung brach gerade über die
alte Stadt herein und tauchte die eh schon mysteriös anmutenden
Bauten in ein noch geheimnisvolleres rötliches Licht. Die Luft
flimmerte voll, und die Atmosphäre war voll von ungeklärten
Mysterien.
Als sie die Stadt betrat, fragte Lily sich, ob sie
hier die Antworten bekommen würde, die sie so dringend wollte.
Kapitel 13: Harte Wahrheiten
Am nächsten Morgen frühstückte Lily ausgiebig
mit Alex, bevor sie vom Pokémon Center aus aufbrachen. Sie selbst
wollte in Richtung Norden, wo das Haus ihrer Großmutter nicht weit
weg vom Tanztheater lag, und Alex hatte vor, für den bevorstehenden
Arenakampf zu trainieren und sein neues Teammitglied, Mogelbaum, ein
wenig einzugewöhnen. Lily ließ ihr Endivie in seiner Obhut und
machte sich allein mit Evoli auf den Weg zu ihren Verwandten.
Bevor sie die Klingel des im traditionell
östlichen Stil gebauten Wohnhauses läutete, überprüfte sie in
einem Taschenspiegel noch einmal ihr Aussehen. Ihre weiße Bluse war
frisch und faltenfrei, ihr brauner Faltenrock fleckenlos, genau wie
ihre Schuhe, und ihre Locken waren mit einer Spange gebändigt. Sie
ermahnte Evoli noch einmal, sich zu benehmen, atmete tief durch und
drückte auf den Klingelknopf.
Einige Augenblicke später wurde die Tür geöffnet
und ihre Tante Darcy begrüßte sie freundlich, aber sichtlich
gestresst. „Hallo, Lily, schön dich wiederzusehen. Es tut mir
Leid, gerade heute früh ist eine Ladung neuer Artefakte
eingetroffen, die ich durchsehen muss, bevor sie an das Museum von
Marmoria City gehen können. Nachmittags sollte ich zurück sein,
unterhalte dich doch solange mit deiner Großmutter. Deine Cousine
Melanie ist auch gerade hier.“ Dann war sie auch schon an Lily
vorbei zur Tür hinaus gestürmt.
Etwas perplex betrat diese nun allein das Haus und
zog ihre Schuhe aus, bevor sie die einzelne Stufe hinaufkletterte,
die ins Innere führte. Das Zimmer ihrer Großmutter lag rechts, und
als sie klopfen wollte, öffnete sich auch schon die Tür von innen.
„Lily, wie geht es dir? Lass dich erst mal ansehen!“ Die alte
Dame im schlichten beigefarbenen Kimono und dem strengen Haarknoten
kam auf sie zu und musterte sie von oben bis unten, bevor sie sie
umarmte. „Groß bist du geworden, aber du siehst dünn aus. Kocht
deine Schwester nicht ordentlich für dich?“
„Doch, sicher“, stotterte Lily, die sich von
ihrer Großmutter immer etwas eingeschüchtert fühlte. „Rose sorgt
sehr gut für mich, aber ich bin die letzten Tage sehr viel
gelaufen.“
„Komm herein, lass uns erst einmal einen Tee
trinken.“ Sie wurde ins Zimmer und auf ein Sitzkissen bugsiert und
durfte ihrer Großmutter dabei zusehen, wie sie nach traditioneller
Art mit äußerster Geschicklichkeit und minimalen Bewegungen Tee
zubereitete. Überhaupt war alles im Zimmer auf das Minimale und
Funktionale beschränkt; es gab nur einige Sitzkissen auf den
Tatamimatten, einen niedrigen Tisch und einen Wandschrank, in dem
vermutlich der Futon aufbewahrt wurde. Ihre Großmutter lebte immer
noch wie zu ihren Zeiten als Kimono-Girl.
Auf Aufforderung trank sie den bitteren Tee, war
aber froh, als sie danach eine ebenfalls traditionelle Süßigkeit
bekam, die den Nachgeschmack aus ihrem Mund verbannte.
„So, und nun erzähle, mein Kind: Was treibt
dich hierher, und das auch noch ganz allein?“
Lily rutschte etwas auf ihrem Kissen herum, was
ihr einen mahnenden Blick einbrachte. „Ich weiß, was wirklich mit
Mum geschehen ist.“
„Ich verstehe.“ Ihre Großmutter setzte ihren
Teebecher ab und blickte Lily eindringlich an. „Rose konnte es also
nicht länger vor dir geheimhalten. Nun, du bist inzwischen wohl alt
genug für die Wahrheit. Und wieso ist deine Schwester nicht mit dir
gekommen?“
„Sie wollte sich endlich selbst auf die Suche
nach Hinweisen machen. Deshalb hat sie mich eigentlich auf eine
Pokémonreise geschickt, aber genau dadurch habe ich in den
Alph-Ruinen herausgefunden, dass Mum dort verschwunden ist.“
Ihre Großmutter hob die Augenbrauen.
„Pokémonreise? Du auch noch? Sag nicht, du nimmst auch an diesen
komischen Wettbewerben teil.“
„Doch, das tue ich“, erwiderte Lily kleinlaut.
Sie hatte nicht daran gedacht, dass ihre Großmutter schon früher
Pokémon-Wettbewerbe verabscheut hatte.
Diese schnalzte nun mit der Zunge, und ihr ohnehin
schon strenger Gesichtsausdruck verfinsterte sich noch mehr. „Wozu
hat nur meine Mutter euch allen vor ihrem Tod ein Evoli besorgt, in
der Hoffnung, wenigstens eine von euch würde wieder ein Kimono-Girl
werden, wenn ihr alle ihr Erbe mit Füßen tretet?“ Lilys
Urgroßmutter war ebenfalls ein Kimono-Girl gewesen, für einige
Jahre länger als ihre Tochter, und hatte vor ihrem Tod unter großen
Mühen veranlasst, dass jede ihrer Urenkelinnen als Startpokémon ein
Evoli bekam, weil dieses und seine Entwicklungen von den momentan
aktiven Kimono-Girls bevorzugt wurde. Leider war noch keines der
Mädchen bisher in ihre Fußstapfen getreten, was wohl auch an dem
harten Training und der zurückgehenden Beliebtheit der
traditionellen Künste im Vergleich zu den immer beliebter werdenden
Pokémon-Wettbewerben lag.
Als Lily schon dachte, sie hätte sich den
lebenslangen Zorn ihrer Großmutter zugezogen, seufzte diese nur und
meinte: „Da kann man wohl nichts machen. Es ist trotzdem so eine
Verschwendung, vor allem deine Schwester wäre ein fantastisches
Kimono-Girl geworden, aber sie wollte ja lieber ins Rampenlicht und
irgendwelchen Trainern den Kopf verdrehen.“
„Wie bitte? Rose ist nicht so!“ Egal wie sehr
die alte Frau sie einschüchterte, auf ihre Schwester würde Lily
nichts kommen lassen. „Sie hat ihren Traum aufgegeben, um mich
großzuziehen.“
„Da ist sie nicht die Einzige.“ Für einen
Moment huschte Bitterkeit über das Gesicht ihrer Großmutter, dann
fing sie sich wieder und fuhr fort: „Ich kenne deine Schwester
länger als du, Kind. Vielleicht ist sie jetzt ein Idealbild für
dich, aber früher war sie fasziniert von schönen Dingen und lange
nicht so selbstlos, wie sie dir erscheint. Ich sage ja nicht, dass
sie ein schlechter Mensch war, und was sie für dich tut, ist
großartig – abgesehen von den Flausen, die sie dir mit
Wettbewerben in den Kopf gesetzt hat -, aber wir waren alle mal jung
und selbstsüchtig.“
Lily nickte einfach halbherzig, weil sie nicht
wusste, was sie sagen sollte. Rose war ihr großes Idol, ihre beste
Freundin und die einzige richtige Familie, die ihr geblieben war.
Ihre Schwester war unfehlbar, und sie wollte nichts gegenteiliges
hören.
Zu ihrer Erleichterung ließ ihre Großmutter das
Thema jedoch fallen und schlug Lily vor, zu ihrer Cousine nach oben
zu gehen, während sie selbst das Mittagessen vorbereitete. Mehr als
froh über diese Möglichkeit, weiteren unangenehmen Gesprächsthemen
zu entgehen, stand das Mädchen auf und ging aus dem Zimmer, um durch
den Wohnraum vorbei am offenen Atrium die Treppe hinaufzusteigen. An
der letzten Tür im Obergeschoss klopfte sie vorsichtig und wartete,
bis sie aus dem Inneren ein genervtes „Ja?“ hörte.
„Ich bin's, Lily. Darf ich reinkommen?“,
fragte sie zögerlich.
„Von mir aus.“ Als Lily die Tür öffnete, lag
Melanie auf ihrem Bett und blätterte in einer Zeitschrift. Sie
hatten sich einige Jahre lang nicht gesehen, aber wenn Lily sich
recht erinnerte, waren ihre schwarzen Haare bei ihrer letzten
Begegnung noch nicht so fransig gewesen und vollkommen schwarze
Kleidung hatte sie auch noch nicht getragen. Besonders gesprächig
war Melanie damals auch nicht gewesen, aber die Überdrüssigkeit,
die sie nun ausstrahlte, war neu.
Lily setzte sich vorsichtig auf den
Schreibtischstuhl und Evoli, welches bisher tatsächlich
mucksmäuschenstill gewesen war, trippelte in die Ecke, in der
Melanies Nachtara lag und ein ebenso genervtes Gesicht machte wie
seine Trainerin. Eingeschüchtert zog Evoli sich zurück und ließ
sich zu Lilys Füßen nieder.
„Ich habe gehört, du wohnst jetzt in Hoenn bei
deinem Vater?“, versuchte Lily, ein Gespräch anzufangen. Als
Antwort bekam sie nur ein zustimmendes Geräusch, aber sie wollte
noch nicht aufgeben. „Und jetzt bist du in den Ferien hier, um
Tante Darcy zu sehen?“
„Hm. Nicht dass ich viel von ihr sehen würde.“
Melanie schnaubte verächtlich. Es sah nicht so aus, als hätte sie
große Lust, sich mit Lily zu unterhalten, also beschloss diese,
lieber zu schweigen und beschäftigte sich die restliche Zeit mit
ihrem PokéCom, bis sie zum Essen gerufen wurden.
Lily beeilte sich, nach unten zu gehen, da sie
ihre Großmutter lieber nicht warten lassen wollte. Melanie folgte
ihr eher gemächlich und mit einem widerwilligen Gesichtsausdruck.
Passend zum heißen Wetter gab es kalte
Buchweizennudeln, die ihre Großmutter servierte, während Tante
Darcy, die von der Arbeit zurückgekehrt war, gekühlten Gerstentee
eingoss. Nach einem kurzen Tischgebet begannen sie zu essen.
„Was waren das denn für Funde?“, erkundigte
sich Lily bei ihrer Tante, um das unangenehme Schweigen am Tisch zu
brechen.
„Teile einer alten Pokémonstatue, die jemand
gefunden hat, als er in der Nähe der Turmruine den Boden aufgegraben
hat. Eigentlich fällt das nicht unbedingt in meinen
Kompetenzbereich, aber ich musste zumindest drüberschauen, bevor wir
es an das Museum weiterleiten können.“ Sie strich sich die langen
schwarzen Haare aus dem Gesicht, bevor sie einen Schluck von ihrem
Tee nahm.
„Du kennst dich eher mit den Alph-Ruinen aus,
oder?“, wagte Lily einen Vorstoß in das Thema, das sie eigentlich
interessierte.
Ihre Tante blickte sie überrascht an. „Wie
kommst du darauf?“
„Wie es aussieht, hat jemand dem Kind die
Wahrheit gesagt“, schaltete ihre Großmutter sich ein. „Ich würde
es aber vorziehen, nach dem Essen darüber zu sprechen.“ Somit
verbrachten sie den Rest der Mahlzeit schweigend, auch wenn Lily es
kaum aushalten konnte, nun da sie so nah an weiteren Informationen
war. Andererseits fürchtete sie sich auch vor dem, was sie gleich
hören würde, schließlich waren die Enthüllungen, die man in
letzter Zeit vor ihr gemacht hatte, alle wenig erfreulich gewesen.
Nach dem Essen wurde Melanie zum Abwaschen
verdonnert, während Lily sich mit ihrer Tante und Großmutter ins
Wohnzimmer setzte. Dort erläuterte sie, wie sie in den Alph-Ruinen
durch Girafarigs Verhalten erfahren hatte, dass dort eine Forscherin
zwei Jahre zuvor spurlos verschwunden war, und darauf zwei und zwei
zusammengezählt und von Rose die Wahrheit gefordert hatte.
„Ich verstehe.“ Darcy rückte ihre Brille
zurecht. „Und nun willst du von mir wissen, ob eine Chance besteht,
sie zurück zu bekommen.“ Als Lily nickte, fuhrt sie fort: „Ehrlich
gestanden, ich weiß es nicht. Ich wünsche es mir, aber auch nach
zwei Jahren intensiven Forschens in den Ruinen selbst und in
dutzenden von Büchern zur Materie weiß ich es einfach nicht. Rose
hat dir sicher erzählt, dass es eine plötzliche Explosion gab, als
Eleanor allein in einer der Ruinen gearbeitet hat? Eine so heftige
Explosion, dass sie wohl niemand überleben könnte, aber unter all
den Trümmern haben wir einfach keine Überreste von ihr gefunden,
deshalb gehe ich davon aus, dass irgendeine psychische Kraft
freigesetzt wurde und sie womöglich in eine andere Dimension
katapultiert hat. Es gab schon einmal einen ähnlichen Fall, in den
Icognito involviert waren.“ Sie sprach sachlich, wissenschaftlich,
ganz anders als Rose, doch wenn Lily genau hinsah, meinte sie, auch
in den grauen Augen ihrer Tante einen Anflug von Trauer zu entdecken.
„Das ist doch Quatsch“, mischte sich Melanie
ein, die inzwischen in der Küche fertig war und sich mit immer noch
gelangweiltem Gesichtsausdruck zu ihnen gesellt hatte. „Andere
Dimensionen gibt es nicht. Die Explosion war wohl einfach so heftig,
dass nichts mehr von ihr übrig geblieben ist.“
Darcy keuchte auf. „Wie kannst du nur so etwas
sagen, noch dazu vor deiner Cousine Lily?“, rief sie empört.
Ihre Tochter zuckte nur mit den Schultern. „Ganz
einfach, so wie du über einer schwachsinnigen Hoffnung alles andere
stehen und liegen lässt, sogar deine eigene Familie.“
„Eleanor ist auch ein Teil meiner Familie“,
wies Darcy sie zurecht.
Melanie rollte nur mit den Augen. „Ach bitte, du
mochtest sie doch nicht einmal. Das hat Dad mir zumindest erzählt,
und dass er keine Lust mehr hatte, an zweiter Stelle zu stehen hinter
deiner vergeblichen Suche nach ihr, nur damit du dir nicht
eingestehen musst, dass deine kleine Schwester nie wiederkommt und du
dich nie bei ihr dafür entschuldigen kannst, was du davor noch zu
ihr gesagt hast.“
Dass Darcy ihre Tochter auf ihr Zimmer schickte,
bemerkte Lily kaum, denn sie war verzweifelt damit beschäftigt, die
Tränen zurückzukämpfen, die sich während der letzten Sätze in
ihren Augen gebildet hatten. Dankbar streichelte sie Evoli, das nun
doch von seiner Position neben ihren Füßen auf ihren Schoß sprang
und sie mit der Nase anstupste. Ihre Großmutter reichte ihr ein
Taschentuch und legte tröstend die Hand auf ihre Schulter, eine
Geste, die Lily nicht von ihr erwartet hätte.
„Hör nicht auf das, was meine Tochter sagt“,
meinte auch Darcy. „Sie ist nur wütend, weil ich sie über der
ganzen Sache vernachlässigt habe, und ihren Vater auch, aber ich
hatte nun mal keine Wahl. Wenn sie das nicht verstehen...“
„Aber stimmt es, dass du Mum nicht mochtest?“,
fragte Lily schniefend.
Ihre Tante schluckte schwer. „Es stimmt, dass
wir unsere Differenzen hatten. Eleanor und ich waren, nein, sind
grundverschieden. Sie war schon immer fröhlich und offen, aber nicht
sehr verantwortungsbewusst, deshalb sind wir oft aneinander geraten,
auch wenn wir zusammen gearbeitet haben.“
„Um uns hat sie sich immer gut gekümmert.“
Lily konnte nun doch nicht verhindern, dass ihr Tränen über die
Wangen liefen.
„Das glaube ich.“ Ihre Tante sah sie
mitfühlend an. „Und sie war auch wirklich kein schlechter Mensch,
im Gegenteil. Nur manchmal hat es mich rasend gemacht, wie sie so
unbekümmert sein konnte und trotzdem von allen so geliebt wurde, und
bevor sie verschwunden ist, habe ich eine Menge Frust an ihr
ausgelassen. Das tut mir heute unendlich Leid.“
„Ihr zwei seid sehr verschieden, und daran bin
ich sicher auch nicht unschuldig. Aber ihr habt beide eure Stärken
und Schwächen und habt doch eigentlich gut zusammengearbeitet. Ich
bin sicher, Eleanor ist dir sehr dankbar für das, was du tust,
Darcy“, schaltete sich ihre Großmutter wieder ins Gespräch ein.
„Und du, Lily, musst deiner Tante und deiner Schwester jetzt
vertrauen, dass sie Eleanor bald wieder finden werden. Hast du mich
verstanden?“
„Ja.“ Lily nickte und wischte sich die Tränen
vom Gesicht. „Danke“, fügte sie an ihre Tante gewandt hinzu.
Diese nickte nur und lächelte traurig.
Bevor sie das Haus verließ, warf Lily noch einen
Blick auf die Bilder, die im Regal standen. Dort gab es ein Porträt
ihrer Großmutter, als sie noch ein Kimono-Girl gewesen war. Sie
lächelte und wirkte wesentlich freundlicher, als Lily sie je erlebt
hatte, und man konnte nur erahnen, was für ein riesiger Unterschied
zwischen ihrem damaligen und jetzigen Leben liegen musste.
Außerdem gab es ein Gruppenphoto, das ihre Tante
mit Melanie und deren Vater zeigte, als sie noch zusammen gelebt
hatten. Sie wirkten glücklich, und ihre Cousine lächelte mit einem
Evoli, das nun wohl ihr Nachtara war, auf dem Arm. Es ließ Lily an
ein Photo denken, das sie zu Hause hatte, auf dem sie selbst mit Rose
und ihren Eltern zu sehen war. Natürlich war sie damals zu klein
gewesen, um sich nun daran zu erinnern, doch auf dem Bild wirkten sie
alle so glücklich, dass es sie beim Betrachten immer etwas traurig
machte.
Das letzte Bild zeigte ihre Mutter als junge Frau.
Ihre braunen Locken, die Lily geerbt hatte, umrahmten ihr hübsches
Gesicht, und die blauen Augen – Rose' Augen – strahlten sie an.
Es war ein wunderschönes Bild, und Lily fuhr andächtig mit dem
Finger darüber.
„Du siehst ihr ähnlich“, ertönte die Stimme
ihrer Großmutter hinter ihr. „Bist du noch eine Weile in der
Stadt? Dann lasse ich dir einen Abzug zukommen.“
„Das wäre sehr nett. Ich werde sicher noch
einige Tage lang im Pokémon Center sein.“
„Ich verstehe.“ Wieder einmal wurde sie
prüfend gemustert, doch es kamen keine weiteren Fragen, wieso sie
nicht im Haus übernachten wollte oder ob sie etwa an einem
Wettbewerb teilnahm. „Grüß deine Schwester, wenn du mit ihr
telefonierst.“
„Das werde ich tun. Danke.“ Lily umarmte ihre
Großmutter und ihre Tante zum Abschied und machte sich dann wieder
auf den Weg. Es war noch nicht einmal spät am Nachmittag, und doch
fühlte sie sich so erschöpft, als wäre es weit nach Mitternacht.
Evoli schien ihre Stimmung zu spüren und trottete brav hinter ihr
her, wobei es ab und zu aufmunternd ihr Bein anstupste. „Du warst
heute wunderbar, Evoli.“ Lily streichelte es dankbar und beschloss,
ihm später eine besondere Leckerei zukommen zu lassen.
Im Pokémon Center war Alex nirgends zu sehen, was
Lily ganz recht war. So konnte sie erst einmal nach oben gehen und
sich das Gesicht waschen und musste sich keinen unangenehmen Fragen
zu ihrem Tag stellen. Zwar war Alex bisher auf keinen Fall
aufdringlich gewesen, sondern im Gegenteil sehr verständnisvoll,
aber er würde sicher fragen, was passiert war, und es wäre ihr
schwer gefallen, ihm dann zu sagen, dass sie nicht darüber sprechen
wollte.
Mit einer Person wollte sie nun aber dringend
reden, also zog sie ihren PokéCom aus der Tasche und wählte die
Nummer ihrer Schwester.
„Lily, ist alles in Ordnung bei dir?“, meldete
diese sich auch sofort.
Beim vertrauten Klang von Rose's Stimme atmete das
Mädchen instinktiv auf. „Na ja, es geht. Wieso fragst du?“
„Weil du nicht das Bildtelefon benutzt. Ist
etwas vorgefallen bei Großmutter?“ Wieder einmal hatte sie den
Nagel auf den Kopf getroffen.
Lily berichtete in groben Zügen von den Dingen,
die dort vorgefallen waren. Ihre Schwester seufzte. „Es tut mir
Leid, dass du da durch musstest. Vielleicht wäre ich doch besser
mitgegangen.“
„Du kannst mich ja nicht immer und vor allem
beschützen“, erwiderte Lily. „Sag mal...“ Sie wusste nicht, ob
sie es fragen konnte, doch wenn sie es nicht tat, würde ihr die
Sache wohl ewig keine Ruhe lassen. „Hasst du mich eigentlich?“
„Wie bitte? Wie kommst du denn darauf? Hat deine
Großmutter das etwa behauptet?“ Rose klang schockiert. „Natürlich
hasse ich dich nicht, wie könnte ich denn!“
„Na ja, weil du doch auch alles für mich
aufgegeben hast, deine Karriere als Koordinatorin und deine Freunde
und...“
„Lily, hör mir jetzt ganz genau zu.“ Rose
sprach in langsamem Ton auf sie ein. „Ich habe die Wettbewerbe
aufgegeben und bin nach Hause zurückgekehrt, weil du mir wichtiger
warst als all das. Ich wollte mit dir zusammenleben. Nicht aus
Pflichtgefühl, sondern weil ich dich wirklich, ganz ehrlich sehr,
sehr lieb habe. Daran darfst du niemals zweifeln, versprichst du mir
das?“
„Versprochen.“ Zum zweiten Mal an diesem Tag
wischte Lily sich die Tränen aus den Augen. „Ich hab dich auch
sehr lieb.“
„Und lass dich nicht zu sehr von dem
runterziehen, was deine Großmutter oder Melanie gesagt haben, ja?
Weder ist eine von uns verpflichtet, ein Kimono-Girl zu werden, noch
sind wir oder Mum schuld daran, dass Tante Darcy und ihr Mann sich
getrennt haben.“
„Ist gut.“ Woher hatte ihre Schwester nur
gewusst, dass diese Dinge ebenfalls an ihr nagten? Wie so oft
verblüffte sie Lily. „Und danke, Rose.“
„Wofür bedankst du dich?“, fragte diese.
„Dafür, dass du mich nicht bei Großmutter
leben lässt. Und... einfach für alles.“ Sie konnte nicht gut in
Worte fassen, was sie fühlte, aber die Ereignisse des Tages hatten
ihr gezeigt, wie viel sie ihrer Schwester doch verdankte.
„Hör auf, du machst mich ganz verlegen“,
wehrte Rose ab, doch Lily konnte hören, wie sie lächelte. „Melde
dich, wenn noch etwas sein sollte.“
„Das werde ich. Bis morgen dann.“ Sie legte
auf und ging ins Bad, wo sie versuchte, sich wieder halbwegs
herzurichten, um Alex beim Abendessen keinen Schreck einzujagen. Die
leichte Rötung ihrer Augen konnte sie nicht verschwinden lassen,
aber davon abgesehen sah sie aus wie immer, als sie nach unten in die
Kantine ging. Tatsächlich wartete der Junge dort schon und winkte
sie zu einem Fensterplatz.
„Ich wollte dich gerade anklingeln und Bescheid
sagen, dass wir wieder hier sind“, sagte der Junge. „Dein Endivie
hat dich schon vermisst.“
Lily lächelte ihr Pokémon an. „Na, hattet ihr
einen schönen Tag?“
„Zumindest einen erfolgreichen“, antwortete
Alex stattdessen. „Das Training lief sehr gut, in ein paar Tagen
würde ich gern Jens herausfordern. Bis dahin würde ich gern noch
mehr trainieren und etwas von der Stadt sehen. Nimmst du eigentlich
am Wettbewerb teil?“ Er deutete auf das schwarze Brett am Eingang
zur Kantine.
„Der ist in vier Tagen, oder? Klar, können wir
morgen vorbeigehen, damit ich mich anmelden kann?“ Zwar stand ihr
momentan überhaupt nicht der Sinn nach Wettbewerben, aber wenn sie
diese Nacht über den Ereignissen schlief, würde das sicher am
nächsten Tag schon ganz anders aussehen, und schließlich hatte sie
Rose ja versprochen, ordentlich mit ihren Pokémon zu trainieren und
kein Trübsal zu blasen.
„Können wir machen. Gehen wir dann auch zum
Tanztheater? Deine Großmutter wäre nicht zufällig so nett, uns
eine Führung zu geben?“
Lily verzog das Gesicht. „Das bezweifle ich.“
Alex musterte sie, und für einen Moment blieb
sein Blick an ihren geröteten Augen hängen. Doch er sagte nichts
dazu und schlug stattdessen vor, die Turmruine zu besuchen, wofür
Lily ihm sehr dankbar war.
Nach dem Abendessen zog sie sich bald auf ihr
Zimmer zurück, wo sie nach vielen wirren Gedankengängen und einigen
weiteren Tränen völlig erschöpft einschlief.