Als Kind wuchs Gustav bei einem General der phoenizischen Armee auf, der ihn nach dem Tod von Gustavs Eltern adoptiert hatte. Eine Mutter gab es in der kleinen Familie nicht, aber ansonsten hatte der Junge eine relativ normale Kindheit: Er besuchte die Schule und spielte in seiner Freizeit mit Freunden. Soweit ein Kind im Grundschulalter schon einen ernst zu nehmenden Berufswunsch haben konnte, wollte Gustav damals (genau wie sein Adoptivvater) ein hochrangiges Mitglied in der Armee werden.
In dem Maße, in dem der Junge nach und nach zu verstehen begann, was bei einer Adoption genau vor sich geht, stellte er seinem Adoptivvater eine Reihe von Fragen über seine leiblichen Eltern. Der General wollte nicht, dass der Junge die politischen Überzeugungen seiner leiblichen Eltern übernahm und deshalb ließ er diese Fragen größtenteils unbeantwortet. Das einzige, was Gustav damals über seine Eltern herausfinden konnte, war, dass sie kurz nach seinem ersten Geburtstag gestorben waren. Aber ansonsten konnte Gustav nichts über seine Eltern heraus bekommen, noch nicht einmal den Namen seiner Eltern.
Für den damals fast neun Jahre alten Jungen ging es damals aber nicht darum, dass er herausfinden wollte, welche politischen Einstellungen seine Eltern hatten, sondern er wollte die Tatsache verarbeiten, dass er nicht (wie seine Klassenkameraden) bei seinen leiblichen Eltern, sondern bei einem Adoptivvater wohnte. Genau wie es bei vielen Adoptivkindern in diesem Alter der Fall ist, hatte er zwar schon erkannt, dass er durch die Adoption in ein neues Elternhaus gekommen war, aber er war sich überhaupt nicht sicher, ob die Beziehung zu seinem Adoptivvater dauerhaft war oder ob dieser ihn irgendwann in eine neue Familie weiter geben würde.
Gut ein Jahr später sollte es tatsächlich dazu kommen, dass der General den Jungen wegschickte. Hierzu kam es, als der General kurz nach Gustavs zehntem Geburtstag von seinen Vorgesetzten die Mitteilung bekam, dass sie seinen „Umerziehungsauftrag“ als erledigt ansahen und er fortan seine Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld unter Beweis stellen solle. Der General war jedoch nicht der Meinung, dass er schon genügend auf seinen Adoptivsohn eingewirkt hätte, um eine passende politische Ausrichtung garantieren zu können. Weil er den Befehl seiner Vorgesetzten aber nicht verweigern wollte und der Junge für einen Einsatz auf dem Schlachtfeld noch zu klein war, brachte der General seinen Adoptivsohn zu einem befreundeten und erwiesenermaßen regierungstreuen Eismagier.
Das Leben bei dem Magier verlief komplett anders ab als das Leben bei dem General: Die Kinder in der neuen Schule waren in kleinere Freundesgrüppchen aufgeteilt, bei denen der Neuling keinen Anschluss fand. Zudem hatte sich der Magier schon lange einen Schüler gewünscht, dem er die Künste der Eismagie weitergeben konnte, und so testete er, ob Gustav eine Begabung für die Magie vorweisen konnte. Wie sich heraus stellte, hatte der Junge sogar ein großes Talent für die Magie, und deshalb entschied der Magier, dass er dem Jungen in der Eismagie ausbilden würde.
Da Gustav damit nicht nur die Schule besuchen, sondern regelmäßig von seinem neuen Pflegevater anspruchsvolle Unterrichtsstunden mit entsprechend zeitraubenden Hausaufgaben bekam, hatte er von nun an keine Zeit mehr, um sich weiter Gedanken über seine Eltern zu machen. Allerdings sollte er ein Jahr später auf einem recht ungewöhnlichem Wege an Informationen über seine Vorfahren heran kommen: Nachdem er elf Jahre alt geworden war, hatte er regelmäßig Träume, die allesamt von der Geschichte einer Fürstenfamilie handelten.
Das Herrschaftsgebiet dieser Fürstenfamile lag mitten im Grenzbereich zwischen dem Kulturbereich des Yue-Reiches und dem zentralen Gebiet mit der abendländischen Kultur. In dieser Gegend gibt es zwei große Flüsse, die vor einigen hundert Jahren die Grenzen zwischen drei benachbarten Ländern bildeten. Im Dreiländereck zwischen diesen drei Ländern (also dort, wo die beiden Flüsse zu einem gemeinsamen Fluss zusammenfließen) gibt es eine etwa drei Quadratkilometer große Insel, die politisch gesehen zu keinem der drei Länder gehörte, sondern eben jenes Fürstentum bildete, von dessen Herrscherfamilie Gustavs Träume handelten. Da unter den Bürgern des Zwergstaates viele überregional bekannte Magier lebten und es zu jedem der Nachbarländer eine kunstvoll gestaltete Brücke gab, war diese Insel weithin unter dem Namen „Zauberbrück“ bekannt. Tatsächlich gehörten auch die Fürsten selbst zu den überregional bekannten Magiern: Sie waren wahre Meister in dem Gebiet der Zeitmagie.
Die Regierungsform des Fürstentums könnte man vielleicht als „direktdemokratische Monarchie“ (als Mischform zwischen einer direkten Demokratie und einer konstitutionellen Monarchie) bezeichnen: Obwohl offiziell ein Fürst an der Spitze des Stadtstaates stand, wurden die politischen Entscheidungen durch Abstimmungen getroffen, an denen jeder volljährige Bürger der Insel teilnehmen konnte. Laut der Verfassung stand dem Fürsten zwar noch ein Vetorecht zu, aber es ist nicht ein einziger Fall bekannt, in dem das Staatsoberhaupt eine Entscheidung seiner Bürger auf diesem Wege zurückgenommen hätte.
Vor etwa hundertzwanzig bis hundertfünfzig Jahren wurden nacheinander alle drei Nachbarländer durch die phoenizische Armee eingenommen und wurden so zu einem Teil des Vielvölkerstaates Phoenicia. Kurz nachdem das dritte Nachbarland seine Selbständigkeit verloren hatte, erschienen Steuereintreiber in Zauberbrück und wollten bei den dortigen Bürgern die phoenizischen Steuern eintreiben. Natürlich weigerten sich die Bewohner des Zwergstaates, die Steuern zu zahlen, da die Insel in ihren Augen noch immer ein eigenständiger Staat war. Die Steuereintreiber zogen sich zurück, aber wenig später griff die phoenizische Armee das kleine Fürstentum an. Obwohl die Magier von Zauberbrück verbissen für die Unabhängigkeit ihrer Insel kämpften und sie von einer größeren Anzahl von Rebellen aus der näheren Umgebung unterstützt wurden, mussten sie sich letzten Endes doch geschlagen geben. Weil den Oberbefehlshabern der phönizischen Armee nicht bekannt war, dass die Insel ein eigener Staat gewesen ist, ging dieser Kampf als „erste Rebellion von Zauberbrück“ in die Geschichte ein.
Da der letzte amtierende Fürst des unabhängigen Zwergstaates gemeinsam mit seinen beiden Söhnen in dem Kampf sein Leben verloren hatte, übernahm nun dessen Neffe den Fürstentitel, auch wenn dieser von nun an keine direkte politische Bedeutung mehr hatte. Von nun an lebte die Fürstenfamilie zurückgezogen in einer kleinen Festung am nördlichen Ufer der Insel, wobei sie regelmäßig Personen unterstützten, die gegen die phönizische Herrschaft rebellierten. In der folgenden Zeit gab es folglich kaum ein Jahrzeht, in dem es auf der Insel nicht mindestens zwei kleinere Aufstände gegeben hätte.
Etwa fünfzig Jahre nach dem Verlust der politischen Unabhängigkeit kam es zu einem größeren Aufstand, der als „zweite Rebellion von Zauberbrück“ in die Geschichte eingehen sollte. Dieses mal beteiligten sich wieder sehr viele Bürger des ehemaligen Fürstentums, aber auch dieses Mal wurden die Inselbewohner von einer größeren Anzahl von Rebellen aus der näheren Umgebung unterstützt. Da auf der Insel nur eine kleine Einheit der phoenizischen Armee stationiert war und weitere Einheiten gerade nicht in der Nähe waren, gelang es den Rebellen, die Arme für einige Tage von der Insel zu vertreiben. Nachdem jedoch einige weitere Kompanien der phoenizischen Armee bei Zauberbrück eingetroffen waren, konnte die Armee die Ordnung auf der Insel wiederherstellen. Allerdings ging die Armee dieses Mal mit voller Härte gegen die Rebellen vor, und so verloren fast drei Viertel der Inselbewohner in der letzten Phase des Aufstands ihr Leben.
Weil die Befehlshaber der phoenizischen Armee im Laufe der „zweiten Rebellion von Zauberbrück“ mitbekommen hatten, dass der Drahtzieher hinter den andauernden Unruhen niemand anderes als die Fürstenfamilie war, mussten der Fürst und seine Familie von nun an noch mehr darauf achten, dass sie der Armee keine Möglichkeit boten, ihrer Habhaft zu werden. Deshalb verteilten sie sich und lebten fortan in unterschiedlichen Verstecken, die sie auch regelmäßig wechselten. Zum Teil waren diese Verstecke auf (oder in der Nähe von) ihrer alten Heimatinsel, zum Teil aber auch recht weit davon entfernt. Diejenigen, die gerade auf der Insel oder sehr nahe bei der Insel waren, sorgten weiterhin dafür, dass es auf der Insel regelmäßig kleinere Aufstände gab.
Etwa Zehn Jahre, bevor Gustav seinen ersten Traum von der Fürstenfamilie hatte, gab es noch eine „dritte Rebellion von Zauberbrück“. Hierzu kam es, als sich durch Zufall alle Nachfahren der Fürstenfamilie auf der Insel waren. Wieder gelang es dem Fürsten und seinen Familienmitgliedern, einen großen Teil der Inselbewohner und eine große Anzahl von Rebellen aus der näheren Umgebung für den Aufstand zu gewinnen. Da das phoenizische Königshaus jedoch schon lange mit diesem Aufstand gerechnet hatte, standen den Rebellen gleich mehrere Kompanien der phoenizischen Armee gegenüber, darunter einige der erfahrensten Soldaten, die in Phoenica aufzutreiben waren. Dieses Mal hatte die Armee also recht schnell die Oberhand gewonnen, und es gelang den Soldaten auch, die meisten Mitglieder der Fürstenfamilie zu eliminieren. Da die Rebellen danach keine Führung mehr hatten, war diese Rebellion (verglichen mit ihren beiden Vorgängern) recht schnell vorbei.
Von der Fürstenfamilie hatten tatsächlich nur zwei Personen überlebt: der damals etwa ein Jahr alte Gustav (der tatsächlich von dieser Fürstenfamilie abstammte) und sein Großonkel. Ein General der phoenizischen Armee nahm das Kleinkind bei sich auf, um die „demokratischen Gedanken“ aus dem Kind weg zu erziehen, und der Großonkel des Kindes zog sich zurück, um im passenden Moment auf telepathischem Wege einen Teil seines Wissens und seiner Erinnerungen an das Kind zu übertragen. Damit die Armee es möglichst schwer haben würde, ihn zu erwischen, hielt er sich von nun an aus sämtlichen Rebellionen fern.
Da die verwandtschaftliche Beziehung zwischen einem Großonkel und seinem Großneffen allerdings schon recht klein ist, musste der Großonkel eine Auswahl treffen, was er Gustav in den Träumen mitteilte, und so entschied er sich, mit der Geschichte der Fürstenfamilie und einem Basiswissen der Raummagie anzufangen. Danach wollte er auf die anderen Teilgebiete der Zeitmagie und die Erfahrungen bei den Rebellionen eingehen, aber dazu kam es nicht mehr, weil ein Mitglied der Armee den Großonkel inzwischen identifiziert hatte, und dieser mit irgendeiner fadenscheinigen Begründung festgenommen und kurz danach hingerichtet wurde.
Zuerst konnte Gustav mit diesen Träumen nichts anfangen, aber da er den Eindruck hatte, dass es Probleme geben konnte, wenn er mit irgend jemandem darüber redete, behielt er den Inhalt dieser Träume für sich. Auf längere Sicht erfuhr er durch diese Träume seinen vollständigen Namen, wer seine Eltern waren und wie diese ihr Leben verloren hatten. Zudem änderte sich durch diese Träume seine Einstellung dem politischen System gegenüber. Aber auch dies behielt er für sich, da er an der Eismagie Gefallen gefunden hatte und sein Verhältnis zu dem regierungstreuen Pflegevater nicht gefährden wollte.
Nachdem Gustav die Schule abgeschlossen hatte, konnte die Ausbildung zu einem Eismagier richtig losgehen, und so nahm das Studium der Magie einen großen Teil seiner Zeit ein. Irgendwann bemerkte der Junge, dass er auch noch eine andere Art der Magie verwenden konnte: Er konnte unsichtbare Gegenstände (wie zum Beispiel Mauern, Treppen oder Brücken) erschaffen. Zuerst hielt er dies für eine übliche Fähigkeit von Eismagiern, da Gegenstände aus klarem Eis ja auch durchsichtig waren, aber kurz nach Gustavs neunzehntem Geburtstag hörten die Träume plötzlich auf. (Zu dieser Zeit war Gustavs Großonkel hingerichtet worden, aber das konnte Gustav natürlich nicht wissen). Das Ausbleiben der Träume veranlasste ihn noch etwas genauer über die Fürsten und ihre Zeitmagie nachzudenken, und dabei fiel ihm auf, dass Eis immer noch sichtbar war, so dass es sich bei den unsichtbaren Gegenständen um eine Art der Raummagie handeln musste.
Von da an versuchte Gustav, die Raummagie mit der Eismagie zu verbinden, indem er die unsichtbaren Gegenstände mit einer dünnen Eisschicht überzog und sie so sichtbar machte. Da Gustav dabei zwei grundverschiedene Magiearten kombinieren musste war das schwieriger als es sich anhört, aber nach einigen Jahren Training gelang es ihm endlich.
Als der Magiermeister eine so erschaffene Treppe sah, war er verblüfft darüber, wie stabil ein „durch Eismagie erschaffener Gegenstand“ werden konnte und erklärte Gustavs Ausbildung für beendet.
Jetzt hatte der junge Magier zum ersten mal in seinem Leben kein richtiges Ziel mehr. Als Kind wollte er ein hochrangiges Mitglied der Armee werden, aber durch seine Zweifel an dem politischen System war er sich jetzt nicht mehr sicher, ob das wirklich eine gute Idee war. Außerdem hatte er ja eine Ausbildung zu einem Eismagier gemacht und keine militärische Ausbildung. Da er jedoch das Gefühl hatte, dass er in einer regierungstreuen Organisation am sichersten lebte (die Fürsten hatten zwar ihre Freiheiten, aber dafür hatte ständig die Gefahr bestanden, dass die Armee ihrer Habhaft wurde und sie hinrichtete), versuchte er dennoch, in der Armee unterzukommen.
Wie sich heraus stellte, hatte der Adoptivvater (offensichtlich in der Meinung, dass er sämtliches demokratische Gedankengut aus Gustav wegerzogen hatte) dafür gesorgt, dass der Junge in jedem Fall in die Armee eintreten konnte. Außerdem hatten Gustavs neuen Vorgesetzten noch eine weitere Überraschung für ihn parat: Weil der Gegeral der Meinung gewesen war, dass es für die Rebellen ein schlechtes Omen wäre, wenn sie erfuhren, dass der letzte Nachfahre der Fürstenfamilie von Zauberbrück nun auf der Seite der Armee kämpft, hatte er veranlasst, dass Gustav bei dem Eintritt in die Armee seinen richtigen Namen erfahren sollte. Für den Sohn der langjährigen Rebellenfamilie war dies allerdings nur die Bestätigung, dass an dem Inhalt der Träume etwas dran war, und um den Schein zu wahren, dass der Plan des Generals aufgegangen war, trat er nun auch tatsächlich in die Armee ein und benutzte von nun an den Namen „Gustav Fürst von Zauberbrück“.