Alicias Antwort auf Leiras Fragen war alles andere als erbauend. Sie wollte sich gar nicht zu genau ausmalen, was die Reaktionen der Erleuchteten ausgelöst hatte, als sie den anderen gefunden hatten... Es musste schrecklich gewesen sein. Ihr Entschluss zu helfen wurde dadurch aber nur bestärkt.
Marika schien genauso zu empfinden, denn sie meldete sich direkt nach Leira. „Immerhin haben ein paar von uns schon gezeigt, dass sie, wenn sie zusammenarbeiten auch einen unmenschlichen Gegner bezwungen bekommen, oder nicht?“, meinte sie und zwinkerte Leira zu. Diese errötete leicht. Marika schien viel von ihr zu halten, das freute sie zwar, jedoch hoffte sie dem auch gerecht zu werden. Dennoch nickte sie. Es war gefährlich und keiner wusste, was sie erwartete, aber sie hatte das Gefühl, deshalb umso dringender mitkommen zu müssen. Es gab zwar andere Erleuchtete, die deutlich mächtiger als sie selbst waren, aber letztendlich waren sie alle nur Teenager und nicht unverwundbar.
Als eine Tischnachbarin sie plötzlich mit einem leisen "hey" ansprach, wandte Leira ihre Aufmerksamkeit von Marika und der Heimleiterin ab und drehte sich zu dem anderen Mädchen um. Die andere hatte blau gefärbte Haare und ebensolche strahlend blauen Augen, die im scharfen Kontrast zu ihrer eher dunklen Hautfarbe standen. Ihr Zeichen befand sich direkt in ihrem Gesicht, ebenfalls in blau. Sie wirkte sehr dünn und in ihren Augen lag eine gewisse Erschöpfung aus früheren Tagen, fand Leira, ansonsten hätte sie eine beeindruckende Erscheinung sein können. Allerdings wirkte sie gleichzeitig auch verunsichert, was sich auch in ihrer Frage ausdrückte, ob sie denn überhaupt eine Hilfe sein könne. Außerdem war sie der Meinung, Leira hätte bereits mehr Erfahrung.
Diese lachte trocken auf. "Naja... Erfahrung. Gewissermaßen", erwiderte sie mit kurzen Pausen zwischen den Wörtern. "Ich war bei einem größeren Kampf dabei. Worum es dabei ging, würde jetzt zu weit führen." Leira hatte nicht die Absicht, die andere, die anscheinend noch nicht so lange hier war, bereits komplett über die Krouchugs aufzuklären. Das wäre gerade etwas viel und beim aktuellen Problem vermutlich nicht hilfreich. Zumindest glaubte sie nicht, dass sie bei dieser "Mission" einem von den Viechern begegnen würden. "Aber wir haben eigentlich nur gewonnen, weil wir viele waren, nicht weil wir einzeln so gut wären... Ich glaub die meisten haben noch keine so perfekte Kontrolle über ihre Fähigkeit. Meine ist auch nur mäßig. Ich kann sie ein- und ausschalten, ja, aber ich bin auch noch nicht so geübt darin", gab sie zu. "Aber Kräfte sind auch nicht alles, ich finde, oft gleichen sie einfach nur etwas aus, wofür uns andere Fähigkeiten fehlen. Manchmal würde es mehr bringen stärker oder schneller zu sein oder gut zielen zu können... Was ist denn deine Superkraft?" Leira hoffte, dass es nichts allzu Gefährliches wäre, denn dann wäre es in der Tat ein Problem, wenn die andere es nicht kontrollieren konnte. In dem Fall könnte sie schließlich auch andere Erleuchtete damit gefährden.
Das andere Mädchen lachte auf. Sie schien das zumindest teilweise so zu sehen und erklärte, dass sie schon einmal bei einem größeren Kampf dabeigewesen war. Was auch immer das bedeuten mochte. Kiandi konnte sich nicht wirklich etwas darunter vorstellen. Doch sie konnte sich denken, dass es zu kompliziert wäre, jetzt alle Einzelheiten zu erklären. Sie begnügte sich also mit der Information, dass sie immerhin zum Teil richtig gelegen hatte und hörte der Erleuchteten weiter zu. Und Kiandi erfuhr, dass scheinbar auch die meisten anderen Erleuchteten ihre Kräfte noch nicht so wirklich gut beherrschten. Trotzdem nagten leise Zweifel an Kiandi. War der Faktor, wie groß eine Gruppe war, wirklich so stark? Andererseits schien das Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren diese Erfahrung gemacht zu haben. Also warum sollte sie ihrer Einschätzung nicht vertrauen? Als die andere ihre eigenen Fähigkeiten erwähnte, stellten sich Kiandis Ohren auf. Sie fragte sich, welche besonderen Kräfte sich wohl in ihrem Gegenüber verbargen. Sie konnte sie also an- und ausschalten? Das war für die junge Erleuchtete schon mehr als beeindruckend. Sie hätte das ja selbst gern gekonnt, aber bisher hatte das bei ihr kaum funktioniert. Doch die Erinnerung an den letzten Versuch war nicht gerade schön, deshalb verdrängte die Fünfzehnjährige diese Gedanken schnell wieder.
"Was ist denn deine Superkraft?", wollte die andere noch wissen.
"Naja, was heißt hier mäßig? Ich wäre froh, wenn ich meine Fähigkeit willentlich einsetzen könnte", erwiderte sie mit einem kleinen Seufzer. "Die wenigen Male, als mir das gelungen ist, konnte ich ... hm, wie beschreib ich das am besten? Tja, ich konnte sozusagen Wände durchlässig machen. Oder andere Hindernisse. Es ist wie eine Art Bereich, durch den man dann durchgehen kann, obwohl da zum Beispiel eigentlich eine Mauer ist. Aber bis jetzt hab ich das nur ein paar Mal eher zufällig hinbekommen. Und ich konnte das nie lange aufrecht erhalten." Im Kopf der jungen Frau erschienen die Bilder ihrer kläglichen Versuche, diesen "Durchgang" hervorzubringen. Und wie die schimmernde Fläche dann doch mal aufgetaucht war, ganz kurz. Die Erinnerungen waren stets mit Angst verbunden gewesen. Aber das könnte sich jetzt ändern. Sie war hier im Moment in Sicherheit. Und wenn dieser Ort nicht wie geschaffen dazu war, ihre Kräfte zu verbessern, mit all den anderen Erleuchteten - dann wusste sie auch nicht.
"Und was kannst du eigentlich?", fragte Kiandi. Da fiel ihr ein, dass sie ihre Tischnachbarin noch gar nicht nach deren Namen gefragt hatte - das musste sie nachholen. "Oh, ich bin übrigens Kiandi", fügte sie an. "Und wie heißt du?"
"Ich bin Leira", stellte sie sich vor, als die Blauhaarige ihr ihren Namen sagte. Sie grinste Kiandi an. "Das ist irgendwie witzig, weil deine Fähigkeit das Gegenteil von meiner zu sein scheint", antwortete Leira. "Ich kann Wände entstehen lassen. Sie sind durchsichtig, nicht mehr als eine Art Kraftfeld. Das Problem mit dem aufrecht erhalten kenn ich aber, das ist bei mir zumindest der schwierigere Teil, besonders wenn etwas dagegen drückt." Leira konnte sich noch allzu gut daran erinnern, wie sie versucht hatte, damit den Weg des Monsters zu versperren. Immerhin gab es jedes Mal einen Aufprall, bevor die Wand einstürzte, was das Vieh immerhin gebremst und verwirrt hatte. Trotzdem war ihr Einsatz, so wie der von der Gruppe insgesamt, wirklich sehr chaotisch gewesen. Da gab es noch deutlich Luft nach oben.
"Das mit der Fähigkeit ist aber wie Fahrrad fahren. Anfangs ist es nicht leicht, aber wenn man den Bogen raus hat, muss man gar nicht mehr drüber nachdenken", versuchte sie die andere zu ermutigen. Sie selbst brauchte um die Wände zu erschaffen kaum Konzentration oder Anstrengung, nur das Festhalten war ein schwieriger Aspekt. Das war eher mit Armdrücken vergleichbar und im Moment verlor sie noch relativ schnell gegen den imaginären Feind - beziehungsweise die Kraft, die auf ihre Wand einwirkte.
Inzwischen hatte jemand anderes das Wort ergriffen. Leira drehte sich nach der Person um, die aufgestanden war. Auch dieser Junge hatte blaue Haare. Scheint wohl grad im Trend zu liegen. Der Junge hielt eine etwas längere Rede, mit vielleicht etwas zu viel Pathos für Leiras Geschmack, aber im Kern hatte er durchaus recht. Wobei sie insgesamt eher geteilter Meinung war. Viele zu sein hieß, dass sie mehrere Fähigkeiten zusammen hatten und womöglich mehr bewirken konnten, aber andererseits würden sich auch mehr in Gefahr bringen. Es war eine Abwägung und vor allem eine Entscheidung, die jeder für sich treffen musste. Jedoch klangen ihr noch Alicias Worte in den Ohren, die gesagt hatte, dass sie letztes Mal zu spät gewesen waren, also sollte besser jeder seine Entscheidung sofort treffen. Egal wie viele oder wenige sie sein würden, der Knackpunkt war doch, dass sie so schnell wie möglich aufbrechen sollten!
Sie schob ihr Geschirr zur Seite und stand ebenfalls auf. Zum Glück war sie schon mit dem Essen fertig gewesen. "Leute, wenn es letztes Mal zu spät war, sollten wir dann nicht sofort aufbrechen? Entscheidet euch und dann los", forderte sie die Gruppe auf. Sie warf Alicia einen Blick zu. "Wie wär's wenn wir uns in fünf Minuten draußen am Bus treffen? Wer da ist kommt mit, und wer nicht, bleibt da. Keine langen Diskussionen", schlug sie vor. Auf diese Weise mussten sie auch nicht abwarten wer sich alles noch öffentlich freiwillig meldete und jeder hatte nochmal kurz Zeit um in sich zu gehen.
Das Mädchen stellte sich als Leira vor. Für einen kurzen Moment schien die schwere Stimmung über dem Speisesaal verflogen zu sein, als sie grinsend erklärte, ihre besondere Kraft wäre sozusagen die Umkehrung von Kiandis Fähigkeit. Deren Gesicht spiegelte erst Überraschung wieder, dann konnte auch sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Das war schon wirklich witzig. Als hätten die beiden gegensätzlichen Talente sich angezogen. Es hatte etwas Faszinierendes, mehr über die anderen Erleuchteten zu erfahren. Die Tatsache, dass all das Realität war - daran musste das Mädchen sich erst noch gewöhnen. Aber es war so spannend, in diese Welt einzutauchen und mehr und mehr zu entdecken. Gleichzeitig schien das viele Gefahren mit sich zu bringen. Alicias Aufruf war der beste Beweis dafür. Trotzdem merkte Kiandi, wie sie sich durch Leiras Worte bestärkt fühlte. Früher oder später würde sie ihre Fähigkeiten kontrollieren können. Es musste einfach gehen. Dieses neue Leben, was gerade erst begonnen hatte, erschien der jungen Erleuchteten wie die Gelegenheit. Sie hatte keine Ahnung, was auf sie zukommen könnte, aber sie hatte sich entschieden, dass sie dafür kämpfen wollte, wenn sie konnte. Kiandi schenkte Leira ein entschlossenes Lächeln und wollte gerade antworten, da meldete sich ein Junge zu Wort. Er schien erst ein wenig unsicher zu sein, unterbrach seine kleine Rede dann jedoch nicht. Das, was er sagte, bekräftigte Kiandi in ihrem Entschluss. Wenn auch die mitgingen, die vielleicht noch nicht so stark waren oder sich so einschätzten, dann würde sie nicht hier bleiben.
Nachdem der Junge zu Ende gesprochen hatte, stand auch Leira auf und wandte sich an die im Speisesaal versammelten Erleuchteten. Fünf Minuten? Das war nicht viel Zeit. Aber Kiandi besaß eh nicht viel, was sie zusammenpacken musste. Es kostete die Teenagerin mit den blauen Haaren einen kleinen Augenblick der Überwindung. Dann schob auch sie ihren Stuhl zurück, stellte sich neben Leira und verkündete:
"Ok, dann komm ich auch mit."
OT: In Zusammenarbeit mit _Luna_