Kapitel2
„If you could see what's real in me”
Beauty of the Dark (Mads Langer)
Den gesamten ersten Januar wollte ich bei meiner Freundin Lucy verbringen. Das taten wir schon seit Jahren. Irgendwann, und wir waren uns beide nicht mehr sicher wann genau, hatten wir damit begonnen, unsere eigene kleine Neujahrsparty zu schmeißen. Die Tradition war geblieben, der Ablauf dieser Treffen hatte sich verändert, je älter wir wurden.
Als wir irgendwann in der Grundschule mit unseren nachträglichen Feierlichkeiten ins neue Jahr angefangen hatten, waren es nette Nachmittage mit Kuchen, Keksen und Kakao gewesen. Wenn Schnee gelegen hatte, waren wir anschließend bis zum Sonnenuntergang, etwa gegen 4 Uhr nachmittags, unterwegs gewesen und hatten uns die Zeit mit Schneeballschlachten vertrieben.
Im Teenageralter verabschiedeten wir uns von dem gemütlichen Kaffeekränzchen. Lucys Eltern hatten es mit uns beiden nicht gerade leicht gehabt. Mit 14 hatten wir Lucys neue Stereoanlage so weit aufgedreht, dass die Nachbarn von der anderen Straßenseite an ihrer Haustür sturmklingelten. Mit 16 hatten wir den Kakao durch Alkohol ersetzt. Keine harten Sachen. Doch die Menge war ausschlaggebend und ich muss gestehen, dass ich mich nur noch daran erinnere, gegen 23 Uhr von meinen Eltern abgeholt worden zu sein. Mal ganz davon abgesehen, dass mir am nächsten Tag der Schädel gebrummt hatte.
Im letzten Jahr hatte Lucy aus unseren freundschaftlichen Treffen eine riesige Party mit zig Leuten gemacht, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Damals war sie noch mit einem Jungen namens Ted zusammen gewesen. Ich hatte ihn nicht gemocht. Die ganze Zeit waren sie übereinander hergefallen und mich, ihre beste Freundin, hatte sie darüber total vergessen und links liegen lassen. Mittlerweile hatten sie sich getrennt und ich war froh darüber. Wer weiß…vielleicht war ich auch einfach nur eifersüchtig gewesen. So eifersüchtig, dass ich mich meinerseits schon wenig später ebenfalls einem Jungen an den Hals geworfen hatte. Ruan. Der plötzlich und wie aus dem Nichts in meinem Leben aufgetaucht war. Als wäre er aus den Schatten der Nacht ins gleißende Sonnenlicht getreten, sodass ich kleiner, unbedeutender Mensch auf ihn aufmerksam werden konnte.
Die Sonne meinte es auch an diesem Neujahrstag ausgesprochen gut. Während ich gemütlich durch die Straßen schlenderte, auf dem Weg zu Lucys Wohnviertel, dass eine gute halbe Stunde entfernt lag, breitete sich über mir ein strahlend blauer Himmel aus. Keine Wolke war zu sehen, als ich den Blick hob und ins Sonnenlicht blinzelte.
Mit dem Verlassen der Wohngegend und dem Betreten der Innenstadt schwirrten mir jedoch alles andere als sonnige Gedanken durch den Kopf. Nachdem ich Ruan bei Mr. Unbekannt zurückgelassen hatte, war ich in aller Eile zurück nach Hause gelaufen. Meine Eltern hatten mir zwanzig Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Immer abwechselnd. Immer besorgter klingend. Als ich dann endlich und offensichtlich zu ihrer Beruhigung zurückrief, hatte ich eine Standpauke über mich ergehen lassen müssen, die sich gewaschen hatte. Erst als ich beteuerte, eingeschlafen zu sein und Mitternacht vollkommen verpasst zu haben, gaben sie Ruhe.
Meine Eltern waren schon immer sehr überfürsorglich gewesen. Dass ich in der Grundschule bei Sonnenuntergang zurück im Haus sein musste, hatte seinen Grund gehabt. Sie fürchteten sich davor, mich an einen Vampir zu verlieren. Hätten sie doch nur gewusst, dass diese Wesen bei Tage genauso gefährlich waren, wie in der Nacht! Sie hatten keine Ahnung gehabt. Ich hatte keine Ahnung gehabt. Alle normalen Bürger hatten keine Ahnung! Nur einige wenige Politiker und die Vampire selbst wussten, wie es um all die Gerüchte über die Wesen der Nacht bestellt war. Nur sie wussten, dass kaum etwas davon der Wahrheit entsprach.
Sonne? Ich liebte die Sonne nach wie vor über alles! Der Sommer war meine Lieblingsjahreszeit und würde es auch bleiben. Die kräftigen Farben, der klare Himmel, die gut gelaunten Menschen. Nur die Wärme auf meiner Haut, die würde ich vermissen, denn ebenso wie für Kälte hatte ich kein Gespür mehr für dieses Extrem.
Knoblauch? Nun, ich konnte nicht von mir behaupten, das Zeug besonders gerne zu essen, aber ich hatte auch keine Probleme damit. Ab und zu konnte so ein belegtes Brot mit Knoblauchsalami ganz lecker sein.
Kruzifixe? Meine Eltern hatten mich nicht gläubig erzogen und selbst, wenn sie es getan hätten, bezweifelte ich, dass an der Angst vor diesen Kreuzen wirklich etwas dran war.
Da wir mit dem Sonnenlicht keine Probleme hatten, erübrigte sich wohl auch die absurde Idee, Vampire müssten in Särgen schlafen. Es grauste mir vor dem Gedanken, in so einem engen Raum eingesperrt zu sein. In der ersten Nacht nach meiner Verwandlung war meine größte Angst tatsächlich gewesen, in einem Sarg schlafen zu müssen. Nicht, von der Sonne zu Asche verbrannt zu werden. Nicht, von irgendwelchen Menschen mit Kruzifixen aufgesucht zu werden. Nein, es hatte sich nur diese lächerliche Furcht vor der Enge eines Sarges in mir ausgebreitet.
Das bewies lediglich wie unwissend ich gewesen war und wie unwissend auch all die Menschen um mich herum waren. Von klein auf wurden wir mit diesen Regeln konfrontiert, die uns beruhigen sollten. Menschen brauchten keine Angst vor den Vampiren haben, solange sie vor Einbruch der Nacht in ihren Häusern waren. Niemand in unserer Gesellschaft hatte das jemals in Frage gestellt. So lebten wir schon seit Generationen. In Wahrheit war das jedoch nur eine lächerliche Farce der Politiker, die mit den Oberhäuptern der Vampire vor Jahrhunderten ein Abkommen geschlossen hatten.
Da von den ursprünglichen Verfassern des Abkommens, zumindest von der menschlichen Seite her, niemand mehr am Leben war, konnte man davon ausgehen, dass selbst die Politiker in den hohen Führungspositionen nicht mehr über alle Fakten, Vampire betreffend, im Bilde waren. Und so verhielten sie sich leider Gottes auch. Warum wurde nichts unternommen, wenn am helllichten Tage junge Mädchen verschwanden und später beinahe blutleer aufgefunden wurden? Warum schob man das einem menschlichen Täter in die Schuhe, wo die Beweislast für die Tat eines Vampirs doch erdrückend war? Die Antwort war simpel. Die Menschen wussten es nicht besser. Bei Tageslicht konnte es kein Vampir gewesen sein. Auch ich hatte mich im Schein der Sonne sicher gefühlt.
Was genau in dem Abkommen von damals stand, das irgendwann spurlos verschwunden war, wusste ich nicht. Ruan sagte mir nur, dass es uns durch diese Schrift gestattet war, in der gleichen Stadt wie die Menschen zu leben. Außerdem durften wir uns unter ihnen bewegen, solange wir sie nur in der Nacht attackierten und selbst dann nur, wenn sie dumm genug waren, auf die Straße zu gehen oder sich uns freiwillig hinzugeben. In Häuser eindringen war uns anscheinend ausdrücklich verboten.
Über die Jahrzehnte hinweg waren einige Vampire wohl zu dem Schluss gekommen, dass die Regeln des Abkommens ein bisschen gelockert werden sollten und so kam es immer wieder zu Fällen, in denen Personen spurlos verschwanden und tot wieder auftauchten. Wie viele Fälle es gab, in denen ein frisch gebissener Vampir wie ich weiter seiner Beschäftigung nachging, als wäre nichts passiert, daran wagte ich gar nicht zu denken. Wie vielen Vampiren war ich in meinem Leben wohl begegnet, ohne sie als solche erkannt zu haben?
Während all dieser Gedanken hatte ich stur Richtung Boden geschaut, sodass ich recht erstaunt war, als ich vor Lucys Haus stand. Der Weg war mir heute viel kürzer vorgekommen als sonst und ich hoffte inständig, dass ich durch meine Grübelei nicht versehentlich schneller gelaufen war, als es Menschen tun sollten. Ich durfte mich auf gar keinen Fall verraten! Das wäre nicht gut.
Wenn den Menschen klar wurde, dass wir uns auch bei schönstem Sonnenschein draußen herumtreiben konnten, würden sie auf die Barrikaden gehen, uns jagen und unserer Existenz ein Ende bereiten. Dabei hatten die meisten von uns absolut nichts verbrochen! Wir hielten uns an das Abkommen. Kein Eindringen in Häuser. Nur Menschen beißen, die sich bewusst der Gefahr aussetzten. Bei Tageslicht unauffällig ein normales Leben führen.
Sollte aber herauskommen, dass unsere angeblichen Schwächen gar keine Schwächen waren, würden sie uns alle tot sehen wollen, nicht nur die, die wirklich gegen die Regeln verstoßen hatten. Aus Angst. Aus Wut. Ich konnte das nachempfinden. Zumindest Ruan hätte ich nach seinem Biss am liebsten mausetot vor mir liegen sehen. Durch mein eigenes Schicksal hatte ich schon eine furchtbare Wut auf ihn im Bauch gehabt und hatte sie immer noch. Ich fragte mich, was ich fühlen würde, wenn mein Kind einem Vampir zum Opfer fallen würde. Ja, ich würde genauso reagieren, wie die Menschen in meiner Fantasie. Da war ich mir sicher.
Ich betrat Lucys Haus, ohne anzuklopfen. Wenn sie wusste, dass ich vorbeikam, war die Tür nie abgeschlossen und ich konnte sie problemlos öffnen. Als ich den ersten Schritt in den Flur hineintrat, stieg mir der Geruch von Marzipan, von Schokolade und von Zimt in die Nase. Ich atmete ihn einige Male genüsslich ein, während ich mich aus meinem Mantel schälte und ihn an die Garderobe hing, die ich im stockfinsteren Hausflur gewiss nicht gesehen hätte, wäre ich kein Vampir. Doch auch ohne sie zu sehen, hätte ich sie gefunden. Ich war in den letzten Jahren viel zu oft in diesen Wänden ein und aus gegangen.
In diesem Moment, in dem ich meinem Geruchssinn folgte, der mich zu Lucy und den Keksen führen würde, hätte ich die Augen schließen und die gesamte Inneneinrichtung des Hauses ohne Fehler wiedergeben können. Es war kein großes Gebäude. Das Haus, in dem Lucy mit ihren Eltern wohnte, erinnerte sehr an die schmalen Häuser, die man in vielen Städten in Großbritannien vorfand. Wenn man den Flur betrat, war die Garderobe auf der linken Seite des Raumes. Dort gab es auch einen Lichtschalter, den ich aber geflissentlich ignoriert hatte, weil ich wusste, dass es hier keine Lampe gab, die durch ihn eingeschaltet hätte werden können. Auf der rechten Seite führte dann eine Treppe in die obere Etage, während links eine Tür in die Wohnküche abging.
Ich flitzte die Treppe hinauf, wo drei weitere Türen auf mich warteten. Der Flur war gerade einmal breit genug, um sich einmal im Kreis zu drehen. Hier befanden sich Lucys Zimmer, das Schlafzimmer ihrer Eltern und das Bad. Fröhlich und vom Geruch frisch gebackener Plätzchen verzaubert, riss ich die Tür zum Zimmer meiner Freundin auf, wo ich Lucy mit einer Keksdose auf ihrem Bett liegend vorfand.
„Du hast auf dich warten lassen.“, sagte sie.
„Du hast Plätzchen gebacken.“, antwortete ich völlig zusammenhanglos.
Sie kicherte.
„Stell dir vor, das habe ich. Es waren so viele Zutaten von Weihnachten übrig. Da dachte ich, die müssen noch verbraucht werden. Willst du?“
Sie hielt mir die Dose entgegen und ich griff beherzt hinein. Zu Schokoplätzchen sagte ich niemals nein! Anschließend ließ ich mich neben sie aufs Bett fallen und starrte zur Zimmerdecke empor. Ich knabberte an dem Keks, den ich mir gegriffen hatte und bemerkte nur beiläufig, dass der Fernseher lief. Als ich geschluckt hatte, wandte ich mich an Lucy, die sich aufgesetzt und begonnen hatte, meine langen braunen Haare zu Zöpfen zu flächten.
„Was machen wir heute?“, fragte ich neugierig und recht gut gelaunt. Schlimmer als im letzten Jahr konnte unser Neujahrstreffen gar nicht ablaufen.
„Ich dachte, wir gucken uns einfach ein paar Filme an und futtern Süßigkeiten. Ich hab auch noch Gummibärchen, Karamellbonbons und Marshmallows.“
„Klingt gut!“, rief ich aus und als Lucy damit fertig war, meine Haare zu bearbeiten, richtete ich mich auf und begann mit meinen Fingern durch ihr blondes Haar zu fahren. Sie hatte sich die Haare vor einigen Wochen ganz kurz schneiden lassen. Anfangs hatte es mich sehr fiel Anstrengung gekostet, mich nicht im Anblick ihres freigelegten Halses zu verlieren, doch mittlerweile war es okay. Ich konnte mich beherrschen…solange ich nachts genug Blut zu mir nahm.
Bei diesem Gedanken musste ich schlucken. Hatte ich das denn? Ehrlich gesagt…wurde mir schon etwas schummerig, als ich Lucy zwei Spangen in die Haare steckte.
Ach was, das war einfach nur Einbildung! Ich hatte vielleicht nicht viel getrunken, da Ruan mich gestört hatte, aber für meine Verhältnisse müsste es gereicht haben.
„Was für Filme haben wir?“, fragte ich, um mich abzulenken, und ließ mir von Lucy die DVDs reichen.
Meine Blicke fielen auf Titel wie Herrliches Gemetzel, Mord am Valentinstag und Das Vampir-Massaker und ich seufzte schwer auf. Lucy hatte schon immer einen sehr eigenen Geschmack gehabt. Dort draußen auf der Straße geschahen solche Gräueltaten in jeder Nacht. Nicht wenige von ihnen hatte ich in den letzten zwei Monaten selbst begangen und eine kleine noch menschliche Spur auf meiner Seele versuchte mir dafür ein schlechtes Gewissen einzureden. Ich biss mir auf die Lippe und schmeckte Blut, das mir ein unmerkliches Würgen entlockte. Das Blut eines Vampirs, totes Blut, war einfach ungenießbar und widerwärtig. Zumindest glaubte ich das. Allerdings hatte ich bisher ja nur das Blut eines Vampirs gekostet und dieses nächtliche Geschöpf war ich. Ich konnte mich also irren.
Ich wog die Titel der verschiedenen Horrorfilme alle gegeneinander ab und versuchte den Harmlosesten zu erkennen. Alle waren mit einer Freigabe ab 18 Jahren gekennzeichnet, doch davon wollte ich mich nicht beirren lassen. Ob ein Film gruselig war oder nicht, das war nach wie vor Ansichtssache. Ich war kein Fan von Thrillern und Psychoschockern. Sinnlose Gemetzel-Filme mochte ich noch weniger. So viel das Herrliche Gemetzel schon einmal raus und da sich Mord am Valentinstag nach einem Film anhörte, der ganz sicher auf die Psyche schlagen würde, entschied ich mich leicht frustriert für Das Vampir-Massaker. Wie konnte man so einen schönen, sonnigen Tag nur mit diesen Filmen verbringen wollen? Aber gut, ich wollte mich nicht beschweren. Alles war besser, als die Party im vergangenen Jahr…oder mein Kater von vor zwei Jahren.
Kurze Zeit später hatten wir uns abermals auf Lucys Bett ausgestreckt und starrten auf den Fernsehbildschirm, auf dem sich die widerlichsten Szenen abspielten, die ich je gesehen hatte. Und im Laufe der Zeit hatte ich mit Lucy schon viele anstößige Filme gesehen. Warum verboten ihr ihre Eltern nicht, mit 11 Jahren einen Film namens Grausames Erwachen zu schauen, in dem es um eine Frau geht, die eines Nachts aufwacht und ihren Mann verblutet neben sich im Bett auffindet? Nach dieser Szene hatte ich die Augen geschlossen gehabt, doch der Film verfolgte mich noch Wochen später in meinen Träumen. Lucy hatte er nichts ausgemacht.
Aber wie gesagt, dass was ich mir jetzt anschauen musste, war noch einmal einen Härtegrad höher. Die Vampire in diesem Film sahen furchterregend aus. Sie erinnerten kaum noch an Menschen und stürzten sich schon seit geschlagenen 45 Minuten ohne Unterlass auf ihre Opfer, die sie durch eine ansonsten menschenleere Umgebung trieben. Das war doch absurd! Entweder hatte ich irgendeinen entscheidenden Teil dieses Filmes verpasst oder er ergab vorne und hinten keinen Sinn.
„Lucy, hat dieser Film auch eine Handlung?“, fragte ich und hielt mir die Hand vors Gesicht, als einer jungen Frau im wahrsten Sinne des Wortes der Hals umgedreht wurde.
„Ich weiß nicht…aber zumindest hat er gute Kritiken bekommen.“, erklärte meine Freundin und biss in ein Plätzchen.
Wer zum Teufel hatte zu diesem Film nur gute Kommentare abgegeben? Vampire konnten nicht unter den Kritikern gewesen sein. Die hätten sich über solch eine Darstellung ihrer Art sicherlich aufgeregt und nur negative Dinge verlauten lassen. Menschen, die noch bei klarem Verstand waren, sollten diesen Film aber auch abartig finden.
„Maja, hab dich nicht so. Der Film ist doch lustig.“
Okay, alle Menschen außer Lucy.
Doch sie hatte Recht. Das war nur ein Film. Ich sollte mich nicht so albern benehmen und die restlichen 60 Minuten Laufzeit irgendwie hinter mich bringen. Ich heftete meine Augen an die Mattscheibe und beobachtete, wie immer mehr Menschen von den Vampiren gebissen wurden, starben und anschließend wieder aufstanden, um sich ebenfalls auf die fliehende Meute zu stürzen. Je länger ich mir das Massaker anschaute, desto gebannter war ich davon. Irgendwann ertappte ich mich dabei, als ich mich darüber freute, dass einem weiteren Mädchen Blut ausgesaugt wurde, das in einem herrlichen Rot an ihrem Hals hinab lief und mich die übrige Szenerie vollkommen ausblenden ließ. Es sah…ziemlich echt aus und ohne dass ich einen Einfluss darauf hätte ausüben können, lief mir das Wasser im Mund zusammen.
Ich krallte mich in Lucys Bettlaken, als mich ein merkwürdiges Schwindelgefühl überkam, das innerhalb weniger Augenblicke von einer Gänsehaut abgelöst wurde, die sich auf meinen Armen ausbreitete. Das Rot aus dem Film war plötzlich überall. Egal wohin ich schaute, meine Sicht war verschwommen. Blutig. Und ich hatte Durst. Solchen Durst, dass ich den Keks, den ich gerade im Mund hatte, am liebsten sofort wieder ausgespuckt hätte. Er kam mir auf einmal staubtrocken vor.
„Hey, ist alles in Ordnung mit dir?“ Lucy hatte meine verkrampfte Haltung bemerkt und sah mich besorgt an. „Du hast ganz rote Augen.“
In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, doch ich war nicht mehr dazu im Stande, die Wichtigen von den Unwichtigen zu unterscheiden. Alles fiel ineinander, wie ein Kartenhaus, das man umgestoßen hatte.
Ich musste mich beruhigen. Ich durfte mich von einem Film nicht so beeinflussen lassen. – Blut! – Ich hatte in der vergangenen Nacht also doch nicht genug getrunken. – Ich will es in meiner Kehle spüren! – Ruan hatte das doch ganz sicher geplant. – Ich will es hier und jetzt, damit dieser Schmerz endlich verschwindet!
Ja, mittlerweile war der Durst schmerzhaft geworden. Mein Blick blieb an Lucys dünnem Hals hängen. Wie wohltuend würde es sein meine Zähne in ihm zu vergraben. Sie warteten darauf und sie waren ungeduldig. Sie wollten diese Haut durchbohren…auf der Stelle! Ich fuhr mit der Zunge über meine Reißzähne, rückte ruckartig an Lucy heran, die mich verstört ansah und dann-
„Tut mir leid, ich glaub mir ist schlecht!“ Ich rannte aus dem Zimmer, lief ins Bad und knallte die Tür hinter mir zu. Gut, dass Lucys Eltern uns beide am ersten Januar immer alleine ließen und Bekannte besuchen gingen. Wäre mir auf diesen paar Metern jemand entgegen gekommen…ich wusste nicht, ob meine Beherrschung auch dafür ausgerecht hätte.
Ich trat vor den Spiegel und ließ kaltes Wasser aus dem Wasserhahn über meine rechte Hand laufen, in die ich aus Reflex gebissen hatte, als ich aufgesprungen war. Die Bisswunde war tief, aber sie würde schnell heilen. Zumindest das war ein wahrer Mythos. Das Mädchen, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte, sah fürchterlich aus. Zerzaust, blass, ihr Gesicht zu einer Grimasse verzerrt. Und in diesem Moment rann ihr sogar eine Träne aus den Augen, die eine blutige Spur auf ihrer Wange hinterließ. Wegen dieser blutroten Tränen, die sich in meinen Augen gebildet hatten, war mein Sichtfeld also so verschwommen gewesen. Dieses Mädchen im Spiegel so vollkommen durcheinander und aufgewühlt zu sehen, war grauenvoll. Schlimmer war nur eines: Ich war dieses Mädchen. Ich war diese Kreatur, die den Wesen aus dem Horrorfilm vielleicht doch nicht so unähnlich war.
Ich schluchzte, als ich begriff, dass ich gerade beinahe meine beste Freundin angegriffen hätte. Mir wurde klar, dass der Vampir in mir keine Unterschiede zwischen Unbekannten, wie dem Mann auf der Straße, und Menschen, denen ich nahestand, machte. Ich dachte, ich hätte mich mit meiner Situation arrangiert, doch das war ein Irrtum gewesen.
Noch nie zuvor hatte ich mich so abstoßend gefühlt.