Kapitel 1
"Please allow me to introduce myself"
~Sympathy For The Devil (Rolling Stones)
Ein heftiger Windstoß ließ die Plakette, die ich an einer Kette um den Hals trug, erzittern und wehte mir ein Gemisch aus Eis und Schnee ins Gesicht. Reflexartig fuhr ich mir mit den Händen über die nackten Oberarme. Eine menschliche Reaktion, die ich mir noch nicht abgewöhnt hatte.
Ich lächelte milde über mich selbst. Warum tat ich das noch? Kälte…die spürte ich doch gar nicht mehr. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, was es bedeutete, zu frieren.
Ich stand auf dem Dach meines Elternhauses, das sich ganz am Rande der Stadt befand, in der ich aufgewachsen war. Wie jedes Jahr an Silvester waren meine Eltern aufgebrochen, um alte Schulfreunde zu besuchen. Normalerweise ließ ich mir dieses Treffen über Neujahr nicht entgehen. Diese Freunde, ein hoher Politiker und seine Frau, hatten einen Sohn in meinem Alter, mit dem ich mich seit jeher sehr gut verstand, doch in diesem Jahr war alles anders.
Vor zwei Monaten war meine Welt aus den Fugen geraten, wurde erschüttert, in kleine Einzelteile zerbrochen und neu zusammengesetzt.
Vor zwei Monaten verließ ich dieses Haus, in dem ich meine gesamte Kindheit verbracht hatte, zum allerletzten Mal als Mensch.
Vor zwei Monaten wurde ich zum Vampir.
Natürlich wussten meine Eltern nichts davon. Ich hatte mir nichts anmerken lassen, ging weiterhin zur Schule. Mein Leben verlief trotz dieser Wendung auf relativ geebneten Bahnen, denn ich hatte erkennen müssen, dass die meisten Dinge, die ich in meinem fast achtzehnjährigen Leben über die Geschöpfe der Nacht gelernt hatte, gar nicht oder nur halb der Wahrheit entsprachen.
Die Sonne vertrug ich sehr gut. Sie hatte keine Einwirkungen auf mich oder andere Vampire. Nachts waren unsere Sinne lediglich viel besser ausgeprägt, weshalb sich unsere Rasse irgendwann dazu entschieden hatte, in der Dunkelheit aktiv zu sein.
Nur die Natur wusste, was sie sich dabei gedacht hatte, aber manchmal vergaß ich dadurch tagsüber sogar, dass ich nicht mehr menschlich war, dass mein Herz nicht mehr schlug. Umso grausamer war der Augenblick, in dem die Sonne am Horizont verschwand und ich mich darauf besann, dass ich anders war. Der Moment zwischen Tag und Nacht, in dem mir eine unangenehme Gänsehaut den Rücken herunter lief und mich ein Durst überkam, der durch kein Getränk der Welt gestillt werden konnte.
Oh ja, ich hatte versucht dieses neue Verlangen in mir mit Wasser zu befriedigen. Tee, Limonade, Kaffee…Als ich zum allerersten Mal das Bedürfnis hatte, meine Zähne in den Hals eines Menschen zu bohren, hatte ich das gesamte Haus auf den Kopf gestellt und mir sämtliche Getränke in den Rachen geschüttet. Umsonst.
Ehe ich registriert hatte, was geschah, stand ich auf einer dunklen Straße. Eine junge Frau lag vor mir auf dem Boden. Leblos. Mit Blut verschmiert, das aus einer Bisswunde an ihrem Hals getreten war. Sie war kaum älter als ich gewesen. Vielleicht Anfang 20, doch ich hatte ihr das Leben genommen. Ihr Blut klebte an meinen Mundwinkeln, lief noch halb flüssig mein Kinn herab.
Mein Durst war gestillt und eine unbeschreibliche Ruhe und Zufriedenheit überkam mich.
Zurück in meinen eigenen vier Wänden war ich vor mir selbst erschrocken, hatte mich vor mir geekelt, doch nach einigen Augenblicken, in denen mich Gewissenbisse plagten, wurde mir klar, dass dies nun mein neues Ich war.
Das war mir doch von klein auf beigebracht worden.
Vampire brauchten Blut um zu überleben.
Ich gehörte nun zu ihnen, also musste ich keine Schuldgefühle haben. Ich hatte lediglich meinen unbändigen Hunger gestillt, der mir das Leben hätte kosten können. Es war quasi eine Notwendigkeit gewesen.
Ich musste mir eingestehen, früher hätte ich jegliche Existenz, egal ob Mensch oder Vampir, für so eine Denkweise verurteilt, doch nun dachte ich selbst so. Ich hatte mich in diesen zwei Monaten verändert und würde niemals behaupten, dass es eine positive Veränderung war.
Nein, positiv war sie nicht…aber unabdingbar.
Leichtfüßig sprang ich vom Rand des Daches und landete unversehrt im Garten unseres Hauses. Der schmale Weg aus kachelförmigen Steinplatten, der zum Tor führte, war mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Gegen Glätte waren nicht einmal Vampire gewappnet, darum tastete ich mich sehr langsam voran.
Auf dem Gehweg vor dem Haus hatte der Winterdienst gewütet, Schnee beiseite geschoben und ganz gewiss nicht mit Streusalz gespart. Hier hatte ich keine Probleme, mich fortzubewegen.
Ohne lange nachzudenken, lief ich los. Das Innere meines Halses fühlte sich staubtrocken an. Ich musste Nahrung finden. Unbedingt…sonst würde ich wahnsinnig werden!
Mit jedem Schritt, den ich näher in das Stadtinnere vordrang, wurde ich aufmerksamer. Einerseits wollte ich schnell ein Opfer finden, meinen Durst befriedigen und anschließend zurück in mein Zimmer. Andererseits wollte ich einer ganz bestimmten Person nicht begegnen.
Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, als ich an ihn dachte. Zwar hatte ich mich mit meinem Dasein als Vampir abgefunden, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich ihm seine Tat vergeben musste!
So wie jetzt wollte ich nie leben. Oder existieren.
Ein Mensch zu sein, hatte mich glücklich gemacht. Mir war oft davon erzählt worden, dass es Menschen gab, die sich den Kreaturen der Nacht freiwillig hingaben, um zu ihnen zu gehören. Ich war nie so ein Mädchen gewesen.
Mein Herz schlagen zu hören, wenn ich eine lange Strecke gesprintet war…jedes Jahr an meinem Geburtstag Fotos zu vergleichen, um zu sehen, wie ich mich verändert hatte…das waren die kleinen Freuden meines Lebens gewesen.
Mein Herz würde nie wieder schlagen. Mein Aussehen würde sich nie wieder verändern. Niemals würde ich eine alte Frau sein. Niemals…
Für mich gab es keine Veränderung mehr. Es gab nur noch existieren oder sterben. Wer würde sich schon freiwillig fürs Letztere entscheiden?
Das hatte sich wohl auch Ruan gedacht, als er mich im Hotelzimmer zuerst erfolgreich verführt…und dann gebissen hatte.
„Dieser Mistkerl.“, brachte ich zähneknirschend heraus und stapfte für einen Vampir vollkommen untypisch durch den Schnee in eine Seitenstraße, wo ich einen zusammengekauerten Mann mittleren Alters auffand. Mit seinem langen vor sich hin wuchernden Bart erinnerte er mich ein ganz kleines bisschen an den Weihnachtsmann…aber wirklich nur ein ganz kleines bisschen. Er trug nämlich keinen langen roten Mantel, sondern eine zerschlissene, vom Schnee klitschnasse, Jeans und eine Lederjacke, die irgendwann einmal neu gewesen sein musste. Vor sehr langer Zeit.
Ich brauchte mir sein ausgemergeltes Gesicht, das von Hunger gezeichnet war, nicht ewig anschauen, um zu begreifen, dass ich es hier mit einer bemitleidenswerten Kreatur zu tun hatte. Bei diesen Witterungsverhältnissen obdachlos zu sein, nahm einem sicherlich jeglichen Lebensmut. Und genau das spiegelte sich in seinen Augen wieder, als er mich erblickte und zu schaudern begann, bevor ich auch nur einen Schritt näher an ihn herangetreten war.
Irgendwie tat er mir leid. Ich hätte ihm gerne geholfen, ihm eine Unterkunft geboten, doch was hätte ihm das schon genützt? Die Neujahrsnacht hätte er dadurch vielleicht wohl behütet in einem Bett verbringen können, doch am nächsten Tag hätte er in sein altes Leben zurückkehren müssen. Wahrlich keine rosigen Aussichten. Da war es besser für ihn, noch heute Nacht von dieser Welt zu scheiden.
Als ich vor ihm stand und mich zu ihm herabbeugte, zeigte er keine Reaktion. Wahrscheinlich war er des Nachts schon oft auf der Flucht vor Vampiren gewesen und hatte mich sofort als eines dieser Geschöpfe erkannt. Das Einzige, was er tat, war seine großen von Augenringen umrahmten Augen auf mich zu richten und mich erwartungsvoll zu mustern.
Dass er nicht einmal die Anstalten machte, davonzulaufen, war mir unheimlich. War er einer dieser Menschen, der freiwillig zum Vampir werden wollte? Seiner Situation nach zu urteilen, konnte ich mir das sogar vorstellen.
„Sie haben doch Angst, warum laufen sie nicht vor mir davon?“, fragte ich und schlug mir danach die Hände vor den Mund. Warum sprach ich mit ihm? Er sollte Nahrung für mich sein, kein Gesprächspartner. Ich wusste doch genau, wie es endete, wenn ich begann, meine Beute als Individuum anzusehen! Daran waren viele meiner nächtlichen Streifzüge gescheitert!
„Ach, Mädchen…glaubst du tatsächlich, dass ich nach einem Tag in dieser Eiseskälte noch dazu im Stande bin, vor dir zu fliehen? Es wäre mir ganz recht, wenn du es kurz machst.“ Er senkte seinen Blick.
„Sie haben mich also sofort als Vampir erkannt?“, fragte ich, traute mich nicht, meinen Blick von ihm abzuwenden.
„Aber sicher.“ Er hustete. „Es gab schon einige Vampire, die mich gesehen haben. Nur hat sich nie jemand für das Blut eines so erbärmlichen Menschen interessiert. Du bist die Erste…scheinst ziemlich wahllos vorzugehen.“
Da hatte er allerdings recht. Mir war es vollkommen egal, wem ich Blut abzapfte. Hauptsache, ich hatte danach für eine Nacht und einen Tag meine Ruhe, bevor mich während der Abenddämmerung erneut das Verlangen nach der roten Flüssigkeit überfiel.
„Ich…ähm…bin noch nicht lange im Geschäft, könnte man sagen.“
„Frisch gebissen?“
Ich nickte.
„Dann wundert es mich nicht. Die Anderen waren alle alteingesessen. Die haben ihre Vorlieben. Du bist sicherlich schon froh, wenn du überhaupt jemanden findest, den du überfallen kannst. Nur zu. Tu dir keinen Zwang an.“ Mit diesen Worten öffnete er den Reißverschluss seiner Jacke so weit, dass ich ohne Probleme an seinen Hals gelangen konnte.
Ich schluckte. Beim Anblick der freigelegten Haut wurde mir ganz schummerig und mir lief das Wasser im Mund zusammen.
Der kleine Teil in mir, der noch nach Menschlichkeit schrie, ließ sich davon allerdings nicht beirren, und hatte das Bedürfnis, diese Unterhaltung fortzuführen.
„Sie wollen also zum Vampir werden. Ist es das?“
Zu meiner Überraschung begann der Mann leise vor sich hin zu lachen und während er das tat, sah er um einiges jünger aus, sodass ich mich fragte, wie alt er wohl war. Anfangs hatte ich ihn auf Mitte Vierzig geschätzt, doch irgendetwas hinderte mich nun daran, diese Vermutung hinzunehmen. Ja…ohne den Bart könnte er glatt als Dreißig durchgehen!
Meine Gedankengänge bekam meine „Beute“ natürlich nicht mit. Er lachte noch immer, doch nach einiger Zeit schmunzelte er nur noch und sprach wieder mit mir.
„Ganz sicher nicht! Ein Vampir zu sein, den Menschen an die Kehle zu springen, das ist so ziemlich das Letzte, was ich will!“
Meine von Tag zu Tag wachsende vampirische Seite hatte den Drang zu widersprechen, doch ich riss mich zusammen. Der Mann hatte Recht. Noch vor kurzem hatte ich genauso gedacht…und tat es teilweise immer noch.
„Dann wollen sie lieber so wie bisher weiterleben?“, fragte ich zögernd und verdrängte das Begehren nach seinem Blut noch einmal in den hintersten Winkel meines Verstandes.
„Nein…nein…“, sagte er tonlos. „Ich will sterben.“
Wäre das Blut in meinen Adern nicht bereits vor mehreren Wochen erstarrt, wäre es in diesem Augenblick der Fall gewesen. Dieser Mann wollte lieber sterben, als so fortzuleben und er wollte lieber sterben, als ein Dasein als Vampir zu fristen.
Das schockierte mich, denn ich hing an meinem Leben…meiner Existenz. Hätte Ruan mir eine Wahl gelassen nachdem er mich bereits gebissen hatte, Tod oder Vampir, ich hätte Letzteres gewählt. Nun ja…eine Wahl hatte er mir natürlich nicht gelassen, darum war es absurd auch nur einen Gedanken an das „Was wäre wenn…“ zu vergeuden.
„Mädchen, ich habe mich informiert. Ich weiß, wie das abläuft. Beißt du mich und saugst mich bis auf den letzten Tropfen Blut aus, werde ich zum Vampir. Lässt du mir jedoch ein Wenig…“
„Dann ist noch Leben in Ihnen und Sie werden am hohen Blutverlust sterben…auf eine menschliche Art und Weise.“, ergänzte ich mit zitternder Stimme. Ich musste nun endlich kurzen Prozess machen, obwohl ich nervös war.
Gut, ich war eigentlich immer nervös, wenn ich nur wenige Augenblicke davor stand, Blut zu trinken. So einfach wie damals war es nie wieder gewesen. Was mir dort zugute gekommen war, war ein Blackout gewesen. Zumindest nannte ich ihn so. Ich war so am Ende gewesen, dass ich meinen Verstand vollkommen abgestellt und nur noch auf meine Instinkte gehört hatte, die ruhelos „Blut! Blut! Blut!“ geschrien hatten.
Die arme Frau…doch die hatte wenigstens keine Zeit bekommen, mit mir zu diskutieren.
Die Verzweiflung dieses Mannes, den ich nun endgültig für Anfang Dreißig hielt, machte mir zu schaffen. Wie grauenvoll musste sein Leben verlaufen sein? Was hatte ihn auf die Straße getrieben?
Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf und ich bereute es schon jetzt, dass ich ihn angesprochen hatte. Es war doch immer das Gleiche mit mir.
Ich hatte Sympathie zu diesem Fremden aufgebaut. Am liebsten würde ich ihn in Ruhe lassen, versuchen, Hilfe für ihn zu finden…oder ich biss ihn und machte ihn gegen seinen Willen zum Vampir.
Aber nein, dann würde ich Ärger mit Ruan, diesem Idioten, bekommen. Letztendlich hatte ich keine Wahlmöglichkeiten…ich musste diesem Mann das Leben nehmen. Zu meinem eigenen Wohl…und auch zu dem Seinigen. Das hatte ich doch schon vor Minuten gewusst.
Langsam beugte ich mich nach vorn, sah noch wie er die Augen schloss. Innerhalb kürzester Zeit hatten meine Lippen die Stelle seines Halses erreicht, unter der ich die Halsschlagader ausmachen konnte. Ich hörte das Blut des Mannes rauschen wie das Wasser eines rasenden Flusses. Sein Herz schlug so laut, dass es in meinen Ohren dröhnte, hetzte die rote Flüssigkeit durch seine Adern. Es war beinahe, als würde er es mir leicht machen wollen.
Nun konnte ich meinen Hunger beim besten Willen nicht mehr unterdrücken. Das hatte ich lange genug getan. Es war Zeit, die Unterhaltung mit diesem Kerl zu vergessen!
Meine Zähne hatten seine Haut bereits ein wenig aufgeritzt, sodass sich ein kleines Blutrinnsal seinen Weg den Hals hinab bahnte. Wie in Trance fuhr ich mit meiner Zunge genau diese Strecke entlang.
So ausgemergelt dieser Mann auch war, sein Blut schmeckte köstlich und ließ den Menschen in mir verschwinden.
Alles in mir schrie nach seinem Blut. Alles!
Ohne auf das Stöhnen, dass er von sich gab, zu achten, packte ich ihn bei den Schultern und drückte ihn gegen die Hauswand, an der er schon die ganze Zeit gelehnte hatte.
Vergessen war die Sympathie. Vergessen sein Leid und seine Not. Er war einfach nur Nahrung und ich würde es genießen, selbst den kleinsten Tropfen Blut aus seinem Körper mein Eigen zu nennen!
Ruckartig riss ich den Mund auf - ein Mensch hätte sich bei dieser Aktion sicher den Kiefer ausgehakt – und vergrub meine Zähne im weichen Fleisch meiner Beute.
Zeitgleich konnte ich die Kirchturmglocken von weitem vernehmen, die immer wieder so laut waren, dass man sie durch die ganze Stadt hörte. Als Vampir selbstverständlich noch ein bisschen lauter.
Als dann die ersten Silvesterraketen über mir explodierten, wurde mir wieder bewusst, welchen Tag wir hatten. Neujahrstag…und es war Mitternacht.
Verdammt, genau jetzt hätte ich meine Eltern anrufen sollen und ich hatte mein Handy nicht dabei!
Ich ließ von dem Mann, dessen Namen ich nicht kannte, ab. Mittlerweile war er bewusstlos. Das bewies nur, wie dreckig es ihm gegangen sein musste. So viel Blut hatte er noch gar nicht verloren, dass er wie leblos am Boden liegen konnte.
„Du lässt dich zu leicht ablenken. Wann lernst du es endlich?“, vernahm ich eine Stimme hinter mir und im nächsten Augenblick wurde ich mit einem kräftigen Stoß beiseite gedrängt, der mich beinahe gegen die gegenüberliegende Hauswand warf.
Meine Sinne waren sofort geschärft. Ein Vampir, ganz klar. Welcher Vampir, auch klar. Niemand außer ihm würde mich so behandeln. Niemand!
„Ruan, was soll der Mist?!“, fauchte ich, traute mich aber nicht, ihn von Mr. Unbekannt fortzureißen, als er nun seinerseits in den dünnen Hals biss. Er war stärker als ich. Und so wartete ich einige Augenblicke, bis das Herz des Mannes, der mich darum gebeten hatte, ihn zu töten, kaum noch zu hören war…und wenig später ganz verklang.
Er war menschlich gestorben. Wenigstens das. Ich hatte schon die Angst gehabt, Ruan macht ihn zu einem von uns. Das hätte er nicht verdient gehabt.
Während sich der schwarze Haarschopf, den ich bisher nur von hinten gesehen hatte, zu mir herumdrehte, wischte ich mir mit dem Ärmel meiner Jacke einige Male über den Mund. Eigentlich wollte ich das Rot entfernen, das noch an meinen Lippen klebte, doch ich hatte eher das Gefühl, es verschmiert zu haben.
Ruans belächelnder Blick bestätigte das und ich stieß innerlich tausend Flüche aus. Ich hasste diesen Kerl so sehr! Wie konnte ich mich nur in ihn verlieben?! Und, verdammt, wie hatte er es eigentlich geschafft, mir fast ein halbes Jahr lang den liebenswerten Jungen von nebenan vorzuspielen, ohne, dass ich auch nur ansatzweise seine wahre Identität erraten hatte?!
„Wann lernst du es endlich, sofort zuzuschlagen?“, fragte er kopfschüttelnd.
„Wann lernst du es endlich, mich in Ruhe zu lassen?!“, sagte ich lauter als gewollt und war recht froh, dass meine Stimme in der Explosion einer Feuerwerksrakete unterging. Etwas ruhiger fuhr ich fort. „Falls du es vergessen haben solltest, wir haben Schluss gemacht, nachdem du mich gebissen hast.“
„Korrigiere Liebes, du hast Schluss gemacht.“, erwiderte er grinsend und kam auf mich zu. Seine Hände waren tief in den Taschen seines dunklen Mantels vergraben. Seine Mundwinkel waren blutverschmiert. Das scherte ihn nicht. Diese arrogante Lässigkeit war einfach das Letzte. So hatte er sich mir nie gezeigt, als ich noch menschlich war. Nie! Hätte er es getan, hätte ich ihn auch links liegen gelassen.
„Und das aus durchaus gutem Grund!“, erwiderte ich auf seine Feststellung und entfernte mich einige Schritte von ihm. „Du hast mich immerhin getötet. Schon vergessen? Ich wollte kein Vampir werden!“
„Das merkt man. Du machst dich nicht sehr gut.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Wenn du das denkst, dann solltest du mich nicht nahezu jede Nacht beobachten! Lass mich einfach in Frieden und beschäftige dich mit einem deiner anderen vierzehn Opfer. Oder sind es mittlerweile schon mehr geworden?“, fragte ich höhnisch und umklammerte die Plakette an meinem Hals, auf der eine „15“ eingraviert war und die mich regelrecht als eine von Ruans Schöpfungen brandmarkte.
Vierzehn andere Menschen…ja, Ruan hatte mir noch in der Nacht meiner Verwandlung zu verstehen gegeben, dass ich nicht die Erste und auch nicht die Letzte war. Er hatte einfach nur sein widerliches Spiel mit mir getrieben.
„Ich gehe jetzt nach Hause.“, sagte ich fest und stolzierte im hohen Bogen an ihm vorbei. Zuerst würde ich mich waschen, dann meine Eltern anrufen. Und dann würde ich mich aufs Ohr hauen. Das war ein sehr guter Plan. Alles war besser, als sich hier weiter mit ihm zu unterhalten.
Ruan machte keine Anstalten mir zu folgen, doch ich spürte seinen Blick in meinem Rücken und ich hatte das Gefühl, meinen Namen zu hören, den er leise vor sich hin wisperte.
Maja Clockwork
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Kommis sind immer gerne gesehen!^^