Draco Meteor
Aus der Sicht von Stella
„Dratini, Vorsicht!“, schrie ich. Erschrocken blickte das Drachenpokémon in den Himmel, und im letzten Moment konnte es ausweichen. Mit einem lauten Knall landete die von der Attacke erzeugte Gesteinskugel neben ihm, ein seltsamer, violetter Dampf rauchte daraus hervor. Schockiert starrte mein Pokémon darauf, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Sein schlangenähnlicher Körper hob und senkte sich hektisch im Takt seines Atems.
„Nein, Dratini! Das war noch nicht alles, gib Acht!“, brüllte ich. Ich war sicher, dass sich Dratini keinen einzigen Treffer leisten konnte. Sicherlich wäre es schon nach dem ersten Schlag besiegt, der Gegner war einfach zu stark. Ich musste auf seine Schnelligkeit und sein Geschick zählen, sonst hatten wir nicht die geringste Chance.
Gleich nachdem ich meine Warnung ausgerufen hatte, wandte sich der Kopf meines Pokémons nach oben, und schon kam der nächste Meteor genau auf es zu. Erneut musste es blitzschnell handeln, um davon nicht getroffen zu werden. Es wand sich auf die rechte Seite, rollte sich von der Gefahrenzone weg. Gerade als es sich aufrichten wollte, kam auch schon der nächste Asteroid, verfehlte es nur um Haaresbreite. Wütend blickte ich auf die andere Seite des Spielfeldes, welche kaum zu erkennen war. Die Attacke hatte den gesamten Himmel mit Wolken überzogen, schwarz wie die Nacht, selbst am helllichten Tag. Und immer wieder schossen daraus riesige Gesteinsklumpen hervor, deren einziges Ziel es war, mein Pokémon zu treffen, zu besiegen. Meinen Gegner sah ich nicht, dazu war es viel zu dunkel, wie eine tiefschwarze Nacht ohne jegliches Sternenlicht. Doch ich sah sein Pokémon, Dragoran, welches hochkonzentriert die Augen fest zusammengekniffen hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen leuchtete es in einem mysteriösen Violett, den Kopf hatte es gesenkt. Ein gepreßtes Geräusch kam aus seiner Kehle hervor, ein Klang allergrößter Anstrengung. Ein Meteorit nach dem anderen trat aus dem Himmel heraus, allein von Dragoran heraufbeschworen. Ein jeder davon zog eine lange Flammenspur hinter sich her, in einem feurigen Rot, gemischt mit einem seltsamen Dunkelblau. Viele verschiedene Größen gab es bei den Gebilden, die immer wieder aus den nachtschwarzen, dichten Schleiern am Himmel heraustraten und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit auf den Boden krachten. Und jeder davon wollte mein Dratini treffen und besiegen.
Immer wieder musste sich Dratini auf eine Seite werfen, manchmal sogar in die Luft hüpfen und sich nach rechts oder links rollen, bloß, um nicht von den Asteroiden getroffen zu werden. Doch an seinen Bewegungen erkannte ich schon nach wenigen Sekunden, dass seine Kräfte es langsam verließen. Immer länger blieb es liegen zwischen den einzelnen Ausweichmanövern, und auch die waren längst nicht mehr so geschmeidig, wie sie gerade noch gewesen waren. Dratini atmete so angestrengt und laut, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Ich konnte es einfach nicht sehen, wie es sich auf den Tod abquälte, damit es diesen Kampf gewann. Das konnte ich ihm einfach nicht zumuten. Und doch hatte ich keine Wahl. Wenn ich meinen Traum verwirklichen wollte, musste ich durchhalten. Und so ließ ich Dratini weiterhin den Meteoriten ausweichen, die es im Sekundentakt um Haaresbreite verfehlten. Jedes Mal, wenn es wieder so knapp wurde, kamen mir beinahe die Tränen von diesem schrecklichen, lauten Keuchen meines Pokémons, welches fast mein Trommelfell zertrümmerte. Und immer lauter wurde das Schnauben, als Dratini verzweifelt versuchte, bei all der Anstrengung noch Luft zu bekommen. Beinahe schloss ich die Augen, doch ich konnte mein armes Pokémon nicht alleine lassen. Ich zwang mich, meine nun schon tränenden Augen offen zu halten und Dratini psychisch unterstützen.
„Komm schon… Du schaffst das…“, flüsterte ich immer wieder. Ich wollte meine Hoffnung nicht aufgeben, wollte weiterkämpfen. Ich spürte, wie eine Träne meine Wange hinunterkullerte, mein Gesicht befeuchtete. Meine Augen fühlten sich an, als wären sie in Säure getaucht. Vor lauter Sorge konnte ich nicht mehr klar denken. Immer wieder spukte mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich verlieren würde. Dass es zu spät war, keine Hoffnung mehr gab. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis Dratini plötzlich nicht mehr ausweichen konnte.
Wie in Zeitlupe fiel einer der Meteoriten genau auf den langen Körper des Pokémon, begrub es unter sich. Und wie in Watte gehüllt nahm ich schließlich auch wahr, wie ich auf die Knie fiel, weinend am Boden zerbrach. Die Stimme des Schiedsrichters, der den Sieger verkündete, bekam ich gar nicht mehr mit. Tieftraurig über diese Niederlage zitterte ich wie Espenlaub, als ich langsam auf den riesigen Asteroiden, unter dem Dratini vergraben war, zukrabbelte. Ich hörte nicht mal mehr Siegfrieds heiseres Lachen, als ihm klarwurde, dass er immer noch unbesiegter Champ von Johto war. Nichts vermochte meine Ohren noch zu erreichen. Ich hatte kläglich versagt.
Aus der Sicht von Dragoran
Ich schnaubte mühsam, strengte mich an. Meine Augen waren fest zusammengepresst, mein Magen hatte sich zusammengezogen. Angespannt versuchte ich, die Wolken und die Meteoren, die daraus hervortraten, zu kontrollieren. Dass sie endlich dieses Dratini treffen würden, besiegen, dass Siegfried erneut einem Herausforderer zeigen konnte, wer hier der Boss war. Ich tat es für ihn, strengte mich so an, weil er es mir befohlen hatte. Er, mein Trainer, bestimmte über mich.
Ich war sein Sklave. Für ihn quälte ich mich, fügte anderen Pokémon Schaden zu, und das, weil ich keine Wahl hatte. Als er mich gefangen hatte, hatte er somit mein Schicksal besiegelt. Wie jedes Pokémon seinem Trainer musste ich ihm gehorchen, es gab keine andere Möglichkeit. Ich verspürte einen Stich in meinem Herzen, als ich dachte, was ich meinem armen Gegner antun würde. Meine Attacke war viel zu stark für das Dratini, mit meinem inneren Auge erkannte ich, wie es sich wand und unter Todesangst den Asteroiden entfliehen wollte, die ich hinaufbeschworen hatte. Ich spürte, dass dies sein Untergang war, denn ich war viel zu stark für es. Keine Chance hatte es, und ich war dafür verantwortlich. Das bereitete mir unheimliche Schmerzen, mein Herz blutete unter dieser Last, dieser Schuld. Und wieder, wie ich es schon so oft getan hatte, verfluchte ich meine Gefangenschaft. Die Herrschaft meines Meisters, die mich zwangshalber völlig unterwarf. Dass ich für ihn Schmerzen zufügen musste, alles bloss nach seinem Befehl gesteuert wurde. Ich konnte mich nicht querstellen, sosehr ich es auch probierte. Nach all den Jahren hatte ich das bereits aufgegeben, die Sklaverei war nicht zu beenden. Denn so waren die Regeln der Natur… Dienen, bis man starb. Sich den Regeln beugen, bis alles endgültig vorbei war. Die Menschen wussten ja gar nicht, was sie uns Pokémon antaten. Sie meinten, wir wären ihre Freunde. Doch so war es nicht. Menschen machten sich Pokémon nicht zu Freunden, sie waren nur gute Schauspieler. Ich wusste, jedes Wesen unserer Welt, welches gefangen war, dachte dasselbe wie ich. Sklaven… Und man musste auch noch gute Miene zum bösen Spiel vorzeigen, praktisch eine glückliche Maske aufsetzen. Wie konnten die Menschen bloß so blind sein? Wie konnten sie nur glauben, wir Pokémon genössen die Gefangenschaft, dienten den Menschen gerne? Das war Lüge, alles Lüge! Ein jedes Pokémon wünschte sich die Freiheit, wer wollte schon seinen Verbündeten Schmerz zufügen, sie besiegen? Immer schon war es eine Qual gewesen für uns, noch niemals war es anders gewesen. Seit Menschen existierten und sich in unsere Welt gedrängt hatten, verfluchten wir unser Leben. Wir alle. Und ich wusste, dass es so war, denn daran bestand kein Zweifel. So war es unseren Vorfahren ergangen, unseren Urvätern. Ich hatte nichts gegen Menschen, denn sie wussten nicht, was sie uns damit antaten. Sie hatten wahrlich keine Ahnung, wie schlimm es für uns war, ihnen willenlos unterworfen zu sein. Freunde, Partner für uns… das gedachten sie zu sein. Und ihr Wissen war viel zu eingeschränkt, um zu merken, wie fürchterlich es wirklich um uns stand.
Und plötzlich, in meinen Gedanken, meinen Flüchen versunken, spürte ich, dass es vorbei war. Meine Attacke hatte ihr Ziel nicht verfehlt, das Dratini war erledigt. Wenn ich hätte weinen können, hätte ich das schon längst getan. Mein Gegner tat mir einfach viel zu Leid, als dass ich über den Sieg hätte glücklich sein können. Eine Gänsehaut überzog mich, als ich die Augen öffnete. Der Anblick war zu schrecklich. Dieses kleine Mädchen, die Herausforderin, war auf den Knien gelandet. Langsam krabbelte sie auf den riesigen Meteor zu, der ihr Pokémon unter sich begraben hatte. Wenn sie doch nur gewusst hätte, dass es dem Dratini sicherlich am liebsten gewesen wäre, wenn sie es einfach in Ruhe gelassen hätte, ohne es nach Hause gegangen wäre…
Ich erhaschte noch einen letzten Blick auf das erbärmliche Geschehen, hörte noch die Verkündung meines Sieges und Siegfrieds kehliges Lachen, als ich spürte, dass ich wieder in den Pokéball gezogen wurde. Der Kampf war vorbei, und ich hatte wieder ein Pokémon besiegt, das doch keine Chance gehabt hatte. Ich hatte gewonnen, doch meine Seele und mein gefangener Geist hatten verloren.