Pikachu
Ein tiefes Knurren erfüllte die Nacht. Von einem schier millionenalten Wesen kam es. Von einem Wesen, das so alt wie die Erde selbst war. Eine riesige Schlange mit smaragdgrünen Schuppen huschte über den Himmel. Einen Moment lang, es war zu schnell für menschliches Auge. Ja, die Schuppen selbst schienen aus den Edelsteinen zu bestehen, sie glitzerten im silbrigen Mondlicht.
Papier raschelte. Schnell erhaschte das kleine Kind noch einen Blick auf den Drachen, bevor die nächste Seite aufgeschlagen wurde.
Das Wesen maß über sieben Meter und doch bekamen es trotz seiner Größe noch nicht viele Menschen zu Gesicht. Der Wächter, die Gottheit!, des Himmelsreiches wurde von denjenigen, glücklichen Menschen als flügellose Schlange bezeichnet. Mysteriös, anmutig…egal welche Worte die Augenzeugen für dieses Wesen gebrauchten: stets klangen sie ehrfürchtig.
Rote Muster überzogen seinen länglichen Körper, gelbe Reptilaugen blitzten auch noch in der dunkelsten Nacht auf, hell und klar wie bei Tage.
Mit funkelnden Augen sah das Mädchen im Alter von drei Jahren auf.
„Weiterlesen!“, forderte sie rasch.
Es bewegte sich im Schutze der Nacht. Jenen Gottheiten waren dazu verdammt zu jagen, waren sie doch in Körpern gefangen.
Die Schlangengestalt erspähte ein von seiner Herde abgetrifftetes Pokemon. Es war noch ein Fohlen. Mit hinkendem Fuße und herzereisendem Ruf nach der Mutter, ging es langsam auf den Hang zu. Setzte vorsichtig einen Schritt vor den Anderem.
Der Wächter des Himmels sah in jenem Wesen eine verblassende Aura des Schicksals. Erst im nächsten Leben hatte es eine Aufgabe zu erfüllen.
„Aber es ist doch ein Baby!“, empörte sich das Kind. Hilfesuchend sah es zu ihrer Mutter auf und wandte danach wieder entsetzt ihren Blick auf das gezeichnete Bild. Im Schatten der Bäume lauerte der Jäger auf sein Opfer. Gleißend, gelbe Augen strahlten aus dem Gebüsch hervor. Sah das Pokemon ihn denn nicht?!
Beruhigend strich die Mutter ihrem Kind über die Wange. „Mein Kleines, es ist doch bloß eine Geschichte“, lächelte sie und fuhr mit erzählender Stimme fort.
Eines Snobilikat gleich, welches vor dem Bau eines Sandans ausharrte, schnellte der Drache hervor. Dolchlange Zähne eines Gebisses in der Größe eines ausgewachsenen Gallopas waren zum Angriff bereit.
Doch wie aus dem Nichts erschien in jener für das Pokemon so schrecklichen Sekunde ein grelles, reines Licht. Es umspielte den Körper seines Opfers.
Es wandelte sich langsam. Rubinrote Schwingen breiteten sich aus, jede einzelne Feder leuchtete im Mondschein. Ein Federkleid in den schönsten Farben bekleideten das zuvor sehr schlicht wirkende Pokemon. Sein Körper bekam eine ibitakgleiche Gestalt. Doch jener maß mehr als vier Meter.
Nun erfüllte ein schriller Schrei eines Vogels die Nacht. Von einem Wesen, das gerade erst im grellen Licht geboren wurde.
Ein silberner Glanz umspielte das in prächtigen Farben erstrahlende Gefieder. Das Licht wandelte sich für kurze Zeit in gleißende Flammen. Der Drache wich erschrocken zurück. Allmählich verging es wieder, doch zurück blieb ein neues Wesen.
Das Pokemon von dem der Himmelswächter glaubte, ihm sei keine Aufgabe zugeteilt worden, sollte von nun an mit ihm über das Reich über den Wolken herrschen.
So wurde Ho-oh geboren.
Amaya starrte in Erinnerungen vertieft auf die Mutter mit ihrem Kind. Wenn doch ihre Eltern noch am Leben wären….
Sofort schallte sie sich in Gedanken dafür. Sie war eine Agentin und eine Diebin! Eigentlich brauchte sie niemanden und doch wünschte Amaya sich manchmal, ihre Eltern wären noch am Leben.
Seufzend ließ sich Amaya in einen recht unbequemen Sessel fallen. Schon seit zwei Stunden wartete sie im Vorraum des Hotels. Warum brauchte Ken bloß so lange alles zusammenzupacken!? So wie sie ihren Liebsten kannte stand er noch immer im Bad und konnte sich nicht so recht entscheiden welche Kleidung er tragen sollte.
„Diese männliche Diva“, raunte sie ihrem Teamkollegen zu.
Auch Kiyoshi wurde langsam ungeduldig. Immer wieder ließ er seinen Blick zu den Stufen wandern.
Aus Langweile wurde die Einrichtung des Hotels viel genauer angesehen, als es Amaya sonst getan hätte.
Rote Seidenvorhänge fielen zu beiden Seite des mit einem Goldrahmen verzierten Fensters hinab. In einem gleichmäßigen Takt prasselten Regentropfen dagegen. Der Himmel war wolkenverhangen und die Luft eisig kalt. Langsam wurde es Herbst. Amaya mochte diese Jahreszeit nicht. Alles erstrahlte in bunten Farben. Rote, gelbe und manchmal auch noch leicht grüne Blätter fielen von den Bäumen hinab. Warum konnte es nicht Winter sein?!
Sofort schweiften ihre Gedanken zu ihrem noch immer nicht erschienen Freund ab. Sie war sich sicher, dass er den Herbst liebte, genauso wie den Sommer und den Frühling.
Den Frühling sicherlich am Meisten, da sich langsam wieder die Welt in ihrer vollen Pracht zeigte. Blumen blühten wieder auf, Pokemon, die den Winter in einem Bau verbracht haben, kamen wieder aus ihren Verstecken hervor um von warmen Sonnenstrahlen begrüßt zu werden.
Amaya mochte den Gedanken nicht.
„Na, gehen wir dann?“, fragte Ken neben ihr.
„Zuerst sich wie ein Model zurechtrichten und dann fragen, ob wir nicht endlich gehen können!“, neckte sie ihn.
Eigentlich hatte sich Amaya schon ihn zurechtweisende Wörter ausgedacht, doch auf einmal war ihr Ärger verflogen. Die lange Wartezeit schien ihr nun bedeutungslos geworden zu sein, als sie in diejenigen blauen Augen sah, in die sie sich als Erstes verliebt hatte.
„Tut mir leid. Du hast mich ja aufgeweckt, aber dann bin ich wieder eingeschlafen und…“
Amaya schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber jetzt hast du alles, oder?“
Er nickte.
„Ist das nicht wunderschön?“, strahlte Ken, als sie schließlich aus dem Hotel gingen.
Es hatte aufgehört zu regnen und ließ eine in den nassen Straßen sich spiegelnde Welt zurück. Noch vereinzelte Wassertropfen lösten sich vom Himmel, doch zwischen den grauen Wolken, kroch langsam wieder die Sonne hervor.
Ein Wasserfilm überzog das bunte Laub und ließ dessen Farben in ihrer vollen Pracht erstrahlen, sofern sie dem raren Sonnenlicht ausgesetzt waren.
Amaya musterte ihren Freund kurz mit liebevollem Blick. Er erinnerte sie immer daran, warum die schier so kalte Agentin sich verliebt hatte.
„Es ist doch bloß Wasser und Herbstlaub“, konterte sie, darauf erpicht ihn wieder zu necken.
„Wunderschön!“, beharrte ihr Liebster.
„Aber kalt“, fügte er hinzu und drängelte sich noch enger in die dünne Jacke.
Auch hatte er Handschuhe und einen Schal gekauft, doch diese waren alle Modeaccsesiours aus Seide. Amaya schüttelte leicht lächelnd den Kopf. Frauenhandschuhe, welche bis über die Ellbogen reichten, und einen Modeschal zu einer ärmellosen Jacke zu tragen, konnte auch nur ihr Freund sich einfallen lassen. Und doch sah es an ihm sofern man ihn kannte, nicht zu albern aus.
„Wie wär’s, wenn wir noch schnell eine ordentliche Jacke kaufen gehen?“, fragte Kiyoshi kurz an und bekam ein klares Nicken zur Antwort.
„Und wen soll ich jetzt bestehlen? Siehst du hier noch Personen auf der Straße? Nein?!“
Grelle Blitze unterbrachen das Gespräch. Ein aufgebrachtes Magnayen lief die Straße entlang, suchte einen geeigneten Kampfplatz. Seine Kehle verließ ein tiefes Knurren. Die Haare des Schattenhundes sträubten sich. Kurz zuckte in der Ferne ein weiterer Blitz auf, dieses Mal war er auf Magnayen gerichtet. Mit einer raschen Bewegung war er ihm ausgewichen.
Eine Donnerkugel schoß aus einer finsteren Seitengasse hervor. Für einige Momente schien es, als würde sich Magnayens Gegner weiterhin im Schutze der Dunkelheit verstecken. Doch jene Kugel aus gelben Blitzen umgab ein Wesen, ein ziemlich kleines Wesen.
Kampfeslustig richtete sich der Feind des Schattenhundes auf.
„Pika-Piii!“, rief er ihm feindselig entgegen.
Eine tiefe Narbe erstreckte sich von seinem linken Augen bis zur Wange. Die schwarzen Spitzen der gelben, langen Ohren zeugten ebenfalls von seiner Kampfeslust. Sie waren zum Teil zerbissen, zerkratzt und auch Brandnamen konnten sie vorweisen.
Gleißende Funken umspielten die roten Backen der Elektromaus. Magnayen tänzelte um das Pikachu. Es versuchte zuzubeißen, wich im nächsten Moment wieder zurück nur um einen neuen Versuch zu starten.
„Pekachuu!“, rief der kleine Raufbold aus und erhellte die recht dunkle Straße für einige Momente. Eines Arboks gleich kam ein Blitz hervogeschnellt und durchdrang den Körper des Schattenhundes. Magnayen hielt sich bloß wankend auf den Beinen, schaffte es aber dennoch. Markerschütterndes Jaulen ertönte über den Straßen Malvenfrohs. Eine weitere Donnerattacke sollte für Magnayens Niederlage sorgen.
„Psiana Sternenschauer, los!“, rief Ken aus, er konnte das Leiden des Schattenhundes nicht mehr ertragen.
„Misch dich da nicht ein!“, giftete Amaya ihn an. „Kann uns doch egal sein, wenn ein paar dumme Pokemon meinen, sie müssen sich den Schädel gegenseitig einschlagen!“
Geschickt wich Pikachu jeden einzelnen der Energiesterne aus. Abwertend, sowie provozierend spuckte das kampfeslustige Pokemon vor sich auf den Boden. Pikachu hasste die Menschen! Und dieser sollte es zu spüren bekommen!
Abermals zuckten Blitze um seine Wangen. Doch jene Attacke war dieses Mal nicht auf ein Pokemon gerichtet. Angsterfüllt starrte Ken den Donnerblitz entgegen. Wie ein Lähmungsmittel fuhr die Angst durch ihn und veranlasste ihn stehen zu bleiben, auf ein Wunder zu hoffen. Wie aus weiter Entfernung glaubte er Amayas Warnrufe wahrzunehmen. Ein schrilles Miauen ließ ihn aus einer verschwommenen Scheinwelt zurückkehren. Psiana hatte sich selbstlos vor ihren Trainer gestellt. Recht schnell hatte sie sich von dem Angriff wieder erholt.
„Psiaana-Psii-Psiaana!“, rief sie dem Pikachu entgegen. ‚Das ist eine Sache zwischen uns beiden, mein Trainer hat nichts damit zu tun’, meinte sie wohl. Die Lichtkatze pfauchte bedrohlich, auch ihr lavendelfarbenes Fell sträubte sich.
„Psystrahl!“, rief Ken aus.
Ein elektrisches Rad kam auf das Pokemon zugerast. Grelle Funken befreiten sich aus dem Rad, wurden jedoch gleich wieder von der Elektrizität zurückgezogen. Licht umspielte das Rad aus Elektrizität, dessen Mitte das Pokemon selbst darstellte, und tauchte es in rote Farben. Noch nie hatte der Koordinator ein solches Schauspiel von einer Attacke gesehen. Gefährlich, unwirklich wirkend und zugleich wunderschön. Der Ehrgeiz dieses erstaunliche Pokemon zu fangen und zu zähmen keimte in dem Trainer auf.
„Ausweichen Psiana und Psychokinese!“, befahl er seiner Katze. Dem Ehrgeiz mischte sich ein mulmiges Gefühl bei, Psiana sollte schließlich nicht verletzt werden.
Ein lilafarbener Lichtfilm bedeckte Psiana, in ihre Augen legte sich ein eisblauer Glanz. So funkelte auch der Edelstein auf ihrer Stirn in allen Regenbogenfarbenen. Mit telepathischen Kräften wurde das Pikachu emporgehoben. Unkonzentriert konnte das gegnerische Pokemon die Kugel aus Blitzen nicht länger um seinen Körper halten.
„Sterneschauer und Psystrahl!“, rief Ken aus. Es war bloß ein Bauchgefühl, dass diese Attacken nun richtig eingesetzt worden waren. Beim Kämpfen blieb nie viel Zeit sich Gedanken zu machen.
Regenbogenfarbene Sterne, durch den Psystrahl gefärbt, trafen Pikachu. Jenes hielt sich schließlich verbissen an einer Laterne fest und stürmte nach dem Sternensturm mit einer schnellen Attacke zurück. Sein Schweif funkelte silbern auf. Stahl traf die Lichtkatze direkt auf dem Kopf. Durch das Metall leitete das kampfeslustige Pokemon einen starken Blitz.
„Psiana, nein!“
Psianas gellender Schrei trieb ihrem Trainer Tränen in die Augen. Bei einem Pokemonkampf sollten sich die Kämpfer doch nicht wirklich verletzen. Dieses Pikachu hielt von dieser Moralvorstellung und von Regeln wohl nicht viel. Obwohl die Lichtkatze längst du Boden gegangen war, verließ ein weiterer Blitz seinen Körper.
„Nein, lass das sein!“, schrie Ken verzweifelt. Psiana durfte nichts geschehen! Sie kannten sich doch schon zehn Jahre, und sie war ihrem Trainer stets eine gute Freundin gewesen. Starkstrom konnte tödlich enden, nicht bloß für Menschen. Normalerweise stoppten die beiden Gegner mit den Attacken, sobald einer von ihnen mit seinen Kräften am Ende war.
„Bitte Pikachu, hör auf“, flehte er.
„Warte, das haben wir gleich. Absol Klingensturm!“, rief Amaya. Psianas Leben war ihr egal, doch sie konnte sich nicht vorstellen mit Kens Vorwürfen zu leben, sie hätte seinem Pokemon nicht geholfen.
Wieder umspielte ein Schmunzeln die Lippen des Pikachu. Ein greller Blitz zerteilte die Energiesichel. Einer weiteren schaffte das Pokemon schließlich nicht mehr zu entgehen.
„Absol, Eisenschweif.“
Nun war es Pikachu, welches energielos am Boden lag. Es lächelte kurz, als es Absol entgegensah. Schon fast ein herausforderndes „Pikka-Pi“ kam der Schattenkatze entgegen.
„Setz Pikachus Leben ein Ende!“, meinte Amaya trocken. Ihre Amethyste wirkten kalt. Ken schauderte bei diesem Anblick.
Kiyoshi griff schließlich ihren Arm und schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er eindringlich.
„Blondschopf, was willst du?“, keifte sie.
„Warte vielleicht sollte ich…“, meinte ihr Liebster schließlich ausweichend, er hatte sich wieder ein wenig gefasst und konnte wieder klar denken.
Unschlüssig rollte er einen kleinen Pokeball zwischen den Fingern. Er war sich nicht sicher, ob dies die richtige Entscheidung war. Würde sich dieses kampfeslustige Pokemon je zähmen lassen? Würde es je anfangen ihn zu mögen oder gar mit ihm Freundschaft schließen? Die Antwort auf diesen Fragen lag in der Zukunft und konnte im Moment noch nicht gegeben werden.
„Na was ist? Wirfst du endlich“, hörte er Amaya ungeduldig sagen. Ihr Absol hatte schon einmal dem Leben eines schlichten Habitaks ein Ende gesetzt, doch in diesem Moment dachte sie an Ken. Er sollte nicht mit ansehen, wie dies wieder geschah. Ihm lag viel zu viel an einem Pokemon, als dass er dies einfach erdulden würde. Amaya liebte ihren Freund wirklich. Rücksicht lautete wohl dieses Wort. Die junge Agentin schallte sich in Gedanken. Sie war wohl wirklich in letzter Zeit weicher und sensibler geworden, denn wenn sie ehrlich war sträubte auch sie sich gegen ihr eigenes Vorhaben zutiefst.
Schlussendlich warf Ken den Ball. Pikachu wandelte sich bei der Berührung in einen roten Energiestrahl um. Die Nerven des Trainers waren zum Zerreisen angespannt. Eine ganze Minute lang, die ihm wie Stunden vorkamen, wehrte sich Pikachu im Inneren des Balles gegen ihn und kämpfte für seine Freiheit. Mit einem lauten Klicken blieb der Pokeball schließlich stehen.
Bedächtig hob Ken es auf. „Ich werde gut auf mein Pikachu acht geben.“
Liebevoll betrachtete er den Ball. „Ich hoffe wir werden doch eines Tages Freunde“, flüsterte er und war sich dabei nicht so sicher – ob sich das Pikachu langsam mit ihm vertragen würde?!