Teil 14: Galazir Island, Speer des Oceans
Glühend versank die Sonne im Meer. In diesen letzten Augenblicken, bevor sie vollends unterging, um am nächsten Morgen wieder auferstehen zu können, erreichte das Abendrot seinen Höhepunkt, gleich einem letzten verzweifeltem Versuch der Lichtkugel sich den Fängen der Nacht zu entziehen. Himmel und Meer verschmolzen fast zu einer rot glühenden Einheit. Hell strahlend, wie tausende Flammenzungen, die zuckend und anmutig auch den letzten Hauch von Leben aus einem vergehenden Holzscheit saugen, um selber bestehen zu können, leuchtete der Himmel. Dunkel glimmernd, wie die Glut eines erlischenden Feuers, ihrer hehren Schönheit beraubt, doch mehr Hitze verströmend, als während ihres gesamten leidenschaftlichen Tanzes, glühte das Meer. Beide wurden nur durch ein dünnes, kaum sichtbares Band voneinander getrennt, so nah, dass sie einander beinahe berühren könnten, und doch für beide unerreichbar, gleich einem verwunschenen Pärchen, das für die Ewigkeit wie Stein verharren muss, nur einen winzigen Schritt von dem Liebsten entfernt, doch nicht in der Lage die unsichtbare Grenze zu überschreiten. Und dort, wo sich die beiden auch für den Rest der Zeit gegenüberstehen würden ragte ein einzelner, riesiger, tiefschwarzer Felsen, einem stillem Wächter gleich in die Höhe. Zerklüftet und so spitz und schmal, als wollte er, einem gewaltigen Speer gleich, alles was sich ihm näherte aufspießen.
Staunend blickte Jessica auf das beeindruckende Schauspiel. Ein letztes Mal flackerte ein schwacher, roter Lichtschein auf, bevor die hereinbrechende Nacht alle Farben tilgte und durch ein sich verdunkelndes Grau ersetzte. Pechschwarz und drohend hoben sich die scharfen Konturen des Felsens von dem grauen Hintergrund ab.
„Beeindruckend, oder?“ Jessica zuckte zusammen, als plötzlich Nancy sie aus ihren Gedanken riss. „Das ist Galazir Island, der Speer des Ozeans. Unser Ziel.“, erklärte sie ihrer neuen Freundin. „Dieser scharfe Felsen ist bewohnbar?“, erstaunt schüttelte Jessica den Kopf. Nancy schmunzelte und blickt fast liebevoll auf die unheimlichen Klippen. „Er ist mehr als nur bewohnbar. Er ist mein Zuhause.“, erwiderte sie leise, „Und er ist der einzige Ort, den ich je Zuhause nennen konnte.“ Gedankenverloren starrte sie aus dem Fenster, bis der Hubschrauber in eine Kurve flog und Galazir ihrem Blick entschwand. Leise seufzend wandte sie sich wieder Jessica zu. „Du kommst nicht aus Gorar, oder?“, fragte sie neugierig. Jessica schüttelte den Kopf. „Nein, ich komme aus Hoenn.“, behauptete sie. Nancy nickte. Sie hatte schon von dieser Region gehört. „Angeblich ist ganz Hoenn ja eine einzige riesige Insel. Stimmt das etwa?“, fragte sie ungläubig. „Na ja, die Region wird eher als Kontinent bezeichnet. Und einige kleinere Inselchen besitzt sie auch. Aber das meiste ist Festland, da hast du recht.“, meinte Jessica. Zum Glück hatte Nancy keine Ahnung davon, dass sie selbst erst seit drei Tagen von der Existenz dieser Region wusste. Mühsam verkniff sie sich ein Lächeln.
„Und was für Pokémon besitzt du außer Trasla noch?“, bei dieser Frage von Nancy hob auch Roland interessiert den Kopf. „Noch gar Keines. Früher hab ich die Hilfe von Pokémon nicht nötig gehabt.“, klärte Jessica, „Und Trasla hab ich auch nur, weil ich hörte, dass ihr eine Belohnung für seine Rückkehr angesetzt habt. Obwohl ich gestehen muss, dass es ganz praktisch ist. Du besitzt Psychopokémon, stimmts?“ Nancy grinste frech. „Nicht ganz. Ich trainiere sowohl Psycho-, als auch Unlichtpokémon.“, erwiderte sie, „Ich liebe dieses Zusammenspiel der gegenteiligen Kräfte von Licht und Schatten; Gut und Böse; Weiß und Schwarz.“ Jessica wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und so saßen für den Rest des Fluges die beiden Mädchen schweigend nebeneinander. Jede in ihren eigenen Gedanken versunken.
Das Dröhnen der riesigen Propeller hallte laut von den zerklüfteten Wänden wieder. Heftige Windböen aufwirbelnd setzte der Hubschrauber auf der flachen, von schroffen Klippen umschlossenen Plattform auf. Langsam erstarben die Rotoren. Mit einem erleichterten Seufzen atmete Nancy die frische Nachtluft ein. Jessica streckte ihre steifen Knochen. Nach einem mehr als acht Stunden andauernden Flug in dem engen Helikopter fühlte sich die raue Meeresbrise unglaublich gut auf der Haut an. Auch Roland wirkte erleichtert, dass sie nun ihr Ziel erreicht hatten.
Eine Gruppe von drei Männern nahm die Neuankömmlinge in Empfang. „Willkommen zurück. Wie ich sehe war euer Auftrag ein Erfolg.“, begrüßte sie einer vor ihnen, bevor er sich Nancy zuwandte, „Irgendwelche Schwierigkeiten mit den PokeAgents?“ „Keine Spur von ihnen.“, grinste Nancy, „War ja auch nicht anders zu erwarten. Ich habe erst ein oder zwei Mal einen verirrten PokeAgent in Olning gesehen. Die meiden dieses Drecksloch! Was ich durchaus verstehen kann.“ Zufrieden nickte der Mann. „Gut. Matias wartet schon auf euch. Ihr solltet euch möglichst beeilen.“ Mit einer knappen Geste verabschiedete sich Nancy von den Männern und führte Roland und Jessica durch einen der zahlreichen Tunnel, die von dem Landeplatz abzweigten.
Die Wände waren rau und uneben. Sie machten nicht den Anschein, als wären sie von Menschen geschaffen worden. Großen Lampen an der Decke spendeten Licht. Immer wieder kreuzten andere Gänge den ihren und schon bald hatte Jessica vollkommen die Orientierung verloren. „Diese Tunnel sind nicht von Menschen gegraben worden, oder?“, fragte sie ihre Begleiterin, um sich etwas abzulenken. „Ich kenn mich damit zwar nicht so gut aus, aber einige andere behaupten dass Galazir von dem stürmischen Wind, dem rauen Wetter und dem Meer so durchlöchert wurde.“, bestätigte Nancy, „Wie du sehen kannst, sind die Gänge ohne ein System angeordnet. Wenn man nicht aufpasst, kann man sich hier wie in einem riesigen Labyrinth verlaufen.“ Obwohl Jessica schon so etwas befürchtet hatte, verschlechterte sich ihre Stimmung. Das passte mal wieder. Ausgerechnet sie, mit ihrem grottenschlechten Orientierungssinn landete in einem Irrgarten. Viel schlimmer konnte es ja nicht mehr kommen.
Nach einer Weile gelangten sie in einen Bereich des Felsens, in dem reges Treiben herrschte. Menschen und Pokémon wuselten wirr durcheinander. Von den breiten Hauptgängen zweigten kleinere ab. Der Stein war hier wohl bearbeitet worden. Dutzende Türen befanden sich in den Wänden der kleineren Tunnel. „Wir sind jetzt im bewohnten Teil des Berges.“, erklärte Nancy, „Hinter den Türen liegen die Zimmer unserer Leute. Und hinter dieser da Vorne“, sie zeigte auf eine Tür, die als einzige von einem Seitengang abzweigte, „Liegt das Büro von unserem Boss Mattias.“ Jessica beobachtete mit klopfendem Herzen, wie die Türe immer näher kam. Roland, dem während des langen Fluges übel geworden war, schien sich nun, ganz zum Leidwesen der Mädchen, wieder erholt zu haben, denn er schritt nun kräftiger aus. Insgeheim hatte Jessica gehofft, er würde länger brauchen um sich zu erholen.
Dann standen sie endlich vor der schweren Tür. Jessicas Magen krampfte sich vor Aufregung und Nervosität zusammen und ihre Knie schlotterten. Sie hatte richtiges Lampenfieber. Wenn sie durch diese Tür trat, würde sie dem Chef der organisierten Verbrecherbande gegenüberstehen. Roland griff nach der Türklinke. Jessica atmete tief durch. Nun würde sich entscheiden, ob sie als Undercoveragentin überhaupt in Frage kam. Konnte sie den Boss von sich überzeugen? Was wenn er ihr nicht glauben würde? Von dieser Insel gäbe es in diesem Fall keinen Fluchtweg für sie.
Knarrend öffnete sich die Tür. Das grüngekleidete Mädchen sammelte sich und versuchte ihre Nervosität zu bändigen. Roland betrat den Raum, gefolgt von Nancy und Jessica, die selbstsicher ausschritt. Nun waren plötzlich alle Ängste und Nervosität vergessen. Nur ihr Auftrag zählte noch. Sie war Jessica, ein Mädchen aus Hoenn, mit einer nicht gerade weißen Weste.
Hinter der Tür befand sich ein geräumiges Büro. Trotz des schwarzen Steines war es gelungen, den Raum freundlich einzurichten. Einige Regale in hellen Pastelltönen bedeckten die Wände auf einer Seite des Raumes. An der anderen war eine weitere Tür zu erkennen. Vermutlich führte sie in die Wohnräume des Chefs. Vor einem großen, hellen Schreibtisch, mit einem Computer, standen drei Stühle, in der gleichen Farbe, wie die Regale. Sogar ein paar Topfpflanzen ließen sich in diesem Zimmer finden. Hinter dem Schreibtisch saß ein junger Mann, Anfang Zwanzig in lässiger Haltung am PC. Er hatte sehr dunkles, rötlich schimmerndes Haar und ein freundliches Gesicht. Eine braune Hose endete in feste Schuhe. Sein Oberkörper war sehr stark bemuskelt und nur eine ärmellose Jacke bedeckte ihn.
Überrumpelt starrte Jessica den Mann an. Nancy kicherte und stupste ihrer verdutzten Freundin in die Seite. „Man ey. Warum glotzen dich echt alle Tussen so blöd an Mattias, ey?“, nörgelte Roland. Jessica beherrschte sich und blickte den Anführer der Bande nur noch interessiert an. Sie hätte sich nicht so aus der Fassung bringen lassen dürfen, aber wer konnte den ahnen, dass der Boss hier so ein Gutaussehender Typ war. Es hätte sie ja ruhig jemand vorwarnen können.
„Vielleicht, weil nicht jeder Kerl so unterbelichtet wie du ist und sich en wenig um sein Äußeres kümmert.“, blaffte Nancy Roland an, „Und im Gegensatz zu dir sieht Matias auch ganz akzeptabel aus. Ich kann Jess gut verstehen, wenn sie bei deinem Anblick gemeint hat, unsere Organisation würde nur aus hirnlosen Trotteln bestehen.“ Fast wären sich die beiden wieder in die Haare geraten, jedoch... „LEUTE RUHE!“, donnerte Matias, „Ihr seid ja schlimmer, wie Sengo und Vipitis. Was soll denn unser Gast von uns halten.“ Gehorsam wendeten sich die beiden voneinander ab. Dennoch warfen sie sich feindselige Blicke zu. „So.“, meinte Matias an Jessica gewandt, „Dein Name lautet also Jess? Ist das richtig?“ „Jessica!“, erwiderte die Angesprochene mit einem Grinsen, „Aber Jess klingt nicht schlecht.“ „In der Tat.“, stimmte ihr der Chef zu und schenkte ihr ein charmantes Lächeln, „Und du hast also unser vermisstes Trasla zurückgeholt?“ „So ist es. Aber was ist eigentlich so besonders an diesem Trasla, dass Sie so einen Aufwand betreiben, um es in die Finger zu bekommen?“, wollte Jess interessiert wissen, „Ich hab zwar mit ihm gekämpft und muss zugeben, dass es ein starkes Kerlchen ist, aber so berauschend ist es wirklich nicht.“ Matias zog überrascht eine Augenbraue nach oben. Mit einem fragenden Blick sah er Nancy an. „Ja, das stimmt.“, bestätigte diese, „Jess hat mit Trasla Rolands Hunduster vernichtend geschlagen. Das hättest du sehen müssen.“ „Sie hat mit dem Schlüsselpokémon Rolands Hunduster geschlagen?“, erkundigte Matias sich interessiert, „Alle Achtung. Ich wusste noch nicht einmal, dass es kämpfen kann.“ Er blickte erneut zu Nancy und diese beantwortete seine unausgesprochene Frage mit einem zustimmenden Nicken. Zufrieden wandte sich Matias wieder Jess zu. „Du hast recht. An den kämpferischen Fähigkeiten dieses Traslas sind wir nicht sonderlich interessiert. Aber du musst wissen, dass es einen speziellen Code in sich trägt. Einzig und allein um diesen geht es uns.“, erklärte er freundlich. „Das trifft sich gut.“, meinte Jessica erfreut, „Ich fand dieses Pokémon nämlich ausgesprochen nützlich.“ „Selbstverständlich kannst du Trasla behalten, sobald wir den Code haben.“, versprach Matias zuvorkommend. Jessica beschlich ein ungutes Gefühl. Irgendwie ging hier alles zu einfach. Etwas stimmte nicht. Dieser Matias war zu freundlich. Jess beschloss vorsichtiger zu sein, sich jedoch nichts anmerken zu lassen.
„Darf ich fragen, was du vorher gemacht hast?“, wollte Matias wissen, „Du scheinst ja nicht aus Gorar zu kommen.“ Jess nickte. „Ich komme aus Hoenn. Ich hab dort den Leuten bei ihren ‚Besorgungen’ geholfen.“, antwortete sie mit ihrem typischen schiefen Grinsen. „Ey man. Besorgungen? Heißt das, du hast echt netten alten Damen im Haushalt geholfen, ey. Echt voll fett, ey.“, grölte Roland. Matias brachte ihn mit einem warnenden Blick zum Schweigen. „Was für ‚Besorgungen’?“ fragte er. Die seltsame Betonung des Wortes war ihm nicht entgangen. Jess Grinsen wurde breiter. „Ich habe wohlhabenden Leuten geholfen Sachen zu erlangen, an die sie sonst nicht herangekommen wären.“, erklärte sie spitzbübisch, „Gegen Bezahlung natürlich.“ Die Augen des Bosses glitzerten wissend auf. „Selbstverständlich. Du bist also eine Diebin.“, stellte er fest. Jessica verzog leicht das Gesicht. „Ich mag diese Bezeichnung meines Handwerks zwar nicht besonders, aber ja, so kann man es nennen. Ich musste Hoenn verlassen, weil einer meiner Auftraggeber von der Polizei in die Mangel genommen wurde. Aber jetzt genug von mir. Wie sieht es mit meiner Belohnung aus?“ „Richtig. Deine Belohnung. Was schwebt dir dabei vor?“, fragte Matias höflich, „Ich denke du hast eine ganz genaue Vorstellung, was du möchtest.“ „So ist es!“, bestätigte Jess, „Da ich neu in dieser Gegend bin und ihr hier die mächtigste Organisation unsererseitens zu sein scheint, hoffe ich, dass ihr mich mit möglichen Auftragsgebern in Verbindung setzt und bei ihnen ein Gutes Wort für mich einlegt.“ Der Plan von Caleb und Domi sah vor, dass sie sich der Organisation schrittweise nähern und diese erst von ihrem Wert überzeugen sollte. Überstürztes Handeln konnte gefährlich sein.
„Ich mag deine Art zu denken.“, bemerkte Matias mit sichtlicher Zufriedenheit, „Du willst zuerst Beziehungen zu möglichen Auftraggebern knüpfen, bevor du über Preise verhandelst. Kein schlechter Schlachtzug. Aber ich muss dir leider mitteilen, dass es hier in Gorar nur wenig Arbeit für eine Diebin gibt. Die PokeAgents halten die Interessenten besser im Griff, als die Polizei es in Hoenn vermag.“ Der verärgerte Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens entging ihm nicht. Und er fand diese Reaktion durchaus verständlich. „Ich möchte dir einen anderen Vorschlag machen.“, setzte er erneut an. Misstrauisch blickte Jessica ihn an. „Ich möchte dir vorschlagen, dich uns anzuschließen. Wie klingt das?“ Jetzt war sie wirklich überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet. Aber sie blieb misstrauisch, das ging ihr eigentlich zu schnell. So eine geheime Organisation fragt doch nicht einfach so fremde Mädchen, ob sie Mitglieder werden wollten.
Amüsiert betrachtete Matias ihr deutliches Misstrauen. „Sehr gut. Du bist also keine Anfängerin mehr.“, stellte er fest, „Du hinterfragst solche Angebote und bist nicht bereit, in eine mögliche Falle zu tappen. Das gefällt mir.“ Jess wusste nicht was sie von dieser Äußerung halten sollte. Der Chef der organisierten Verbrecher drehte den Monitor auf seinem Schreibtisch so, dass Jessica den Bildschirm sehen konnte. Er zeigte das Bild eines Flachdaches bei Nacht. Plötzlich trat eine Gestallt in den Blickwinkel der Kamera. Trotz der schwachen Beleuchtung konnte man die kurzen blonden Haare mit den grünen Spitzen, sowie das enganliegende grün-schwarze Kleid erkennen. Jess stockte der Atem. Das war doch nicht möglich. Die Halterung des Drachenfliegers schon angelegt und den Gleiter selbst schon in der Hand warf das Mädchen auf dem Bildschirm der Kamera ein Kusshändchen und ein überlegenes Lächeln zu. Dann winkte sie, nahm Anlauf und sprang vom Dach. Ein leichter Windstoß erfasste sie und trug sie schnell höher und aus dem Blickfeld der Kamera.
„Wie sind Sie an diese Aufnahmen gekommen?“, fragte Jessica überrascht. Nancy grinste wissend, während Roland alles andere als zufrieden aussah. „Wir haben einen sehr guten Spion unter den Agenten. Sobald sich herausgestellt hat, dass ein Pokémon gestohlen wurde schickte er uns diese Aufnahmen der Überwachungskamera.“, erklärte Matias, „Du kannst dir vorstellen, dass wir natürlich sofort wussten, um welches Pokémon es sich handeln musste. Selbst unter den PokeAgents war Traslas Anwesenheit nicht bekannt. Wir haben sofort mit der Suche nach dir angefangen, denn du bist bisher die Einzige, der es gelungen ist etwas aus dem HQ der PokeAgents zu stehlen und unbemerkt wieder zu verschwinden.“ Seine Augen blitzten begeistert, als er weitersprach: „Wir waren erst sehr enttäuscht, als wir nicht die kleinst Spur von dir entdecken konnten. Doch zu unserem Glück hast du uns zwei Tage später von Olning kontaktiert. Nun kannst du vielleicht verstehen, warum wir dir anbieten ein Mitglied unsere Organisation zu werden. Ein Talent wie dich können wir immer gut gebrauchen.“ Nachdem er beendet hatte schwieg Jessica lange. Sie musste sich erst fangen und in Ruhe nachdenken. Matias ließ ihr Zeit, die Entscheidung gut zu überdenken.
Jess schien alle Vor- und Nachteile sehr genau gegeneinander abzuwägen, doch in Wirklichkeit ahnte sie, dass die Entscheidung längst gefallen war. Sie glaubte nicht, dass die Verbrecher, jetzt da sie ihr Versteck kannte, noch gehen lassen würden. Aber sie schienen ihr die Rolle der kleinen Einbrecherin abzunehmen. Es war also sicherer das Angebot anzunehmen und die Bande nicht zu verärgern.
„Eine Frage: Was springt für mich bei der ganzen Aktion dabei heraus?“, wollte sie wissen und sah Matias mit festem Blick an. „Die Sicherheit und den Schutz unserer Organisation.“, erklärte Matias und lachte amüsiert über Jess skeptischen Gesichtsausdruck, „Wir sind die mächtigste Organisation in ganz Gorar neben den PokeAgents. Doch schon bald werden wir diese Störenfriede vernichtend schlagen und die alleinige Herrschaft über diese Region übernehmen.“ Seine Rede war wirklich mitreisend. Und Jessica überkamen Zweifel. Wenn er sich so sicher war, dass sie sich schon bald nicht mehr um die PokeAgents zu sorgen brauchten, musste die Organisation viel mächtiger sein, als Caleb und Domi ahnten. War das alles dann nicht doch eine Nummer zu viel für ein einfaches Mädchen, das sein ganzes bisheriges Leben auf einer Voltilammfarm verbracht hatte? Wie sollte ausgerechnet sie die Vernichtung der PA verhindern?
Doch Jessica war niemand, der so leicht aufgegeben hätte. Energisch schob sie diese Gedanken zur Seite. Es lag nicht an ihr darüber zu urteilen, ob sie hierfür taugte oder nicht. Das war einzig und allein Caleb Saminas Entscheidung gewesen und sie musste nun das Beste aus der Situation machen. Entschlossen blickte sie Matias an. „Tolle Rede, aber ich würde trotzdem gerne wissen, was für mich bei der Sache rausspringt.“, erwiderte das Mädchen kühl, „Euren Meinungsverschiedenheiten mit diesen selbsternannten Beschützern interessieren mich nicht im geringsten.“ Der dunkelhaarige Mann lachte schallend. „Du lässt dich nicht von deinem Ziel abbringen.“, erkannte er, „Wir sind in Gorar wahrscheinlich die einzigen potenziellen Auftragsgeber und wir werden dich auch gut entlohnen.“ „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, dann hätten wir uns viel Zeit erspart?“, fragte Jess, von der Einfachheit seiner Begründung überrascht. „Weil ich wissen wollte, mit wem ich es zu tun hab.“, meinte Matias einfach, „Nimmst du das Angebot an?“ Jess blickte ihn nachdenklich an. Aus irgendeinem Grund konnte sie ihn nicht leiden. Sie wusste selbst nicht warum. Er war höflich, charmant, intelligent und unglaublich attraktiv. Woher kam also ihr Misstrauen?
Er sah sie immer noch erwartungsvoll an. „Haben wir auch einen Namen?“, erkundigte sie sich. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie ein zufriedenes Grinsen über Nancys Gesicht huschte. Matias setzte wieder sein charmantes Lächeln auf. „Wir nennen uns ‚Team Stormnight ’. Willkommen in unserer Gemeinschaft.“ Jessica zog verwundert eine Augenbraue hoch. „Sturmnacht?!“ „So ist es.“, bestätigte Matias. Dann klatschte er in die Hände „So und nun an die Arbeit. STEFFAN!“ Die Türe wurde geöffnet und ein schlaksiger Spargeltarzan mit einer dicken, runden Brille trat ein. „Dann möchte ich dich jetzt bitten uns den Code zu übergeben.“, meinte Matias an Jess gewandt. „Du hast das Schlüsselpokémon dabei? Dann lass es jetzt bitte raus.“, schniefte der Spargeltarzan mit schleppender, nasaler Stimme. Jessica nahm den Pokéball von ihrem Hüftband und ließ Trasla daraus erscheinen. Steffan zog ein stabähnliches Gerät hinter seinem Rücken hervor und näherte sich dem kindlichen Pokémon. Schon die wenigen Schritte schienen für ihn zu viel zu sein, denn er röchelte wie ein Walreisa im Hochsommer. Als Trasla das merkwürdige Gerät in seiner Hand bemerkte, weiteten sich seine Augen vor Schreck. Sein kleiner Körper verkrampfte sich und ein panischer Schrei entfloh seiner Kehle. Schützend hob er die Hände vor das Gesicht und feuerte eine Welle telekinetischer Energie auf seinen vermeintlichen Angreifer ab. Dieser wurde hart getroffen und gegen eine Wand des Raumes geschleudert.
Jess war entsetzt, wie ihr kleiner Freund plötzlich so ausrasten konnte. Doch dann bemerkte sie, dass das hellhäutige Pokémon am ganzen Körper zitterte. „Roland, Steffan, bringt euch außer Reichweite dieses Traslas. Es hat scheinbar panische Angst vor Männern.“, befahl Matias, der sich bereits hinter seinen Schreibtisch duckte, „Jess, Nancy, gegen Frauen hat es nichts! Bringt es unter Kontrolle!“ Sofort flüchtete Roland hinter eine Zimmerpflanze, während Steffan schnaufend auf die Beine kam. Bei dem Aufprall hatte er sich zum Glück nicht allzu schwer verletzt. Nur einige blaue Flecken zeugten von Traslas Attacke. Nancy trat selbstbewusst auf das kleine Psychopokémon zu. Doch dieser spürte das Mädchen und bereitete sich wieder auf einen Angriff vor. „TRASLA!“, brüllte Jess. Der Ruf der Trainerin brachte das kindliche Wesen zurück in die Wirklichkeit. Weinend kauerte es sich auf dem Boden zusammen. Jessica legte ihm eine Hand auf die Stirn und hielt ihn mit der anderen fest. Vorsichtig kamen die beiden Jungen und Matias aus ihrer Deckung.
„Ey man. Was sollte das echt, ey?“, beschwerte sich Roland, „Ey man. Was für ein echt blödes Pokémon willst du uns da echt andrehen, ey?“ „Schnauze Roland!“, befahl sein Chef, „Ich hätte es wissen müssen. Natalie hat mich ja gewarnt, dass das Schlüsselpokémon ne Macke hat.“ Und an die Mädchen gewandt: „Ihr beide habt gut reagiert. Und du Trottel.“, womit er Steffan meinte, „Hast du Tomaten auf den Ohren oder bist du schwer von Begriff? Ich hatte dir extra gesagt, dass du dich diesem Trasla vorsichtig nähern sollst. Jetzt scann es endlich oder glaubst du Jess kann es ewig festhalten.“ Steffan näherte sich wieder Trasla und dieses zitterte wie Espenlaub in Jessicas Armen. „Ruhig, keine Angst.“, murmelte das Mädchen beruhigend. Das kindliche Pokémon klammerte sich panisch mit seinen winzigen, weißen Händchen am Arm seiner Trainerin fest und schloss die Augen. Der schlaksige Junge bewegte den merkwürdigen Stab mehrmals vor Trasla auf und ab. Dann warf er einen prüfenden Blick auf die kleine Anzeige am Griff des Stabes und nickte zufrieden.
Matias atmete sichtlich erleichtert auf und scheuchte ihn unfreundlich aus dem Zimmer. „Jess, du kannst Trasla jetzt zurückholen.“, meinte der Boss freundlich, „Wir haben nun alles was wir brauchen.“ Jessica blickte ihn erstaunt an. „Das war’s? Das ganze Geschieß mit Trasla nur, um es mit diesem, Stock zu scannen?“, fragte das neueste Mitglied von Team Stormnight erstaunt. „So ist es!“ kam die Antwort von Matias, „Nancy, zeig Jess ihr Zimmer und sorg dafür, dass jemand sie herumführt. Und Jess, lass bitte dieses ‚Sie’. Ich heiße Matias. Ihr könnt gehen.“ Roland und Jessica wandten sich zur Tür um, doch Nancy blieb einfach stehen. „Matias, ich muss mit dir unter vier Augen reden.“, erklärte sie in ernstem Tonfall. Der angesprochene sah sie irritiert an, gab den beiden anderen jedoch mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie den Raum verlassen sollten.
„Ich halte keine Mission mehr mit diesem Spinner Roland aus. Wann bekomm ich endlich den neuen Partner, den du mir versprochen hast?“, eröffnete Nancy und blitzte Matias herausfordernd an. „Roland ist ein zuverlässiger Kerl, mit einer ausgezeichneten Erfolgsbilanz,...“ „Die nur so hoch ist, weil ich ihn immer aus der Patsche helfe.“, fiel die Trainerin ihm ins Wort, „Er bringt sich ständig in Schwierigkeiten, baggert alle Mädchen an, die nicht bei drei auf dem Tisch sind. Und heute Morgen hätte er sogar fast unseren Auftrag vermasselt.“ Erstaunt blickte ihr Chef sie an. „Wie das? Ihr hattet doch nur den Auftrag, dieses Mädchen her zu bringen.“, bemerkte er. „Natürlich klingt das einfach. Aber du weißt ja selbst am Besten, wie heikel so eine Mission manchmal sein kann. Ein falsches Wort kann genügen und die Kontaktperson macht einen Rückzieher. Deshalb hast du ja auch keine Anfänger, sondern mich, einen Vorstand losgeschickt.“, erinnerte sie, „Roland wusste um die Wichtigkeit unseres Auftrages, dennoch hat er Jess massiv beleidigt und beschimpft. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagiert hätte.“ „Und wie hat Jess darauf reagiert?“, wollte Matias interessiert wissen. „Sie hat ihn besiegt.“, antwortete Nancy sichtlich zufrieden, „So richtig fertig gemacht hat sie ihn. Und das, obwohl sie mit Trasla gegen sein Hunduster angetreten ist.“ Nachdenklich legte der Anführer Team Stormnights die Stirn in Falten. „Ich glaube, du hast recht. Du brauchst wirklich einen neuen Partner.“, stimmte er ihr schließlich zu, „Leider ist im Moment niemand frei. Ich müsste also einige Teams umstellen, um wieder eine möglichst gerechte Verteilung, der Fähigkeiten zu erzielen. Das gibt aber eine Menge Arbeit.“ Nancy holte tief Luft, jetzt oder nie. „Ich hätte einen Vorschlag, wie du nicht die ganze bestehende Ordnung über den Haufen werfen musst.“, eröffnete sie ihm. Interessiert blickte ihr Chef sie an. „Ich dachte an Jess.“ Matias runzelte die Stirn, ließ Nancy jedoch weiterreden. „Wie du weißt, hatte ich schon eine ganze Menge Partner. Du selbst hast mir die meisten davon, ihren Leistungen wegen, zugeteilt. Doch ich bin bisher mit keinem klargekommen.“, setzte sie an, „Inzwischen bin ich unter den anderen sehr bekannt und nicht gerade beliebt. Jess ist neu. Sie kennt weder die anderen, noch die Gerüchte, die hier über mich im Umlauf sind. Und nach dem heutigem Tag denke ich, dass wir beide uns gut verstehen.“ „Das mag ja sein, aber sie ist eine Anfängerin in Sachen Pokémon.“, entgegnete Matias. „Sie hat Roland besiegt. Mit einem Trasla, dass seinem Hunduster Typmäßig im Nachteil war. Damit steht ja wohl fest, dass sie zuminderst nicht schwächer als mein letzter Partner ist.“ Ihr Vorgesetzter blickte sie einen Moment lang nachdenklich an und brach dann in heiteres Gelächter aus. Verständnislos betrachtete Nancy ihn. „Das hast du ja sauber hingemogelt. Darum hast du also diesen Auftrag gleich und ohne zu murren angenommen. Ich hatte mich schon gewundert.“, lachte Matias, „Du hattest von Anfang an vor, zu testen, ob du dich mit ihr verstehest. Falls ja, so wolltest du mir eben diesen Vorschlag machen. Die Argumente hast du dir schon auf dem Flug zurechtgelegt. Du musst Roland ja wirklich zu tiefst verabscheuen, wenn du zu solchen Mitteln greifst. Hab ich recht?“ Verblüfft starrte die junge Trainerin ihren Boss an. Er erkannte immer so schnell alle Zusammenhänge. Manchmal fragte sie sich, ob er womöglich Gedanken lesen konnte. Aber er hatte zum Großteil recht. „Aber ich muss zustimmen, dass du wieder recht hast. Dein Verschleiß an Partnern ist berüchtigt und nach unserem Gespräch weiß ich, wie sehr du Roland hasst. Zwei Leute, die so verfeindet sind kann und werde ich nicht im selben Team lassen. Und wenn unser Neuling Jess Roland besiegen konnte, ist das zuminderst keine Verschlechterung. Wir sollten ihr aber so schnell wie möglich ein zweites Pokémon beschaffen.“, er machte eine kurze Pause, „Ich teile dir, auf deinen Wunsch hin, also vorläufig Jess zu.“
Zufrieden grinsend verließ auch Nancy sein Büro. Jessica wartete noch auf sie, aber Roland hatte sich bereits verdrückt. Während Nancy die Neue auf ihr Zimmer brachte, betrachtete sie ihre neue Partnerin genau. Es war ihr durchaus bewusst, dass Matias nicht nur wegen ihrer Argumente zugestimmt hatte, sondern auch, weil Jess ein Mädchen war und genau wie sie selbst seinem Lieblingstyp entsprach: schlank, sportlich, ungewöhnlich vom Äußeren, intelligent und misstrauisch. Dieses Mädchen würde es hier noch weit bringen.
Ohne es zu wissen hatte Caleb genau den richtigen Riecher bei seiner Spionin gehabt.