Nachdem Zera ihr Schachspiel gegen Senshi verloren hatte, wünschte sie ihm eine Gute Nacht und verschwand anschließend unter ihrer Wolldecke ihrer Strohmatratze. Sie drehte sich mehrfach und entschloss sich schließlich auf dem Rücken zu schlafen. Durch das Zelt hindurch konnte man die Sterne des Nachthimmels durchfunkeln sehen. Bald würden sie durch eine blutende Sonne ersetzt werden; die Stunden bis zur Schlacht konnte man mittlerweile an zwei Händen abzählen. Es wäre vielleicht klug gewesen, früher schlafen zu gehen, doch sie bereute ihre Entscheidung, nämlich das Schachspiel mit Senshi, in keiner Weise. Er hatte Recht. Sie musste sich von der Vergangenheit trennen und sich auf die Gegenwart konzentrieren. Aber konnte sie ihre Erinnerungen an eine schöne, friedliche Zeit vergessen ohne sich selbst dabei zu vergessen? Ohne zu vergessen, wer sie wirklich wahr?
Angestrengt von diesem Gedanken schloss Zera ihre Augen, krümmte sich zusammen und schlief schließlich ein.
Als sie ihre Augen öffnete, konnte sie ihren Augen nicht trauen: Fisherman’s Horizont.
„Komm’ Zera, sonst kommen wir noch zu spät!“, rief eine für Zera vertrauten Stimme. Es war ihre damalige beste Freundin, Elene. Sie würde sie überall erkennen, das rabenschwarze lange Haar, das nur am Ende mit einem weißen Haargummi zusammengebunden war. Ihr himmelblaues Kleid flatterte im Wind, der vom naheliegenden Meer gekommen war. Sie schaute in die weite See; es war ein wunderschöner Tag. Ein heller, blauer Himmel begrüßte sie und die Sonne schien in ihren schönsten Gelb- und Orangetönen. Möwen kreischten von oben herab; oder saßen auf einem der vielen Zäune, die kleine Kinder davon hinderten, ins tiefe Wasser zu springen. „Hey!“, schrie Elene und stand plötzlich vor der von der Landschaft beeindruckten Zera. Dann griff sie nach ihrer Hand und sagte: „Willst du Seth denn nicht endlich sehen? Nun komm’ schon!“ Mit gewaltiger Kraft zog Elene sie hinter sich her und Zera war gezwungen mitzulaufen. Seth? War er hier? Wo befand sie sich? War dies ein Traum? Oder hatte man ihr doch noch eine Chance gegeben, zusammen mit ihrem Schatz ein Leben zu führen?
„Na, was denkst du? Wie wird er reagieren, wenn ihr beide euch endlich wiederseht?“, fragte Elene neugierig und blickte Zera mit strahlenden Augen an. Sollte sie sich hingeben egal, ob es eine Illusion war oder der Realität entsprach?
„Ich weiß nicht…wir haben uns schon so lange nicht gesehen.“
„Aha, denkst du etwa, dass die Liebe verflogen sein konnte?“, fragte Elene und blieb abruptartig stehen, sodass Zera beinahe hinfiel.
„Nein.“, antwortete diese entschlossen. Elene seufzte, schüttelte den Kopf kurz und griff wieder nach Zeras Hand.
„Du bist heute seltsam drauf. Die Zera, die ich kenne, die würde vor Aufregung mehrfach in die Luft springen. Komm’ schon!“ Und schon ging die Lauferei weiter. Hatte sie sich wirklich derart stark verändert? War sie nicht mehr sie selbst? „Wer bin ich?“, dachte sie schließlich und für einen Moment lang kamen ihr die Tränen unglaublich nahe. Doch sie widerstand und blickte um sich herum. Sie waren angekommen, am Bahnhof. Den Bahnhof hatte sie noch, von den vielen Besuchen natürlich, genau im Kopf und verändert hatte er sich auch nicht.
Die Gleise waren sauber gehalten, was für einen Bahnhof meist eine Seltenheit war. Oberhalb war der Bahnhof teilweise durch Metallmaste abgetrennt; dort gesellte sich die ein oder andere Möwen- oder Taubenfamilie, und stimmte die Passagiere mit ihrem Gesang auf die bevorstehende Reise ein.
Alles in allem war es jedoch nur ein kleiner Bahnhof, der eher als Zwischenstation galt. Es gab zwei Gleise, an denen zwei unterschiedliche Züge anhielten. Der eine fuhr Richtung Westen, in Richtung Timber und dann weiter. Der andere Zug fuhr nach Osten, nach Estar, über den großen Salzsee. Tatsächlich befand sich dieser Zug gerade im Gleis und ließ einen letzten dampfenden Ruf im Bahnhof verhallen. Er würde so schnell nicht wieder weiterreisen.
„Komm. Der Zug steht dort!“, rief Elene und riss Zera mit sich. Dann warteten sie, die elektrischen Türen öffneten sich mit großem Gequietsche. Plötzlich fing Zera einen Körper auf, der aus der Tür gefallen war. Leicht erschrocken stellte sie fest, dass ihre beiden Hände in Blut getrunken waren. Sie rüttelte die Person, wollte sie zwingen, ihr Gesicht von selbst zu heben, doch sie reagierte nicht. Sollte Zera ihren Kopf heben? Irgendetwas hinderte sie daran, ein böses Vorahnungsgefühl. Doch sie tat es, als ob jemand kurzzeitig Besitz von ihren Aktionen genommen hätte; und blickte in die leeren Augen eines Mannes. Seine Haut war gebräunt, sein kurzes Haar hellblond und das Bandana, dass er auf seinem Kopfe trug, schwarz. Sie meinte ihn wiederzuerkennen und blickte weiter herunter, zum Halse dieses Mannes. Er trug eine silberne Kette mit einem goldenen Ring als Anhänger. Schnell riss Zera die Kette über seinen Kopf hinweg durch und drehte den Ring. Eine Inschrift war darauf zu erkennen: Zera und Seth, für alle Ewigkeit.
Sie riss die Augen weit auf und empfand ein Gefühl, ein Gefühl so unbeschreiblich, dass Zera damals zwang sich zu verändern, der Rebellion beizutreten, sich selbst wiederzufinden. Einsamkeit, Wut, Hass…Enttäuschung, Unwissenheit. Was war geschehen? Wieso war Seth tot? Er ist nie in Fischerman’s Horizont aufgetaucht, oder war er doch angekommen, als sie, Zera, in Richtung Mori-Berge reiste, um dort ihr eigenes, alleiniges Schicksal aufzubauen? War es ein Fehler gewesen, der Rebellion beizutreten?
„Nein…das war es nicht. Ich konnte nicht länger warten, musste etwas tun, um diese Leere zu bekämpfen. Irgendetwas.“
Tränen fielen, trafen die Wangen des Sterbenden. Seine Lippen formten Wörter, die so leise und undeutlich waren, dass nur Zera sie verstand. Sie rückte näher, um ihn besser hören zu können: „Zera…ich bin stolz auf dich.“, sagte er, schloss die Augen und fiel stumpflos aus den kraftlosen Armen des von seinen Worten getroffenen Mädchens. Weitere Tränen folgten, welche jedoch nur den kalten, grauen Boden des Bahnhofs trafen. Jemand versucht sie in den Arm zu nehmen, doch sie widerstand, drückte die Person weg und krümmte sich ineinander, rollte den noch warmen Ring in ihren Händen, versuchte einen letzten Lebenshauch zu entnehmen.
„Seth…“, flüsterte sie und küsste den Ring.
„SETH!“, schrie Zera und riss die Augen auf. Sie blickte die Zeltdecke an. Das Rebellenlager, die Rebellen, Senshi. Sie war in der Realität zurück. Es war wohl doch nur ein Traum gewesen. Sie legte eine Hand vor dem Mund; niemand sollte ein weiteres Geräusch von ihr mitbekommen. Vor allem Senshi nicht. Wenn sie nun überlegte, hatte sie ihm viel mehr von sich preisgegeben, als sie anderen oder überhaupt jemanden hätte preisgeben wollen. Sie war sich sicher, dass er von ihrem Schrei aufgewacht war, doch würde sie nun so tun, als würde sie sich im Bett wälzen und ihre Augen schließen, dann würde er vielleicht keinen weiteren Verdacht schöpfen und ihnen beide den Schlaf gewähren, den sie für die kommende Schlacht brauchen würden. Sie drehte sich auf ihre rechte Seite. Ein kleines, dumpfes Geräusch ertönte. Etwas leicht Silbriges war im Anlitz des leuchtenden Mondes zu erkennen. Zera nahm es ruhig mit ihrer rechten Hand auf und drehte es in ihrer Hand. Könnte es sein? Es war Seths Ehering. Den Ehering, den sich zuvor im Traum in ihren Händen festhielt. Wie konnte er…wie konnte er sich nun hier befinden? Eine weitere Träne floss über Zeras rechte Wange, sie leckte sie ab, als sie in ihren Mundwinkel fiel. Sie griff nach ihrer Kette, zog sie aus und befestigte den Ring neben ihrem eigenen Ring, einem silbernen Ring mit derselben Eingravierung. Dann zog sie die Kette wieder an, legte die Wolldecke über ihren gesamten Körper und schloss ihre Augen. Sie verstand nicht. Wie konnte als dies geschehen? War Seth in Wirklichkeit ein Rebell? Oder war der Ring durch eine Art von Magie zu ihr gekommen? Müde von all diesen Gedanken und der Tatsache, dass sie ihren Schlaf unterbrochen hatte, verfiel sie schließlich in einen, dieses Mal traumlosen Schlaf.
OT: So, da wir scheinbar maximal zwei Posts abgeben können (wusste ich vorher nicht, nehme dies aber gerne in Gebrauch), hier folgt mein zweiter, längerer Post nach meinem eher kurzgeratenen, ersten Post. :)