Ich habe nun im ersten Kapitel ein bisschen was geändert. Ich hoffe das mit den Zeilenumbrüchen ist ok so....
2.Kapitel
Ich durfte sie nicht in Gefahr bringen! ,war mein erster Gedanke, dann kam Weg von Mel! und schließlich Wie soll ich das überleben? Mir blieb keine Zeit, die Frage zu beantworten, denn das Monster über mir hakte wie besessen auf den Tisch ein. Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit bleiben würde also sprang ich unter den nächsten und entfernte mich so ein wenig mehr von Melanie, als er einbrach. Der Vogel nutzte jedoch seine Chance nicht, durch den kaputten Tisch in den Gang, in dem sich die Beute -wir- verbarg zu fliegen. Wieder schlug er mit dem Schnabel und seinen spitzen Klauen auf meine schützende Platte ein und mir wurde bewusst, dass unsere einzige Möglichkeit, zu entkommen, war aus dem Raum heraus zu komme, was schier unmöglich schien. Und wo steckte John? Mir war zum Heulen zumute. Ich konnte nichts tun, außer auf das Ende zu warten. Na ja, wenigstens wusste ich nun wie das Vieh dachte:
Es würde alles unter dem ich mich versteckte zerstören bis es mich kriegte. Wenn das nicht der Fall war, hätte ich trotzdem bald kein Versteck mehr und wäre im hilflos ausgeliefert. Gab es überhaupt Hoffnung? Und warum gerade ich? Was hatte ich was die anderen nicht hatten? Eine besondere Fähigkeit, klar, aber warum kommt der Vogel gerade nun? Ich verstand das alles nicht. Da fiel es mir ein: der Stein natürlich! Ich kramte in meiner Hosentasche, bis mein Finger die kühle Oberfläche streifte. Ich umschloss ihn und zog die Hand wieder heraus. Nicht!, rief wieder der unbekannte Junge, Du darfst nicht aufgeben, lenk ihn anders ab! War dieses Ding wirklich so wichtig? Seufzend hörte ich auf ihn und schlüpfte aus meinen Schuhen. Den Stein lagerte ich in einem kleinen Hohlraum des Schuhs. In Windeseile probierte ich zu Melanie zu kommen, musste jedoch einen Umweg nehmen, da ja schon ein Tisch zertrümmert worden war. Bei meinem ersten Satz unter die nächste Platte, fielen mir meine Schuhe wieder ein und so musste ich nochmal zurückspringen um sie mir zu schnappen. Seltsamerweise stoppten die Attacken des Vogels, doch als ich meinen Weg fortsetzte hackte er auf jeden Tisch ein, den ich nutzte und so fielen viele Späne in mein Haar, die mich jedoch im Moment wenig störten. Bei Mel angekommen hauchte ich, während die Krähe den Tisch bearbeitete:
„Hör zu, der Vogel will mich, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Ich habe einen Plan, also wo ist John?“
„Ich, ich weiß nicht. Als das Vieh das Fenster zersplitterte hatte er gerade das Buch genommen. Mehr weiß ich nicht. Was sollen wir tun?“
Als ich gerade antworten wollte, ertönte ein lauter Schrei und der Vogel lag bewusstlos neben uns. Er lebte und kam langsam wieder zu sich, also zögerten wir nicht, sondern sprangen unter unserem Versteck hervor und erblickte John, mit dem Biologiebuch in der Hand.
„Kommt! Wir haben nicht viel Zeit!“, rief er und schaute zum angrenzenden Zimmer, in dem die ausgestopften Tiere gelagert wurden. Er hatte Recht. Unsere Zeit war nur begrenzt und so sprinteten wir los und schlugen die schwere Eisentür hinter uns zu. Schwer keuchend rutschten wir an ihr auf den Boden und nahmen erst jetzt wahr, dass wir, beziehungsweise nur ich, in Lebensgefahr gesteckt hatten. Trotzdem hatten wir keine Zeit um zu Rasten. Wir mussten schleunigst hier raus kommen, denn der Vogel gab nicht auf. Sein Schnabel schlug auf das Metall, sodass es ein klirrendes Geräusch gab. Sofort waren wir alle drei wieder auf den Beinen und traten ans Fenster. Das zweite Stockwerk war hoch, aber es müsste zu schaffen sein herauszukommen.
„Sollten wir nicht lieber erst eine Leiter suchen bevor wir freiwillig nochmal unser Leben aufs Spiel setzen?“
John brummte nur etwas Zustimmendes und eilte durch die Reihen. Wir folgten ihm und probierten nicht auf die toten Augen zu achten, die uns zu folgen schienen. Ich hatte schon von dem Vogel eine Gänsehaut bekommen -wer konnte es
mir verübeln- doch beim Anblick, der Affen, Hasen, Hühner, Dachse, Füchse, Rehe, Mäuse, Ratten, Schlangen und anderer Tiere zuckte ich immer wieder zusammen.
„Moment!“, rief Melanie, „Hier ist zwar keine Leiter, aber ein Seil. Würde das nicht weniger auffallen?“
„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich würde es ohnehin auffallen. Wir können nur hoffen, dass im Moment nicht so viele Leute an der Innenseite der Schule entlang laufen. Und was machen wir mit dem Schlüssel?“
„Einer von uns rennt nochmal schnell rein, hängt ihn wieder auf und hofft, dass die Krähe noch im Bioraum gefangen ist-“, fing John an, bis Melanie ihn unterbrach:
„Das Fensterglas ist zersplittert, es hat also keinen Sinn irgendwas zu tun. Vielleicht schießt er gleich durch dieses Fenster.“
Ich musste ihnen die Geschichte von dem Stein erzählen, denn nur so konnte ich ihnen meinen Plan erklären. Also schilderte ich ihnen in kurzen Sätzen, was beim Öffnen der Schachtel geschehen war und entschuldigte mich bei Mel für meine Lüge. Sie nahm es ziemlich gelassen und meinte, dass sie wahrscheinlich, dasselbe getan hätte.
Dann nahm ich den Stein aus meinem Schuh, versteckte ihn unter dem Schweif eines Waschbären und erklärte:
„Ich schätze, der Vogel erkennt den Stein nur wenn er in dem Besitz eines Menschen ist. Deshalb ist er nie vorher bei Mel aufgetaucht, da sie ihn nur unbewusst in der Kiste lagerte. Dies hat sich bestätigt, als ich die Schuhe ausgezogen hatte und er aufhörte mich anzugreifen. Er wird uns nicht mehr belästigen und wir können unser Leben in Ruhe weiterleben.“
„Na, da haben wir aber Glück, dass uns ein Genie zur Verfügung steht!“, meinte John höhnisch und ich funkelte wütend ihn an.
„Was denn? Das war ein Kompliment! Aber lasst uns nun erst einmal deinen Plan in die Tat umsetzen.“
Er band das Seil fest um die Heizung und gab mit einem ‚Ladys first‘ uns den Vortritt. Melanie trat ohne große Scheu an das Fenster und schlang ihre Beine um das Seil. Mit vielen schnellen Griffen hangelte sie sich nach unten und ich sagte:
„Mach du zuerst“,
um für John Platz. Ihm schien es noch leichter zu fallen als meiner Freundin und es versetzte mich in höchste Rage, als er sich, einen Meter über dem Boden, nach unten fallen ließ. Seufzend griff ich nach dem hängenden Strick. Ich war schon immer schlecht in der ähnlichen Übung in Sport gewesen, bei der man sich jedoch nur festhalten und über einer Matte hin und her schaukeln musste. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und trat an den Rand der Brüstung. Der kühle Wind pfiff mir um die Ohren und meine Haare waren bestimmt nun schon ein einziges Chaos. Ich erlaubte mir keinen Blick nach unten- vielleicht hätte mich der Schlag getroffen. Wahrscheinlich winkten John und Mel gerade zu mir hoch und fragten sich, was mein Problem war. Es war für sie anscheinend ganz normal an einem Seil aus dem dritten Stock zu klettern. Verstohlen schaute ich mich um. Es gab wohl keine andere Möglichkeit. Die weiße Steinwand hatte bis auf die Fenster keine Festhaltemöglichkeiten, aber diese waren in zu großen, regelmäßigen Abständen eingebaut worden. Unebenheiten waren auch nicht zu erkennen, was aber auch eigentlich ziemlich unmöglich gewesen wäre. Welcher Architekt plante auch so etwas mit Absicht? Gab es denn keine andere Möglichkeit? Mir war zum Heulen zumute. Ich verstärkte meinen Griff um das Seil. Es fühlte sich fremd an. Was nun? Sollte ich mich nach vorne schwingen lassen und mich dann hinunterrutschen lassen, wie bei den Feuerwehrstangen oder mich mit den Beinen am Seil festklammern und in regelmäßigen Rutschabständen langsam aber sicher nach Unten gelangen. Schließlich entschied ich mich für Letzteres, die weniger riskante Methode, sonst würde ich wohl meines Lebens nicht mehr froh werden.
Ich schluckte und sprang mit einem Satz nach vorne. Sofort wurde mir bewusst, dass es die falsche Methode war. Zwar fanden meine Oberschenkel das Tau und konnten es auf festhalten, jedoch hatte ich zu viel Schwung und knallte mit dem Rücken gegen die Steinwand hinter mir. Der Schmerz durchzuckte meinen Körper, ich musste die Zähne zusammen beißen um nicht laut aufzuschreien oder loszulassen. Mein Atem ging stoßweise, doch ich hatte es geschafft: Ich hing einigermaßen sicher und das Pochen in meinem Rücken ebbte mit den Schmerzen langsam ab. Leider lag nun der schwierigste Teil vor mir. Langsam und vorsichtig rutschte ich an ihm herunter und stellte erleichtert fest, dass der Boden immer näher kam. Entschlossen, meinen Weg fortzusetzen, warf ich einen Blick nach oben und schrie laut auf. Die einzelnen Bänder aus denen Taue bestehen, waren zum größten Teil eingerissen. Würde ich nicht rechtzeitig nach unten gelangen, wäre es um mich geschehen. Doch wenn ich mich zu ruckartig bewegte, war ich verloren. War die Situation wirklich hoffnungslos? Ich schaute hinunter zu Mel und John. Auch die beiden scheinen bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmte, denn sie unterhielten sich aufgeregt miteinander. Ich hatte nur zwei Auswahlmöglichkeiten: Warten bis das Tau reißt, oder probieren lebendig unten anzukommen. Natürlich entschied ich mich für letzteres und rutschte mit möglichst wenig ruckartigen Bewegungen weiter. Natürlich wusste ich schon zu diesem Zeitpunkt, dass ich es nicht schaffen würde. Ich würde fallen. Keiner würde mich in der Luft auffangen, wie in den meisten Filmen. Sollte es nun schon vorbei sein? Hatte ich den Vogel nur überlebt um aus 12 Meter Höhe in die Tiefe zu fallen? Die Antwort lautete: Ja!
Das Seil riss .Ich fiel. Es war vorbei. Sah man nicht sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen, wenn man im Begriff war zu sterben? Nun, bei mir war es nicht der Fall. Da der Wind meine Augen zu Tränen zwang schloss ich sie einfach. Mels schriller Schrei war zu hören. Seltsamer weise lächelte ich. Wahrscheinlich lag dies daran, dass ich es schon immer gehasst hatte, dass in den Gesichtern der meisten Leichen kein Gesichtsausdruck zu erkennen war. Ich hatte mir vorgenommen, dass wenn ich alt und runzlig sein würde, ich den ganzen Tag selig lächle, damit meine Leiche aussieht, als würde ich schlafen und wunderschön träumen. Das Problem an der Geschichte war, dass ich nicht alt war und, dass es wahrscheinlich gar keinen toten Körper geben würde, nur einen Haufen Matsch. Aber egal, ich war bereit.
Ruckartig stoppte ich und hing in der Luft. Was war geschehen? War es schon vorbei? Warum pfiff mir dann der Wind um die Ohren? Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Tatsächlich, ein bis zwei Meter über dem Boden, war ich in der Luft stehen geblieben, während mich etwas Grünes, Hüllenartiges umgab. Bevor ich es weiter definieren konnte, löste es sich auf und ich landete ziemlich hart auf dem Steinboden. Sofort umringten mich Melanie und John und überhäuften mich mit Fragen. Mels Gesicht war tränenverschmiert, was nur sehr selten geschah. Sie nahm mich in den Arm, fragte immer wieder ob alles ok sei und ließ zwischen ihren Sätzen oft ein „Oh Gott“ fallen. Ich antwortete nicht, denn das Einzige was zählte war, das ich lebte. Ja, ich lebte und ich sollte leben! Zuerst zitterte ich und versuchte den Schock zu verdauen dann brach ich in schallendes Gelächter aus und Mel und John stimmten ein. Es war ein erleichtertes Lachen, weil wir alle in diesem Moment so glücklich waren, dass es mir gut ging. Um die fünf Minuten vergingen, bis ich mein Handy zückte und meine Mutter anrief um zu verkünden, dass ich bei Mel übernachten würde und dass sie mir meine Sachen bringen konnte. Natürlich war sie erst einmal ziemlich genervt, da sie sich Sorgen um mich gemacht hätte, doch schließlich willigte sie ein. Ich legte auf und starrte die beiden anderen erwartungsvoll an. Wie würden sie reagieren nach allem was passiert war. Schließlich war das Geschehen vollkommen verrückt für normale Menschen.
„Lasst uns bei mir über alles reden, ok? Ich habe Hunger und langsam wird es kalt.“, schlug Mel vor und wir nickten nur und machten uns auf den Weg.
Als wir in die Einfahrt abbogen, nahm ich aus einem Augenwinkel wahr, dass der tote Igel verschwunden war. Aber ich wollte nicht auch noch darüber nachdenken und so vergaß es ich schnell wieder.
„Verrückt!“, meinte Mel kopfschüttelnd, „der ganze Tag ist einfach nur verrückt!“
In einem Kreis saßen wir in ihrem Zimmer und mir wurde bewusst, dass ich ihnen von dem Schrei und von meiner Fähigkeit erzählen musste. Also startete ich damit dass ich seit mehreren Jahren Schreie hörte und Schwingungen spürte, mit denen ich die Gefühle der Menschen steuern konnte. Seltsamerweise verzog keiner der beiden während meiner Erzählung das Gesicht, oder zeigte einen Vogel. Sie blieben vollkommen ernst und als ich meinen Vortrag beendet hatte, meinte Melanie:
„Ich kann verstehen, dass du im Bezug zu deiner Fähigkeit nicht ehrlich zu mir warst, aber das mit dem Stein fand ich ziemlich unfair. Trotzdem, ich verzeihe dir.“
„Bist du gar nicht überrascht, wie viel Magie in unserer normalen Welt steckt?“, fragte ich sichtlich verblüfft.
„Nein, aber eine leise Hoffnung, wodurch erzähle ich dir später, dass es so ist, hatte ich immer. Die Erde kann nicht so langweilig sein. Außerdem erleben wir nun ein Abenteuer, oder glaubt ihr, dass nun wieder alles normal bleibt?“
Wir verneinten und ich starrte Mel ungläubig an. Wir wären fast gestorben und sie freute sich!
„Lasst uns in der Schule nochmal über alles reden. Ich sollte vielleicht mal nach Hause. Ciao, Ladys“, rief Jonathan, während er aufsprang und ging.
„Warum nehmt ihr das so gelassen?“, schrie ich aufgebracht.
„Also bei ihm weiß ich das nicht, aber meine Urgroßmutter hat ein Tagebuch geführt. Ich hab nie wirklich daran geglaubt, höchstens ein ganz kleines bisschen, weshalb ich auch mit der Magie nicht sonderlich überrascht war, aber vielleicht sollten wir es uns doch mal angucken. Ein Tagebuch. Ein Tagebuch, das Mel aufschlussreich genug war, um ihre Zweifel, ihren Schock, der normalerweise durchmeine Geschichte
gekommen wäre, zu vermeiden. Während Mel hinunterging, um ihre Eltern zu fragen, um wie viel Uhr wir essen würden, dachte ich an eine Geschichte meiner Kindheit, die sich stark in mein Gedächtnis eingebrannt hatte. Ein besonders erinnerungsanregender Gegenstand war ein Tagebuch. Es hatte nicht viel mit dem Vorfall zu tun und dennoch fiel mir immer alles wieder ein, wenn ich nur das Wort hörte. Ich war vielleicht 7 Jahre alt gewesen und es war im Winter kurz vor Weihnachten.
Meine Mutter war gestresst. In ihren Händen hielt sie prall gefüllte Einkaufstüten, ihre Zähne kauten auf den, von der Kälte blau angelaufenen, Lippen herum. Es war wie immer vor dem „Fest der Liebe“, sie war gestresst und ich, ein kleiner Dreikäsehoch, musste ihr bei den Einkäufen helfen. Ich hatte vor einigen Monaten ein Tagebuch angefangen und nahm es von nun an, in meiner quietschpinken Kindertasche überallhin mit. Es war schon spät, wir hatten noch nicht alles gekauft und die Geschäfte würden bald schließen. Die dunklen, verschneiten Gassen wirkten bedrohlich, das schwache Licht der Straßenlaternen, ließ die wenigen Personen, mit ihren Schatten größer und schemenhafter wirken. Der Schnee war plattgetreten, er knirschte unter unseren Füßen. Der, sonst so wunderschöne, mit Sternen gefüllte, Nachthimmel war schwarz. Nur der Mond schien auf den kleinen Marktplatz, den wir überquerten. Er tauchte ihn in ein schillerndes Licht, intensiver, kraftvoller als ein Mond hätte scheinen können. Die Wolken am Himmel schienen noch finsterer zu werden, doch obwohl sie in ihre Richtung zogen, überdeckten sie die leuchtende Scheibe über uns nicht. Es war ein magisches Schauspiel der Natur, ich konnte nicht anders, ich musste stehen bleiben. Gerade in dem Moment, wurde es dunkel, die Wolken hatten es geschafft, wie ein Todesurteil überdeckten sie den Mond, verdunkelten den Markplatz. Erschrocken über die plötzliche Wende des Nachthimmels, schrie ich kurz auf. Meine Mutter drehte sich, ließ die Tüten fallen und fing an mich anzuschreien. Ich hatte keine Ahnung was ich getan hatte, sie schrie mich einfach nur an. Ich meiner Schockstarre hörte ich sie nicht, ich sah einfach nur ihr Gesicht, von der Kälte gerötet, verzehrt und verzweifelt. Ich merkte nicht wie mir die Tränen aus den Augen kullerten, wie ich anfing zu brüllen, wie meine Mutter mir die Tüten in die Hand drückte und weiterlief. Dennoch folgte ich ihr. Es war beschwerlich, die Tüten streiften den Boden, ich stolperte weinend durch den Schnee, doch meine Mutter wartete nicht. Sie ließ mich zurück, in der dunklen, eisigen Nacht. Unter zwielichtigen Gestalten, Schaufenstern von Clubs und Bars. Ich hatte sie verloren und sie mich. Ich setzte mich weinend in den Schnee, hoffte, dass sie merkte, dass ihre Tochter weg war, doch sie kam nicht. Sie kam nicht.
Plötzlich hörte ich eine Stimme:
„Was machst du denn noch hier?“, eine junge Frau stand vor mir. Sie war meine Mutter.
Erst auf dem zweiten Blick wurde mir bewusst, dass sie meiner Mutter nur ähnlich sah. Sie hatte das gleiche leicht gelockte, kastanienbraune Haar, die gleichen strahlenden blauen Augen. Auch ihre Gesichtszüge waren ähnlich. Ihre hohen Wangenknochen, die kleine Nase und die sanft geschwungenen Augenbrauen. Alles erinnerte mich an die Frau, die ich verloren hatte- die mich verloren hatte.
„Meine Mama.“, schluchzte ich.
„Wo ist deine Mama?“, fragte sie mich. Ihre Stimme war sanft. Sie hob mich hoch und fragte mich noch einmal wo meine Mutter sei.
„Ich, ich weiß nicht. Auto!“, zitterte ich weinend.
„Sag mal, habt ihr auf einem Parkplatz geparkt?“, sie sprach sehr geduldig mit mir.
„J-Ja. Einkaufscentrum.“, ich beruhigte mich langsam wieder, während sie mit mir durch die Gassen ging. Die vielen Tüten hatte sie hochgehoben und trug sie nun leichtfertig in der Hand. Warum war es meiner Mutter so schwer gefallen?
Schließlich erreichten wir den, durch keine Laternen, finsteren Parkplatz, nur ein Auto, daneben eine Frau die auf uns zu rannte. Sie schloss mich in die Arme, Tränen liefen über ihre Wangen und immer wieder flüsterte sie:
„Es tut mir so leid, mein Schatz, so leid.“
Dann wandte sie sich an die Fremde und nahm ihr die Tüten ab:
„Vielen Dank. Oh, vielen Dank. Ich weiß nicht wie ich ihnen danken soll.“, in ihrer Freude überschlug sich ihre Stimme.
„Passen sie besser auf ihre Kinder auf.“, meinte sie jedoch nur kühl und wandte sich um. Meine Mutter erstarrte, ihr wurde wieder bewusst was sie getan hatte. Die Frau ging davon.
„Luana, tschüss.“, die Worte drangen aus der Dunkelheit zu mir und meine Mutter. Perplex schaute sie auf, im ersten Moment erkannte ich nicht ihren Grund. Dann fiel es auch mir auf: Ich hatte der Fremden nicht meinen Namen gesagt. Sie kannte ihn.
Kopfschüttelnd stiegen wir in das Auto, das Make-up meiner Mutter war verwischt, ich hatte Bauchschmerzen und zitterte. Nicht vor Kälte, sondern vor diesem Ereignis. Wer war die Fremde? Die Stimme meiner Mutter durchschnitt die Stille:
„Luana, kanntest du diese Frau?“
Ich schüttelte nur den Kopf.
„Bitte sei ehrlich Liebling. Ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht, aber du musst mir verzeihen.“, sie klang verzweifelt.
„Mama, ich kenne sie wirklich nicht. Vielleicht war sie mein Schutzengel.“, den letzten Satz stieß ich trotz allem fröhlich aus. Ich war eben noch ein Kind. Meine Mutter lächelte schwach. Es war ein falsches Lächeln.
„Ja. Du hast bestimmt Recht. Dein Schutzengel.“, seufzte sie und fuhr los. Natürlich wusste sie, dass es keine Schutzengel gab. Für sie war die Situation bedrohlich geworden, durch nur einen Satz: ‚Luana, tschüss‘. Ich dachte nicht so. Ich war ein Kind. Ich sah nur das Gute in der Welt und heute wäre ich froh, wenn ich ein Kind geblieben wäre. Man spielte, lachte, machte sich keine Sorgen um die Zukunft. Dachte nicht daran, wie es sein würde, wenn man das Abitur nicht schafft, wenn man keinen Studienplatz bekommt, wenn der dritte Weltkrieg ausbricht, wenn es keine Bienen mehr gibt und so eine Hungernot kommt, wenn die Erde immer mehr zerstört wird, wenn Europa durch die Erderwärmung überschwemmt wird, wenn es keine Fische mehr gibt, wenn alle Tiere langsam ausrotten, wenn man keine Zukunft mehr hat.
Mit all diesen Gedanken hatte ich mich als Kind noch nie befasst. Sie waren mir völlig fremd. Doch leider wurde die Welt ernster, wenn man älter wurde. Ich dachte an meine Retterin. Sie sah meiner Mutter viel ähnlicher als ich. Alleinschon die braunen Locken. Zwar hatten wir alle drei, dasselbe strahlende Blau in den Augen, dennoch waren ihre mandelförmig, wie bei meiner Mutter und während meine groß waren und wie ein waagrechter Halbmond aussahen. Meine Nase war ein wenig feiner und mein Kinn weniger spitz, als bei ihr und- meiner Mutter. Und dann waren da noch die Lippen. Die der beiden Frauen, Ober- und Unterlippe voll und ohne jegliche Art von Make-up von einer kräftigen rötlichen Farbe. Meine hingegen, blass, leicht rosa. Nur der untere Teil meines Mundes besaß etwas Fülle. Schon damals war mir bewusst geworden, dass ich leider mehr von meinem Vater geerbt hatte, kein schlechtaussehender Mann, aber im Vergleich zu meiner Mutter ein dünner Schatten genau wie ich. Doch er hatte Persönlichkeit. Seine offene, jedoch nicht übertriebene Art zeichnete ihn aus. Was sollte man über mich sagen? Ich war still. Widersprach nicht. Der Traum jeder Eltern, nur nicht der meinen. Dafür hatten sie ja Arthur meinen Bruder. Schon als Babys, waren wir verschieden. Er war energievoll, rollte und rannte durch die Gegend und stellte natürlich auch Unsinn an. Ich hingegen, war leise, saß in meinem Babygehege und starrte meine Eltern an. Mit dem Laufen hatte ich anfangs Schwierigkeiten, mein Bruder meisterte es ohne Probleme. Jedoch war er der Erstgeborene. Eifersucht. Er griff, so viel wusste ich, andere Kinder an und versuchte sie zu beißen. Wir hatten immer gelacht, wenn unsere Eltern uns die alten Geschichten erzählten.
Als wir zuhause ankamen, bemerkte ich, dass meine pinkfarbene Tasche mit dem Tagebuch weg war. Hatte ich sie in einer Gasse verloren? Hatte ich nicht bemerkt wie sie mir von der Schulter gerutscht ist?
Am nächsten Tag kehrten wir an den Ort zurück, an dem ich die Frau getroffen hatte, doch fanden nichts. Meine Tasche wurde nie wiedergefunden, ebenso das Tagebuch. Seitdem hatte ich nie wieder eins angefangen.
Plötzlich traf es mich wie ein Schlag, die Erinnerung, die Leerstelle meiner Gedanken, sie offenbarte sich. Ich hatte die Tasche nicht verloren! Ich weiß es. Ich habe keine Ahnung warum, aber ich weiß es. Die Frau, sie hatte mir aufgeholfen, die Tüten genommen und dabei auch meine pinke Tasche von meiner Schulter, in die Hand genommen- und nie wiedergegeben.
Wusste sie, dass mein Tagebuch in ihr gewesen war? Hatte sie es gelesen? Erst nun fiel mir auf, dass ich die Frau nie wiedergesehen hatte.
Mel riss mich aus meinem Gedanken.
„Ok, lass uns nun nach oben.“