1.Kapitel
Der Schrei durchfuhr mich, wie ein greller Blitz eine dunkle Nacht. Mit gebrochener Stimme fragte ich Melanie -genannt Mel:
„Wie viel Uhr ist es?“
„Genau dreizehn Uhr.“, antwortete sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. Dann schauten mich ihre grünen Augen prüfend an.
„Was ist los, Luana?“
Doch ich antwortete nicht. Wie erstarrt schaute ich reglos aus dem Fenster. Dasselbe Datum, dieselbe Schulstunde, dieselbe Uhrzeit. Immer wieder schwirrten diese Gedanken in meinem Kopf herum. An einen Scherz war nicht mehr zu denken. Wie sollte jemand alle sechs Gymnasiums Jahre meines Lebens durchgehend, um genau dreizehn Uhr, in der Nähe des Bioraumes, am selben Datum schreien? Vor allem woher sollte dieser jemand wissen, dass meine Klasse bisher immer am 15.01. Biologie hat –der Schuldirektor änderte die Stundenpläne nur wenn es unbedingt sein musste. Das machte doch keinen Sinn!
Unbehaglich rutschte ich auf meinem Stuhl umher, während ich in den Gesichtern der anderen lesen konnte, dass sie nichts gehört hatten. Wieder nicht. Dasselbe Datum, dieselbe Schulstunde, dieselbe Zeit. Ich bekam den Gedanken gar nicht mehr aus meinem Kopf heraus. Anscheinend hatte Mel es aufgegeben zu fragen ob alles in Ordnung sei. Seufzend kritzelte sie lustlos in ihrem Heft los und warf hin und wieder einen verstohlenen Blick auf Jonathan-genannt John. Stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf. John Schmitt war für mich der größte Blödmann seit Zeiten gedenken. Nicht nur, dass er ständig Mist machte, irgendwelche Kommentare im Unterricht abgeben musste, wie zur Untermalung meiner Worte äffte er unseren Französischlehrer Herr Mindler nach, er flirtete mit jedem Mädchen, ob mit oder ohne Freund, ob in oder außerhalb unserer Klasse, ob hübsch oder hässlich. Mich regte das ziemlich auf und strafte ihn deshalb mit Ignoranz. Dies klappte eher weniger und ein Hauptgrund dafür war, dass er seltsamer Weise in jedem Fach, das nicht in unserem Klassenraum war, von Bio mal abgesehen, neben mir saß und er unaufhörlich Flirtversuche startete, die mir ziemlich auf den Geist gingen. Im Gegensatz zu Melanie war ich nicht verliebt, verknallt, verschossen oder wie auch immer es die anderen nennen wollten. Es interessierte mich auch nicht was die Jungs von mir hielten, da sie meistens sowieso lügen wenn man fragt:
„Wie findest du eigentlich Luana?“.
Aber Schluss mit diesem Thema.
Das Gute an Biostunden war, dass Frau Rimke unaufhörlich erzählte, von ihrem, ach nein wie, tollem Kater, wo sie mit ihren, von mir geschätzten, 130 Jahren schon überall war und noch mehr Unsinn einer mürrischen, alten Frau, und man deshalb genug Zeit hatte um über Vieles nachzudenken.
Trotzdem, die Erlösung durch die Schulglocke ließ immer ein vielseitiges Jubeln durch den Bioraum gehen. Da jedoch das Schellen so erwünscht war, kam es einem so vor als würde die Zeit langsamer gehen, was sich noch verstärkte, da es keine Wanduhr in dem kargen, weißen Raum gab. Er war quadratisch gebaut, und alles -bis auf die Tafel- war mit weiß und grau bestrichen. Man fühlte sich fast wie in einer Irrenanstalt und nur die Pflanzen auf den Fensterbänken brachten Leben in ihn.
Dann ließ ich meinen Blick durch die Klasse schweifen. Er blieb auf Annemarie und Lukas hängen, die, ich konnte es kaum glauben, im Unterricht rumknutschten. Der Lehrerin schien das nicht aufzufallen, aber ich stieß Melanie an und zeigte auf die beiden. Sie zeigte sich unbeeindruckt.
„Sollen die doch, ich sage dir die Beziehung, falls sie überhaupt zusammen sind, wird spätestens in drei Tagen beendet sein.“
„Äh, ich meinte nicht das, ich wollte dir zeigen, dass die beiden sich unbemerkt küssen!“
„Ja, super.“, ihre Stimme klang verstimmt, „Die dürfen rummachen, aber wenn ich male wird das Blatt natürlich eingesammelt. Und warum Amy findet, dass sie so gut zusammen passen verstehe ich auch nicht.“
Nun schaute sie mich direkt an.
„Amy ist ihre beste Freundin, ich würde das auch sagen, wenn du und John zusammen kommen würdet.“, erklärte ich und sah wie sich Melanies volle Lippen zu einem Lächeln verzogen.
„Nun, in dem Falle würde das ja auch stimmen. Melanie und John. John und Melanie. Hört sich gut an oder?“
„Ja, auf jeden Fall.“, dabei verdrehte ich spaßhaft die Augen und schaute mich weiter um. Die meisten Jungs, John natürlich auch, hatten den Kopf und den Arm gelegt und sahen so aus als würden sie schlafen. Die Mädels zeigten sich auch uninteressiert. Maria erneuerte immer wieder ihren knallroten Lippenstift, Cynthia unterhielt sich angerregt mit Angela, Alli schrieb heimlich unter dem Tisch SMS, wahrscheinlich mit Klara, die zufällig auch die ganze Zeit den Blick gesenkt hielt, und Melanie zeichnete. Ich schmunzelte darüber, dass Frau Rimke nicht bemerkte, dass keiner aufpasste, aber es war ja nicht meine Angelegenheit wie sie ihren Unterricht gestaltete.
Ich schielte auf Mels Uhr.
Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, null. Ding-dong-dung.
Doch das erleichterte Stöhnen der Schüler ging in Frau Rimkes Stimme unter.
„Der Lehrer beendet den Unterricht! Setz dich sofort wieder hin! Name?“, rief sie mit ihrer tiefen, näselnden Stimme.
Ich war gemeint. Automatisch nahm ich Platz und stammelte:
„L-Luana.“
„Ah ja, L-Luana Nichts-Naminopis. Hast du keinen Nachnamen? Denkst du, du könntest dich hier über mich lustig machen? Du nennst mir nun sofort deinen richtigen Namen oder L-Luana Nichts-Naminopis steht bald im Klassenbuch.“
Na toll, ich merkte wie ich rot wurde. Nur schnell antworten, um anderen Peinlichkeiten aus dem Weg zu gehen.
„Luana Hanried“, murmelte ich zerknirscht und verkniff mir ein ´Als Lehrer sollte man das eigentlich wissen´. Doch ich hatte nicht mit Frau Rimke gerechnet.
„LAUT und deut-lich sprechen! So wiederhole das bitte noch mal.“, motzte sie weiter.
Ich konnte schon das erste höhnische Gelächter hören und damit sie nicht noch etwas sagen konnte, was mir peinlich war, erwiderte ich:
„Mein Name lautet Luana Hanried“ und betonte jede einzelne Silbe.
„Na endlich, also beim nächsten Mal bekomme ich von dir nicht nur die schriftliche Zusammenfassung der Seiten 36 bis 38 im Buch, die ihr anderen ebenso machen müsst, sondern auch, hm, ah die Seiten 39-43 sehen doch gut aus. Viel Text wenig Bilder. Los Abmarsch!“
Mit einer Handbewegung in Richtung Tür schickte sie uns hinaus.
Es hatte erst gestern geschneit und die Häuser und Bäume waren schneebedeckt. An den Straßenrändern häufte sich, vom dem Dreck und den Abgasen der Autos eklig brauner Schnee. Kein einziges Stück Rasen, keine Sträucher oder Bäume mit auch nur einem Blatt waren zu sehen. An den Regenrinnen glänzten Eiszapfen, wie tausende Spiegel, im Licht der Sonne. Es war die typische Winterlandschaft, dennoch wunderschön und auf ihre Weise einzigartig.
„Puh nochmal Glück gehabt“, stieß ich hervor, als Melanie und ich, durch das große Schultor traten. Vorher hatte ich es nicht gewagt auch nur einen Mucks von mir zu geben.
„Was?“, Mels Stimme war erbost, „Hallo? Nur weil du aufgestanden bist, musst du dreifach so viele Hausaufgaben machen wie wir. Ungerechter geht´s wohl kaum. Ach ja kommst eigentlich nach der Schule noch zu mir nach Hause?“
Ich zog die Augenbrauen hoch.
„ Wir sind schon auf dem Weg zu dir“ antwortete ich kopfschüttelnd. Mels Haus lag sehr nah an der Schule, also kam ich öfters zu ihr um Hausaufgaben zu machen und ihr zu helfen. Eigentlich sollte es so eine Art Nachhilfe sein, aber man konnte darunter eher Nachhilfe im Quatschen verstehen, was ihre Mutter nur noch nicht ganz begriffen hatte und sich deshalb in Ruhe dem Unterrichtsstoff eines anderen Gymnasiums widmen konnte. Wahrscheinlich konnte man als Lehrerin gar nicht genug davon bekommen, Schüler mit totlangweiligem Unterricht zu quälen.
Lachend und plaudernd überquerten wir die Kreuzung und bogen in die kleine Straße ein in der Mels Haus lag. Plötzlich verzog sich Melanies Gesicht zu einem angewiderten Gesichtsausdruck.
„Schau mal da!“, sie zeigte mit dem Finger auf die Straße. Das erste was ich sah war das Blut, dann die Gedärme und schließlich den leblosen Igelkörper auf der Straße. Ein leichter Brechreiz stieg in mir auf, der sich noch verstärkte, als ein weiteres Auto den Igel überfuhr.
„Komm.“, murmelte Mel und schweigend setzten wir den Weg fort.
Nach einiger Zeit kam Melanies Haus in Sicht. Nun konnten wir es gar nicht mehr erwarten anzukommen und Frau Frieses Essen zu genießen. Also rannten wir schleunigst in die kleine Einfahrt, die zu dem hübschen, mit blattlosen, efeurankenbedecktem Haus führte. An einigen Stellen stach noch die rötliche Backsteinwand hervor, sodass ein angenehmer Kontrast entstand. Der alte Türknauf verlieh der Pforte einen mittelalterlichen Eindruck, der jedoch, durch die auffallend große Klingel, wieder zerstört wurde. Trotzdem erinnerte mich dieses Gebäude mehr an ein Schloss als an ein Haus des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Melanie zog ihren Schlüsselbund aus der Hose und schloss die knarrende Tür auf. Ich warf meinen Schulrucksack in dieselbe Ecke, in der das gleiche schon mit Melanies Tasche geschehen war. Gut gelaunt gingen wir in die Küche und aßen hastig die Wiener Schnitzel mit Pommes auf um schleunigst ,mit unseren Taschen, nach oben zu kommen.
Ich saß auf dem hübschen Seidenteppich in Mels Zimmer, während sie es sich auf ihrem Sessel gemütlich machte und aus dem Radio die neusten Hits trällerten. Die hohen Bücherregale waren randvoll gefüllt mit allerlei Krimskrams und Büchern. Der Boden war bedeckt von Cola-Dosen und Kekspackungen. Auf dem Schreibtisch, mit ihrem Computer, stapelten sich Papierhaufen, von denen einige zerknüllte Blätter wie Schulmaterial aussahen. Der dunkelbraune Kleiderschrank, der fast die ganze, von mir aus gesehen, linke Wand in Beschlag nahm- die Wand zu der die Tür hin schwingt wenn man ihr Reich betrat- passte durch seine weißlich-dursichtigen Türen zu den restlichen ebenfalls hellen und meistens hölzernen Möbeln und der hellblauen Tapete.
Unser Gesprächsthema war die zweiwöchige Klassenfahrt in ungefähr drei Monaten.
„Cool oder?“, schwärmte meine beste Freundin, „Ich wollte schon immer mal nach England.“
Sie zwirbelte mit dem Zeigefinger eine dunkelblonde Locke auf. Kichernd schüttelte ich den Kopf.
„Edinburgh liegt in Schottland!“
„Mist, dasselbe hab ich im Erdkundetest geschrieben. Edinburgh in England? So ein Schwachsinn. Ich bin so doof!“
Zerknirscht runzelte sie die niedrige Stirn.
„Ach komm. Hey, Frau Moltheim hat doch erzählt, dass wir wahrscheinlich auch eine Disko machen, oder?“ fragte ich scheinheilig, um das Thema zu wechseln. Mel hatte fürchterliche Angst vor dem Test, den sie angeblich total verhauen hatte.
„Jaah, stimmt! Weißt du, ich hab mir so ein Kleid gekauft. Schwarz. Willst du es sehen?“
„Warum nicht?“, antwortete ich und schon sprang Mel auf und riss ihre Kleiderschranktür auf.
Nach einigem Wühlen und Kleidung hin- und herschieben, nahm sie ein große bräunliche Holzschachtel raus, auf der sehr unleserlich geschrieben stand:
Nicht öffnen
„Warum schreibst du so was auf die Schachtel?“
„Ich? Nein, ich hab das nicht geschrieben, die Schachtel war unter einer Klappe in meinem Schrank.“
Ohne ein weiteres Wort zog sie einen weiteren, diesmal schwarzen mit einem Modelabel und dem Namen des Geschäfts, Karton aus dem Schrank.
„Und was war drin?“, bohrte ich weiter.
„Ähm, da steht “Nicht öffnen“ drauf. Dann öffnet man auch nichts.
Außerdem, was interessiert es mich? Wahrscheinlich sind das alte Erinnerungen meiner Mutter.“
„Die sie auch ausgerechnet in deinem Schrank versteckt? Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?“
Sie schien mit sich zu ringen. Dann zuckte sie mit den Schultern und meinte gleichgültig:
„Bis eben schon, aber gut, lass uns sie gleich, nach dem Kleid, aufmachen. Wir werden ja sehen, was uns erwartet.“
Sie klappte den Deckel des schwarzen Kartons auf und nahm ein ebenso dunkles Kleid heraus. Stolz sprang meine beste Freundin auf und präsentierte es:
Nach meiner Schätzung ging es ihr ungefähr bis zu den Knien und hatte blutrote Spaghettiträger. Eine gleichfarbige Kunststoffrose an der Taille stach besonders hervor und verlieh ihm etwas Geheimnisvolles. Ansonsten sah es aus, wie jedes übliche Kleid, das man im Schaufenster betrachten kann.
„Hübsch, aber findest du es passt zu dir?“, fragte ich vorsichtig. Mel konnte ganz schön giftig werden, wenn man ihren Modegeschmack kritisierte.
„Was meinst du?“
„Naja, blondes Haar, grüne Augen, schwarz und rot? Ist doch etwas bunt, oder?“
„Meinst du ich hätte das grüne nehmen sollen? Also Kleid schwarz, Träger und Rose grün?“
Ich konnte die Panik in ihren Augen sehen und versuchte sie deshalb zu beschwichtigen.
„Nein, nein. Wahrscheinlich sieht das klasse aus und du weißt doch, dass ich keinen Modegeschmack habe“, quasselte ich drauf los. Obwohl es stimmte. Ich trug gerne Kapuzenpullis, die mir jedoch nach Melanie gar nicht standen. Außerdem bevorzugte ich „eintönige“ Farben wie lila und dunkelgrün. Trotzdem fühlte ich mich wohl und lies es mir auch nicht nehmen.
„Nun, da wir das geklärt haben, öffnen wir meinetwegen die Schachtel. Du wirst sehen ich habe Recht.“, murmelte sie.
Sie schob das Kleid beiseite und griff seufzend nach dem Deckel. Zuerst wollte er sich nicht lösen, doch dann riss Mel ihn mit voller Wucht ab. Das erste was ich sah war das Licht. So strahlend, dass ich die Augen zukneifen musste, doch ich spürte seine angenehme Wärme auf meiner Haut. Es war ein wohltuendes Prickeln. Automatisch riss ich meine Augen auf, während es langsam verblasste. Mel war nirgends zu sehen. Nur die offene strahlende Kiste. Das Licht nahm mir den Atem, denn etwas so leuchtendes, in dem so viele Farben vereinigt wurden, hatte ich noch nie gesehen. Ich stöhnte fast auf als es schrumpfte und in einem Stein, der plötzlich zwischen der Pappe auftauchte, verschwand. Durch das Verlieren des wundervollen Farbspieles, kam mir Mels eigentlich, durch ihre vielen Sachen, die überall verstreut lagen, buntes Zimmer grau und trostlos vor und wie besessen starrte ich in die Kiste, in der Hoffnung, dass es noch nicht vorbei war. Meine Wünsche wurden offensichtlich erhört, denn auf einmal leuchteten vier einzelne Farben auf. Grün, Rot, Orange und Violett, die jedoch auch nach einem Atemzug von mir in dem ovalen Stein versanken. War er etwa schon vorher in dem, na ja, magischem Karton gewesen? Meine Hand streckte sich von selbst nach ihm aus. Als sie die kühle Oberfläche streifte, war es als würden tausende Zellen meiner Handfläche vibrieren. Langsam schlossen sich meine Finger um ihn. Das Farbspiel in ihm hatte noch nicht aufgehört. War es richtig ihn zu nehmen? Ich atmete tief durch. Der Moment sollte nicht aufhören. Meine Gedanken schwirrten verwirrt in meinem Kopf herum. Aus ihnen wurde ein Schwindelgefühl, das sich mit einer unbekannten Stimme vermischte. Ich verstand sie nicht, ich konnte nicht erkennen ob sie zu einer männlichen oder weiblichen Person gehörte, denn meine Gedanken verschlossen mein Gehirn und ich wollte es auch nicht freigeben und den Stein loslassen. Die Zeit konnte für immer stehenbleiben und es wäre mir egal. Wäre da nur nicht diese Stimme, so flehend und klar. Sie drang immer mehr zu mir durch, ich musste mich anstrengen nicht zu schreien. Sie wollte mir die Illusion rauben, ich war mir sicher und konnte nichts tun. Die Wörter stachen immer mehr hervor:
„Wach auf! Wach auf!“
„NEIN!“, das war ich, der Stein und sein magisches Licht fesselte mich zu sehr, als dass ich ihn hätte weglegen und somit aufwachen können. Doch seine Stimme- inzwischen bemerkte ich, dass es ein Junge war- gab nicht auf. Er zerrte die Gedanken weg und verschwand mit ihnen.
„Wach auf, Luana!“, rief Mel. Mein Kopf schmerzte während ich mich vom Boden aufrappelte. Was war bloß geschehen? Allein die Kälte in meiner Hand erinnerte mich. Der Stein…
Mit einem Mal wurde alles viel klarer.
„Hast du das Licht gesehen?“ Meine Frage sollte gleichgültig und unbesorgt klingen, hörte sich aber eher nach einem verzweifelten Versuch, nicht verrückt zu sein an.
Melanie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Als ich den Deckel abriss, wurde ich von der Wucht nach hinten gerissen. War ziemlich hart mit dem Kopf gegen einen Schrank zu knallen, also habe ich erst mal meine Augen geschlossen und gewartet bis das Pochen aufhört. Schließlich habe ich sie wieder geöffnet und du lagst bewusstlos am Boden. Warum und was für ein Licht?“
Ich wusste sie würde mich für verrückt halten also beschloss ich widerwillig zu lügen. Klar, sie war meine beste Freundin, aber wer würde mir abnehmen, was eben passiert war?
„Wahrscheinlich ein Ohnmachtsanfall vor Aufregung. Es kam mir so vor als hätte ich ein Licht gesehen. Es war wunderschön und leuchtete in allen Farben.“
Das war wenigstens nur eine halbe Lüge. Melanie runzelte besorgt die Stirn, doch als sie sah, dass es mir halbwegs besser ging, grinste sie.
„Ich hatte Recht! Da ist nichts drin!“
„Aber du hast doch gedacht es wären Sachen deiner Mutter?“, entgegnete ich verdattert. Mel konnte sehr verwirrend sein, wenn sie wollte.
„Ja, aber du hast nichts gesagt. Das heißt, dass du es gar nicht probiert hast und es wäre ja unfair, wenn du bei allen anderen Dingen, die hätten drin sein können, richtig liegen würdest. Also habe ich wohl oder übel gewonnen!“
„Ich habe nichts gesagt und nichts ist drin. Deshalb kann nur ich Gewinner sein.“
Ich hatte ihr nichts von dem Stein erzählt und nach dieser Unverschämtheit würde ich ihr erst später davon berichten und sagen ihn gefunden zu haben. Schließlich hatte ich ihn ja auch gefunden. In dem Karton. Niemand konnte mir vorschreiben ich hätte meine beste Freundin angelogen. Eine halbe und eine indirekte Lüge waren immer noch nur eine halbe, doch ich wusste, dass sich spätestens morgen mein schlechtes Gewissen melden würde.
„Ist ja auch egal. Sollen wir schon mal mit Bio anfangen? Du hast dann immer noch genug für Zuhause.“
Unwillig nickte ich und Mel suchte in ihrem Rucksack nach dem Buch.
„Es ist nicht da! Was hast du mit ihm gemacht? Ich hatte es dir doch kurz gegeben damit du etwas nachschauen kannst.“
Ich dachte kurz nach, da viel es mir ein.
„Unter dem Tisch! Als ich den Schrei gehört hatte, hatte ich es unter den Tisch geschoben!“
„Welchen Schrei?“
„Erzähl ich dir später. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch bis zur Schule. Der Hausmeister schließt doch immer um fünf ab, bis dann ist das Sekretariat noch offen. Komm, das schaffen wir!“
Zur gleichen Zeit sprangen wir auf und rannten nach draußen. An die Jacken und das Erklären der Situation hatten wir nicht gedacht und so rannten wir bis die ehemalige Burg in unser Blickfeld kam.
Wir machten uns nicht die Mühe, durch das riesige Tor zu treten, sondern beschlossen während des Rennens den offenen Eingang zu nehmen vor dem regelmäßig Kinder rumhingen, um Lehrer zu ärgern. Auch diesmal lehnten zwei Jungen an der Wand, die wir jedoch schon bald
als John und David erkannten. Merkwürdig, dass sie zusammen rumhingen, denn Kumpels konnte man die beiden nicht nennen. Aber was ging es mich an? Mel fing beim Erblicken ihres Schwarms an zu strahlen, wie ein Honigkuchenpferd. Jonathan grinste, David glotzte zunächst nur in unsere Richtung.
„Na, L-Luana“, rief der fette Junge dann. Er hatte also nicht die Biostunde vergessen. „Machst du noch extra Schulstunden?“
„Die hast du sicher schon hinter dir oder stehst du hier immer mit Typen, die nicht deine Freunde sind. Oh, tut mir leid, du hast ja keine andere Wahl, denn zu besitzt ja gar keine Freunde“, entgegnete Mel schlagfertig, kühl und dennoch mit einem leicht mitleidigen Unterton, der die Bedeutung ihres Spruches noch mehr zu Ausdruck brachte. Zu ihm war sie fies, doch ich war mir sicher, dass ihre Stimme, sobald sie mit John ins Gespräch kam zuckersüß klingen würde.
„Man kann auch übertreiben.“, knurrte er blieb jedoch nachher still. Anscheinend erinnerte er sich wieder, wie er sie vor ein paar Wochen gefragt hatte, ob sie mit ihm gehen wollte und sie ihm eine harte Abfuhr erteilt, sein Gesicht fotografiert und das Bild in der Klasse aufgehängt hatte.
„Im Ernst was macht ihr beiden hier?“, fing nun auch noch John mit der Fragerei an.
„Ach, wisst ihr, Lua hat ihr Biobuch verschlampt und nun müssen wir es holen.“
Mein Buch? Verschlampt? Nicht nur, dass ich den Spitznamen Lua abgrundtief hasse, nun bin ich auch noch die einzige Beteiligte. Schließlich hat sie auch nicht dran gedacht. Klar, ich habe es vergessen, aber sie hätte nicht „verschlampt“ sagen müssen. Das klingt so kindisch und dumm. Wahrscheinlich hatte ich einen hochroten Kopf, ein Merkmal dafür, dass ich unnatürlich schnell rot wurde und wollte mich gerade verteidigen als John ankündigte, dass er uns helfen wolle. Ausgerechnet John! Melanie strahlte, ich fühlte mich ausgenutzt und David glotzte nur dumm aus der Wäsche.
Freu dich für sie, Luana, endlich kommt sie ihrem Ziel näher, Luana. Es half nichts. Meine Gedanken konnten meine Wut nicht lindern. Kochend stapfte ich hinter den beiden her. Während Mel, plötzlich schüchtern wie eh und je, John mit großen Augen anstarrte, sich dann aber doch nicht traute ihm ein Kompliment zu machen oder so. Ich konnte sie nicht verstehen. Wollte sie ihm nun näher kommen, oder nicht?
So, ganz unauffällig, setzte sie ein. Meine, in dieser Situation durchaus praktische Fähigkeit. Ich nahm ihre Schwingungen wahr. Wahrscheinlich war es nicht normal, aber ,seit der fünften Klasse, als ich zum ersten Mal den Schrei gehört hatte, spürte ich in bestimmten Augenblicken die Schwingungen der Menschen in meiner Umgebung. Es war, als könnte ich die Gefühle der anderen fühlen, obwohl es ganz so hilfreich nun doch nicht war. Die verschiedenen Wellen hatten eine bestimmte musikalische Tonart, wie als würde ich Klaviermusik lauschen. Mit der Zeit lernte ich zwar sie zu deuten, doch manche Leute konnten sogar die Ausstrahlung ihrer innersten Gefühle verändern. Es ist schwer zu erklären, doch im Moment spürte ich Mels Schwingungen deutlicher als je zuvor. Ich schloss die Augen. Eine hohe „C-Welle“, die mir fürchterlich in den Ohren piepte, deutete Mels unaufhörliche Freude, die durch ihn hervorgerufen wurden. Doch das tiefe D, zeigte ihr schlechtes Gewissen mich so im Stich zu lassen. Mir wurde wieder bewusst was für ein guter Mensch meine Freundin war und alle Wut verflog so schnell, wie sie gekommen war. Vielleicht lag es an meiner übernatürlichen Fähigkeit, vielleicht auch daran, dass ich selbst so sensibel war, doch ich konnte den besonderen Menschen in meinem Leben schneller verzeihen als sonst. Ich probierte ein bisschen aufzuholen und so schlenderten wir drei über den Schulhof und betraten schließlich den Altbau, in dem die Fachräume lagen.
„Wir holen den Schlüssel, du wartest hier“, bemerkte ich als wir das Stockwerk mit den Bioräumen erreichten und John uns ins Sekretariat folgen wollte. Ohne zu Zögern blieb er stehen und grinste. Ich strengte mich an seine Schwingungen abzublocken, denn was interessierte es mich, wie er in diesem Moment empfand. Es war längst nicht so spannend wie man denkt, wenn man die Gefühle seiner Mitmenschen deuten konnte. Nach einiger Zeit nervte es, besonders wenn man in einem vollen Zimmer stand und ständig Tönen, die sich zu einer Melodie anordneten, lauschen musste. Deshalb hatte ich mir fast automatisch angeeignet meinen Kopf zu verschließen. Es geschah schon fast automatisch, als bei einer Theatervorführung tausende von Melodien meinen Schädel zusammendrückten. Ich hatte probiert sie auszublenden in dem ich in Gedanken selbst ein Stück summte und plötzlich war mein Kopf leer und ich konnte weiter dem Theater folgen. Nachher wurde es etwas schwieriger, da der Drang nicht so hoch war, doch mit der Zeit lernte ich, auch ohne eigene Melodie, jedes Gefühl abzublocken. Nur in Situationen in denen ich vor Wut hätte platzen können, setzte sich meine Gabe von selbst ein, wie gerade eben. Wollte sie mir zeigen, dass ich nicht so denken sollte?
Während wir zum Sekretariat eilten, dachte ich über all dieses nach. Auch der Schrei fiel mir wieder ein. Ich hatte ihn bis zum Lauf zur Schule völlig vergessen. Seltsam, aber vielleicht war wieder meine Fähigkeit schuld. Natürlich indirekt, doch ein Mensch, dem die Magie in der Welt völlig fremd war, würde sich wahrscheinlich mehr über einen immer wiederkehrenden Schrei aufregen, als einer, der weiß, dass es Unnatürliches gab. Aber im Moment gab es wichtigeres zu tun:
Das Sekretariat war verlassen, jedoch hingen die Schlüssel an den Wandhaken der gräulichen Stofftapete. An jedem war ein Schild für den jeweiligen Raum befestigt, wir würden also kein Problem damit haben. Trotzdem zögerten wir beide. Wäre es Diebstahl? Schließlich würden wir ihn zurückgeben, aber gleichzeitig gegen die Schulordnung verstoßen. Mel dachte anscheinend dasselbe wie ich, denn sie schaute sich sorgfältig in dem kleinen Raum, der mit Kaffeemaschinen und Computern ausgestattet war um. Der Parkettboden knirschte unter ihren Füßen, als sie blitzschnell den Bioraum-Schlüssel von Haken riss.
„Komm! Wenn wir uns beeilen schaffen wir es unbemerkt wieder raus“, zischte sie während sie die Tür aufriss und schnell hindurch sprang. Ich zögerte nicht. Lautlos folgte ich ihr und wir sprinteten die Treppe runter.
„Wir haben ihn“, hauchte Melanie atemlos, als wir wieder vor John standen. Sonst erzählte sie nichts.
„Gut, dann lasst uns schnell machen. Ihr wisst ja, dass die Sekretärin unausstehlich wird, wenn man zu lange braucht.“
„Äh, ja“, nuschelte Mel, während sie begann die Tür aufzuschließen. In ihrer Nervosität traf sie nie das Schlüsselloch und so sah ich es als meine Pflicht ihr den Schlüssel abzunehmen und es selbst zu probieren. In kürzester Zeit, welch ein Wunder, schaffte ich es die schwere, weiße Holztür aufzustemmen, weshalb Melanie mich wie ein Kleinkind, dessen Mutter das heißgeliebte Kuscheltier wiedergefunden hatte, lobte. Kopfschüttelnd betrat ich den grau angestrichenen Raum, der im dunklen Abendlicht noch hässlicher aussah als sonst. Alle Stühle waren auf den jeweiligen Tischen platziert und alles war sauber und ordentlich, was für mich noch ätzender war. In Gedanken erlebte ich noch mal die heutige Biostunde, die ein so peinliches Ende genommen hatte.
Eine kühle Hand, die sich auf meine Schulter legte riss mich aus der Erinnerung.
„Alles ok? Wir müssen das Buch holen, schon vergessen?“
Mel klang besorgt. Wie musste ich wohl während meines Tagtraums ausgesehen haben?
„Ich weiß, das Vieh ist erschreckend groß, aber es ist hinter Glas“
„Was?“, fragte ich völlig verwirrt. Wovon sprach sie bitte?
„Na, der Vogel! Deshalb bist du doch plötzlich stehen geblieben und hast in die Leere geschaut“, nun klang auch sie irritiert. Schnell blickte ich zum Fenster und zuckte sofort zurück.
Draußen, auf dem blätterlosen Ast einer Buche, kauerte eine riesige Krähe. Ihre Knopfaugen musterten uns leblos. Das Gefieder war ziemlich zerrupft und schmutzig und an ihrem Schnabel klebte, ich hielt den Atem an, Blut. Nun bereute ich, dass ich anfangs des Schuljahres den Platz direkt am Fenstergenommen hatte. Aber wer konnte schon ahnen, dass vor genau diesem Fenster, irgendwann einmal ein erschreckend großer Vogel sitzen würde?
„Ach, den meinst du!“, meine Stimme strahlte das Unbehagen aus, das ich empfand, „Ein Piepmatz, der draußen auf einem Ast hockt. Das ist doch nichts Schlimmes. Ein ganz normales Vögelchen.“
Der Versuch mir selbst Mut zu machen, gelang mir nicht. In Mels Augen konnte ich sehen, dass sie in Gedanken dasselbe tat, wie ich eben laut.
„Ihr werdet doch wohl nicht Angst vor einem Vogel haben, oder?“, lachte John, „Aber bitte, wenn ihr euch zu fein seid um ein Buch zu holen, tue ich es.“
„Gut, dann komme ich auch mit. Du auch Luana?“, Mels Augen schrien förmlich Bitte sag nein! Also tat ich ihr den Gefallen:
„Nee, ich bleib lieber hier. Geht ihr beide mal schön allein.“
Während sich John schon auf den Weg machte, zwinkerte ich Melanie kurz zu. Sie lächelte und folgte ihm. Ich drehte den beiden den Rücken zu und betrachtete mich im großen Spiegel der unsinnigerweise im Bioraum stand. Meine glatten, schwarzen Haare waren ziemlich zerzaust und hin und wieder stach eine Spitze meiner Stufen nach außen ab. Der seitliche Pony war durch das Rennen leicht verrutscht und an wenigen Stellen sah man meine Stirn, durch ihn hindurch. Ansonsten war ich, für meinen Teil ziemlich ansehnlich, konnte aber mit Mel erst gar nicht verglichen werden. Da hörte ich es: Das Zersplittern von Glas, Mels schrillen Schrei und das Krächzen des Vogels. Ohne zu schauen, was passiert war, warf ich mich auf den Boden und landete nach einer Rolle in gebückter Haltung unter einem Tisch. Von dort aus probierte ich einen Überblick der Lage zu bekommen. Genau wie ich, hockte Mel unter einem Tisch. In ihrem Blick lag blankes Entsetzen. Ich musste zu ihr. Langsam bewegte ich mich, unter den Tischen, vorwärts und schaute mich nach allen Seiten um. Zuerst hatte ich es in meiner Panik überhört, doch dann war es da. Dieses tiefe, tiefe F. Mordlust. Natürlich war mir klar, dass dieses Gefühl weder zu John, noch zu Mel gehörte. Es war vom Vogel. Erschrocken schnappte ich nach Luft, schließlich hatte ich schon oft an meinen Kaninchen versucht, ihre Gefühle wahrzunehmen, doch es gab keinen Erfolg. Wieso konnte ich dann die Schwingungen des Vogels hören? Später, sagte mir eine Stimme, in meinem Kopf, überlebe erst mal! Es war eine vertraute Stimme, die ich jedoch bisher nur einmal in meinem Leben gehört hatte. Seine Stimme. Er hatte mich von dem Stein befreit. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ihn zuerst gehört.
Plötzlich fiel ein Stück Holz des Tisches unter dem ich mich versteckte, mit einem lauten Knacksen direkt vor meine Füße. Über mir ertönte immer wieder ein Geräusch. Es war als würde jemand mit einer kleinen Axt den Tisch zertrümmern wollen. Und da wurde mir erschreckend deutlich bewusst: Der Vogel war hinter mir her.