Mit festen Schritten stapfte der junge Krieger Zen über den durch viele Füße aufgeweichten Boden des Heerlagers. Er musste sich beeilen, denn man hatte ihm eine wichtige Aufgabe anvertraut. Es ehrte den Jüngling, denn das zeugte von dem Vertrauen, das seine Kameraden in ihn setzten. Aber was keiner wusste war, dass Zen in Wirklichkeit Serena hieß und eine Frau war. Hätte das jemand herausgefunden, wäre es wohl ihr Todesurteil gewesen. Doch das Risiko war sie gerne eingegangen. Um für ihre Heimat und ihr Volk kämpfen zu können, war sie bereit gewesen alles aufzugegeben, was sie je geliebt hatte: ihre Familie, ihre Heimat, ihr Leben und ihr Dasein als Frau. Aber sie glaubte fest an die Ideale ihres Herren und kämpfte mit Leib und Seele.
Vor dem Zelt des Heerführers verharrte sie einen Augenblick, bevor sie die schwere Plane zurückschlug und den kleinen Raum betrat. Ihr Vorgesetzter begrüßte sie mit einem Nicken und erklärte ihr noch einmal die Einzelheiten ihres Auftrages. Das Blut pulsierte in ihren Ohren, wie immer, wenn sie ihm gegenüberstand. Sie war so unbeschreiblich in ihn verliebt, durfte dies aber niemals zeigen. Um ihn zu schützen, würde sie sogar sterben.
Als sie aus dem Zelt traten, wartete bereits ein Jüngling mit einem schlanken Pferd, das zwischen den schweren Schlachtrössern fehl am Platz wirkte. Geschmeidig schwang sich Serena in den Sattel, packte die Zügel mit einer Hand und zog mit der anderen ihr Schwert. Dann gab sie dem Pferd die Sporen und preschte im gestreckten Galopp aus dem Lager, bevor die feindlichen Truppen die Schlacht eröffnen konnten.
Krieg ist eine Geißel, die sich die Menschen selbst geschaffen haben. Von wegen „Kämpfe für das, was du liebst!“, alles was sie hier taten, war ihren Kopf für irgendwelche politischen und materiellen Ziele hinzuhalten, die Könige und Adlige verbrochen hatten.
Während Naomi sich wutschnaubend die Äste der Bäume aus dem Weg hielt, musste sie an die verbrannten Häuser und Stallungen denken, die die feindlichen Soldaten in ihrem Heimatdorf zurückgelassen hatten. Anfangs hatte sie all ihren Hass und ihren Zorn auch auf eben jene Krieger fokussiert, hätte jeden von ihnen am liebsten bei lebendigem Leibe in Stücke gerissen, um ihre Familie zu rächen. Doch inzwischen hatte sie miterlebt, dass auch ihre Seite ein Verbrechen nach dem anderen an der Menschlichkeit verübte.
Rache hatte sie dazu gebracht sich als Mann zu verkleiden und zur Armee zu gehen, doch die Realität hatte sie gelehrt ihre Rüstung und Waffen zu verabscheuen. Gerade jetzt tobte hinter ihr wieder ein heftiger Kampf, von dessen Feld sie sich davongeschlichen hatte. Irgendwann würde der Lärm verebben und sie würde ins Lager zurückkehren, als sei nie etwas gewesen. Bis dahin würde sie sich hier im Wald ein ruhiges Plätzchen suchen.
Sobald Serena den Schutz des Waldes erreicht hatte, zügelte sie ihr Pferd und ließ es im Schritt gehen. Aufmerksam spitzte das Tier die Ohren und auch die junge Frau nahm die Geräusche der Schlacht in ihrem Rücken wahr. Auf einmal erschien ihr ihre Aufgabe doch nicht mehr so ehrenhaft. Als Krieger hätte sie gemeinsam mit ihren Kameraden kämpfen müssen, doch stattdessen schlich sie sich hier heimlich davon.
Das Pferd verharrte und starrte mit aufgerichteten Ohren nach vorne. Die leichte Lederrüstung Serenas knarrte leise, als sie sich im Sattel aufrichtete und mit den Augen dem Blick ihres Reittieres folgte. Sie wusste, dass es etwas gewittert haben musste. Und tatsächlich entdeckte sie eine Gestalt in dem dichten Gestrüpp. Anhand der Farben der Rüstung erkannte sie, dass es sich um jemanden aus der gegnerischen Truppe handeln musste. Und ein Krieger, der während einer Schlacht im Wald versteckt wartete, konnte ihrer Meinung nach nur ein Späher sein. Entschlossen packte sie ihr Schwert fester und trieb ihr Ross mit vollem Tempo auf den Feind zu. Wenn sie schon nicht ihren Kameraden im Kampf beistehen konnte, würde sie ihnen zumindest helfen, indem sie diesen Späher ausschaltete.
Ihr Gegner stieß einen erschrockenen Schrei aus, als Ross und Reiter durch das Gestrüpp brachen. Das Pferd bäumte sich daraufhin panisch auf und Serena, die damit nicht gerechnet hatte, verlor den Halt und stürzte. Instinktiv rollte sie sich ab und richtete sich unverletzt wieder auf. Schnell ergriff sie ihr Schwert, das sie beim Sturz fallen gelassen hatte und ging in Kampfstellung. Sie wusste, dass sie einem Mann in Kraft unterlegen war und ihre leichte Rüstung nur einen schwachen Schutz bot, aber dafür war sie flink und wendig. Und sie hatte nicht vor zu verlieren.
Sie hätte in dem Moment wegrennen sollen, als ihr Gegner am Boden gelegen und sie noch die Chance dazu gehabt hatte. Doch nun war es zu spät. Naomi befand sich genau dort, wo sie niemals hatte sein wollen: In einem Kampf.
Der Soldat der anderen Truppe war relativ klein und schmächtig, fast wie eine Frau gebaut. Trotzdem signalisierten die leuchtenden Augen unter dem Helmvisier und die präzise Bereitschaftshaltung zum Schwertkampf mehr Kampfesmut, als man so manchem Riesen von Mann zutrauen würde. Naomi war froh, dass sie in ihrer schweren Rüstung und hinter dem großen Breitschild ihres Heeres viel kräftiger und furchteinflößender wirkte, als sie in Wirklichkeit war. Zwar zwangen Metall und Gewicht des Schildes sie dazu langsam zu kämpfen, aber leichte Lederteile hätten ihre feminine Gestalt zu schnell enthüllt, weswegen sie sich an die massige Ausrüstung gewöhnt hatte.
Ihr Gegenüber observierte jede ihrer Bewegungen und schien abzuwägen, wie er sie am leichtesten würde töten können. „Blutdurstiger Bastard“, schoss es der jungen Frau durch den Kopf. Wie konnte jemand nur so bereitwillig sein Schwert ziehen und es auf einen Kampf anlegen? Bedächtig zog sie ihren Anderthalbhänder aus der Scheide und positionierte ihren Schild so vor sich, dass er ihre linke, unbewaffnete Hälfte etwas abschirmte.
Kaum war dies geschehen, sprang der Kavallerist auch schon mit einem gellenden Schrei – der ihr wohl hatte Angst einjagen sollen – auf sie zu und attackierte sie mit seinem Breitschwert. Seine Klinge hatte eine geringere Reichweite, aber dafür konnte er sie schneller schwingen. Kaum hatte Naomi seinen ersten Schlag abgeblockt musste sie schon dem nächsten ausweichen. Mit ihrer Balance war es nicht weit her und so wäre sie beinahe gestürzt, als sie sich zur Seite drehte, um der Stechbewegung des anderen auszuweichen. Dem entlockte die unbeholfene Taumelbewegung ein Lachen.
Hätte die junge Soldatin in diesem Moment darüber nachgedacht, wäre ihr wohl aufgefallen, dass das Lachen ihres Gegners etwas zu hell und zu leicht für eine Männerstimme geklungen hatte, aber einen weiblichen Kämpfer hätte sie nie erwartet und der Schlagabtausch, der nun folgte, zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich und beanspruchte ihre gesamte Konzentration.
Vielfach gefalteter Stahl traf auf Eisenbeschläge und Rüstungsplatten, Klinge auf Klinge und Schneide auf Haut. Als ihr Gegner zum ersten Mal durch ihren Lederhandschuh bis zum Arm drang und ihr dort einen tiefen Schnitt verpasste, musste Naomi die Zähne zusammenbeißen um nicht laut aufzuheulen. In ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen und sie war froh, dass ihr Helm ihr Gesicht vollständig verdeckte. Ihr Gegner hätte sich über ihre Wehleidigkeit gewiss gerne lustig gemacht. Und das, obwohl er gar kein Recht dazu hatte. Was war denn so schlimm daran Schmerzen nicht runterzuschlucken sondern ob ihrer zu wehklagen? Der Gedanke an Hohn, Schmach und Arroganz wühlte die junge Frau auf. Wütend hieb sie mit ihrem Schwert nach dem Feind, der sie zwar bremsen, aber nicht komplett abblocken konnte. Die Waffen schlugen so aufeinander, dass die Funken sprühten und es gab ein Geräusch, kreischender als Kreide auf einer Schiefertafel.
Dieser Laut erinnerte Naomi an die Schreie ihrer kleinen Schwester, als die feindlichen Soldaten sie an den Haaren gepackt und in eine Scheune geschleift hatten. Was sie dort mit ihr gemacht hatten wollte keiner denken oder annehmen, aber die Rufe der Angst und des Schmerzes, vermischt mit Schluchzen und der Bitte, sie doch endlich gehen zu lassen, hatten sich tief in die Gedanken der damals versteckt gewesenen Achtzehnjährigen eingebrannt. Hass und Verzweiflung mochten keine guten Anreize zum Kampf sein, aber sie waren das einzige, was Naomi in diesem Moment in den Sinn kam. Blind vor Tränen und aufgewirbeltem Dreck schlug sie auf ihren Gegner ein. Ihr war egal, ob sie ihm eine größere Angriffsfläche bot, als sie ihr Schild fallen ließ, und ihr war auch egal, dass sie keine Ordnung, keine Muster oder Parrierungen in ihren Hieben hatte, sie wollte nur noch die Schreie aus ihrem Kopf verdrängen.
Volkommen überrascht von der Raserei seiner Gegnerin wich der feindliche Soldat zurück und stolperte am unebenen Waldboden über eine Wurzel, die ihn zu Fall brachte. Es war die perfekte Gelegenheit ihn zu erledigen, ein einziger, seitlich geführter Schlag und sein Kopf wäre sauber von seinem wendigen Rumpf getrennt. Doch nun, als Naomi plötzlich die Gelegenheit hatte die Sache zu beenden, erschrak sie vor sich selbst. Allein die Tatsache, dass sie daran gedacht hatte jemanden zu töten, jagte ihr kalte Schauer über den Rücken.
Während der andere ihr Zögern nutzte, um wieder auf die Beine zu kommen, taumelte die junge Frau. Ihre Rüstung erschien ihr so schwer wie nie zuvor, sie war nicht einmal in der Lage ihr Schwert zu heben, um den nächsten Angriff abzublocken und als warmes Blut aus ihrer Schulter floss, dort wo er sie getroffen hatte, jaulte sie laut auf vor Schmerzen, ohne Rücksicht auf das, was ihr Feind sagen würde. Sie fiel auf die Knie und fluchte, hoffte nur noch, dass die Schinderei ein schnelles Ende nehmen würde. Sie wollte nicht mehr kämpfen.
„Traurig, ein Land, das keine Helden hat.“, höhnte ihr Feind plötzlich mit kratziger, heiser klingender Stimme. „Du schaffst es nicht jemanden zu erledigen, wenn du die Gelegenheit hast und jammerst über deine Wunden wie ein Mädchen.“
„Nein, traurig, ein Land, das Helden wie dich nötig hat.“, erwiderte Naomi und riss sich den Helm vom Kopf, damit man sah, dass sie eine Frau war. „Und zu deiner Information: Ich bin ein Mädchen!“
Serena war wie versteinert. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, dass ihr Gegner sich als Frau entpuppte. Einige endlose Augenblicke starrte sie auf das vor ihr kniende Mädchen. Dann hob sie unendlich langsam die Hände und nahm selbst den Helm ab. Im Gegensatz zu der anderen, sah man ihr ihre Weiblichkeit nicht an, da sie ihr Haar kurz geschnitten trug. „Nur weil du ein Mädchen bist, heißt das noch lange nicht, dass du schwach bist und vor einem Mann im Dreck liegen musst.“, fuhr Serena die andere an, wobei sie diesmal ihre Stimme nicht verstellte, „Also komm gefälligst wieder auf die Beine.“ Mit diesen Worten hielt sie der verdutzten Gegnerin die Hand hin und half ihr auf. „Auch wenn man es mir nicht ansieht, ich teile dein Schicksal.“, murmelte Serena.
Der hinter ihnen tobenden Kampf war vergessen. So standen sich in dem Wald, der an das Schlachtfeld angrenzte zwei Frauen gegenüber, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. Und doch verband beide ein gemeinsames Schicksal, das sie alle Unterschiede vergessen ließ. Ohne etwas zu sagen, fielen sich die beiden Kriegerinnen in die Arme und verharrten so schweigend für den Rest dieses scheinbar unendlichen Augenblicks. Es bedurfte auch keiner Worte. Keine der beiden interessierte sich für den Namen oder die Geschichte der anderen. Das war in diesem Moment unwichtig. Für beide zählte nur, dass sie nicht alleine waren, dass es noch jemand anderes gab, der dieselbe Maske zur Schau trug, wie sie selbst.