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[tab=Kapitel 9 Teil 4]
Gern hätte ich meinen Sieg länger ausgekostet, doch für jetzt ließ ich das Leufeo in Ruhe jammern und schreien. Die Zeit zum Feiern hatte ich ohnehin nicht, wie kurz darauf erinnert wurde. Wie ein Riese türmte sich hinter mir die Krankenschwester in die Höhe, die gerade ihre leicht angesengte Schürze offenbar in Grund und Boden stampfen wollte. Für einen Moment dachte ich, dass ich vielleicht an ihr vorbeihuschen und unbemerkt durch die Türe gelangen konnte, da sprang mit einem Mal ihr Blick zu mir hinunter. Ihr Gesicht war knallrot und erinnerte an eine reife Tamotbeere, der man zwei riesige Augen aufgeklebt und eine Perücke aufgesetzt hatte. So lustig dieser Vergleich auch hätte sein können, so wenig war mir zum Lachen zumute. Alarmiert wich ich einen Schritt zurück.
„Sei ein braves Vulpix ...“, redete sie auf mich ein, wobei ich statt Worte nur ein Grollen wahrnehmen konnte, wie von einem Vulkan, der gefährlich am Brodeln war. Anstatt sich jedoch auf mich zu werfen, ging sie langsam in die Knie. Ihre Arme streckte sie dabei vorsichtig auseinander und sie schien mich mit offenen Händen zurück in ihre liebliche Umarmung einladen zu wollen. Ihr Gesichtsausdruck blieb dabei jedoch unverändert und ließ ihre sanften Bewegungen völlig unglaubhaft wirken. Zudem war mir gerade absolut nicht nach Liebe und Zuwendung.
„Kannst mich mal!“, schrie ich ihr als Antwort entgegen und folgte dem plötzlichen Impuls in meinen Beinen. Ich preschte nach vorne. Die Hände der Krankenschwester schnellten auf mich zu, zögerten jedoch eine Sekunde zu lange. Genau diese reichte für mich aus, um aus ihrer unmittelbaren Reichweite zu verschwinden und die Türschwelle in den nächsten Raum zu überqueren. Dachte ich zumindest.
„Hier geblieben!“
Ihren schrillen Worten folgte ein stechender Schmerz, als versuchte jemand gerade, mir das Fell von der Haut zu reißen. Mit einem Aufschrei kam ich abrupt zum Stillstand, versuchte aber sofort mit Gewalt weiterzukommen, weiterzurennen, doch anstatt Abstand zu gewinnen, schoss mir vor Schmerz Tränen in die Augen. Ich musste nicht zurückblicken, um zu wissen, was Sache war: Abermals waren diese verdammten Vulpixschweife schuld, die offenbar keinen anderen Sinn hatten, als dass man mich daran festhalten konnte, vergleichbar mit dem Griff einer Einkaufstasche. Und dennoch wandte ich meinen Kopf um und blickte hinauf zu ihr. In ihr rotes Gesicht. In ihre starren Augen. Sie zeigte keinen Ansatz eines Lächelns, noch sagte sie ein einziges Wort … doch war ich mir bewusst, dass sie glaubte, mich unter ihrer Kontrolle zu haben. Sie dachte, dieser Kampf sei vorbei.
Ich biss meine Zähne so fest aufeinander, bis das Knirschen im ganzen Center zu hören sein musste, und unterdrückte den stechenden Schmerz, soweit ich konnte.
Dieser Kampf war noch lang nicht vorbei. Wenn hier jemand als Sieger hervor geht, dann bin ich das!
Wie ein Fukano, welches seinen eigenen Schwanz jagte, drehte ich mich so weit wie möglich nach hinten. Krallen blitzten auf. Eine meiner Pfoten schnellte auf die Hand der Krankenschwester zu. Fänge schnalzten durch ihre Haut, als wäre sie Papier, und durften endlich Blut schmecken. Ihre übernatürlichen Reflexe retteten sie dieses Mal nicht. Ihrem entsetzten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war sie auf eine derartige Erwiderung nicht vorbereitet gewesen. Anstatt ihren Griff jedoch zu lockern, holte sie mit ihrem Arm aus und schleuderte mich grob mit einer Bewegung nach links. Ich flog durch die Luft. Bevor es aber zu unkontrollierbaren Saltos kommen konnte, die nur mit einer Beule oder blauen Flecken enden würden, verlegte ich meinen Schwerpunkt in die entgegengesetzte Richtung. Anstatt nun wie ein Spielball herumzudrehen, gewann ich wieder die Kontrolle über mich und eher ich mich versah, vollbrachte ich eine perfekte Punktlandung vor einem der Regale. Den ersten Moment zurück auf dem Fußboden verbrachte ich damit, mit ungläubigen Blick hinab auf meine leicht zitternden Beine zu starren. Das … ging besser aus als erwartet. Offenbar fühlt sich, nachdem dem man von einem Kramshef durch die Luft katapultiert wird, alles andere wie ein Kinderspiel an.
"Na … glücklich?", höhnte ich, hatte aber Schwierigkeiten, Worte zwischen meinen schweren Atemzügen herauszubringen. Auf ihre Antwort musste ich nicht lange warten.
In zitternder Umarmung stemmte sie ihre gesunde Hand gegen die Blutung, die ich ihr zugefügt hatte. Hinzu kam der Anblick ihres purpurroten Gesichts, der vage an einen Satz frischer Ohrfeigen erinnerte und keine weiteren Fragen offen ließ. Leider konnte ich meinen Sieg nur kurz auskosten, denn da spürte ich schon ihren wutentbrannten Blick auf meiner Stirn brennen. Mit schnellen Schritten gab sie mir deutlich zu verstehen, dass sie ebenfalls lange davon entfernt war, aufzugeben.
Was zum Hundemon musste man tun, dass diese Frau einen endlich in Ruhe ließ? Sollte Kleidung anzuzünden und ihre Hände aufschlitzen nicht mehr als genug sein, dazu zu bringen, das Handtuch zu werfen?
Noch konnte ich abhauen und mir ein anderes Versteck suchen, doch als ich flüchtig nach einem sicheren Ort Ausschau hielt, wurden mir ein paar winzig kleine Löcher in meinem Plan bewusst: Es gab kaum Orte, an welchen man sich verkriechen konnte, und mein kleiner Notausgang … von dem trennte mich eine Steilwand aus Glas. Raufspringen war keine Option und über den Etagenwagen hinaufzuklettern, war genauso unmöglich wie waghalsig. Dann hatten wir außerdem die Krankenschwester, die an mir festkleben würde wie eine Klette, sofern sie nicht demnächst von einem Klavier erschlagen wurde. Offenbar ging es nicht anders ... Anfänglich etwas widerspenstig trat ich ein Stück vom Regal weg und präsentierte ihr meine Reihe von Zähnen, da dies die einzige Sprache zu sein schien, welche andere verstehen konnten. Nochmals würde ich mich nicht mehr einfangen lassen. Mochte sein, dass ich in dieser Gestalt wesentlich kleiner war als sie, doch waren meine Zähne spitzer als ihre, und ihre Fingernägel waren im Vergleich zu meinen Krallen stumpf wie ein Kindermesser. Dieser Kampf würde blutig werden - für sie. Das konnte ich versprechen.
Scheinbar wirkte ich überzeugend genug, denn die Krankenschwester hielt inne und trat mit ganz langsamen Rückwärtsschritten und ohne mich auch nur für einen einzigen Moment aus den Augen zu lassen, den Rückzug an. Zuerst hatte ich keine so rechte Ahnung, was sie damit zu erreichen versuchte, doch dann fiel mein Blick auf die kleine Sprühflasche, welche unterhalb der großen Maschine stand. Wenn sie dieses Zeug wieder benutzte, konnten mir selbst diese rasierscharfen Klauen wenige helfen. Am liebsten wäre ich losgestürmt und hätte sie davon abgehalten, doch dafür war es mittlerweile zu spät. Stattdessen zuckte nun mein Blick durch den Raum, auf der Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt oder einem Gegenstand, der mir aus meiner Lage helfen konnte. Das Einzige, was es hier jedoch gab, war der Heilomat, die Regale, der Etagenwagen und die unzähligen Pokébälle. Noch hatte ich die Chance, durch die Türe zu stürmen und mir vielleicht dort einen Ausweg zu suchen, doch hatte ich meine Zweifel, dass der Plan so gut laufen würde. Wenn ich bloß …
Abrupt drehte ich meinen Kopf nach links.
… nicht immer so blind wäre. Ich Trottel, die Lösung klebte mir ja direkt vor der Nase!
Die Krankenschwester hatte unterdessen die Flasche in ihre blutenden Hände bekommen und schritt mit einer grimmigen und entschlossenen Miene auf mich zu.
Ich hingegen hörte auf, ihr meine gewaltigen Reißzähne zu präsentieren, sondern wartete mit einer gleichgültigen Gelassenheit auf sie, über welche selbst ich erstaunt war. Ihre Bewegungen wurden indes schneller, ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich, als ahnte sie, dass ich etwas im Schilde führte. Das Herz in meiner Brust begann schneller zu schlagen, doch äußerlich verhielt ich mich weiterhin ruhig.
Ich wartete.
Die blonde Frau hob die Spraydose.
Warte.
Das Geräusch ihrer Schuhe hallte lauter und lauter in meinen Ohren.
Noch ein bisschen.
Ihr Schatten legte sich über mich, nur wenige Schritte trennten uns beide voneinander.
Ich holte mit meiner Pfote aus … und schlug auf einen der Pokébälle ein. Ein Klicken ertönte, als der weiße Knopf an dessen Vorderseite dem Druck meiner Pfote nachgab, ein Geräusch, das in diesem Moment alles andere in dem Raum zu übertönen schien. Der Rest der Welt schien in ein Schweigen zu verfallen, als hielt sie in gespannter Erwartung den Atem an. Das Gejammer des Leufeo, die Fußschritte der Krankenschwester, das leise Surren der Lichter und auch mein eigener Atem, all diese verstummten. Dann wurde ich in grelles Licht gehüllt.
Als ich kaum einen Augenblick später wieder aufblickte, konnte ich einen schwarzen Schemen in dem Licht erkennen, welcher zwischen den Regaletagen größer und größer zu werden schien. Keinen Sekundenbruchteil später überstieg seine Größe bereits den verfügbaren Platz und so mussten die darüber liegenden Regalplatten der heranwachsenden vierbeinigen Gestalt, weichen.
Eine Etage nach der anderen wurde aus ihren Halterungen gehoben und kippte erst etwas nach hinten, bevor sie in die andere Richtung umschwenkten. Wie ein Kind, das fasziniert die Spielzeuge in einem Schaufenster betrachtete, hingen meine Augen an diesem Schauspiel, überrascht darüber, was ich gerade in Gang gesetzt hatte. Viele Pokébälle konnten der Schwerkraft nicht mehr trotzen und kullerten aus ihrer Halterung heraus, bereit, wie faustgroße Hagelkörner auf den Boden hinabzufallen. Weiterhin beobachtete ich, wie sich eine Kugel nach der anderen aus der Halterung löste und in Zeitlupe dem Boden entgegen flog, als ich etwas realisierte: Ich würde die erste sein, die von diesem Hagelregen begraben werden würde, wenn ich nicht sofort meinen Hintern aus der Gefahrenzone bewegte. Ich löste mich von dem Anblick der fallenden Kapseln und floh überstürzt vor der Lawine, die einen Wimperschlag später bereits am Anrollen war. Das Geräusch der aufprallenden Pokébälle nahm rasch an Lautstärke zu und erinnerte an das Prasseln eines heftigen Sommerregens, nur ohne Wassertropfen, dafür mit Hagelkörner aus Plastik. Aus den Augenwinkeln nahm ich die ersten zweifärbigen Bälle wahr, die an mir vorbeihopsten, dicht gefolgt von ein paar weiteren, die über den Boden rollten. Das war aber erst der Anfang. Es war fast so, als würde mir jemand die Dinger regelrecht hinterher werfen, denn bald flog mir ein Dutzend dieser Dinger um die Ohren und sprangen anschließend wie Gummibälle durch das Zimmer.
All das spielte sich in wenigen Sekunden ab. Einen weiteren Sekundenbruchteil später und diese Gummibälle verwandelten sich in explosive Bomben. Eine Welle aus Klickgeräuschen brach von allen Seiten hervor, welches lediglich der Donner zu dem Blitzgewitter war, das nun im ganzen Zimmer ausbrach. Es gab keine Möglichkeit, sich von diesen Explosionen abzuwenden, dieses Mal war es keine Finsternis, die mich erblinden ließ, sondern gleißendes Weiß. Geblendet stolperte ich ein Stück nach vorne, doch schließlich erkannte ich, dass es keinen Sinn machte, weiter zu rennen … nicht bei diesen Bedingungen. Ich warf mich in Richtung des nächsten Regals und drückte mich schützend auf den Boden. Ich wollte nicht dran denken, was passieren würde, wenn sich einer der Kapsel über mir öffnen würde und lauschte stattdessen konzentriert dem Klickgewitter, als würde mein Leben davon abhängen. Das Geräusch der sich öffnenden Pokébälle wurde bald weniger oder besser gesagt, verdrängt von dem Laut unterschiedlicher Stimmen und Geräusche, angefangen von Grunzen, Schnarchen bis über Fauchen, welche schnell das Zimmer übernahmen. Es klang, als hätten sich unzählige Trainer mit ihren Pokémon versammelt, um an einem Turnier teilzunehmen oder sonstigen Unfug zu treiben. Zögerlich öffnete ich meine Augenlider.
Das Erste, was ich sehen konnte, war eine Wand aus braunem Fell, die nur wenige Zentimeter vor mir in die Höhe türmte. Der Geruch von nassen Haaren und Dung, den diese verströmte, kitzelte regelrecht in der Nase, jedoch konnte ich ein lautes Niesen unterdrücken. Zwischen diesen eher unangenehmen Düften vernahm ich jedoch etwas sehr Ungewöhnliches, etwas mir völlig Fremdes und doch konnte ich es benennen. Es roch nach Winter. Bald darauf mischten sich weitere Düfte darunter, angefangen von Lavendel, Baumrinde, Metall, fauligem Ei, süßem Honig, verrotteten Abfällen und dann waren da noch weitere, die ebenso bizarr waren wie der Geruch von Winter. Die unterschiedlichsten Jahreszeiten, kaltes Wasser, Bergluft, all das schien ich plötzlich durch meine Nase wahrnehmen zu können. Das Verblüffendste daran war, dass sie mir alle so vertraut erschienen, als hätte ich sie immer schon vernehmen können. Mir wurde leicht schummrig.
Verdammter Geruchssinn, dann hatte mir diese ausgeprägte Fähigkeit je was gebracht, außer mich mit allen Sorten von Gestank, den ich damit wahrnehmen konnte, zu plagen … Na gut, abgesehen von dem einen Mal, bei meiner Flucht in das Kirchengebäude. Eine Ausnahme der Regel.
Zögerlich drehte ich mich am Boden kriechend um. Nun konnte ich das wahre Ausmaß meiner Handlung erkennen: Pokémon, in allen Farben, Formen und Größen, hatten sich über das Zimmer verteilt und rannten umher, standen verunsichert herum oder lagen wie ich, alle viere von sich gestreckt, auf dem Boden. Über mir flatterten ein paar Taubsi durch die Luft, ein Karpador platschte hilflos auf dem Boden und auch an den Regalen kletterten Pokémon umher, die gelegentlich den einen oder anderen Pokéball zu Boden schleuderten. In der Mitte hatte sich unterdessen ein gewaltiges Pokémon breitgemacht, dessen gepanzerter Rücken sogar einen kleinen Baum beherbergte und mindestens viermal mehr Platz benötigte, als die größten Pokémon in diesem Raum. Und dann war da noch der Lärm. Das Geräuschekonzert im Warteraum war schon genug gewesen, dass hier übertrumpfte jedoch alles was meine Lauscher bisher ertragen haben müssen. Es war jedoch viel zu viel los, als dass ich noch einzelne Worte vernehmen hätte können, im Moment war es nichts außer ohrenbetäubender Krach.
Alle meine Sinne waren völlig überfordert ... und doch konnte ich nicht sicher sagen, ob ich schreien oder laut loslachen sollte. Ein Kribbeln breitete sich über meinen ganzen Körper aus und mein Magen schien sich mehrere Mal in mir verknoten zu wollen. Ich hatte mein Ziel erreicht, doch nun, umzingelt von all diesen scheußlichen Kreaturen und allem, was sie mit in diesen Raum brachten, fühlte ich mich miserabel.
Verdammt nochmal, reiß dich zusammen ... es sind nur ein paar verdammte Pokémon. Selbst wenn die genug Grips in der Birne hätten, würden die nichts checken. Gestank, Lärm, Pokémon, alles nur ein Mittel zum Zweck. Mich sollte nur interessieren, dass mein Plan aufgegangen war.
Ein Blick in die Richtung der Krankenschwester genügte, um zu zeigen, wie es ihr mit dieser neuen Situation erging. Wie eine Kindergärtnerin, die umringt von Unmengen ungezogener Kinder war, ragte sie aus dieser Menge hervor. Man müsste blind sein, um das Entsetzen und die Verzweiflung auf ihrem leichenblassen Gesicht zu übersehen. So elend ich mich zwischen diesen Missgestalten fühlen mochte, brachte mich dieser Anblick etwas zum Grinsen. Die Krankenschwester war verzweifelt, meine Freiheit zum Greifen nah und außerdem hat mich keines dieser verdammten Dinger zer...
„Achtung da unten!“, unterbrach eine kräftige Stimme meinen Gedankengang. Irritiert hob ich meinen Blick, bemerkte gerade noch die schwarze Gestalt über mir, kurz bevor diese auf meinen Rücken krachte. Mit einem Laut, von dem nicht einmal ich sagen konnte, ob es ein Schrei, Fluchen oder ein Würgen sein sollte, presste es mir die Luft aus den Lungen. Als ob ich kurz vor dem Ertrinken war, zappelte ich mit meinen Beinen und versuchte nach Luft zu schnappen. Bevor ich tatsächlich ersticken konnte, verschwand abrupt die Last von meinem Rücken und ich konnte wieder normal atmen. Ich riss meinen Rachen auf und saugte so viel Luft in meine Lungen zurück, dass ich einem Staubsauger leicht Konkurrenz hätte machen können. Gleichzeitig strömte mir dabei ein weiterer fremdartiger Duft in die Nasenlöcher, der nicht zu verschwinden scheinen wollte. Der Geruch vom Nachthimmel.
„Oh verdammt … Sorry, war keine Absicht."
Es dauerte einige weitere Atemzüge, bevor mir klar wurde, dass ich da gerade nicht Hintergrundlärm hörte, sondern Worte; ein paar weitere und ich kapierte, dass sie an mich gerichtet waren.
„… keine Absicht …“
Ich krächzte die Worte nach und betonte jeden Buchstaben mit Verachtung … soweit ich dazu in der Lage war.
Oh natürlich, jetzt wo ich wusste, dass man mich nicht absichtlich niedergesprungen und meine Innereien zerquetscht hatte, war ich ja erleichtert. Nichts ging über eine halbherzige Entschuldigung, die einen kaum besser fühlen ließ.
„Keine Absicht … das ist ein Scherz, oder?“
„Entschuldigung, das hätte nicht passieren sollen”, begann der Fremde von neuem, „Sind sie unverletzt? Kann ich helfen?“
Eine bissige Meldung formte sich in meinem Mund, doch als ich meine Augenlider öffnete, waren die Worte des Fremden, die ständig zwischen überfreundlich und sorgevoll zu pendeln schienen, nicht das Einzige, was mir im Hals steckenblieb. Alles, was ich sah, waren große, glühende Augen, die aus wenigen Zentimetern Entfernung starrten.
Meine Krallen schnellten auf dieses Monster los, bevor ich jedoch mein Ziel traf, wich es ruckartig von mir weg. Mit der gewonnen Distanz konnte ich schließlich erkennen, wem ich da gerade gegenüber stand. Diese scheußlichen Augen gehörten einem vierbeinigen Pokémon, das mich mindestens um eine Kopfgröße überragte. Das Fell des Vierbeiners war schwarz wie die Nacht, perfekt, um mit der Dunkelheit zu verschmelzen, wären da nicht diese gelben Musterungen gewesen, die wie Leuchtstreifen einer Warnweste das Licht zu reflektieren schienen. Das schwarze Pokémon wirkte nicht im Geringsten, als hätte ihn mein plötzlicher Angriff überrascht. Im Gegenteil: Seine Miene ließ eher darauf deuten, dass er so eine Reaktion erwartet hatte. Weiterhin fauchend sprang ich zurück auf meine Pfoten und fühlte, wie sich jeder Muskel in Anspannung verkrampfte. Ich wusste nicht, was es war, das mich derartig aggressiv reagieren ließ; vielleicht seine Augen oder einfach dessen unverschämte Art. Vielleicht war es auch mein Bauchgefühlt, das mich vor ihm warnen wollte.
Mein Gegenüber schien weiterhin von meiner Reaktion nicht allzu beeindruckt zu sein. Er blinzelte langsam und neigte seinen Kopf zur Seite. „Das interpretiere ich als ein nein auf beide Fragen.”
In seinem Gesicht war ein leichtes Lächeln zu erkennen. Zudem klang jedes Wort aus seinem Mund nun so süß wie Honig, welchen man mir samt dazugehörigem Glas in den Rachen stopfte.
„Hab selten jemand gesehen, der so schnell wieder auf die Beinen kommt, bemerkenswert.”
Ich hob meine Pfote mit gezückten Klauen. „Diese Krallen werden genauso schnell in deiner Fresse landen, wenn du nochmal so herankriechst!”
„Kein Grund ihr hübsches Fell aufzustellen, ich suche wirklich keinen Streit.”
Er trat einen winzigen Schritt in meine Richtung, seinen Kopf und Blick gesenkt, doch sein Lächeln weiterhin unverändert. Wenn er damit versuchen wollte, sich unauffällig zu nähern, würde er kein Glück haben, das konnte ich versprechen.
„Sie haben jedes Recht wütend zu sein. Es tut mir wirklich leid, dass war völlig meine Schuld.”
Es folgte ein paar weitere Schritt auf mich zu.
„Verschwinde!”, schnauzte ich ihn weiterhin an, doch wollte er meiner Aufforderung nicht nachkommen.
„Werde ich tun, aber vielleicht nicht alleine.”
Es folgte ein etwas größerer Satz nach vorne und schon stand das Mistvieh näher bei mir, als mir lieb war. Wäre hinter mir nicht eine Wand aus Fell gewesen und hätte ich nicht vor, diesem Vieh gegenüber keine Blöße zu zeigen, ich wäre instinktiv zurückgewichen.
„Würden sie mich begleiten? Jemanden so bezaubernden wie sie hier zurückzulassen, würde mir das Herz brechen.”
Für einen Augenblick regte ich mich nicht mehr. Wortlos glotzte ich ihn an, während ich mir nochmals das, was er gerade gesagte hatte, Wort für Wort durch meinen Kopf gehen ließ. Einen Augenblick lang. Dann schnellte ich nach vorne, um meine Zähne ihn sein verdammtes Gesicht zu bohren. Ich schnappte zu, doch konnte abermals nichts als Luft zu fassen bekommen, dafür verschwand aber der selbstbewusste Ausdruck aus dem Gesicht des Vollidioten. Mit einem Satz brachte er sich aus der Reichweite meines unheilbringenden Kiefer, wobei er rücklings auf ein anderes Pokémon sprang, das in diesem Moment an uns vorbei rannte. Ein weiterer Zusammenprall, den dieses schwarze Mistvieh besser überstand, als das zweite Pokémon, das in diesen Involviert war.
Es reicht, ich verschwinde! Was erlaubte sich diese Missgeburt? Mich als Erstes zu zertrampeln, dann Privatsphären überschreiten und mich anzumachen. Ausgerechnet ein Pokémon! Widerlich! Der konnte sich seine Sprüche sonst wo hin kleben, mich brauchte das Vieh nicht einmal mehr anzuschauen.
Rasch wandte ich mich von den zwei „Verunglückten“ ab und machte mich aus dem Staub. Ich warf keinen Blick mehr zurück, sondern fixierte lediglich das Fenster, das gerade noch hinter der wandelnden Erdplatte sichtbar war. Jedoch war es nicht ganz so leicht, sich durch die ganzen Pokémon durchzukämpfen, welche sich über den ganzen Ort verteilt hatten. Immer wieder versperrte mir eines dieser Biester den Weg und zwang mich, Umwege einzuschlagen. Ich schenkte ihnen ansonsten jedoch kaum Beachtung … soweit es möglich war. Der Mischmasch von Gerüche, der die Luft hier verpestete, wurde nicht unbedingt besser und meine Nase schien es nicht zu schaffen, diese auszublenden. Mehr Erfolg hatten dagegen meine Ohren, doch selbst wenn der Lärm etwas in den Hintergrund geschaltet worden war, war er alles andere als erträglich. Ich versuchte all diese Störungen zu ignorieren, sowie die ganzen anderen Pokémon, ob es sich nun um ein anderes vierbeiniges Vieh, ein gestrandetes Wasser-Pokémon oder ein Haufen zerbrochener Eier handelte. Was ich nicht so leicht ignorieren konnte, war eine gewisse Frau …
Noch ein Stück von der Glasvitrine entfernt – es trennte mich lediglich dieses riesenhafte Monstrum mit dem Baum am Rücken – hörte ich einen mittlerweile sehr bekannten Laut zu meiner Rechten. Ein Klicken - das Geräusch eines Pokéballes. Unwillkürlich wandte ich meine Aufmerksamkeit von dem Fenster ab und drehte meinen Kopf, in der Erwartung, dass irgendein Blindgänger sich geöffnet hatte.
Stattdessen entdeckte ich dort die Krankenschwester. Sie hatte noch immer diesen völlig versteinerten Ausdruck im Gesicht, als hätte man ihr die Fähigkeit genommen, Emotionen zu zeigen, doch anstatt sich hilflos von den ganzen Viechern umringen zu lassen, war sie nun in die Offensive gegangen. Sie beugte sich gerade zu Boden und hob eine der geöffneten Kapseln auf, um sie sogleich per Knopfdruck zu verschließen. Es folgte ein leises Klicken und im selben Moment verwandelte sich eines der herumflatternden Taubsi in eine grellleuchtende Form, bevor sie spurlos verschwand. Fast beiläufig warf sie den Pokéball dem Trainer des Leufeo zu, der nur wenige Schritte hinter ihr stand und aussah, als hätte ihm ebenfalls jemand mit ausgefahrenen Klauen eine geknallt. Auch sein Selbstvertrauen schien er dabei verloren zu haben und fing den geworfenen Pokéball recht unbeholfen in der verbrannten Schürze der Krankenschwester, in welcher bereits ein Dutzend andere Kapseln herum kullerten.
„Diese verdammte Frau …“, stieß ich hervor und huschte hinter eines der Beine dieser wandelnden Erdplatte.
Zum Hundemon! musste man diese Frau erst töten, bevor sie endlich Ruhe gab? Vielleicht sollte ich ein oder zwei weitere Regale zerlegen, dann werden wir doch sehen, wer von uns beiden …
„So, hat etwas länger gedauert.”
Mein ganzer Körper zuckte und meine Laune schien noch einige hundert Meter auf dem Hang, der der heutige Tag gewesen war, hinunterzurutschen. Widerwillig drehte ich mich um, in der Erwartung, dass dieses Mistvieh wieder alle Grenzen meiner Privatsphäre überschritten hatte. War nicht ganz der Fall, zwar stand er näher bei mir, als mir recht war, doch gerade außerhalb der Reichweite meines Gebisses oder meiner Klauen.
„Nicht lang genug.”
Ich funkelte ihn alles andere als willkommen an und zeigte ihm abermals meine Zähne, die noch immer danach dürsteten, ihm seine verdammte Schnauze abzubeißen.
„Ich war vorhin ein kleinwenig zu direkt, oder?”, machte das Pokémon Anstände, die Situation zu entschärfen, und deutete eine unterwürfige Verneigung an, „Sorry, ich glaube, wir haben uns etwas auf der falschen Pfote erwischt. Wenn sie mir erlauben würden, ich …“
„Halt deine verdammte Fresse! Mich interessiert’s einen Dreck, was du zu sagen hast!“
Ich konnte so grimmig blicken, wie ich wollte, es würde nichts bringen. Dieses Pokémon war derartig blind, der würde nicht mal seinen eigenen grauen Star sehen, wenn er denn einen hätte. Hoffnung, dass es um seine Ohren besser bestellt war, hatte ich jedoch auch nicht viel.
„Mit einem abartigen Pokémon wie dir, will ich nichts zu tun haben, also schieb dir deine Entschuldigung sonst wo hin!”
Mit Genugtuung stellte ich fest, dass meine Worte doch nicht ganz ohne Wirkung bei ihm blieben. Zwar wirkte sein verdammtes Lächeln unverändert, doch verrieten seine Augen, dass er meine Worte nicht einfach ignorieren konnte. Ohne auf eine Erwiderung zu warten, fuhr ich die nächsten Geschütze auf: „Machst du das mit jeder? Als Erstes niedertrampeln, dann mit süßen Worten einschleimen und so tun, als würdest du nichts mehr auf dieser verdammten Welt bereuen? Die Wievielte bin ich schon, bei der du eine solche Tour abziehst?”
Jetzt war ich diejenige, die ihm näher auf die Pelle rückte und ein hämisches Lächeln auf die Lippen setzte, während seines zu verschwinden schien.
„Wenn du mir einen Gefallen tun willst, ersticke an deinen eigenen Worten, damit ist mir mehr als geholfen. Bin bestimmt nicht die Einzige, die sich darüber freuen würde.“
Endlich verhärtete sich die Miene meines Gegenübers. Seine Augen waren mit einem Mal glanzlos und es schien, als würde er nur noch durch mich hinweg starren. Wenn dieser Kerl sich so wehrlos anschuldigen ließ, konnte ich ihm vielleicht die eine oder andere Träne aus ihm herausdrücken … zu blöd nur, dass ich dafür wirklich keine Zeit hatte. Die Krankenschwester schien zwar weiterhin damit beschäftigt zu sein, dieses Chaos aufzuräumen, jedoch wollte ich mein “Glück” nicht zu sehr herausfordern. War nicht scharf zu erfahren, was sie tun würde, falls sie mich wieder finden sollte.
Ich wollte mich bereits befriedigt abwenden, als das schwarze Pokémon wieder aufblickte. Der Glanz in seinen Augen war zurückgekehrt und das verschwunden geglaubte Lächeln zog sich von einer Gesichtshälfte zur anderen, so als hätte er es nie abgelegt.
„Du lässt dir wirklich nichts gefallen, oder? Finde ich gut.“
Das war nun das zweite Mal, dass ich nicht in der Lage war, schlagfertig zu antworten. Verständnislos glotzte ich diesen Deppen an, dem offenbar nichts in dieser Welt die Laune verderben könnte.
„Ernsthaft, nicht viele trauen sich laut auszusprechen, was sie ehrlich denken.”
„Schnauze.“
Ich hatte meine Stimme zurückgewonnen, doch meine Worte hatten einiges an ihrer Bissigkeit eingebüßt.
„Ich brauche keine wertlosen Komplimente.“
„Komplimente? Ich merke nur gerne das Offensichtliche an. Alles, was ich bisher gesagt hab, meine ich völlig ernst.“
„Verpiss dich … sonst gibt es Tote.“
Auch meine letzte Drohung ignorierte er gekonnt. Stattdessen tänzelte - noch immer in einem gebürtigen Abstand - an meine Seite.
„Komm schon, lass uns Frieden schließen.“
Mit einem Schlag fehlte mir die Lust, irgendetwas auf seine Worte zu erwidern. Es war fast so, als würde ich gegen eine Betonmauer treten.
„Verkriech dich in deine Pokéball und lass mich in Ruhe … Idiot.“
Augenrollend wandte ich mich ab und widmete mich stattdessen dem offenen Fenster. Bald würde ohnehin die Krankenschwester seinen Pokéball erwischen und ihn da verschwinden lassen. In der Zwischenzeit musste ich ihn nur ignorieren, vielleicht verlor er ja auch das Interesse. Abermals ein unerfüllter Wunsch.
„Um dieses Problem hab ich mich bereits gekümmert.”
Er zeigte mir triumphierend seine blitzenden Zähne, bevor er fortfuhr: „Ich weiß, sie werden es mir wahrscheinlich nicht glauben, aber ich will mich wirklich für den Unfall von vorhin revanchieren.”
Mittlerweile hatte ich auf Durchzug geschaltet und reckte meinen Kopf weiter in die Höhe, als versuchte ich, einen besseren Blick auf das Fenster zu erhaschen. Der Ausblick währte nicht langen. Kurz darauf stellte sich das Vieh wieder dazwischen und versuchte ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit zu gelangen.
„ … Sie wollen hier raus, nicht wahr?“
Ich öffnete langsam meinen Mund, mit dem Gedanken spielend, ihm einen Krallenhieb zu verpassen, doch schließlich antwortete ich: „Und selbst wenn?“
„Liegt praktisch auf meinem Weg.“
Sein Grinsen wurde so breit, dass es bald schon den Rand seines Gesichtes überschreiten musste, wenn es noch etwas größer werden würde.
„Also, wenn sie mich entschuldigen ...“
Das Pokémon gab mir nicht die Zeit zu antworten. Ehe ich mich versah, hatte er mich seitlich auf seinen Rücken gepackt und setzte zum Sprung an.
„Was … HEY!“
Ich wollte mich wegstoßen und viel Abstand zwischen mir und dieses widerliche Vieh bringen, doch da fühlte ich einen Ruck und wir befanden uns in der Luft. Einen weiteren Ruck später landeten wir neben dem übergroßen Bonsaibaum, auf dem Rücken der wandelnden Erdplatte. Für einen Moment verharrte ich regungslos an der Stelle. Dann endlich riss ich mich von dem stinkenden Fell los.
„Was soll das, du Weichbirne!“, schnauzte ich ihn an, über den Pokémon-Panzer taumelnd und mich angewidert schüttelnd. Der Untergrund, auf dem ich stand, fühlte sich seltsam an, er war nicht hart und glatt, stattdessen hatte ich das Gefühl, als bewegte ich mich auf einem moosbewachsenen Waldboden. Der Gedanke, dass dies aber der Rücken eines lebenden Pokémons war, jagte mir einen Schauer über den Rücken.
Das schwarzfellige Pokémon zeigte mir bloß seine unschuldige Miene und erwiderte: „Ich hab sie raufgetragen, das war alles. Schauen sie, wir sind gleich da.“
Argwöhnisch spähte ich über meine Schulter. Dort war es - das geöffnete Fenster. Dieses Mal trennte mich nicht mehr eine gläserne Steilwand von meinem Ziel.
„Nur ein Steinwurf entfernt, nicht wahr?“, sprach er die Worte laut aus, die mir gerade durch den Kopf schwirrten, „Verzeihung, wenn ich grade ein bisschen zu grob war, aber dachte, ich erspare uns unnötiges Erklären …“
„Ach ja, jetzt genau sparst du dir Erklärungen? Ich schwöre, du …“
Ich stockte. Meine Augenlider weiteten sich, als mein Blick an dem Pokémon vorbei glitt und sich mit einem ganz anderen kreuzte. Einen Moment lang vergaß ich alles rund um mich, das Einzige, was ich in diesem Augenblick wahrnahm, war das Gesicht der Krankenschwester, ihre zuckenden Mundwinkel und der Ausdruck in ihren Augen, der kaum noch etwas Menschliches zu haben schien. Einen Moment hielten wir diesen Augenkontakt aufrecht, dann blickten wir beide wie aufs Stichwort zum Fenster.
„Hundemon, verdammt!“, stieß ich hervor, sicher darüber, was sie vorhatte und stolperte mit unbeholfenen Schritten über den moosigen Untergrund. Ohne dem Pokémon weiter Aufmerksamkeit zu schenken, stürmte ich in Richtung des einzigen Ausgangs, der mir zur Verfügung stand. Auch die Krankenschwester ließ alles hinter sich zurück und rannte auf dasselbe Ziel zu. Sie trennte jedoch ein Haufen streunender Pokémon von dem Fenster, mich dafür ein Spalt, der sich zwischen Vitrine und der lebenden Erdplatte erstreckte. Ich zögerte dieses Mal jedoch nicht lange, sondern folgte einfach meinem inneren Drang und sprang los. Wenig später wechselten jedoch Instinkt und Verstand wieder die Plätze, sodass ich noch in der Luft erkannte, dass dies etwas knapp werden würde. Ich streckte mich nach vorne, versuchte mit meinem Oberkörper auf der Vitrine zu landen, was teilweise gelang … doch Halt fand ich nicht. Ich rutschte ab und drohte hinab auf den Erdboden gezogen zu werden. Krallen trafen auf Glas und gaben ein schrilles Kreischen von sich, was genau so gut aus meiner Kehle hätte stammen können, während ich weiter an Gripp verlor. Schließlich rutschten meine Pfoten so nah an die Kante, dass ich endgültig meinen Halt verlor und stürzte … doch nur einen kurzen Augenblick lange.
Dann wurde ich mit einem Ruck nach oben gezerrt und zurück auf die Glasvitrine geschleudert.
„War wohl mehr als ein Steinwurf“, erklang die Stimme des schwarzen Pokémons und kaum hatte ich meinen Schädel gehoben, war da abermals sein breit grinsendes Gesicht. Ich hatte keinen Schimmer, wie er so schnell auf die Vitrine gelangt war, doch spielte das keine Rolle. Nicht mal die Zeit, auf seine dumme Bemerkung zu erwidern, hatte ich, denn da stand schon die Krankenschwester, eine Hand beim Fenstergriff und die andere auf uns zu schnellend.
Das Fenster schwang zu.
Von einem Moment auf den anderen trennte mich eine Glasscheibe von der dahinter liegenden Seite. Auf der einen befanden sich das schwarze Pokémon und die Krankenschwester. Auf der anderen Seite war ich.
Wir alle teilten denselben Ausdruck von Entsetzen und Erstaunen in unseren Gesichtern, für einen Sekundenbruchteil starrten wir uns gegenseitig an, bis das Fenster aus meinem Sichtfeld verschwand. Ich hatte keinen Schimmer, was soeben geschehen war und brauchte noch eine weitere Sekunde, um halbwegs zu realisieren, was gerade mit mir geschah. Ein Blick nach unten, einen nach oben, und ich hatte mehr Fragen als Antworten. Ich flog gerade durch die Luft, ohne die Hilfe von Flügel, Motoren oder Sonstigem. Wie, warum und wohin, auf diese Fragen hatte ich keine Antwort. Wie auf Kommando begann ich schrill zu schreien und fuchtelte mit meinen Beinen wild durch die Luft.
Verdammt, was ging vor sich? Werde ich verrückt oder ist das alles ein Fiebertraum? Hat mir die Krankenschwester doch irgendwelche Drogen verabreicht oder … oder schwebte ich gerade wirklich durch die Luft?
Ich wandte mich in alle Richtungen, doch nahm ich kaum etwas von der Gasse, welche ich schwebend durchquerte, mit. Stattdessen suchte ich nach einem Seil, einer Hand oder etwas Ähnlichem, was diesen Spuk erklären konnte.
Bevor ich jedoch ein unsichtbares Seil finden oder mir das Herz vor Panik aus der Brust springen konnte, bemerkte ich etwas anderes aus den Augenwinkeln. Mein Blick huschte zur Seite, und ehe ich mich versah, hatte ich plötzlich wieder festen Boden unter meinen Füßen. Wobei “fest” in dem Fall sehr relativ zu verstehen war. Ich stand auf schaukelndem Untergrund, umringt von hölzernen Wänden, ein mir bekannter Anblick. Für einige Sekunden starrten meine Augen regungslos zu Boden, bevor ich den Schock von mir losschütteln konnte.
Nana?
Kein Zweifel, es gab nicht viele Personen die mit einer Holzschublade durch die Straßen laufen würden. Sie wirkte erschöpft, doch als sie bemerkte, dass ich sie anstarrte, tauchte ein Lächeln auf ihren Lippen auf.
„Sorry, May …“, brachte sie zwischen ihren keuchenden Atemzügen hervor und rannte weiter. Die zweite Person, die sich heute schon bei mir entschuldigte, und abermals wusste ich nicht so recht, was ich darauf erwidern sollte. Nicht weil ich über ihre Entschuldigung überrascht wäre, doch eher wegen der anderen Fragen, die weiterhin in meinem Kopf schwirrten. Wie hatte sie das gerade gemacht? Wie zum Hundemon hatte sie mich aus dieser Irrenanstalt befördert? Ich war mir sicher, dass ich vorhin durch die Luft geflogen war, ohne, dass mich jemand geschubst oder gezogen hatte. Besaß Nana Superkräfte oder wie sollte ich mir das auf eine rationale Art und Weise erklären? Und vor allem … wieso bin ich wieder bei ihr gelandet, das war nicht teil mein Plan gewesen. Ich wollte alleine durch das Fenster abhauen und meinen eigenen Weg gehen und nicht bei ihr landen.
“Herrin hat nichts damit zu tun.“
Bei dem Klang der mir fremden Stimme zuckte ich zusammen. Ich musste nicht lange nach ihrem Ursprung suchen, denn da war plötzlich eine weitere Person, eine grünhaarige Frau in einem weißen Kleid, die wie aus dem Nichts neben uns zu rennen schien. Das war jedenfalls, was meine Augen mir einreden wollten. Ein weiterer Blick und ich erkannte, was ich da wirklich gegenüberstand: Das war kein Mensch, sondern ein Pokémon und die vermeintlichen Haare und Kleidung waren bloß Teil des Körpers
„Camille“, hörte ich Nana sagen und gab mir zumindest die Sicherheit, dass ich nicht verrückt wurde und Geister sah. Ihre Schritte wurden gleichzeitig langsamer, und als wir um die nächste Straße bogen, kam sie endgültig zum Stillstand.
„Danke … für deine Hilfe.“
Das Pokémon schien leicht mit dem Kopf zu nicken, doch blickte es gar nicht in die Richtung des Mädchens. Dessen roten Augen waren auf mich fixiert, doch konnte ich keinerlei Emotionen in ihnen erkennen. Sie blickten mich nicht freundlich, wütend noch mitleidig an, stattdessen schienen sie mich zu durchdringen und irgendetwas anzusehen, das hinter mir war.
„Du … du warst das?“, stotterte ich und fühlte mich nackter, als ich in dieser Gestalt ohnehin schon war. Ihre blutroten Pupillen waren mir nicht besonders sympathisch, eigentlich wollte ich das Pokémon anschreien und auffordern, mich gefälligst woanders hin zu glotzen, doch irgendwie gelang mir dies nicht.
„Du willst flüchten, nicht?"
Die Worte hätten genauso gut aus den Lautsprechern eines Pokédex stammen können, so emotionslos und trocken waren sie. Etwas unbeholfen versuchte ich ihren Augen zu entkommen und sah stattdessen zu Nana hoch, doch diese hatte sich in der Zwischenzeit gegen eine Hausfassade gelehnt und versuchte wieder zu Atem zu kommen.
„Vielleicht“, erwiderte ich schließlich und versuchte trotzig zu klingen, „spielt doch keine Rolle, oder?“
Ich erhielt keine Reaktion auf meine Worte, zumindest vorerst nicht. Irritiert wandte ich meinen Kopf zurück in ihre Richtung, nur um genau denselben Ausdruck in ihren Augen vorzufinden wie zuvor. Ich hatte keine Ahnung, was dieses Pokémon für Probleme hatte, doch allein ihr Blick jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich hatte keinen Zweifel, dass sie dafür verantwortlich gewesen war, mich aus dem Center zu befördern. Ich hatte gehört, dass es Viecher geben soll, die über Kräfte verfügen sollten, die darüber hinausgingen, etwas Feuer oder Wasser zu spucken, aber so etwas am eigenen Leib zu spüren …
„Du bist anders.“
Überraschend begann Camille wieder zu sprechen, offenbar ohne jeglichen Kontext.
„Anders? Von was soll …”
„Du bist kein Vulpix. Oder?“
Für einen Moment starrte ich sie verständnislos an. Ein paar Sekunden lang. Dann klappte mir die Kinnlade bis zum Boden hinunter. Ich hatte mich gerade verhört, oder? Das war meine Einbildung, niemand hatte bisher erkannt, dass ich in Wahrheit kein Pokémon war, woher sollte also diese Kreatur davon wissen. Doch egal wie sehr ich mir einzureden versuchte, dass mir meine Ohren nur einen Streich gespielt hatten, konnte ich meinen Blick nicht von ihr abwenden.
„Warte … du …“
Vergeblich versuchte ich ihr eine Frage zu stellen, doch meine Lippen formten lediglich leere Bewegungen, keine Worte. Konnte es wirklich sein: Hier und jetzt treffe ich ein Wesen, welches wusste, dass ich kein Vulpix war? Ausgerechnet von irgendeinem Pokémon, dass sich halb als Mensch verkleidete? Bisher hatte jeder mein neues Aussehen einfach so hingenommen, aber wenn sie durch meine Hülle sehen konnte … wusste sie möglicherweise noch mehr über mich und darüber. Darüber wie ich wieder ein Mensch werden konnte.
Allein der Gedanke daran, Antworten finden zu können, versetzte mich so sehr in Aufregung, dass mein ganzer Körper zu beben begann. Das musste dasselbe Gefühl sein, als ob man den Hauptpreis in der Lotterie gewann … nein, viel mehr, als hätte man gerade einen Weg gefunden, den Tod selbst zu besiegen.
„Wir sollten weiter“, durchdrang Nanas Stimme meinen tranceartigen Zustand, „Camille, du kannst dich zurückziehen. Danke nochmals.“
Zum ersten Mal wandte Camille ihre starren Augen von mir ab. Eigentlich hätte ich mich besser fühle sollen, strahlten ihre Augen doch etwas Kaltes und Stechendes aus, doch das war nicht der Fall. Ich versuchte ein weiteres Mal paar Worte hervorzuwürgen, die mir alle im Hals zu stecken schienen, doch bevor ein einziges meinen Mund verlassen konnte, war sie weg. Verschwunden, vor meinen Augen, von einer Sekunde auf die nächste und damit alle Antworten, die ich suchte. Hätte ich nicht die ganze Zeit über mit aufgerissenen Augen in diese Richtung geschaut, hätte ich es jetzt getan.
Wie … was zum Hundemon, was war gerade passiert, dieses Pokémon hat sich doch nicht gerade in Luft aufgelöst, oder? Moment … warte!
Ich stieß einen stummen Schrei aus und riss mich aus meiner Starre. Wo war sie hin, sie konnte doch nicht einfach verschwinden und mich zurücklassen, nicht ohne mir meine Fragen zu beantworten!
Ich stürmte auf den Rand der Schublade zu und sprang, ohne Rücksicht darauf, wie weit ich fallen würde. In diesem Augenblick war es mir egal, ich musste dieses Pokémon wiederfinden, koste es, was es wolle! Ich hörte noch einen erschrockenen Aufschrei hinter mir, als ich mit allen Vieren auf dem grauen Pflaster der Straße landete, doch drehte ich mich nicht um. Ich rannte ein Stück voran, überall nach dem menschenartigen Pokémon Ausschau haltend. Ich suchte nach Spuren oder Hinweise, jedoch befand sich außer mir und Nana keine andere Seele mehr hier. Sie war fort.
Verdammt nochmal, sie konnte nicht abhauen, nicht jetzt! Warum hatte Nana sie weggeschickt, verdammte Idiotin! Dieses Ding … dieses Pokémon wusste, dass ich kein Vulpix war und nun war sie verschwunden. Einfach verschwunden … verdammt nochmal! Warum wird mir ständig alles vor die Nase gehalten, nur um es mir dann wieder wegzunehmen!
“May!”
Erst jetzt nahm ich wieder Nanas Stimme war. Etwas teilnahmslos wandte ich meinen Kopf um und sah sie hinter mir hockend, die Schublade vor sich haltend.
“Willst du so sehr weg?”
Ja, das will ich. Ich will weg und dieses eine Pokémon finden, damit ich wieder ein Mensch werden kann. Nicht mehr oder weniger. Eigentlich war ich kurz davor, einfach loszulaufen, doch irgendwie hielt ich inne und lauschte dem, was sie noch zu sagen hatte.
“Ich werde dich nicht aufhalten … aber ich bitte dich, komm mit mir. Das hier nicht der richtige Ort für dich. Und ich … ich …”
Ich sah nochmals die schier endlose Gasse entlang. Nun war meine Gelegenheit, ich konnte wieder meinen eigenen Weg gehen, ganz so, wie ich wollte. Dann war ich wieder frei … frei herumzuirren und in einer Seitenstraße zu sterben.
Ich wandte meinen Kopf nach oben und unsere Blicke kreuzten sich abermals. Keine roten Pupillen, kein stechender und leerer Blick, ganz im Gegenteil, ihre Augen schienen direkt ein Tor in ihr Innerstes zu sein und so war auch die Sorge in ihnen nicht zu übersehen. Sie vollendete ihren Satz nicht, sondern starrte mich eine lange Weile an und stellte die Schublade zu Boden.
“Bitte!”
[tab=Wort zum Mittwoch]
Ich kann also nicht so versprechen, wie es jetzt genau mit der Zukunft mit FTonN aussehen wird, aber ich bin doch recht zuversichtlich, was diese anbelangt und hoffe, ihr könnt meinem sehr unregelmäßigen Postverhalten vergeben könnt^^”
Nun … ist schon wieder fast ein Jahr her^^"
Ich wusste, dass ich nicht so viel zum Schreiben kommen würde, aber mit fast einem vollen Jahr Pause hab ich nicht gerechnet, besonders, weil die erste Version dieses Parts schon seit Ende letzten Novembers fertig war. Dann hab ich den Part umgeschrieben. Dann nochmal. Und nochmal … um ihn dann paar Monate so gut wie fertig auf meiner Festplatte herum schmoren zu lassen, um ihn dann die letzten zwei Wochen wieder etwas intensiver zu bearbeiten. Ich war einfach nicht sonderlich zufrieden und so hab ich teils ganze seitenlange Passagen gestrichen und neugeschrieben. Kostet viel Zeit und macht die Sache nicht leicht, wenn man ohnehin nicht viel davon hat.
Aber endlich ist es soweit, offiziell, Kapitel 8 ist hiermit fertig oder besser gesagt, 9. Habe es jetzt doch zwei separate Kapitel daraus gemacht. Und wow, bin ich erleichtert. So lange an einem einzigen Part zu verbringen kann schon sehr frustrierend werden. : O
Wo geht's von hier weiter? Nun, ich will nicht unbedingt wieder ein Jahr warten, bis ich das nächste Kapitel online stelle, deswegen muss ich vor allem lernen, nicht alle Kapitel dermaßen aufzublasen. Lange Texte schön und gut, aber wenn allein Kapitel 8 (plus 9 ) fast so viele Wörter hat, wie ein Viertel von so manchem Roman, aber nicht mal annähernd so viel Inhalt, dann mach ich etwas falsch. Und ansonsten … versuchen mehr zu schreiben, hoffe sehr, dass ich dieses Mal etwas mehr Zeit dafür nehmen kann, hängt jedoch davon ab, wie stressig das kommende Jahr wird, aber ich bleibe mal optimistisch. Zudem spiele ich mit dem Gedanken, ab dem übernächsten Kapitel Akt 2 / Buch 2 einzuläuten. Würde nicht viel ändern, außer dass zwischen drinnen mal wieder ein Startpost mit einer Zusammenfassung vom letzten Akt drinnen ist, aber ich würde gern etwas wie einen kleinen “Neustart” haben und dem was folgt, mehr Struktur und Richtung geben.
Und vielen Dank an @Rusalka, sowie an @Eagle fürs Betalesen, ihr seid wirklich eine große Hilfe!
Damit genug gequasselt, wünsche ich viel Spaß beim Lesen des finalen Abschnitt von Kapitel 9 ^_^
"baldiges Erscheinen" … nun ja, bald ist in dem Fall sehr relative^^"
Jedenfalls vielen Dank für dein Kommentar, freut mich immer wieder zu lesen.
Hab ehrlich gesagt nicht so recht daran gedacht, dass manche die “neuen” Pokémon nicht würden, sorry deswegen. Weiß nicht, wie es jetzt nach fast einem Jahr ausschaut, aber dann werde ich schauen, dass ich die noch etwas genauer beschreibe, dass man sich auch so etwas besser dazu vorstellen kann. Schon ein komischer Gedanke, als ich die Story angefangen habe, waren wir aktuell bei der 4ten Pokémon Generation …
Na schön, dass das Kapitel auf deiner Überraschungsskala gut abschneide … obwohl auch wenn ich nicht weiß, wo ich 8,3 auf eine 1 bis 5 Skala einreihen soll xD Freut mich jedenfalls, dass ich etwas überraschen konnte und das dir die bissigen Dialoge zugesagt haben, Konflikt und Zoff ist auch immer wieder lustig zu schreiben.
Jedenfalls danke fürs Kommentar, sowie für deine Hilfe beim aktuellen Part und sorry, dass die Antwort darauf, so lange auf sich warten ließ.
Vielen Dank fürs Kommentar und für Fehler suchen^^ War sehr unerwartet, nach so vielen Monaten ein Kommentar zu sehen, hat mich aber dafür umso mehr gefreut!
Wegen dem Fehler vom letzten Mal … Manchmal bin ich richtig blind, lese 10-mal drüber und finde den Fehler nicht und jetzt wo du's erklärst ist völlig eindeutig xD
Vom Schleifen und Schweben
Klingt einleuchtend, so wie du es definierst ist es auf alle Fälle kein "Schleifen", was ich gemeint habe ist definit ein ruckartige Bewegung.
Menschen
Ich würde das als eine eigene Art von Arrogant bezeichnen: Eine Person, für den dessen Probleme und Prioritäten wichtiger erscheinen, als die seiner Mitmenschen xD
Selbsterklärende Geste
Ähm, war wohl nicht ganz so selbsterklärend wich ich gedacht hatte^^ Mittelfinger war in dem Fall definitive nicht gemeint, wenn ich ehrlich bin, bin ich gar nicht mehr ganz so sicher, was ich damit sagen wollte. Ich glaub da hatte ich eher an eine abwinkende Geste gedacht, oder so.
Provokation und Flucht
Freut mich, dass dir die Stelle gefallen hat^^ Aber jetzt wo du mich darauf hinweist, merk ich doch, wie abrupt und "ruhig" die ganze Szene endet. Muss ich nächstes Mal im Kopf behalten, wenn wieder etwas in der Art passiert, schätze, da wollte ich einfach den Abschnitt irgendwie rasch beenden^^"