Atemlos rannte das Mädchen durch die Straßen Herzhofens, in seinen Armen hielt es festumklammert eine schwere Stofftasche, als der Regen über ihm einsetzte. Die dunkle Wolkenfront, die nur Minuten zuvor erst am Horizont erschienen war, verdeckte nun fast den ganzen Himmel, allein der Lichtschimmer der aufgehenden Sonne war im fernen Osten zu erspähen. Die Straßen waren düster, doch der Sonnenschein fiel bereits auf die nassen Dächer der Häuser, die das Licht reflektierten.
Erschöpft hielt das Mädchen unter der Markise eines der vielen Geschäfte an, an seiner Seite ein kleines Enton, das ihm mit Mühe hinterher gewatschelt war. Das Prasseln des Regens wurde immer intensiver, der Schauer hüllte die Straße ein wie dichter Nebel, hinter dem die Fassaden der Gebäude in nassen Grautönen verschwammen.
Verzweifelt blickte Josephine gen Himmel, in der Hoffnung, der Guss würde nicht lange andauern. Sie war ein plumpes Mädchen von kleiner Statur um die fünfzehn Jahre, mit kurzem schwarzem Haar und freundlichen, hellbraunen Augen, die sie hinter ihrem dichten Pony versteckt hielt.
„Oh Nana, was machen wir denn jetzt…“, sprach sie verzagt das Enton an, das sich, obwohl ihm der Regen nichts ausmachte, zu ihr unter die Markise gesellte. Es antwortete mit einem leisen Quaken, als Josephine den Sack Mehl, den sie bei sich trug, vor der Auslage des Geschäftes niederlegte. Behutsam zog sie die graugrüne Schürze aus, die sie als Bäckerlehrling auswies, und legte sie auf den Bürgersteig, bevor sie sich auf ihr niedersetzte.
„Naja, wir haben eine gute Entschuldigung, zu spät zu kommen“, meinte sie mit einem Blick auf den Himmel, bevor sie neugierig die Schmucksteine betrachtete, die hinter ihr in dem Schaufenster des Juweliers auslagen. Allesamt waren sie auf feinen, roten Samtkissen gepolstert, von denen aus sie sie verführerisch anfunkelten. „Ob wir uns so was wohl mal leisten können, Nana?“, fragte sie diese, die mit ihren gelben Flossen auf das Fensterglas patschte. Begeistert sah Josephine sich die vielen Schmuckstücke an, bewusst nicht auf die Preisschilder achtend, da sie wusste, dass die Kleinodien für sie sowieso unerschwinglich waren. Sie hatte gerade einen topasbesetzten Armreif ins Auge gefasst, als ein leises Geräusch hinter ihrem Rücken sie aufmerken ließ. Arglos wandte sie sich von dem Schaufenster ab und blickte zu der breiten Gasse, die auf der anderen Straßenseite zu einem Hinterhof führte, als sie die düsteren Gestalten bemerkte, deren Silhouetten sich dort aus dem Regen schälten. Es war mindestens ein Dutzend von ihnen, allesamt dunkel gekleidet und kaum durch den Vorhang des Schauers zu erkennen, hinter dem sie nicht mehr als bloße Schemen waren. Aufmerksam geworden verschärfte Josephine ihren Blick, während die Hälfte von ihnen aus ihrem Blickfeld verschwand, die andere sich jedoch vor dem Eingang des Hauses versammelte. Erschrocken weiteten sich ihre Augen, als sie sah, wie einer von ihnen die Tür eintrat. Holz splitterte auf und ein lauter Knall ertönte, als die Gestalten bereits im Flur der Wohnung verschwanden.
Nachtwandlerisch griff Josephine nach Nana, bevor sie, ohne die Gasse aus den Augen zu lassen, mit schnellen Schritten in die kleine Passage neben dem Juwelier verschwand. Viele Haus- und Wohnungstüren zweigten von hier ab, in einer deren Nischen Josephine sich eng an die Wand drückte, aus Angst, von diesen Leuten bemerkt worden zu sein. Es bestand für sie kein Zweifel, es war ein Verbrechen gewesen, das sie gerade beobachtet hatte.
Sekunden verstrichen und das Einzige, das Josephine hören konnte, war das Niederprasseln des Regens. Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag, dennoch hielt sie Nana, die keinen Mucks von sich gab, immer noch festumklammert. Es war in diesem einen Moment, in dem sie daran dachte, schnell den Sack Mehl und ihre Schürze zu holen, bevor sie die Polizei alarmierte, als ein lauter Schrei den Regen durchriss. Es war der eines Kindes, hoch und schmerzerfüllt, gefolgt von ein paar weiteren, ob jung oder alt, allesamt lauter und entsetzlicher als alles, was sie je zuvor gehört hatte. Starr vor Schreck hielt Josephine den Atem an, vor Furcht gebannt konnte sie keinen einzigen Muskel bewegen. Erst, als auch der letzte Schrei erstarb, erlangte sie die Kontrolle über ihren Körper zurück. Sie rannte aus der Nische heraus, vorbei an den Mülltonnen, die sich vor den Haustüren reihten, stolpernd und ohne zu überlegen, wohin ihr Weg sie führen würde. Ohne je zuvor auch nur einen Gedanken daran verschwendet zu haben, lief sie weg von dem Juwelier, durch die Gassen und Höfe, die in dem Regen in Schlieren an ihr vorbeizogen. Auch als ihre Lungen zu schmerzen begannen und ihre Beine zu erlahmen drohten, lief sie weiter, allein durch die Angst getrieben, die sie in den Schreien der Menschen gehört hatte, bis sie weit genug entfernt sein würde, um sich in Sicherheit zu wägen.
Wie viel Zeit vergangen war oder wo sie war, als sie endlich aus Erschöpfung hielt, wusste Josephine nicht. Sie befand sich auf einem schmalen Weg links der gepflasterten Einfahrt eines efeuüberwucherten Haus, vor dem eine einsame Straßenlaterne stand, deren Licht flackernd erlosch, als sie vor ihr ankam. Auf der anderen Seite befand sich eine hohe steinerne Mauer, die Eindringlinge daran hinderte, das verwilderte Grundstück dahinter zu betreten, von dem die langen Äste eines Baumes über die Gasse ragten.
Ihre Lungen fühlten sich so an, als würde sie in ihrem Brustkorb auseinanderbersten, als sie Nana endlich absetzte, die am ganzen Leib zitterte. Ängstlich warf Josephine einen Blick die Straße zurück, wo sie in der Ferne die schemenhafte Spitze des Domes sehen konnte, in dessen Nähe der Juwelier lag. Ihre Kleidung und ihr Haar waren triefend nass, doch im Vergleich zu vorher hatte der Regen inzwischen nachgelassen. Noch einmal sah sie sich wachsam um, bevor sie einen zitternden Schritt nach vorne setzte und Nana zu verstehen gab, ihr zu folgen.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht allein in der Gasse waren. Auf der zwei Meter hohen Mauer, im Schutz des Baumes, saß ein junges Mädchen, das sein Gesicht unter einer schwarzen Kapuze versteckte. Beinahe fröhlich baumelte es mit den Füßen, eine Gestik, die genauso wenig in diesen Moment passte, wie seine gesamte Erscheinung, die sich seltsam klar vor der regnerischen Szenerie hervorhob.
Erschrocken blieb Josephine stehen, als ihr nun auch das Pantimimi ins Auge fiel, das neben dem Mädchen auf der Mauer herumturnte. Auf dem Kopf trug es einen abgetragenen, schwarzen Zylinder, der ihm immer wieder vor die Augen rutschte.
Mit Leichtigkeit sprang die Fremde zu Boden und sah genervt gen Himmel, als hätte sie Josephine und Nana gar nicht bemerkt. „Sie sind also schon hier…“, murmelte sie, als auch das Pantimimi hinunter hüpfte, das sie im Gegensatz zu seiner Besitzerin sichtbar neugierig ansah. Schalkhaft schielte es sie an, bevor es seinen Hut geraderichtete.
Es dauerte einen Moment, bis ihre Worte bei Josephine ankamen. Die Atmosphäre und das Verhalten dieses Mädchens übten einen unheimlichen, beinahe schon einschüchternden Eindruck auf sie aus, obwohl es mindestens zwei Jahre jünger sein musste als sie, wenn nicht sogar mehr. „S-Sie?“, stammelte Josephine mit gebrochener Stimme hervor, doch es reagierte nicht. Anstatt dessen beobachtete es sie abwägend, als rätselte es, ob es ihr überhaupt seine Beachtung schenken sollte.
„Was meinst du damit?“, fragte sie noch immer zitternd, doch nun ein wenig lauter. Die Fremde warf einen Blick an ihr vorbei die Gasse hinunter, bevor sie antwortete.
„Du hast also etwas gesehen?“, sagte sie, mehr feststellend als fragend, während das Pantimimi weiterhin vor sich hin tanzte.
„Nicht wirklich“, antwortete diese unsicher. Wer war dieses Mädchen? „Eher gehört. W-Was war das? Eine… Einbrecherbande?“
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ein bisschen naiv, nicht wahr? Was auch immer du da gehört hast ist jetzt tot“, hauchte es mit kalter Stimme. Ein Schauder fuhr Josephine den Rücken hinunter und sie spürte, wie Nana sich an ihr Bein klammerte.
„Wieso tot? Wieso tut jemand so etwas?“, murmelte sie in Gedanken an die vielen verschiedenen Stimmen, die sie hatte schreien hören. Ihr Gegenüber wandte sich ab, als wollte es gehen, antwortete aber dennoch.
„Weil sie die Aufmerksamkeit der Götter auf sich lenken wollen, deshalb“, sagte es mit klarer, ernster Stimme. „Und einen haben sie bereits hergelockt“, fügte es unwirsch hinzu, als es die Gasse hinunterging, an seiner Seite das Pantimimi, das ihnen noch wie zum Abschied zuwinkte. Es war in diesem einen, kurzen Moment, dass Josephine meinte, einen Schatten durch die vielen Pfützen am Boden huschen zu sehen, während das Psychopokémon seiner Trainerin den Zylinder reichte, den es die ganze Zeit über getragen hatte. Diese setzte ihre Kapuze ab und den Hut auf, bevor sie noch einen letzten Blick über ihre Schulter zurückwarf. Vollkommen verwirrt sah Josephine ihr nach, das Bild ihrer seltsamen, goldgelben Augen im Kopf, deren starrender Ausdruck sich auf ihrer Netzhaut eingebrannt hatte.
Unsicher, was sie von dem, das sie gerade gehört und gesehen hatte, halten sollte, richtete sie ihre Augen gen Himmel, der langsam aufklarte. Pastellen schimmerte er hinter den dunklen Wolken hervor, während der Regen allmählich nachließ. „Götter?“, murmelte Josephine geistesabwesend vor sich hin, riss sich dann aber zusammen – sie hatte nun nicht die Zeit dafür, leer in die Luft zu starren.
Sie schluckte ihre Angst herunter und lächelte Nana ermutigend zu, bevor sie dem Mädchen, das längst verschwunden war, den Weg hinunter folgte. Abgesehen von den watschelnden Schritten ihres Entons und dem Gluckern der Regenrinnen war es still, eine Ruhe, die sie nutzte, um ihren Geist zu ordnen, der mit der gesamten Situation überfordert war. Noch immer pochte ihr Herz wie wild, doch die Furcht hinderte sie nicht mehr daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Gerade wollte sie sich orientieren, in welchem Stadtteil Herzhofens sie sich befand, als sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln bemerkte.
Wie in Zeitlupe, so kam es ihr vor, drehte sie sich um, und sah sich plötzlich einer der schwarzgekleideten Gestalten gegenüber, die sie auf dem Innenhof gesehen hatte. Sie war wie aus dem Nichts erschienen, lautlos und unbemerkt, ein Attentäter in wehendem Mantel, der erst in diesem Moment seine Existenz begonnen hatte. Irgendwo hinter ihm, der sein Gesicht unter einer Kapuze versteckte wie das Mädchen zuvor, erkannte Josephine den Umriss eines großen, geflügelten Pokémon. Wasser spritzte aus einer der Pfützen auf, als sie noch instinktiv einen Schritt zurücksetzen wollte, um dem Angriff des Mannes auszuweichen. Sie sah einen hellen Gegenstand unter seiner Jacke hervor blitzen, bevor er ihr im nächsten Moment sein Messer zwischen die Rippen stieß. Anstatt zu schreien kam bloß ein leiser Laut der Überraschung von ihren Lippen, während die Zeit mit einem Mal langsamer zu verlaufen schien. Sie spürte kaum den brennenden Schmerz unter ihrem Herzen, es war, als wären all ihre Sinne jäh abgestumpft. Die Wassertropfen in der Luft schienen zu verharren, als die Sonne durch die Wolken brach und auf die kleine Gasse niederschien. Ihr Licht spiegelte sich in den Pfützen wieder, in denen der schlangenhafte Schemen, den sie zuvor gesehen hatte, auf sie zu lauern schien. Kurz traf sich Josephines Blick mit dem des Vermummten, als sein Gesicht nur Zentimeter von dem ihren entfernt war, bevor das Metall ihr Fleisch wieder verließ und der Schwarzgekleidete verschwand.
Dumpf fühlte sie, wie sie auf dem harten Pflasterstein aufkam, das verzweifelte Quaken Nanas, die auf sie zugelaufen kam, hörte sie nicht. Einzig das Gesicht des Fremden, ausdruckslos und kalt, schwebte Josephine noch vor Augen, bevor ihr schwarz vor diesen wurde und die Welt ihr entglitt.
[tab=Nachwort]So, von nun bis zum 26. bin ich im Urlaub und habe dort auch keinen Internetzugang (na okay, das ist gelogen, aber ich werd' mich mit dem Hotelcomputer nicht einloggen, sonst komm' ich nicht mehr weg vom Comp), also habt ihr zehn Tage Zeit für's Kommi >:'O Ich versuche während dieser Zeit weiterzuschreiben, aber per Hand schreiben mach ich nicht so gerne. Ich krakele. Sehr. <.< *krakel* Naja, bis in zehn Tagen dann :'D
(PS: Der zweite Teil des Kaps ist 1.895 Wörter lang, zusammen macht das 2.786 und neun Buchseiten allà Word. :3)[/tabmenu]