„Sandan?“, fragte Vulpix in die Stille der Höhle hinein. „Shnebedeck? Seid ihr da?“
Aber es kam keine Antwort. Zaghaft machte das kleine Pokémon einige Schritte durch den Schnee, den der mittlerweile abgeflaute Wind in das Innere hineingeweht hatte. Verwundert sah es sich um; Sandan hatte ihm gesagt, dass sie sich hier mit Shnebedeck treffen wollten. Doch keiner von beiden war gekommen und so stand Vulpix ganz allein in der angenehm kalten Höhle, deren Dunkelheit von den Wänden her erleuchtet wurde: In die Felsen waren nämlich zahlreiche funkelnde und leuchtende Kristalle und Steine eingelassen, was diesen Ort für das Trio zu ihrem bevorzugten Zufluchtsort gemacht hatte. Manchmal hatten sich Sandan und Vulpix gefragt, ob nicht einer dieser seltsamen Steine ihnen vielleicht irgendwann sogar zur Entwicklung verhelfen würde.
Nach einer kurzen Zeit des Wartens wurde Vulpix langsam ein wenig mulmig. Sollte den anderen beiden vielleicht etwas zugestoßen sein? Gerade als Vulpix sich entschieden hatte, die beiden suchen zu gehen, fiel ihm jedoch etwas auf, das so ungewöhnlich war, dass es sich wunderte, warum es das nicht schon eher bemerkt hatte: Im Schnee waren Muster. Und während Vulpix ein wenig zurückging, um das Ganze von weiter weg zu betrachten, stellte es fest, dass es sich dabei sogar um Buchstaben handelte. Ein wenig waren die Buchstaben durch Vulpix‘ eigene Spuren verwischt worden, aber sie waren vielleicht noch ganz gut lesbar, wenn man nur…
Vulpix lief rasch zu einem Haufen Felsen am Eingang und erklomm ihn mit kleinen Sprüngen – von oben war das alles sicher viel besser zu lesen. Wie im Licht der Kristalle zu sehen war, bildeten die Muster im Schnee folgende Worte:
Dort lebt keiner nicht wie wir
Such den nächsten Hinweis hier
Verwirrt starrte Vulpix auf diese seltsamen Verse. Nach einigen Sekunden jedoch kam ihm zumindest ein Gedanke, der zwar nichts mit der Bedeutung der Verse an sich zu tun hatte, aber dafür vielleicht deren Herkunft erklärte: Es waren Sandan und Shnebedeck, die sich hier mit ihm hatten treffen wollen, und sie waren nicht gekommen. Allerdings sprach die erste Zeile von einem „wir“, was nur bedeuten konnte, dass wer auch immer sie geschrieben hatte, sich selbst zu einer Gruppe zählte – und den Leser der Verse ebenfalls. Wenn Vulpix nun daran dachte, dass diese Höhle eines ihrer Geheimverstecke war, dann konnte es sich nicht anders verhalten, als dass seine beiden Freunde die Nachricht hinterlassen hatten.
Vulpix las die Verse noch einmal. Es sollte offenbar einen Hinweis suchen, etwas, durch das es dann sicher auf etwas Anderes stoßen würde – vielleicht auf einen weiteren Hinweis. Vielleicht war das der Beginn einer Art Schnitzeljagd, ein Spiel, dass sich die beiden ausgedacht hatten. Nun, entschied Vulpix, es würde das Spiel gerne mitspielen!
Also dachte es angestrengt nach, was dieses kleine Rätsel denn nun bedeuten konnte. Mit dem zweiten Vers war offenbar nicht mehr viel anzufangen – er sagte nur, dass man den nächsten Hinweis suchen sollte. Wo dieser zu finden war, musste sich folglich in der ersten Zeile verbergen. Doch wie ergab diese überhaupt einen Sinn? Es war eine seltsame Konstruktion, eine doppelte Verneinung. Wenn keiner nicht irgendwo lebte, dann lebte also doch jemand irgendwo? Vulpix dachte darüber nach, aber es kam zu keinem Entschluss. Gewiss, es gab Pokémon in der Gegend, die ihren festen Wohnsitz hatten – aber gerade das war das Problem: Es waren einfach zu viele, als dass man sie alle hätte besuchen können. Außerdem wollte Vulpix einigen dieser Pokémon lieber nicht zu nahe kommen – das alte Rossana war ihm zum Beispiel einfach nur unheimlich. Jedoch entdeckte das Vulpix nichts in dem kleinen Gedicht, das ihm dabei helfen konnte, die Möglichkeiten einzugrenzen. Seufzend legte es den Kopf auf die Pfoten. Diese doppelte Verneinung ging ihm nicht aus dem Kopf. Nach einer kurzen Zeit richtete es sich ruckartig auf.
„Natürlich!“, schoss es ihm durch den Kopf. Es war so gemeint, dass eben doch keiner da lebte – aber wenn jemand dort leben würde, dann würde er nicht so leben wie sie. Es schien zunächst kompliziert, aber Vulpix wusste nun auf Anhieb den Ort, wo es suchen musste.
Aufgeregt rannte es aus der Höhle heraus und durch den tiefen, pulverigen Schnee, der im Licht der niedrig stehenden Sonne funkelte. Es überquerte die zahlreichen weißen Hügel, bis es schließlich genau da war, wo es sein wollte, nämlich vor einem riesigen Berghang, an dessen Fuß sich etwas befand, das gar nicht hierherzugehören schien.
Es war eine alte Hütte, die vermutlich einst von den Menschen errichtet und als kleines Quartier genutzt worden war. Aber es war offenbar schon seit langer Zeit niemand mehr hier gewesen, denn das Haus wirkte ziemlich heruntergekommen und die Tür schloss nicht mehr richtig, was in Verbindung mit vereinzelten Löchern im Dach das Innere wohl sowieso unbewohnbar für die Menschen gemacht hatte.
Mit einer kleinen Anstrengung stieß das Pokémon die Tür weit genug auf, um die Hütte betreten zu können. Es gab nicht viele Möbel, sondern nur ein kaputtes Bett mit zerschlissener Decke und fleckiger Matratze, einen Stuhl, einen Schrank und einen Schreibtisch. Vulpix wusste, dass sich in einer der Schubladen genau dieses Schreibtisches ein alter Notizblock und ein Bleistift befanden, welche die drei wie einen Schatz betrachteten. Sie malten oder schrieben für gewöhnlich aber nicht damit, denn sie wollten nicht, dass Papier und Stift zu schnell aufgebraucht waren. Nun jedoch… Was wäre naheliegender, als eine Nachricht damit zu hinterlassen?
Vulpix ließ den Blick durch die Hütte schweifen. Hier und da lag ein wenig Schnee, der durch das kaputte Dach gefallen sein musste. Und da, unter dem Bein des alten Stuhls, klemmte ein kleiner Fetzen Papier. Das kleine Pokémon zog ihn mit seiner Pfote hervor und drehte ihn umständlich um. In einer sehr krakeligen Schrift, die Vulpix als die Sandans – des einzigen Pokémon ihres Trios, das schreiben konnte – erkannte, standen darauf folgende Verse:
Nun auf zum toten Alten
Weit draußen dort im Kalten
Als Vulpix das Wort „tot“ las, lief ihm zunächst ein Schauer über den Rücken, was eine ziemlich seltsame Erfahrung war, denn Eis-Pokémon froren ja eigentlich nicht. Allerdings glaubte es auch auf Anhieb zu wissen, wohin es nun gehen musste. Zögerlich verließ es die Hütte und orientierte sich kurz, bevor es ein wenig den schneebedeckten Berghang hinauflief und sich nach links wandte, durch einige Felsen hindurch und schließlich wieder über komplett vom kalten Weis eingehüllten Hügel, bis in der Ferne das auftauchte, wonach Vulpix Ausschau gehalten hatte: Eine große, schwarze Silhouette, von der jedoch gleichzeitig ein seltsamer Glanz ausging. Es passte alles zusammen: Es war etwas sehr Altes und Totes sowie – und das schien am wichtigsten – ein Ort, den Vulpix, Sandan und Shnebedeck gerne aufsuchten, gerade im Winter.
Je näher das Pokémon kam, desto deutlicher konnte es das große Ding erkennen. Es war ein Baum, der schwarz und abgestorben war. Er hätte sehr trist aussehen können, aber im Winter war es stets der Fall, dass sich an den toten Ästen und Zweigen des Baumes Eiskristalle und -zapfen bildeten, die, genau wie jetzt auch, im Licht der Sonne glitzerten. Wenn man es sich eine Zeit lang ansah, konnte man nicht anders als zuzugeben, dass es einfach wunderschön aussah. Allerdings war es dann auch ein wenig gefährlich, sich unter dem Baum aufzuhalten, da ja jederzeit schwere und spitze Eisstücke auf einen hinunterfallen konnten.
Hier würde ohne jeden Zweifel die nächste Nachricht versteckt sein – oder aber vielleicht war die Suche hier schon zu Ende und es würden gleich Sandan und Shnebedeck aus dem Schnee hervorspringen und laut „Überraschung!“ rufen oder etwas in der Art.
Doch nichts dergleichen passierte. Stattdessen erblickte Vulpix aber sehr viele dunkle Punkte im Schnee – offenbar Steine. Sie bildeten wiederum zwei Verse, die diesmal etwas schwer zu entziffern waren, weil es in der Nähe keine erhöhte Position gab, die es ermöglicht hätte, die Worte von oben zu betrachten. Nach einiger Zeit jedoch konnte Vulpix entziffern, was da im Schnee geschrieben stand:
Wir brechen heut‘ das Siegel
Am schneebedeckten Spiegel
Das nun verwirrte Vulpix ein wenig. Es wusste auf Anhieb nichts damit anzufangen, denn von der ersten Intuition her gab es nichts, was es mit einem Spiegel oder einem Siegel verband. Und von Schnee bedeckt war ja absolut alles in der Gegend. Doch inzwischen war es zumindest wahrscheinlich, dass es sich um einen weiteren der Orte handelte, die Vulpix, Sandan und Shnebedeck des Öfteren besuchten. Also überlegte Vulpix, ob davon nicht vielleicht doch einer passen würde – und ihm kam eine Idee. Das Siegel konnte es zwar nicht zuordnen, aber es kannte etwas, dass einem Spiegel zumindest sehr nahe kam.
Also zog es wieder los, während die Sonne allmählich unterging und Dämmerlicht sich ausbreitete. Es zog ein weiteres Mal über die Hügel, eine kleine Schneise durch den vorher unberührten Schnee walzend. Ein wenig außer Atem kam es schließlich auf einer großen Hügelkuppe an, von der sich ein Abhang hinunter zu einer Senke zog. Und dort war er, der große Spiegel.
Es handelte sich um einen See, der in der Kälte des Winters zugefroren war. Langsam stieg Vulpix hinab zu der harten Wasseroberfläche, doch ehe es sie erreicht hatte, schossen neben ihm zwei Fontänen aus Schnee in die Höhe.
„Überraschung!“, riefen Sandan und Shnebedeck, als sie aus der weißen Masse auftauchten.
Vulpix grinste.
„Das war jetzt doch irgendwie zu erwarten“ sagte es.
„Wieso?“, fragte Shnebedeck.
„Nun, es war hier wohl der See gemeint, aber genauer habt ihr nichts mehr darüber gesagt. Es würde jedenfalls zu lange dauern, den See und seine Ufer nach einem neuen Hinweis abzusuchen. Folglich musste das hier die letzte Station sein und das bedeutete wiederum, dass ihr auch hier sein würdet.“
„Clever wie immer“, sagte Sandan.
„War wohl zu einfach“, meinte Shnebedeck leicht säuerlich.
„Naja, ich musste schon überlegen“, sagte Vulpix.
„Na, dann“, erwiderte Sandan. „Aber es ging uns eigentlich sowieso nicht darum, dir total schwierige Aufgaben zu stellen.“
„Allerdings“, bekräftigte Shnebedeck. „Eigentlich wollten wir nur, dass du ein paar unserer Lieblingsorte besuchst, um dann schließlich hier zu landen.“
„Aber warum gerade hier?“, fragte Vulpix.
„Na, wegen der Überraschung!“, antworteten die beiden anderen wie aus einem Munde. „Sieh dir den See doch einmal genau an!“
Vulpix sah ein wenig ratlos auf die spiegelnde Oberfläche. Die spiegelnde Oberfläche? Sein Gesicht hellte sich schlagartig auf, als es begriff: Der ganze See war frei von Schnee! Erst vor wenigen Tagen hatte Vulpix den beiden gegenüber erwähnt, dass es Spaß machen musste, auf dem glatten Eis herumzurutschen – was jedoch erschwert wurde, wenn darauf so viel Schnee lag. Vermutlich war es das, was in dem kleinen Gedicht mit dem Brechen des Siegels gemeint gewesen war.
„Es hat natürlich etwas gedauert“, sagte Shnebedeck, „Aber schließlich war die Fläche schneefrei.“
„Habt ihr denn keine Hilfe gehabt?“, fragte Vulpix beeindruckt.
„Ne“, antwortete Sandan. „Ich habe einfach mit Turbodreher Wind erzeugt und Shnebedeck hat alles mit Eissturm ein wenig weggeweht. Ging sogar am Ende schneller, als wir dachten.“
„Ihr seid echt die Besten“, sagte Vulpix glücklich. „Ich meine, ihr habt euch so viel Mühe gemacht… Vielen Dank dafür.“
„Ach, das war doch gar nichts“, winkten die beiden mit falscher Bescheidenheit ab.
„Es hat auch echt Spaß gemacht, die kleinen Rätsel zu lösen.“
„Da bin ich mir sicher“, sagte Shnebedeck. „Schließlich habe ich sie mir ja auch ausgedacht.“
„Ja, aber wer durfte dann die ganzen Botschaften schreiben?“, fragte Sandan mit gespielter Entrüstung.
Vulpix kicherte, und die anderen beiden fingen auch an zu lachen.
„Jedenfalls“, sagte Sandan schließlich, „wollen wir dann mal aufs Eis?“
„Aber klar!“, erwiderten Shnebedeck und Vulpix wie aus der Pistole geschossen.
Die drei rannten auf die große Eisfläche zu, die Vulpix als das flinkeste Pokémon zuerst erreichte. Für einen Moment lief es Gefahr, auszurutschen, fing sich jedoch schnell wieder und glitt schließlich über die Seeoberfläche, noch ein wenig unbeholfen, aber mit der Zeit immer sicherer.
Als sich Vulpix nach den anderen beiden umsah, musste es kurz lachen; zu lustig sah es aus, wie Sandan Anlauf nahm, um dann auf dem Bauch an Vulpix vorbeizuschießen und wie Shnebedeck, bedingt durch seinen etwas plumpen Körper, wild mit den Armen ruderte, um nicht umzufallen.
Noch lange rutschten die drei auf dem zugefrorenen See umher, während der Mond aufging und alles in sein silbernes Licht tauchte. Und als sich die drei schließlich erschöpft, aber zufrieden am Ufer des Sees in den weichen Schnee fallen ließen, erschien am Sternenhimmel sogar noch der helle Schein des Polarlichts, unter dem die drei Eis-Pokémon schließlich in einen tiefen und ruhigen Schlaf fielen.
Hallo, Flocon!
Ich denke, es ist zunächst angebracht, dir zum Geburtstag zu gratulieren (ggf. nachträglich). ;) Weißt du, ich habe schon etwas überlegt, was es denn werden soll und im Endeffekt war es wohl auch ein wenig der Titel deines E&S-Themas, der mich auf die Idee gebracht hat. Ich hoffe, die Geschichte hat dir ein wenig gefallen, auch wenn ich streng genommen mich exakt nicht an das gehalten habe, was du im Anmeldetopic geschrieben hattest, da ja eigentlich die drei Pokémon aus späteren Generationen stammen - auch wenn zumindest zwei ja in anderen Formen schon früher aufgetaucht sind. Die Geschichte hat leider keinen Titel - mir ist irgendwie nichts Gutes eingefallen und in letzter Zeit habe ich wohl für Titel auch kein allzu gutes Händchen, glaube ich. Womit wir eigentlich dann auch bei Hinweisen wären, damit du raten/deine Vermutung überprüfen kannst. Wobei ich gerade beim Schreiben irgendwie den Eindruck habe, dass ich es zu leicht machen werde bzw. fällt mir nichts ein, was nicht zu offensichtlich wäre. Naja, wie dem auch sei:
Ich bin jedenfalls im FF-Bereich durchaus aktiv, würde ich meinen.
Außerdem teile ich mir mit einem (anderen? :P ) FF-Komiteemitglied das Lieblingspokémon sowie eigentlich auch das Pokémon-GO-Team, welches man allerdings bei mir nicht sehen kann, weil ich irgendwie immer vergesse, mich in dem dazu gehörigen Unterforum anzumelden.
Was das Schreiben angeht, sind Gedichte nicht ganz so meine Stärke (merkt man vielleicht auch ein bisschen in der Geschichte; leider mussten sie hier zusätzlich auch die Funktion eines Hinweises erfüllen, was es irgendwie schwerer gemacht hat), jedenfalls liegen mir Geschichten eigentlich etwas mehr.
Ich glaube, das könnte vielleicht auch schon reichen... Soll ja dann doch nicht zu einfach werden. Okay, vielleicht einen noch: Mein Username entspringt einem Franchise, das ich sehr gerne mag.
Naja, und ich bin nicht wirklich gut darin, abschließende Worte zu finden, also, wie gesagt: Alles Gute zum Geburtstag und hoffentlich hast du ein schönes und besinnliches Weihnachtsfest. :)