@ Kiriko: Es freut mich zweifellos sehr, dass dir die Ideen + das erste Kapitel so gut gefallen.
Ich bin selbst ein großer Fan der Die Tribute von Panem Bücher. Lese momentan das dritte Buch und mir gefällt es sehr gut. Ich muss zugeben, die Nähe am Geschehen, die man während dem Lesen fühlt, hat mich dazu inspiriert, mich ebenfalls an die Gegenwartsform zu wagen. Trotzdem will ich anmerken, dass ich mir inhaltlich, auch wenn die Stadt Sinensis in Bezirke unterteilt ist, keinesfalls etwas abgucken möchte.
Den, von dir hervorgehobenen, Rechtschreibfehlern habe ich mich natürlich schon gewidmet. Vielen Dank, dass du Interesse an meiner Story zeigst, ebenfalls bedanke ich mich für deinen überaus netten Kommentar. Ich hoffe, du liest Kapitel 2 und hast weiterhin deine Freude an meiner Geschichte!
Lg
+ Soundtrack im Startpost vorhanden +
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Die Flucht
Die Stadt
Holografische Wände dienen meiner Meinung nach als Beruhigungsmittel.
Ich bin keineswegs ein Einsiedler, welcher dort gerne die Seele baumeln lässt, in der Ferne nach Abgeschiedenheit sucht und einfach Ruhe will. Hingegen dessen ist der nahezu perfekte Ausblick auch eine Warnung darüber, was es hinter Sinensis‘ Mauern laut Regierung nicht mehr geben soll. Insofern ist das Feld auch als sogenannte Barriere des Verrats bekannt. Je näher man ihr kommt, desto lauter und unkontrollierter surrt, besser gesagt, vibriert das Hologramm. Selbstverständlich ist es durchlässig, man könnte praktisch mühelos hindurchschreiten und fände vermutlich nur wenige Meter dahinter eine endlos hohe Mauer vor. Aber bereits in den runtergekommenen Waisenhäusern wird Kindern eingepflanzt, dass sie keinesfalls auch nur einen Schritt hinter das Hologramm setzen dürfen. Wer dies tut, besudelt das Gesetz. Man zeige damit laut Regeln einen Drang nach Freiheit, der unbedingt im Zaum gehalten werden muss.
Noch heute komme ich wegen der vielen Fragen im Kopf nicht regelmäßig an meinen Schlaf. Gedanken plagen mich, mögliche Schlussfolgerungen erhalten mich weiterhin wach. Warum tut die Regierung so etwas mit uns? Wieso halten sie uns gefangen? Weshalb wird so viel Geld verschwendet, damit wir beständig bis zum Schädelbruch von der medialen Omnipräsenz einer offenbar schwachpunktlosen Virenerkrankung zu gedröhnt werden, obwohl es so viele Menschen dringend bräuchten? Und warum gibt man uns keine Antworten…?
„Habt ihr denn überhaupt schon einen Plan?“ Geraldine zieht ihre Beine an den Brustkorb und umschlingt sie schutzbedürftig mit den Armen. Zerzaustes Haar und Stirnfältchen offenbaren kopfzerberstende Gedankenstränge, die sie nicht loslassen. Die Augen wirken nicht voller Wärme wie normalerweise, sondern vielmehr leer und kalt, während es in ihrem Kopf nur so rumort. Der Gedanke an eine Flucht bekommt Geraldine immer noch nicht gut – doch es ist ja auch verständlich. Mehr als eine Chance zu fliehen würde uns die Polizei nicht geben und noch bevor ich bis drei zählen könnte, wären wir höchstwahrscheinlich schon tot oder Gott weiß wo.
Ich kehre dem Fenster meinen Rücken zu und verschränke die Arme. „Noch nicht, doch übermorgen werde ich mich wieder mit unseren Jungs treffen.“ Ich versuche inständig, mir nichts anmerken zu lassen, doch auch in meinem Kopf wirbeln wilde Gedanken. Mit den Jungs meine ich Chess und Luc – zwei polizeilich gesuchte Hacker und ebenso hochbegabte Computerfanatiker, die den Umgang mit ihren Prozessoren tadellos beherrschen und mit mir verbunden sind. Sie teilen sich ein staubiges Loch (so nenne ich ihren mickrigen, immerzu verdunkelten Wohnraum) am Rande des achten Bezirks und können durch ein selbstkreiertes, ausgefuchstes Hacker ID Programm unerkannt bleiben.
Ich kenne die zwei aus Waisenhauszeiten. Chess und Luc waren schon damals während der Schulzeiten Asse in Mathematik und Physik. Mit Fynnus und Geraldine bildeten wir eine kleine Clique und wurden regelmäßig von Frau Brutknecht, unserer deutschstämmigen, molligen, strengen Aufsichtsperson bei unsittlichem Verhalten erwischt und zu Strafarbeiten verdonnert. Als ich und Geraldine erst zwölf waren, sperrte sie uns eines Tages unwissentlich während der bitterkalten Wintersaison aus – wir mussten die Nacht in einem schäbigen Kletterhäuschen des Spielplatzes auf der gegenüberliegenden Straßenseite verbringen. Zum Glück verließen wir das Gebäude zuvor dick eingepackt in Winterkleidung, bibberten nichtsdestotrotz stundenlang und erfroren beinahe in der nächtlichen, eisigen Frist. Glücklicherweise waren wir danach so krank, dass man uns für zwei Woche abwesend schreiben musste und wir uns in einem Krankenhaus auskurieren durften. Die Waisenhauszeit war alles andere als schön, daher genossen wir diesen Urlaub förmlich.
Wie dem auch sei, schon damals heckten Chess, Luc und ich gerne Streiche und Scherze aus. Einer davon beinhaltete, Frau Brutknechts Kleiderschrank aus Rache mit einem winzigen, explosiven Stoff aus dem Supermarkt in die Luft zu jagen – das benötigte Geld erbettelten wir uns Tage zuvor auf der Straße.
Gesagt – getan, blieb von ihren Kleidungsstücken nicht mehr viel übrig. Komischerweise – doch auch zu unserem Wohlhaben – war Frau Brutknecht deshalb so schockiert, dass sie nicht mal versuchte, einen Brandstifter unter uns Kindern zu finden. Die Tat wurde lediglich auf einen ehemaligen Liebhaber ihrerseits geschoben, der sich auf unerklärliche Weise Zugang verschafft haben soll. Danach wurde das Thema unter den Teppich gekehrt und nie mehr wieder erwähnt.
Ich kann mich nach wie vor gut an Frau Brutknechts akzentbehaftete, zornerfüllte Worte erinnern, wenn sie uns tadelte – aus euch Lausbuben wird niemals was Besonderes, ihr werdet früher oder später an eurer Naivität und Dummheit verrecken!
Mir wird gerade bewusst, dass sie gar nicht so sehr im Unrecht gelegen hat.
Luc, Chess und ich tüfteln schon seit vermutlich sechs Monaten an der tatsächlichen Realisierung einer Flucht. Wir haben mittlerweile einiges über das Stadtgeschehen herausgefunden, bisher befindet sich unser Plan jedoch zugegeben noch im Larvenstadium. Um dies zu erkennen, bräuchte man nicht mal einen hohen Intelligenzquotienten.
„Ach, macht doch was ihr wollt…“, seufzt Geraldine. Ringe der Erschöpfung untermalen ihre Augenlider, sie lassen meine Mitbewohnerin und engste Freundin erschöpft wirken. Macht sie sich tatsächlich solch große Sorgen? Träge schlendert sie zu ihrem Zimmer und stolpert dabei fast über die langen Hosenbeine ihres weißen Pyjamas. Geschickt entfädelt sie unterwegs ihre Zöpfe und schließt die Tür hinter sich. Nach ein paar unwichtigen Wortwechselungen mit Fynnus und der regelmäßigen Körperhygiene begebe ich mich ebenso in mein Schlafgemach.
In Sinensis behandelt man uns durchaus menschlich. Viele Bürger besitzen eine Arbeitsstelle und neben Sonntagen wöchentlich noch weitere vierundzwanzig Stunden Freizeit.
Ein Wahlrecht, geschweige denn die Möglichkeit, überhaupt wählen zu können, steht uns nicht zu. Dafür darf jeder heiraten und eine Familie gründen. Selbst gegen Homosexualität sträubt sich niemand mehr, so wie es angeblich einst vor über hundert Jahren war. Wie gesagt, man erhält trotz Einmauerung – mit jener sich die Masse durchaus zufrieden stellt – einige Freiheiten. Was jedoch übereinstimmend beharrlich durchgesetzt wird, ist Disziplin. Ordnungswidrige Faulheit ist und bleibt ein unerwünschter Aspekt des Regelbuches. Genau deshalb sind in so gut wie allen Schlafvorrichtungen, seien sie öffentlich oder nicht, Lautsprecher zwecks Weckalarmierung vorhanden – das einzig Moderne in meinen privaten vier Wänden. Und dabei werden diese Lautsprecher über einen Computer im zentralen Bereich von Sinensis‘ Überwachungsorganisation gesteuert. Oft wage ich es nicht, auch nur einen Gedanken an meine ersehnte Flucht zu genießen. Man kann nie wissen, mit welchen Tricks die Überwachungsorganisatoren uns möglicherweise schon ewig unerkannt ausspionieren. Vielleicht sind sie sogar imstande, unsere Gedanken zu lesen?!
Völliger Stuss, rede ich mir schläfenreibend sowie stirnrunzelnd ein. Chess und Luc wären in diesem Fall bereits zweifellos aufgefallen und erwischt worden. Ihre bisherigen Taten waren verdammt gesetzwidrig. Schon seit Ewigkeiten würden die beiden unter der Erde faulen, hätte ich mit meinen Spekulationen über unentdeckte Spionage und Gedankenleserei via Alarmgerätschaft Recht, denn auch in ihrem Loch befindet sich so ein Lautsprecher.
Mein kleines, stickiges Zimmer. Da steht ein Bett inmitten farbloser Wände, ganz simpel und doch recht edel aussehend. Aus Holz hergestellt, mit unterschiedlich verschnörkelten Einkerbungen verziert. Ich will schlafend nicht gänzlich von den teils störenden, grellen Stadtlichtern bestrahlt werden. Aus diesem Grund habe ich mir vor Monaten einen rollbaren Kleiderschrank besorgt, damals natürlich noch leer, nicht mit sortierten Arbeitshemden und Freizeitkleidungen bestückt. Diesen kann man praktischerweise zwischen Bett und Fensterbrett schieben, sobald man schlafen möchte. Seufzend tue ich dem heute gleich. Ich lasse jedes Mal ein bisschen Freiraum, damit ich nicht vollständig in unkenntlicher Finsternis kauern muss. In einer Ecke des Raumes, wo noch nicht so viel Farbe der silbern lackierten Decke abfällt, lehnen Bogen samt Köcher mit ein paar Chrompfeilen. Polierte, messerscharfe Pfeilspitzen thronen empor – diese Waffe ist mein ganzer Stolz.
Mir glühen die geröteten Wangen, doch dabei habe ich heute nicht mal hart arbeiten müssen und nach einer Krankheit fühlt es sich ebenso wenig an. Ich denke, dass Kopfschmerzen meine Nervenwindungen bald heimsuchen werden, sollte ich mich nicht schleunigst in das Land der traumlosen Nächte stürzen. Unbeholfen fällt mein dünner Körper in die unnachgiebige Matratze, das Bett scharrt quietschend und kratzend über den Fußboden. Warum glüht mein Kopf wie Feuer? Der menschenreiche Trubel einer Weltstadt kann für Neulinge schnell zu Überforderungen der Wahrnehmung und somit zur Erschöpfung führen, doch ich bin es eigentlich gewohnt. Andererseits, womöglich tut mir die Strahlung meiner holografischen Lieblingskulisse nicht gut. Es kann auch sein, dass der hitzige Sommer so langsam seine Temperaturen ausfährt, Abende und Nächte erwärmt.
Ich betrachte den tiefschwarz bemalten Bogen, er liegt gut in der Hand und ist auch keineswegs zu lange. Wirklich bedauerlich, dass mir einheitliche Ausübungen in den gegebenen, meines Erachtens, gut ausgestatteten Sportanlagen etwas schwer in den Taschen liegen würde. Nur äußerst selten kann ich es mir leisten. Zudem wäre es ein waghalsiger Akt, wenn ich urplötzlich wild in der Stadt um mich schießen würde. Es könnte dazu führen, dass ich vielleicht jemanden verletze und schließlich eingesperrt würde. Eine weitere Sperre, wird es mir klar. Trotzdem kann man mein Talent vorbehaltlos als meisterhaft bezeichnen.
Schlafbereit breite ich mich nach Möglichkeit auf der unansehnlichen Matratze aus, welche an den Seiten von ein paar scharfen Sprungfedern durchspießt ist. Die Augenlider werden schwer. Flackernd verschwimmen Bilder meiner stattlichen Schusswaffe und ich falle in einen seichten Schlaf.
Es ist Samstag, früh am Morgen.
Schweißgebadet schmore ich unter der dünnen Bettdecke. Bin ich krank? Nein, die aufkommende, nächtliche Wärme hat meinen Körper wohl einfach überrumpelt und außerdem liegt er ziemlich eng verpackt da. Ein unangenehmer Reflex zuckt durch meine Glieder, als das Geräusch des morgendlichen Weckalarms ertönt. Es könnte praktisch mit Feueralarm verwandt sein, beziehungsweise, verwechselt werden. Etwa fünf Sekunden, nachdem der monotone Ohrenmarterpfahl losgelegt hat, spricht eine computerisierte Stimme zu mir. „Pethar Lumar, es ist zehn Minuten nach Fünf Uhr. Ihr Arbeitsdienst beginnt kurz vor acht Uhr, ist das korrekt?“ Für einen Moment lang dehne ich ausgiebig die Gliedmaßen und ignoriere den schallenden Lärm. Ob ihn meine Mitbewohner wohl auch so durchdringend mitbekommen? Aus ihren Zimmern kann ich jedenfalls nie auch nur einen Mucks wahrnehmen. „Ist das korrekt?“, wiederholt die Stimme, genauso emotionslos und robotermäßig wie davor. „Korrekt…“, kommt es aus meinem staubtrockenen Mund genuschelt. Ich setze mich auf, reibe etwas Sand aus den Augen und gehe Richtung Badezimmer. Ehe ich das Zimmer verlassen habe, erstickt das ohrenbetäubende Geräusch – es ist nicht laut, doch viel mehr nervig und selbstverständlich aufweckend. „Ihr nächster Weckalarm wurde für die Uhrzeit zehn Minuten nach Fünf Uhr vor dem Mittag, kommenden Montag, verfügbar gemacht. Wir wünschen Ihnen einen guten Morgen.“
Fabelhaft, denke ich mürrisch.
Während meine Mitbewohnerin bereits übereifrig Lunchpakete und Kaffee bereitgestellt hat, sie scheint heute wohl sehr motiviert zu sein, schläft Fynnus noch, als ich unsere Wohneinrichtung verlasse. Ich verzichte heute auf jegliches Frühstück, kleide mich stattdessen so schnell wie möglich ein, packe mir dankend das Lunchpaket in den Rucksack und verschwinde. Morgens bin ich nicht gerade für Scherze oder Gespräche aufgelegt, wenigstens trocknet der Schweiß unverzüglich und erhitzt fühle ich mich ebenso wenig.
Mein genialer Wohnungskollege beginnt seine Dienstzeit meistens erst gegen zehn Uhr vormittags. Er arbeitet demgegenüber länger, manchmal sogar bis nach Mitternacht. Armer Fynnus, denke ich mir dann stets. Andererseits hat er sich aus eigenem Willen dafür entschieden, neun Stunden lang den sorgsamen Umgang mit geistig oder körperlich benachteiligten Personen zu pflegen. Geraldine dagegen, kümmert sich (freizeitabhängig) rund um die Uhr um unsere (häuslichen) Bedürfnisse. Mir ist es oft besonders peinlich, doch manchmal geht sie sogar so weit und schläft mit Fynnus, wenn es ihm schlecht geht oder er es nötig hat. Ich ignoriere die gesamte Szene anhaltend mit ausgedehnten Spaziergängen oder faszinierenden Hologrammen.
Ob die beiden vielleicht ineinander verliebt sind, kann ich nicht wirklich abschätzen. Normalerweise benehmen sie sich eher wie beste Freunde, wie auch mir gegenüber. Als Strichmädchen oder Schlampe würde ich Geraldine deshalb aber nicht in meinen teuflischsten Gedanken bezeichnen. Sie ist einfach so oft wie möglich für mich und meinen Wohngenossen da, liebt uns von ganzem Herzen. Nebenbei arbeitet sie werktags fünf Stunden an der Essenstheke eines Obdachlosenheims. Geraldine verteilt dort zwischen Mittag und Abend Gulaschsuppen, Schnitzel oder Frankfurter Würstchen mit einem vitaminreichen Dessert. Mittwochs gibt’s wöchentlich ein anderes Küchengericht, um den Speiseplan der Heimatlosen etwas bunter zu gestalten. An manch freien Tagen steht Geraldine stundenlang vor dem Backofen. In ihren eifrigen Zeiten bereitet sie da immer leckeres Zuckergebäck, mundgerechte Kuchenstückchen und Kekse für uns sowie ihre Theke zu. Sie ist unglaublich fleißig und bei ihrer Arbeit äußerst beliebt, doch auch ich würde Geraldine nicht mal für ein freies Leben an die Regierung ausliefern. Dieses Leben will ich mir mit eigenen Händen erschaffen und wenn es noch so ewig dauert.
„Werfen Sie doch bitte ein Auge auf unser wunderbares Zeitungssortiment; Meine Damen und Herren, treten Sie näher, nirgendwo in Sinensis schmecken Hot Dogs und Hamburger um diese Uhrzeit besser!!“ Mich überkommt morgens gelegentlich ein unausstehliches Gefühl von Übelkeit. Um nämlich zum nächstgelegenen öffentlichen Verkehrsmittel zu gelangen, gibt es nur einen Weg – quer über den (im Vergleich zu anderen, winzigen) Hauptplatz meines Häuserblocks, welcher jedoch, man wird es kaum für möglich halten, schon um Fünf Uhr morgens rammelvoll sein muss. Nasenschleimverätzende Gerüche von Fast Food aller Arten machen sich hier gehörig breit und ganz besonders schlimm wirkt es in der wärmenden Morgensonne. Fettdüfte schwadern ins Gesicht, terrorisieren wortwörtlich meinen Riechkolben. Zigarettenrauch macht es noch unausstehlicher. Ich bedecke die zur Atmung bestimmten Gesichtsöffnungen mit meinen schwarzen Lederhandschuhen und tummle mich energisch durch die wuselnde Menschenmasse. Hier ein Verkaufsstand mit Sonderangeboten, dort noch eine kleine Kette mit Fast-food Händlern, die dich vollquatschen und anlocken wollen.
Zugegeben, ich bin selten pingelig was unsere technologischen Fortschritte betrifft. Jedoch könnte ich an haarsträubenden Momenten wie diesen Amok laufen. Denn, liegen meine Berechnungen im grünen Bereich, so haben wohl schon vor über hundert Jahren geruchsneutralisierende Sprays existiert…
Obwohl ich mittlerweile bereits drängle, den Rucksack eng angepresst, geht es nicht wirklich voran. Wie ich den Sommer doch vermisst habe – wären meine sarkastischen Gedankenzüge tödlich, hätte ich nun allen Platz der Welt. Doch an so etwas wollen wir gar nicht erst denken.
Immer dasselbe Programm. Trommelfellzerberstender Weckalarm, Körperhygiene, schleunigst die Wohnung verlassen, sich durch die Massen kämpfen, ab in die U-Bahn und einen weiteren Tag neun Stunden am Arbeitsplatz verbringen. Viel lieber würde ich es als Verschwendung bezeichnen. Jene wertvolle Zeit, die ich heute erneut in Tonis‘ Jagdhaus vergeuden muss, geht mir bei der wichtigen Planung für meine Flucht bedauernswerterweise verloren. Wenigstens gibt es Geld dafür. Mich kotzt es aber ehrlich gesagt an, dass gedrucktes Papier über mein Leben bestimmen soll.
Zum Glück erreiche ich endlich die U-Bahnstation. Zweifellos würde ich meine komplette Zeit darin vertrödeln, die Aussicht um mich herum zu genießen, wäre sie nicht so eintönig und lieblos. Rings um unser Apartment befinden sich nichts als weitere Wohnblocks – Besitztümer des größten Jugendverbundes in Bezirk Elf. Obwohl diese Blocks eine vorteilhafte Möglichkeit für mittelprächtig verdienende Einwohner darstellen, wirkt das Gesamtbild auf Dauer gewiss deprimierend und farblos. Doch wie sonst sollten schätzungsweise vier Dutzend tiefgraue, aneinandergereihte Hochhäuser wirken? Gut möglich, dass so mancher vielleicht Freude empfindet oder eine Beschäftigung darin sieht, an den bröckelnden Fassaden zu spielen, doch was mich betrifft…
Leicht bewölkter, verdunkelter Himmel entschwindet meinem Sichtfeld, während ich die Station betrete und mithilfe der automatisierten Rolltreppen dicht aneinander gereiht zu den Gleisen befördert werde.
Ich befinde mich bei der Station Jugendverbund Drei.
Zunächst warten auf einer Länge von etwa drei Kilometern bereits so unbeschreiblich viele Pendler, dass man den Pflastersteinboden zum eigenen Paar Schuhen gar nicht mehr identifizieren kann. Dabei fährt die Metro zu dieser Uhrzeit minütlich. Momente wie diese erinnern mich laufend an den Fakt, dass ich zusammen mit etwa fünfzig Millionen humanoiden Wesen in dieser Stadt gefangen bin. Der Begriff humanoid deshalb, weil sich die Leute oft sehr einseitig und maschinell benehmen. Ausdruckslos und still, doch wenn die U-Bahn ankommt (ich bezeichne dieses Eintreffen zu gerne als Zielaufgabe der Roboter), stürmen sie alle auf die Eingänge zu. Ähnlich, als würde man einem ausgehungerten Hund auf der gegenüberliegenden Seite eines Fußballfelds mit saftigen Fleischstücken winken, stoßen und pressen sich die Leute erbarmungslos gegen die zügig einfahrende U-Bahn. Lautes Gebrüll, schmerzlich klingendes Aufstöhnen, Hilfeschreie – eine weitere Routine in den Gleisen der Metro. Ein fremder Ellbogen rammt mir in den Magen, als hätte ich nicht schon genügend Übelkeit für heute Morgen durchstanden. Es erinnert mich daran, Brustkorb und Bauch schutzvoll mit meinen Armen zu umhüllen. Somit kann ich auch ein paar Wertsachen in den Seitentaschen meiner braunen Lederjacke vor Diebstählen sichern.
Aus Sicherheitsgründen trennen schier unsichtbare Kraftfelder uns Passanten von den Schienen ab. Wären diese Kraftfelder nicht in allen Haltestellen vorhanden, gäbe es täglich zweifellos zahllose Tote. Luc und Chess raten dennoch, dass ich mich besser von den Dingern fernhalten sollte, da sie jederzeit fehlerhafte, undichte Stellen, auch bezeichnet als Lecks, aufweisen und mich dadurch in den qualvollen Tod anrollender U-Bahnen purzeln lassen könnten.
Zumindest ist es ein kleiner Trost, dass sich während der Arbeits- und Stoßzeiten zirka zweihunderttausend dieser Züge in Betrieb befinden, manuell gesteuert. Somit sind beinahe alle anrollenden Abteile gänzlich leer und dazu da, um neue Gesichter zu transportieren. Ich ergattere mir in Etage Vier eine von zwölf Sitzgelegenheiten der siebten Reihe zur Fensterseite. Die Metros sind im Vergleich zur Vergangenheit ums Vielfache länger, größer und weisen ein satteres Fassungsvermögen auf.
Die Fahrt geht los.
Da bei ausnahmslos allen Stationen hunderte Reisende die Bahn verlassen, beziehungsweise, betreten, dauert der Aufenthalt dementsprechend lange. Als Ausstiegsmöglichkeit muss man die Türen in Etage Fünf jedes Zuges benutzen. Durch diese Etage betritt man jenen Stock, welcher über den Zugeingangshallen liegt. Es führen lediglich wenige Schritte zu den Rolltreppen und der damit verbundenen Oberfläche.
Mit müden Augen werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr, es ist Viertel vor Sechs Uhr. Um zur Arbeit zu gelangen, benötige ich die hundertzweiundvierzigste Linie, die mich in den zehnten Bezirk, zu Tonis‘ Jagdhaus, befördert. Nur sehr wenige Bürger können sich ein automobiles Fahrzeug leisten, weshalb die Straßen (zumindest in unmittelbarer Nähe der Blocks des Jugendverbunds) relativ leer sind. Das öffentliche Verkehrsnetz ist auf der anderen Seite so groß, dass ein Auto meiner Meinung nach Geldverschwendung wäre. Es sind fast ständig unzählige öffentliche Verkehrsmittel unterwegs, mit wahnsinnig vielen Umsteigemöglichkeiten. So gut wie jeder Angestellte, besonders in den äußeren Bezirken, ist darauf angewiesen, von Untergrund- oder Straßenbahnen zum Arbeitsplatz gebracht zu werden. Die Stadt ist gigantisch, meine Strecke etwa zweihundert Kilometer lang. Aufgrund ermüdend langer Wartezeiten während der Stationsaufenthalte dauert meine Fahrt, trotz blitzgeschwinder Züge, mehr als anderthalb Stunden.
Technisierte Stimmen bitten um die Fahrkarten. Für Kinder unter dreizehn Jahren sind die Bahnen kostenlos. Unbezahlte Fahrtteilnehmer tilgen den Ritt stehend. Mit etwas Glück schaffen es manche illegal von A nach B. Sobald aber ein Sitzplatz mit mehr als maximal vierzig Kilogramm erschwert wird, aktiviert sich ein punktrundes Licht in der linken Armlehne, größengleich einer Kirsche, über dem man sein Ticket scannen lassen muss. Monatlich besorge ich mir einen Fahrschein für Sinensis‘ Verkehrsnetz, zu einem erschwinglichen Preis, den mir der Automat mit Lasertechnologie in die linke Handfläche einbrennt – rückstandlos und schmerzfrei. Für mich ist es allerdings nur ein weiteres Paradebeispiel der kranken Dauerkontrolle unserer Regierung, welche buchstäblich unter die Haut geht. Nicht selten kommt es vor, dass Aufsichtsposten alarmiert werden, besetzte Sitzmöglichkeiten frei machen und fahrkartenlose Betrüger zurechtweisen müssen. Die Fahrgäste um mich herum verhalten sich ruhig, ab und zu ist ein Schnarchen zu hören.
Wir halten gerade bei Jugendverbund Vier. Fragend blicke ich aus dem Fenster, eine wahrliche Rarität bietet mir das Gleis, denn es steht völlig leer, die Fahrt geht jedoch nicht weiter. Aus dem unteren Abteilen höre ich tosenden Streit aufkommen, es handelt sich um Schwarzfahrer. Nicht schon wieder… Beklagend rolle ich die Augen. Ein paar Angestellte regeln und fertigen die Situation augenblicklich ab, es geht weiter.
Nachdem wir die fünfte und letzte Station mit dem Titel Jugendverbund verlassen haben, fährt die Bahn aus dem dazugehörigen Tunnelsystem die Schienen hinauf. Um die vollkommen belebten Straßen nicht durch Nahverkehr zu gefährden, bewegt man sich in den U-Bahnen außerhalb der zusammengehörenden Stationen (wie denen des Jugendverbunds) hauptsächlich in der Luft. Die Schienen rollen auf erhöhten, durch Träger gestützten, Verkehrslinien. Mein Blickfeld wird nicht mehr von dunklen Gängen verdeckt, bekommt stattdessen ein konkurrenzloses Großstadtpanorama vorgesetzt. Aufgrund der Geschwindigkeit und unzählbaren Gebäude wird einem fast schwindelig bei dem Versuch, all die erkennbaren Aspekte genauer zu untersuchen.
Ich bin nach wie vor in Bezirk Elf, einem der äußeren Stadtteile und trotzdem schießt ein farbloser Wolkenkratzer nach dem anderen empor. Die Tatsache, dass momentan schwarz und weiß im Kleidungsstil der Allgemeinheit modern ist, frischt meine Aussicht nicht sonderlich auf. Einzig ein paar Werbeplakate hier und Leuchtreklamen dort machen den farbträchtigen Unterschied aus.
Mein Interesse bleibt an einem brandneuen, grell in violetten Farbtönen aufleuchtenden Propagandaplakat hängen.
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Sie finden uns im zwölften Bezirk, U-Bahnlinie 149, Station Dammsel, Dammselstraße 5
Öffnungszeiten: täglich von 8:00 Uhr bis 23:00 Uhr
Neben dem Slogan sieht man eine makellos hübsche Schauspielerin, wie sie fürsorglich ein abgemagert aussehendes, mutterloses, dunkelhäutiges Kind in den Armen wiegt.
Von wegen, das kommt doch alles den Reichen und Schönen zugute. Außerdem verwaist ihr diese Kinder gewaltsam, mögen sie eventuell auch von der Pandemie dahingerafft werden.
Ich war, noch mit meinen Eltern zusammenlebend, von der tödlichen Infektionskrankheit befallen. Ich erinnere mich, es war nicht sonderlich angenehm. Mein Fleisch brannte, der Virus zerfraß meinen Körper, bis ich eines Tages hierher gebracht und geheilt wurde.
Und so sehr ich meine Mitbewohner schätze, wäre ich heute tatsächlich lieber tot, gemeinsam mit meinen Eltern in der Ewigkeit, als hier.
Ausdruckslos starre ich ins Gesicht des Stadtlebens. Industrielle Rauchfänge des fernen, siebten Bezirks verpesten die Luft, kein sehr reizender Anblick – wir erreichen Bezirk zehn. Sinensis wird in vierzehn dieser Bezirke aufgeteilt.
Den äußeren Stadtring bilden Neun bis Vierzehn. In diesen Bezirken wohnt etwa Neunzig Prozent der Bevölkerung. Es sind so gut wie alle Einkaufs- und Unterhaltungsmöglichkeiten vorhanden, jedoch nicht so groß angelegt und dargeboten wie in den inneren Bezirken.
Die Bezirke vier bis acht beherbergen nur an ihren Grenzen zum äußeren Ring noch Wohneinrichtungen, dienen ansonsten eher als Gebiete für industrielle Zwecke und Arbeitsstellen aller Arten. Bezirk acht ist eher für den Einzel- und Großhandel gedacht. Hier arbeiten im Durchschnitt die meisten Einwohner von Sinensis. Von den kleinsten Ramschläden, bis zu den gigantischsten, umfangreichsten Shoppingzentren findet man jedes erwerbliche Produkt. Doch auch Ärzte, Krankenhäuser sowie alle möglichen Dienstleisterstellen finden sich dort.
Bezirk sieben wird für die Energieerzeugung genutzt. Egal ob Wasser, Wind oder Erdwärme. Eine recht öde und karge Landschaft, die meisten Teile von Bezirk sieben sind ohnehin nur mit Genehmigung erreichbar. Aus diesem Grund sind dort seit Inbetriebnahme private, vom Gesamtnetz abgeschnittene Nahverkehrslinien erbaut worden.
Bezirk sechs ist meiner Meinung nach nichts als verrucht und verfälscht. Dort gibt es einen Vergnügungspark randvoll mit Glücksspielanlagen nach dem anderen, zudem wird bei gegebener Stunde massig Prostitution betrieben, heißt es – wirklich nicht der passende Ort für jemanden wie mich.
Der fünfte Bezirk bildet das Gegenglied zu seinem ranghöheren Genossen. In diesem Bezirk kann man zwar ebenso endlos sein Geld beim Fenster rauswerfen, jedoch für sittlichere Beschäftigungen. Im fünften Bezirk befinden sich einige hervorragende Sportanlagen, leider kann ich sie nicht allzu oft nutzen.
Bezirk vier ist Sinensis‘ Reich all jener Tierarten, die gerettet und deren Rassen aufrechterhalten werden konnten. Er ist der Regierung zufolge ein passender Ort, um mit tierischen Welten in Einklang zu kommen. Dort gibt es neben Tierhaltungseinrichtungen viele Zoos, das mag wahr sein. Die zu besuchenden Abschnitte in Bezirk vier sind jedoch, verglichen zur Gesamtfläche, so gering, dass es mich wiederrum nicht interessiert, weiter darüber nachzudenken, was sich wohl hinter den Kulissen abspielt.
So mancher Liebhaber fantasiert wahrscheinlich von abscheulicher Tierquälerei. Ich will den Zuständigen, Tieren zuliebe, nicht etwas so grauenvolles nachhängen und antworte mir selbst lieber auf die Frage: Woher kommt denn das zum Verzehr angebotene Fleisch im Supermarkt? Ich bin nämlich bekennender Fleischesser, führe aber keine Vorurteile gegen Vegetarier. Geraldine begnügt sich zum Beispiel lieber mit pflanzlichen Lebensmitteln. Gegen Milch oder Käse ist sie allerdings nicht abgeneigt. Und irgendwo müssen diese Güter doch auch durch tierische Erzeugung gewonnen, beigesteuert und auf den Markt gebracht werden.
Nun zum Kern von Sinensis. Was mich darüber regelrecht zornig macht, hier draußen bekommt man kaum Luft zum Atmen, während der durchaus großflächige Bezirk drei scheinbar unerreichbar ist.
Was sich in Drei, dem geografisch kleinsten Bezirk, befindet, darüber kann nur gemunkelt werden. Gerüchte sagen, es handle sich um die Brutstätte der Ideen und wissenschaftlichen Experimenten unserer Stadtoberhäupter. Ich habe mich selbst eines langweiligen Nachmittags in Waisenhauszeiten mit Fynnus davon überzeugen müssen, dass das Verlassen der einzigen Bahnhaltestation in Drei für Passanten und Bummler ausnahmslos verboten ist. Sechs Stunden Fahrzeit und dann so eine Enttäuschung, abstrus! Man muss noch anmerken, über die ganze Strecke von Vier nach Drei hinweg fuhr man unterirdisch. Selbst Chess und Luc, welche sich selbstverständlich schon vor einer Ewigkeit in die Überwachungsgerätschaften und Computer von fast ganz Sinensis eingehackt haben, können keine Auskunft darüber geben.
Vielleicht, wenn mein Fluchtversuch scheitert, ich davonkommen mag oder einfach aufgeben muss, daran zu basteln, wird es mein Ziel, mehr über unsere Stadt herauszufinden. Dann werde ich mich wieder in den dritten Bezirk aufmachen und versuchen, die Sache zu klären.
Zwei stellt das Herz des Verkehrsnetzes dar. Hier wird sämtlicher Schienenverkehr gespeist und in diesen hochangelegten, gewaltigen Wolkenkratzer münden ausnahmslos alle auf Schienen befindliche Fahrzeuge wieder. Zwei besteht grundlegend aus nur einem monströsen Gebäude und versorgt Abermillionen mit Arbeit.
Und dann gibt es noch das Stadtzentrum. Wie das schwarze Loch in einer Galaxie, ähnlich der Lava in einem Vulkan.
Bezirk Eins.