Kapitel 1: Ich kann es kaum in Worte fassen
Langsam übergossen die aufgehenden Strahlen der Sonne ganz Hoenn mit Licht. Es war noch vor Mittag, als Aura Fay ihre Freizeit in den sandigen Körnern von Graphitport Citys Strand im Schneidersitz verbrachte, um zu meditieren. Wenn sie nicht gerade ihrer Mutter im Haushalt oder Garten aushalf, tat sie dies jeden Morgen. Kräftesammelnd atmete Aura die salzigen, lauwarmen Brisen der Meeresströme tief ein, während sich ihr Körper entspannte. Heute ist es soweit, sprach sie in Gedanken.
Die sanften Wellen des Meeres funkelnden. Langsam öffnete das Mädchen seine Augenlider. Heute Abend werde ich mein erstes Pokémon endlich wählen!
Nach ihrer täglichen Meditation verließ Aura den Strand, um sich zuhause fertig zu machen.
„Hast du auch alles dabei, Schatz?“ Eifrig durchstöberte ihre Mutter den grünen Rucksack, welchen die angehende Trainerin bereits vor dem Strandaufenthalt gepackt hatte. Haare kämmend saß das Mädchen auf seinem Bett und begutachtete ein letztes Mal die Karte der Hoennregion an seiner Zimmerwand. „Selbstverständlich. Ich habe an alles gedacht, Mama“, antwortete Aura lächelnd. Seufzend ließ sich Anna, so hieß des Mädchens Mutter, auf die himmelblauen Bettlaken fallen.
Wäre der Altersunterschied nicht offensichtlich, hätte man die beiden durchaus für Zwillinge halten können, da sie sich äußerlich sehr ähnelten.
„Ich hoffe für dich, dass du diesmal soweit bist, Aura.“ Stirnrunzelnd ließ sich auch die junge Dame zurück, gleich neben ihrer Mutter. „Ich weiß, was die Traditionen von Graphitport City besagen und es tut mir wahnsinnig Leid… Doch ich brauchte einfach diese Zeit, um mich vorzubereiten, Mama. Mit zehn Jahren bereits durch unsere große Welt zu reisen, schien mir einfach noch zu gefährlich, ich war damals noch sehr ängstlich…“ Murmelnd schloss sie die Augen. „Das weiß ich doch. Natürlich unterstützen dich dein Vater und ich sehr, aber wir hoffen nur, dass du nicht die falsche Entscheidung triffst und es später bereust, wenn du erst erwachsen bist“, meinte Anna.
Stille herrschte in dem Raum. Um einer möglichen Meinungsverschiedenheit aus dem Weg zu gehen, enthielt sich das Mädchen einer weiteren Antwort. Der traditionelle Stolz von Graphitport Citys Einwohnern kam ihr manchmal einfach nur spanisch vor.
Die Mutter erkannte an Auras Schweigen, dass ihr dieses Thema bereits zum Halse stand und munterte sie auf. „Aber, hey! Es ist deine Entscheidung.“ Mit dem linken Auge schielte Aura zu ihrer Mutter. „Außerdem habe ich eine kleine Überraschung für dich! Komm doch mit ins Wohnzimmer.“
Lächelnd schwebte Mutter Anna förmlich die Treppe hinunter, während ihre Tochter folgte. Sie konnte es keine weitere Sekunde mehr abwarten, die Überraschung zu präsentieren.
Vor dem Wohnzimmertisch kniend, wartete Aura auf ihre Mutter, welche ein kleines Paket aus dem Schrank zauberte. „Ta-dah!“ Fröhlich schob Anna es quer über den Tisch. Neugierig musterte Aura es. „Oh, ein Brief, doch ohne Absender…“, dachte sie laut, nachdem sie es geöffnet hatte. „Nun spann‘ mich doch nicht so auf die Folter, lies ihn endlich vor“, sagte Anna aufgeregt.
Aura machte den mit Meereswellen verzierten Umschlag des Briefes auf und las laut vor.
„Liebe Aura! Wie du bestimmt weißt, erreicht heute Abend die internationale Fähre den Hafen von Graphitport City. Natürlich wusste ich nicht, ob dieses Paket am richtigen Datum ankommen würde, deshalb bat ich deine Mutter zuvor per Telefon, es dir heute erst zu überreichen. Ich hoffe, sie hat alles richtig gemacht…“ Aura brach kurz ab und blickte zu ihrer Mutter. Augenzwinkernd animierte sie diese, weiterzulesen. Die leichte Schamesröte in Annas Gesicht fiel ihr natürlich auf.
Sie fuhr fort. „Wie dem auch sei. Um dir deine Wahl heute Abend so einfach wie möglich zu gestalten, habe ich extra ein Pokémon nur für dich dabei! Hoffentlich werdet ihr gute Freunde, ich freue mich schon auf unser Wiedersehen und das große Festival. Liebe Grüße, Arnold.
PS: Der beiliegende Navigator soll dich stets durch Hoenn begleiten, damit du nie das Ziel aus der Sicht verlierst.“
Der Briefinhalt endete, Aura griff nach dem mahagonibraunen Navigator, welcher unter dem Kuvert platziert wurde. „Ist das nicht unglaublich nett von deinem Vater? Also, an deiner Stelle wäre ich sehr stolz auf ihn!“ Glückselig sprach die Mutter, während Aura ihr brandneues Navigationsgerät überprüfte.
„Wow…“, staunte sie über die Funktionen des Geräts. „Du hast Recht, Mama.“ Kopfnickend fügte sie dies hinzu und blickte danach aus dem Fenster. Hinter den dunkelgrünen Vorhängen öffnete sich ein toller Ausblick auf den Marktplatz von Graphitport City. Die Vorbereitungen für das Festival waren mittlerweile fast vollendet. Beinahe verlor sie bei dem Gedanken an das große Festival eine Träne. Oft wird sie zwar als stark, clever und anmutig beschrieben, andererseits fehlte ihr Vater Arnold sehr. Er arbeitete nämlich als einer der oberen Offiziere auf dem internationalen Schiff der Pokémon und war demnach nur selten zuhause. „Bist du etwa traurig, weinst du, Aura?“ Besorgt wurde sie von ihrer Mutter angeguckt. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie fast tatsächlich geweint hatte. Leider ließ es ihr Perfektionismus aber so gut wie nie zu, Schwäche zu zeigen. Beruhigend antwortete sie mit einem Lächeln im Gesicht, dass alles in Ordnung wäre. Anna wusste aber nur zu gut, was vor sich ging und von welchen Sorgen ihre Tochter geplagt wurde. Um jedoch weitere demotivierende Gespräche zu vermeiden, blieb sie optimistisch. „Weißt du was? Wir zwei machen uns jetzt adrett und hübsch für deinen großen Moment.“
Weitere Stunden verstrichen.
Die Menschen tummelten sich allmählich immer vielzähliger auf den langen Hafenstegen. Alle warteten sie auf das internationale Schiff der Pokémon.
Denn jedes Jahr, wenn der Sommer sein Ende fand, trudelte diese Fähre nach ihrer Weltreise wieder zuhause ein. Darum wurden schon seit dem Morgengrauen die vielen Zelte, Amüsierstände und Essensbuden in der ganzen Stadt aufgebaut.
Das Eintreffen und Festival danach waren wahrlich ein Spektakel, denn genau zu diesem Zeitpunkt im Jahr kamen viele Touristen, Urlauber und ehemalige Einwohner aus der ganzen Region nach Graphitport City, um zu feiern. Selbst Fernsehteams aus Metarost, Malvenfroh und sogar Moosbach ließen sich dies nicht entgehen und übertrugen die Festlichkeiten auf allen Kanälen von Hoenn.
Die Mengen auf den Häfen und dem nicht weit entfernten Hauptplatz kochten. Viele trugen Fanartikeln wie Mützen, T-Shirts, schwenkten eifrig ihre Fahnen oder bliesen lautstark durch Tröten. Inmitten der feiernden Menschen bahnten sich Aura und ihre Mutter den Weg zum Hafen Eins. Dort wartete schon eine große Tribüne mit einigen Angestellten der Fernsehstationen auf alle neuen Trainer.
„Unglaublich! Dieses Jahr ist dem Bürgermeister die Organisation des Festivals ein weiteres Jahr perfekt gelungen.“ Staunend begutachtete Anna die vielen Attraktionen.
Bunte Lichterketten sowie gelbe und blaue Lampions untermalten den blutgetränkten Himmel der untergehenden Abendsonne. „Naja, gegen Festivals und selbst diese vielen Menschen habe ich ja nichts einzuwenden, doch das Fernsehen und diese großartigen Reden könnten mir gerne erspart bleiben.“ Geschwind tummelten die beiden durch das Gewühl aus feiernden, fröhlichen Leuten. Ein paar der wilden Touristen waren bereits betrunken, hatten aber dennoch ihren Spaß. Alles in allem verlief das Festival gut und ohne jegliche Tumulte.
Um den aktiven Leuchtturm, welcher im südöstlichen Teil der Hafenstadt lag, tanzten und sprangen die Menschen erheitert. Alle waren sie mischfarbig verkleidet. Zum Beispiel als Clowns, Cosplayer oder Pokémon, so wollte es die Tradition. „Nun sei doch nicht so eine Meckerziege, Aura. Du wirst schon deinen Spaß im Rampenlicht haben“, versprach die Mutter.
Die zwei hatten es nun bis zur Treppe geschafft, die auf das Podest führte. Alles war so aufgebaut, dass die Trainer das Schiff zuerst besteigen und sich ihr Pokémon aussuchen konnten. Weder Herkunft der knuffigen Taschenmonster, noch Typ, waren hierbei für die jeweiligen Trainer vorgegeben. Auf sie wartete eine freie Wahl. „Hast du auch deinen Trainerpass dabei? Ohne ihn darfst du die Tribüne nicht betreten“, sagte Anna zur Erinnerung. „Aber natürlich!“ Aura hatte sich ihren Trainerpass auf einer Kette um den Hals gelegt, so wie alle anderen Neulinge. Sie zeigte ihn der Dame am Empfang der Treppe und ging auf das Podest. „Viel Spaß, Aura“, sagte ihre Mutter und winkte ihrer Tochter hinterher. Dankend lächelte diese.
Verblüfft guckte das braunhaarige Mädchen über die Menschenmasse unter der Tribüne. Von hier oben hatten die Trainer einen grandiosen Blick auf die Festlichkeiten der Stadt. Extra chic gemacht, stand sie dort in einem weißen Kleid. Ihr Haar schmückte eine blaue Schleife.
Kaum auf dem roten Podest angelangt, bemerkte Aura, dass weitaus mehr Kameras zu sehen waren, als überhaupt Trainer. Der Bürgermeister, umringt von einer Schar Journalisten, thronte in seinem herausgeputzten Smoking auf einem edlen, blauen Stuhl und beantwortete die Fragen.
Bei diesem großen Rummel und den pompösen Übertragungsleinwänden, gespickt mit Bildern von den Trainern und dem Festivalleben, rutschte ihr plötzlich das Herz in die Hose. So ein Mist! Ich wollte doch eigentlich Trainerin werden. An eine Karriere als Model oder Sängerin hatte ich eher nicht gedacht. Es war aber nicht wirklich ein Gefühl von Scham, welches die junge Dame plagte. Vielmehr fühlte sie sich etwas genervt wegen dem ganzen Trubel. Immerhin hielt sie den Beginn einer Reise eher für ein privates, doch trotzdem schönes Ereignis. In Graphitport City wurde allerdings eine riesige Show dadurch verkauft. Nichtsdestotrotz, meisterte sie die ganzen Interviews.
„Sie sind Aura Fay, richtig?“ Eine hiesige Fernsehmoderatorin machte sich an das Mädchen ran. „Sie sind nun auf allen Kanälen von Hoenn zu sehen, was halten sie davon, junges Fräulein?“ Lächelnd blickten sie gemeinsam in die Kamera, welche von dem Kollegen der Moderatorin getragen wurde. Aura räusperte. „Ich kann es kaum noch abwarten…!“ Kurz und knapp, zwar etwas nervös aber trotzdem mit Charme und Köpfchen, befriedigte sie die Neugierden der Interessenten.
Nach kurzer Zeit hatte sie es aber satt. Leicht überfordert watete sie durch den Sumpf der Presse und Medien, auf der Suche nach einer kleinen Verschnaufpause, welche die stützende Umzäunung der Tribüne versprach. Sehnsüchtig auf die blauen Wogen der See blickend, suchte sie den ganzen Horizont nach dem Schiff ab.
„Ganz schön anstrengend, nicht?“ Ein zierliches Mädchen kam auf Aura zu. Sie hatte schulterlanges, rotes Haar, das mit einer pinken Feder gekrönt war. Verpackt in einem gelben Kleidchen mit kurzem Rock.
Der Name des Mädchens war Valerie. Gemeinsam mit Aura besuchte sie schon mehrere Male die Kurse der Trainerschule. „Was du nicht sagst, Val…“ Erschöpft seufzte sie, da bereits die nächsten Fotografen um ein Foto baten. „Keine Sorge, das Schiff kommt bald!“
Lächelnd posierten sie für die Kameras. Valerie war nur ein Jahr jünger als Aura. Auch sie verspürte den Wunsch auf eine Reise in jüngeren Jahren noch nicht so sehr, weshalb beide erst dieses Sommerende als Trainer auf dem Festival teilnahmen. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit, glichen sich die beiden Teenagerinnen jedoch nicht so sehr. Valerie war zwar ebenfalls physisch sowie geistig sehr stark und stellte dadurch eine ernstzunehmende Rivalin dar, dennoch war ihr Auftreten in fast allen Situationen sehr offensiv, lustig und aufmunternd. Oft wirkte ihr Erscheinen wie die letzte Rettung aus einem Schlamassel oder die aufgehende Sonne eines finsteren Himmels, so zumindest für ihre Freunde.
Der große Moment, auf den alle gewartet hatten und für den das ganze Spektakel überhaupt erst organisiert wurde, war gekommen. Mit strahlendem Gesicht erhob sich der Bürgermeister von seiner edlen Sitzgelegenheit und nahm das Mikrophon in die Hand. Trotz seines enormen Reichtums blieb der Mann bodenständig und war jederzeit freundlich.
„Herzlich willkommen! Ich begrüße hiermit alle Bürger aus Graphitport City, alle Touristen aus ganz Hoenn sowie die Zuschauer vor ihren Fernsehgeräten und bedanke mich hochachtungsvoll für ihre Teilnahme an diesem wunderbaren Festival!“ Die Menge tobte vor Freude. Unter den vielen Menschen konnte Aura ihre Mutter gar nicht mehr ausmachen.
Ihr Herz klopfte wie wild. Gut war nur, dass die vielen Presseleute das Podest langsam verlassen mussten. Nur mehr die freundliche Moderatorin und ihr Kollege von vorhin zeichneten das Geschehen auf dem Podest auf. All die Trainer standen gemischt auf der Tribüne und begutachteten den sprechenden Bürgermeister. „Wie sie alle wissen, erreicht jährlich zum Ende des Sommers das internationale Schiff der Pokémon die Stege von Hoenns Surfer- und Anglerparadieses, Graphitport. Dies ist wahrlich ein verbindendes Ereignis, nicht nur wegen dem großen Interesse der Menschen, nein! Auch die Pokémon zählen bei dieser Veranstaltung, da die Hoennregion durch das Schiff jährlich mit neuen, seltenen Wesen aus der ganzen Welt bereichert wird.“ Stolz verkündete er seine Worte, welche von den zahlreichen Soundboxen in ganz Graphitport City übertragen wurden.
Mittlerweile war es bereits dunkel geworden.
Viele Scheinwerfer erhellten die Tribüne, auf der sich auch Aura und Valerie befanden. Auf dem restlichen Gebiet des Festivals wurden Fackeln und Lagerfeuer angezündet, während der aufgehende Mond und erste Sterne am Himmel sichtbar wurden. Selbst das Licht des Leuchtturms kreiste über das Land und die See.
Jubelnd wurde die Aufregung aller Teilnehmer unterstrichen, als endlich das lang ersehnte Schiff am Ende des Horizonts sichtbar wurde. In recht schnellem Tempo kam es auf Hafen Eins zu.
Ein Glück. Erleichtert atmete Aura aus. Sie jubelte vor Freude, genauso wie die anderen Trainer und Leute. Die Lichter des näherkommenden Schiffes und der Himmelskörper wurden tänzerisch auf der Wasseroberfläche reflektiert. Auras Augen, gefüllt mit Tränen, glitzerten im Licht der Fähre, welche nun endlich den Hafen Eins erreicht hatte. Seine Sirenen ertönten lautstark, während eine Zugbrücke auf die Tribüne runtergelassen wurde.
„Und nun, meine Damen und Herren, der Moment auf den wir alle gewartet haben… Ich präsentiere ihnen das internationale Schiff der Pokémon!“ Der Menschenauflauf explodierte wortwörtlich vor Freude. Erste Feuerwerkskörper wurden von den zahlreichen Helfern des Festivals himmelwärts gejagt und entfalteten sich in den exotischsten Farbtönen. Nach wie vor erhellte auch die strahlenden Lichter des Schiffes Hafen Eins. Einige der Sponsoren, es handelte sich dabei um reiche Geschäftsleute und erfolgreiche Koordinatoren, genossen die Aussicht von höher gelegenen, reservierten Sitzplätzen.
Aura strahlte vor Glück, während die vielen, bunten Feuerwerke den Nachthimmel überstrahlten. Es war nicht nur ihr erstes Pokémon, vielmehr konnte sie es gar nicht mehr abwarten, nach so langer Zeit endlich wieder ihren Vater in die Arme zu schließen.
Lächelnd und winkend blickten die auserwählten Trainer auf die Menschen unter sich, nachdem sie das Schiff über die Brücke bestiegen hatten. Das Deck, auf dem sie sich befanden, war sogar noch dreimal so groß, als die Tribüne. Von unten sah dies natürlich nie so spektakulär aus.
Kollegial legte Valerie ihren Arm um Auras Schultern. „Ist es nicht wundervoll?“, fragte sie.
Ich kann es kaum in Worte fassen, dachte Aura.