Vor drei Tagen fand ganz in der Nähe ein geheimes Treffen inmitten des Waldes statt. Nun, es war nicht direkt geheim, aber es war inmitten des Waldes, was die Wahrscheinlichkeit, dass ein normaler Mensch durch Zufall in die Lichtung, in welcher es stattfand, hineinstolperte, denkbar gering war. Es gab auch keine direkten Einladungen - eine Übereinkunft zwischen zwei Gruppen von Sinnern, die schon seit Jahren bestand, machte aus diesen Treffen eine jährliche Tradition. Letztes Jahr hatte die Schneider-Gruppe, eine Vereinigung, von Sinnern, die in den Wäldern des ehemaligen Deutschlands lebten und dort ein asketisches Leben im Einklang mit der Natur praktizierten, die Mason Party auf dem Inselstaat des ehemaligen Großbritanniens besucht - nun ging es andersherum.
Das Treffen, welches, wie bereits erwähnt, geheim war, obwohl es dessen gar nicht bedurft hätte, fand unter freiem Himmel statt und war gehüllt in ein Netz aus Förmlichkeiten. Permanent wurden Schalen getauscht, Hände geschüttelt oder andere Gesten der Brüderlichkeit unter den beiden Clans ausgetauscht, ausgehend von einer Hilfeleistung oder ähnlichem, die ein Clan (auch wenn niemand mehr weiß, welcher) dem anderen vor 65 Jahren erbracht hatte. Etwas weiter abseits vom Geschehen kauerte eine einzige Gestalt, die sich fragte, ob es den ganzen Aufwand wirklich wert war, wenn sich trotz allem niemand daran erinnerte, was eigentlich geschehen war. Vermutlich war es nur etwas Triviales, aber sie klammerten sich daran fest, wieso?
Die Gestalt, zu einem Ball zusammengekauert und von Zeit zu Zeit von Hustenanfällen erschüttert, doch ansonsten kaum im Dunkel der Nacht erkennbar, wusste, dass der Anführer der Mason Party leichten Anstoß an dieser Art zu denken nahm. Wichtig sei, dass die Freundschaft zwischen den beiden Gruppen aufrecht blieb. Doch dafür ein ganzes Treffen, das nur dem Austausch von übertriebenen Gesten diente, auszurichten, war doch etwas... übertrieben.
Für die Freundschaft? Gerade er wusste, dass so etwas nie lange hielt. 65 Jahre waren eine ansehnliche Zahl, aber diese Freundschaft wurde ja auch auf eine andere Generation übertragen. Für gewöhnlich ist bei Freundschaften spätestens mit dem Tod eines Freundes Schluss. Das hatte er selbst erlebt, denn schließlich war er auch gestorben, oder? Von Zeit zu Zeit fühlte es sich so an, als sei er gestorben und hatte dann seine sterbliche Hülle, die bereits ins Stadium des Vermoderns übergegangen war, wieder besetzt. Von seinen alten Freunden hatte er auf jeden Fall keinen Kontakt mehr. Und hier... klar, sie waren nett und zuvorkommend, aber sie gingen ihm alle höflich aus dem Weg. Was ist es denn? Ist es der Ausschlag? Der Haarausfall? Die verdreckte Kleidung? Der Geruch? Die steifen Finger? Oder der schleimige Husten, sucht euch etwas aus! Vielleicht sogar alles zusammen!
Ohne es wirklich zu bemerken, hatte er während seiner Gedanken zur Freundschaft einen kleinen Zweig aufgehoben ihn zwischen Zeigefinger und Mittelfinger geklemmt, um mit dem Daumen dagegenzudrücken; nun, wo er sich in Rage gedacht hatte, drückte er einmal zu fest und der Zweig zerbrach mit einem in der Stille der Nacht nahezu überproportional lauten Krachen. Drüben, beim Bankett drehten sich einige fragende Köpfe zu ihm um, blickten jedoch schnell weg, als sie seinen Gesichtsausdruck sahen oder ihn erahnten. Sinner haben Achtung vor der Natur und allem, was dazugehört, dachte er schwach. Noch nicht einmal das kriegte er richtig hin. Seufzend stand er auf und ging mit unsicheren, zitternden Schritten in den Wald. Er brauchte etwas Ruhe, und bis sie abreisten, würde er sie schon wiederfinden. Oder sie fanden ihn wieder, darin waren sie gut. Oder am besten, irgendeine der vielen Gefahren des Waldes brachte ihn um.
Zwei Stunden später wusste er bereits nicht mehr, wo er war. Das heißt, er wusste wo er war - in einem der Wälder, die den Teil des Kontinents bedeckten, der unter dem Namen Duran bekannt war - doch die Position von allem anderen war ihm ein Rätsel. Hier sah alles so gleich aus, doch in den Wäldern seines Heimatlandes ging es ihm genau so, mit dem Unterschied, dass er daheim bereits einige Orte aufgrund ihrer Beschaffenheit identifizieren konnten und den Weg von ihnen zum Lagerplatz fand. Hier war es nur fremder, mysteriöser Wald, in dem selbst die wilden Tiere schliefen und...
Ein einziger Baum weckte sein Interesse, an den jemand unter Einsatz des eigenen Lebens eine Notiz gepinnt hatte, in der Hoffnung, dass ein vorbeikommender Sinner sie lesen möge. Tja, Pech. Die einzigen Sinner, die anscheinend hierher kamen, waren die, die sich verirrt hatten, und das kam bei Sinnern selten vor. Bloß er hatte den Trick noch nicht raus, also konnte er genauso gut so freundlich sein und den Zettel lesen, wegen dem sich jemand so verausgabt hatte.
Balthasar las den Zettel. Dann, um ganz sicher zu gehen, dass er das richtig gelesen hatte, las er ihn noch einmal. Und noch einmal. Schließlich kauerte er sich unter dem Baum zusammen und wartete darauf, dass ihn jemand fand. Was auch eine halbe Stunde später geschah.
Es war dem Rattenmenschen noch am nächsten Tag nicht ganz klar, was ihn an der Lektüre so sehr fasziniert hatte. Ruhm, Reichtum, Technologie, was kümmerte es ihn? Vermutlich war es der sentimentale Wert. Der Gedanke, sein Leben wieder fortführen zu können, das er hatte abbrechen müssen. Doch tief im Inneren wusste er, dass es bedeutungslos war. Ein Leben wie früher konnte er auf keinen Fall mehr führen, dazu fehlte ihm der gesunde Körper. Alles was er tun konnte, war, sich mit seinem Geldhaufen zu verschanzen und auf den eigenen Tod warten. War das ein Leben, das er führen wollte? Es gab eigentlich kein Leben, das er mehr führen wollte. War es das? Die Ankündigung der Gefahren? Dass sie sich etwas entgegenstellten, das keine Probleme damit hatte, Menschen und gewiss auch andere Rassen einfach verschwinden zu lassen, auf dass sie nie mehr wiedergesehen wurden? Das könnte es sein.
Drei Tage später
Die Sonne lugte um die Häuserecken und berührte einen Haufen Lumpen, der am Rand einer kleinen Seitenstraße lag. Besagter Haufen Lumpen begrüßte den Morgen mit einem herzhaften Nieser, gefolgt von einem zweiten und einem dritten. Schließlich richtete er sich halb auf, kroch zum Rinnstein und spuckte einen kleinen Schleimklumpen hinein. Guten Morgen, Balthasar, sagte er zu sich selbst. Was für ein wundervoller Morgen.
Oder Mittag. Unsicher richtete er sich auf und rückte seinen Bowler zurecht. Nun, wo er den Schleim los war, atmete er etwas freier, aber auch nicht wirklich frei genug, um den Morgen zu genießen. Trotzdem, heute war der Tag. Bis drei Uhr war vermutlich noch Zeit, also musste er einen Weg finden, sie sich zu vertreiben.
Während er noch so überlegte, hastete eine interessante Person vorbei - schwarze Haare, und, viel auffälliger, ein weißer Kittel. Eine ähnliche Person hatte ihn damals behandelt, als er erkrankt war, auch wenn der Kittel dieses Mannes irgendwie - anders wirkte. War der Kittel des Medicus nur ein sichtbar weiß gefärbter Stoffkittel gewesen, schien dieser tatsächlich aus weißem Stoff zu bestehen. Wie dem auch sei, der Mann war anscheinend Arzt, und das kam ihm gerade recht. Er mochte Ärzte. Ihre Unfähigkeit, seinen Fall korrekt zu diagnostizieren, war einer der wenigen Lichtblicke in einer Welt voller Schmerz und schlechter Hygiene. So schnell es ihm seine schwachen Beine erlaubten, folgte er dem Arzt; hatte dieser schließlich angehalten, wusste Balthasar, dass er schnell reagieren musste, wollte er ihn nicht wieder verlieren. Schnell ging er an ihm vorbei, drehte sich und zog seinen Bowler mit einer Verneigung. "A good day to you, sir", begrüßte er ihn. "Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie Arzt sind?"
Off Topic: Mein Chara spricht natürlich als erstes mit dem Mediziner der Gruppe. Auf ein gutes RPG.