Kapitel 2.1 - Abschied und Aufbruch
Wie fast jeden Tag hatte ich meinen Kopf auf dem Tisch vor mir niedergelegt, gleich einer Mumie verharrte ich regungslos, wartend. Es fiel mir jedes Mal schwer richtig einzuschlafen, weil ich Angst hatte, dass ich plötzlich anfangen könnte zu schnarchen und sich alle anderen im Saal zu mir umdrehen könnten. Zwar saß ich weit hinten im Klassenraum, doch war selbst dies kein Garant dafür nicht erwischt zu werden. Das lag daran, dass die Tischreihen von hinten bis nach vorn, von oben nach unten abgestuft waren, sodass man egal wo man saß immer einen freien Blick nach vorn zur Tafel und unserem Tutor hatte. Ich gebe zu, ich hatte noch nie eine Stunde in voller Länge mitbekommen. Unser Lehrer hatte das seltene Talent jemanden wie ein Pummelluf in den Schlaf zu leiern, doch scheinbar war ich irgendwie der Einzige, dem es so erging. Alle anderen Schüler taten immer so, als wären sie schon von der bloßen Anwesenheit unseres Lehrers begeistert und folgten fasziniert jedem seiner Worte. Zum Glück spielte das kaum noch eine Rolle, denn heute war der letzte Tag an der Akademie, daher ging ich davon aus, dass kaum mehr etwas interessantes passieren oder gar besprochen werden würde. Gemächlich döste ich vor mich hin und pustete mir gelegentlich einige braune Strähnen meiner wild abstehenden Haare aus dem Gesicht, einer der seltenen Momente in denen auch ich mich zu “Wort“ meldete, wenn meine Lippen bei diesem Unterfangen ein leises, pustendes Geräusch von sich gaben. Obwohl ich es nicht sehen konnte, war es mehr als nur eine bloße Vermutung, dass Toryou welcher neben mir saß sicher voller Spannung den Aussagen unseres Lehrers lauschte und alles in sich aufsog. Er hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben mich anzustoßen und dafür zu sorgen, dass auch ich in den Genuss kommen konnte dem Unterricht folgen zu können. Ich konnte förmlich spüren wie er mich jedes Mal verständnislos ansah und mit dem Kopf schüttelte. Allgemein empfand ich diese Schule als recht sinnfrei, denn ich wusste doch, dass man Pokemon ordentlich behandeln, nicht schlagen oder gar misshandeln sollte, weil sie genauso lebende Geschöpfe sind wie wir Menschen. Das einzige Interessante was vor ein paar Stunden erwähnt wurde war, dass man sich niemals mit Geist- und Unlichtpokemon einlassen sollte. Die Erklärung dafür fiel recht dürftig aus, weil es wohl hauptsächlich Menschen betreffen würde, die in der Lage waren >dieses spezielle Band< zu knüpfen. Daher verstand ich nicht, weshalb auch uns normalen Trainern nahe gelegt wurde uns nicht mit ihnen einzulassen. Wie dem auch sei, sobald diese Stunde beendet ist, sind wir hier fertig und ich wäre nie wieder dazu gezwungen mich mit dem harten, schlaf unfreundlichen Tisch abzugeben. Knapp vier Jahre dauerte dieser “Wie gehe ich mit Pokemon um” Unterricht und dann dürften wir losziehen und uns endlich selbst mit ihnen auseinandersetzen.
“…und deshalb sind auf Feuer basierende Angriffe genauso effektiv gegen Typen des Elementes Wassers wie es im Umkehrschluss auch auf alle anderen Pokemontypen zutrifft, wenn sie die genannten Eigenschaften besitzen.”
Mh? Verschlafen öffnete ich meine Augen als ich diese Worte hörte. Wie war das? ..Was solls, wäre es wichtig, hätte er wie sonst auch übertrieben seine Stimme angehoben und wie eine Kreissäge durch den Saal geschrien, damit sich jedes einzelne seiner Worte mit chirurgischer Präzision in den Kopf seiner Schüler brannte.
“Damit hätten wir nun eure Ausbildung abgeschlossen, es ist euch nun erlaubt eure Pokemon von euren Eltern entgegen zu nehmen. Ich wünsche euch allen viel Spaß und Erfolg auf euren Reisen und ich hoffe ihr nehmt euch zu Herzen was ihr hier gelernt habt!”
Das war mein Stichwort. Kaum wurden diese Worte ausgesprochen, sprang ich auf und schnappte mir meinen Rucksack. Wie üblich erhaschte ich einen etwas verächtlichen Blick von Toryou, doch dass war mir wie immer, so auch an diesem Tag reichlich egal. Als erster Sprang ich auf und begab mich zur großen, hellblauen Doppeltür, jene die mir den Weg in die Freiheit zeigt. Für einen kurzen Moment wollte ich anhalten, da ich keine weiteren Schritte hören und konnte und durch diesen kurzen Moment des Zweifelns hätte ich mein Gesicht fast als Türöffner benutzt. Vielleicht war ich oft ungeschickt, doch diesmal schaffte ich es mein Gleichgewicht zu waren, mein kurzes Misstrauen abzuschütteln und weiter Richtung Freiheit zu rennen.
“Sephi! Du wartest!”
“Hä?”
Abrupt musste ich bremsen und ein quietschendes Geräusch ertönte als meine Sohlen über den Boden schliffen. Wieso musste ich denn warten? Ich musste meine Sachen packen, mich fertig machen und Knabberzeug zusammensuchen. Ich hatte keine Zeit. Meine Schultern sanken ein Stück nach unten als ich zu meinem Lehrer sah und er das mit dem warten sichtlich ernst meinte. Nein, es reichte noch nicht um genervt zu sein, den Höhepunkt bescherte mir Toryou als er erhaben und übertrieben hochnäsig an mir vorbeistolzierte.
-Mit Bedacht und Ruhe erreicht ein Reisender stehts sein Ziel -
Ich glaube so in etwa hätte er es wohl in seiner so gebildeten Art ausgedrückt, wenn seine Körperhaltung nicht schon genau dass ausgedrückt hätte. Was für ein Kind, werd erwachsen!
Alle in meiner Klasse führten sich so Erwachsen und gebildet auf, nur um unseren Lehrer zu beeindrucken…das war so anstrengend die 4 Jahre.
Nach und nach folgte ich Toryou und den anderen Schülern mit meinem Blick, wie sie hämisch grinsend an mir vorbeigingen und aus dem Raum verschwanden. Ich kann mir nicht helfen doch ich glaube ein paar absichtliche Rempler waren auch dabei. Erst als ich als letzter übrig geblieben war, wank mich mein Lehrer zu sich nach unten zu der Tafel, wo er mal wieder hunderte Kritzeleien angebracht hatte.
“Was gibt’s denn Dad?”
Ja, mein Lehrer der langweilige Ausbilder dessen Worten ich so gut wie nie gelauscht hatte, war zugleich mein Vater. Mum behauptet ja jedes Mal dass wir uns sehr ähnlich sehen aber irgendwie kann ich dem in keinster Weise zustimme. Gut, wir hatten die slebe braune Haarfarbe und wie bei mir standen sie auch bei ihm wild nach allen Seiten ab, unsere Augen hatten auch die gleiche Farbe, aber trotzdem, ich bin nicht nur ein jüngeres Abbild meines Vaters.
“Wieso beeilst du dich denn so? Dir ist doch klar, dass du dein Pokemon von mir bekommst, mh?”
Wenigstens sprach er ordentlich zu mir und nicht mit seiner übertriebenen Lehrer Stimme und während ich diese Worte hörte, entwich mir ein weiteres Seufzen und verlegen kam ich nicht darum herum mich unweigerlich am Kopf zu kratzen.
Ich gebe zu diesen Umstand, dass ich mein Pokemon von ihm bekomme, hatte ich vollkommen vergessen, manchmal war Logik nicht meine Stärke, ich agierte eigentlich immer aus meinem Bauch heraus. Natürlich sah ich verdutzt zu meinem Vater und wie sollte es auch anders sein, erntete ich dafür seine Hand auf meinem Kopf, welche meine unlängst zerzausten Haare weiter davon abbrachte in irgendeiner Form ordentlich zu liegen und eine Frisur abzugeben. Vielleicht klingt das jetzt unlogisch, doch mochte ich es, wenn mir mein Vater seine Zuneigung zeigte, welche ich mit solchen Gesten assoziierte.
“Es gibt Tage, da habe ich gar kein gutes Gefühl dabei, dir ein Junges von Ruja zu überlassen…”
Obgleich er diese Worte ruhig und ohne vorwurfsvollem Unterton aussprach, konnte ich merklich seine Sorge heraushören.
Kurz musste ich schwer schlucken und wollte eigentlich darauf antworten, doch der Blick meines Vaters verriet mir, dass egal was ich sagen würde, seine Bedenken nicht verfliegen lassen würden. Ich musste schon zugeben, dass es eine Ehre war ein Junges von seinem Arkani zu bekommen. Er war einer der wenigen die dazu im Stande waren mit ihren Pokemon eine gemeinsam denkende und fühlende Einheit zu bilden. Das war wohl auch der Grund weshalb alle Schüler wie Honig an seinen Worten klebten und alles aufsogen was er von sich gab.
Oft hatte er mir davon erzählt wie anders die Kämpfe zwischen Mensch und Pokemon verliefen die fernab der normalen weltlichen Grenzen standen. Das war wohl das einzige Thema bei welchem ich ihm stundenlang voller Begeisterung zuhören konnte und jedes Mal auf dem Stuhl aufgeregt hin- und her rutschte, wenn er mir von einem Kampf bei den Turnieren erzählte. In diesen Momenten war er für mich ein Held, jemand der stolz mit Ruja zusammen Siege und Trophäen errang. Doch eines Tages, ich weiß nicht mehr genau wann es war, veränderte sich mein Vater…
Nachdem er wieder einmal nach ein paar Tagen von einem Turnier zurückkehrte, schien es, als wäre er seelisch um Jahre gealtert und dieser unerschütterliche voller Zuversicht wirkende Glanz in seinen Augen schien erloschen.
Ich denke nicht, dass meine Mutter wusste weshalb sich mein Vater so plötzlich verändert hatte und dennoch stand sie ihm zur Seite. Nacht für Nacht, jedes Mal wenn er panisch schreien aufwachte. Zu dieser Zeit hatte ich große Angst, Angst davor meinen Vater zu verlieren, ich wusste dass er nicht sterbenskrank war, jedoch hatte ich mehr und mehr das Gefühl, dass er sich von mir und meiner Mutter entfernen würde, bis derjenige der einst mein Vater war, gänzlich verschwinden würde. Zeit heilt alle Wunden, so sagt man und auch bei uns schien es wieder normaler zu werden und letztlich verblieben nur noch die Narben an seinen Handflächen und seinem Rücken, welche an die schwerste Zeit unserer Familie erinnerten.
Nach diesem Ereignis wurde es zeitgleich still um diese Art von Trainern, die Medien berichteten nicht mehr von ihnen und es schienen auch keine Turniere mehr stattzufinden. Es war fast so, als wäre außer meinem Vater keiner mehr von ihnen übrig. Sie existieren jetzt nur noch anhand der früheren Geschichten und obwohl jeder einzelne meiner Mitschüler brennen unter den Nägeln verspüren muss, wurde er noch nie auf seine frühere Zeit angesprochen obgleich alle wissen, dass er und Ruja ein Teil dieser vergangenen Erzählungen ist.
Langsam blickte ich auf und sah den fragenden Blick meines Vaters, ich schien wohl etwas abwesend gewesen zu sein.
“Du bist wirklich etwas besonderes, genauso wie ich als ich in deinem Alter war!”
Ja, schon klar, ich erinnerte ihn an sich selbst, ich konnte gar nicht mehr zählen wie oft er mir das erzählt hatte. Sicher sahen wir uns ähnlich, selbe Haarfarbe und meist auch selbe “Frisur”, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser faltige Mann überhaupt einmal jung war. Gut, wirklich alt war mein Vater nicht, doch ich glaube dass war eine natürliche Betrachtungsweise eines Jugendlichen zu seinem alten Herren.
Ich glaube ich war erneut irgendwie abgelenkt gewesen, denn ich bekam gar nicht mit, wie mir mein Vater einen kleinen Pokéball entgegen hielt.
“Nimm ihn, du wirst schon gut auf den Kleinen aufpassen..und wenn nicht…wirst du große Probleme mit seiner Mutter bekommen.”
Wie als hätten sie diese Szene geplant, bildete sich ein dünner, goldener Schleier um meinen Vater und rechts hinter ihm begann die Luft zu flackern, immer mehr verschwand das, was sich hinter dieser Erscheinung befand und nach und nach bildete sich die Form eines großen Tieres. Der goldene Schimmer ging zu dieser Kreatur über und wurde immer stärker, formte sich zu einer majestätischen Mähne, riesigen Pfoten und letztlich stand in all seiner Pracht, ein Arkani neben meinem Vater und sah mich mit einem so stechenden Blick an, dass es sich anfühlte, als würde es direkt in meine Gedanken sehen können.. Obgleich ich Ruja ja bereits kannte, kam ich nicht darum herum ein Laut des Erstaunens von mir zu geben, als dieses majestätische Pokemon vor mir auftauchte. Glänzendes, rötliches Fell mit weißen Strähnen die wie eingearbeitet aussahen. Eine prachtvolle, wilde Mähne und, und das war wohl der Unterschied zu den restlichen Arkani, besaß dieses golden schimmernde Augen, gleich der Aura welche noch immer wie ein schmaler, schimmernder Film um den Körper meines Vaters lag.
Kurz schluckte ich und nickte beiden deutlich zu.
Ich hatte die Botschaft verstanden und doch etwas unsicher nahm ich dann den Pokeball, welchen mein Vater hielt, in meine Hand.
“Ich danke euch beiden für euer Vertrauen, ich werde euch sicher nicht enttäuschen.”
Tief verbeugte ich mich, vorrangig vor dem Arkani, welches wohl jede einzelne meiner Muskelbewegungen beobachtete und ich weiß nicht wieso oder wie, einen immensen Druck auf mich ausübte. Es fühlte sich an als würden hunderte Säcke gefüllt mit Schulbüchern auf meinem Rücken liegen und mich immer mehr zusammenschrumpfen lassen.
“Wir vertrauen dir. Jetzt mach dich aber los, du bist doch sicher schon aufgeregt, vergiss aber nicht dich von deiner Mutter zu verabschieden!”
Während er diese Worte sprach legte er seine linke Hand sanft auf Rujas Kopf, welche daraufhin mit einem kurzen, kaum zu erkennenden Nicken reagierte. Es war einfach unbeschreiblich wie mich die Interaktionen der beiden jedes Mal mit innerer Wärme erfüllten und sich ein friedliches Gefühl in mir ausbreitete.
Eine Szenerie voller Demut und Frieden und dennoch konnte ich meine Freude nicht weiter unterdrücken und so schoss es einfach wie Wasser aus einem auf einen Mitschüler einschlagenden Wasserballon aus mir heraus.
“Danke, danke, danke, danke!”
Ich ließ ihm keine Zeit zu reagieren, schnell löste ich mich wieder, doch bevor ich auf meinen Absätzen kehrt machen konnte, kam ich nicht darum herum mich noch einmal kurz vor dem Arkani zu verneigen.
“Machs gut Dad, wir sehen uns bald wieder!”
Unvermittelt drehte ich mich um, lief die Treppen hinauf und verschwand aus dem Saal in die weiten Flure des dreistöckigen Gebäudes. Kurz noch spürte ich den Blick meines Vaters auf mir und ich hätte schwören können, dass auch auf seinen Lippen ein Lächeln lag. Sobald ich wieder zu Hause wäre, hätte ich unzählige Geschichten zu erzählen denen meine Eltern mit Erstaunen lauschen würden.
Leider kam es nie dazu …
und hätte ich gewusst, dass ich an jenem Tag meinen Vater zum letzten Mal sah, hätte ich meine Reise wohl nie begonnen...