Vielen Dank an Mandelev und Rusalka für eure Kommis! (:
Mandelev
Danke für dein Lob! Ich war mir tatsächlich ein wenig unsicher, ob der Alltag von Manu nicht zu langweilig ist, deshalb freut's mich, wenn du das nicht so empfunden hast. (: Und es freut mich auch, dass meine spontane Idee, einfach Google-Maps für Ortsnamen zu öffnen, wohl gar nicht so naiv war, wie ich dachte. Hab wirklich gedacht: "Mei, was bin ich unkreativ, dass ich mir nicht mal Ortsnamen ausdenken kann!" Aber letztendlich: wozu was ausdenken, wenn es schon so hübsche Ortsnamen gibt?
In Krabat gab es einen Merten? Wow, das hatte ich komplett vergessen.
Adler mag ich auch sehr, auch wenn er keine so große Rolle hat, aber ich konnte ihn mir so gut vorstellen. Er ist so ein richtiger Vollblutmechaniker.
Danke noch mal für deine Gedanken zu diesem ersten Part -- bin schon neugierig, was du zum nächsten Teil sagen wirst. (:
Rusalka
Drabble-Kommi -- gewieft! :3
Danke auch für dein Lob! Es freut mich, wenn dieser Mix aus "Alltag" und "Magie" hier so gelungen ist. Über Harpyien liest man wirklich nicht oft, aber ich denke, das liegt hauptsächlich daran, weil sie so unterschiedlich dargestellt werden. Die meisten werden sie eher als Antagonisten wählen, weil sie ja doch keinen so guten Ruf haben. Die Harpyien in dieser Welt sind allerdings ein recht friedliches Volk. Aber es ist eben auch eine kapitalistische Welt und ja, was man zu Geld machen kann, wird zu Geld gemacht.
Schön zu hören, dass ich eine gewisse Bodenständigkeit herüber gebracht hab, weil das war durchaus mein Ziel! :D
Danke für deine Gedanken in hundert Wörtern, freu mich schon, was du zum nächsten Part sagen wirst.
An Bord der Donau
(II / III)
Die vier Stunden vergingen schneller, als Manu es sich vorgestellt hatte. Torben kam zurück und sie arbeiteten weiter mit dem stetigen Geräusch der Maschinen, welches Manu an diesem Tag besonders genoss. Denn es hielt seinen Kameraden davon ab ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Zwar versuchte Torben es trotzdem, aber darauf reagierte er einfach nicht. Als das schrille Pfeifen das Ende der Frühschicht ankündigte kam ihnen Adler entgegen.
„Manu“, wandte der Chefingenieur sich an ihn, „ich hab dich bei der Frühstückspause nicht gesehen. Du warst doch dort, oder?“
„Nein, Herr Adler, das war ich nicht“, gab Manu offen zu. Es hatte keinen Zweck seinen Vorgesetzten anzulügen und das wollte er auch gar nicht. Der Chefingenieur sah ihn einen Augenblick ernst an. Schließlich sagte er: „Das kommt nicht noch mal vor, verstanden? Wenn du mir hier aufgrund von Unterzucker umkippst ist das lebensgefährlich.“
„Aye, Herr Adler, kommt nicht wieder vor“, erwiderte er gehorsam und ging gemeinsam mit Torben zum Mittagessen. Inzwischen knurrte sein Magen so laut, dass er ihn nicht mehr ignorieren konnte. Glücklicherweise war die Speisekarte heute ganz nach seinem Geschmack, denn es waren sechs Matrosen in der Küche eingeteilt, die allesamt aus Restaurantfamilien stammten. Deshalb genoss Manu wenig später seine Semmelknödel mit einer sämigen Fleischsoße. Torben saß ihm gegenüber und drehte seine Spaghetti Bolognese um die Gabel. Sie hatten noch nicht viele Worte heute gewechselt, da Manu schlichtweg nicht reden wollte. Er bemerkte, dass das seinen Kameraden störte, aber es war ihm gleich.
„Was machst du jetzt?“, fragte Torben plötzlich ohne ihn anzusehen, ganz auf das Aufwickeln der Spaghetti fokussiert.
„Das einzig Richtige“, erwiderte Manu und versuchte dabei möglichst neutral zu klingen. Er schob sich ein Stück seines Knödels in den Mund, sah auf und bemerkte Torbens fragenden Blick.
„Was heißt das?“, wollte er wissen, doch Manu ging darauf nicht ein, sondern stellte eine Gegenfrage.
„Bis nach Molln brauchen wir noch zwei Tage, oder?“
„Ungefähr, ja. Vielleicht auch drei. Warum?“, entgegnete Torben verwirrt.
„Nur so, damit ich weiß, wie lang ich Zeit hab.“
„Für was?“, wollte sein Kamerad wissen und Manu bemerkte eine leichte Verzweiflung in seiner Stimme. Es überraschte ihn etwas, denn bisher hatte Torben sich nie anmerken lassen, dass er sich Sorgen um etwas machte.
„Ich muss gestehen“, fuhr Torben leiser fort, als er sein Besteck auf den leeren Teller legte, „dass ich immer noch nicht weiß, ob ich dir helfen soll. Doch wenn ich es tue, geh ich ein Risiko ein, das ich nicht eingehen will, deshalb wär's vermutlich klüger die ganze Sache einfach zu ignorieren. Trotzdem möchte ich, dass du eines weißt.“
„Und das wäre?“, fragte Manu interessiert und schob sich den letzten Löffel Soße in den Mund.
„Dass ich dich vermissen werd.“
Er war so sprachlos, dass er nichts darauf erwidern konnte und Torben einige Augenblicke mit dem Löffel im Mund anstarrte.
„Du siehst ein bisschen dämlich so aus“, meinte sein Kamerad leise lachend, woraufhin Manu schnell den Löffel aus dem Mund nahm.
„Kannst du's mir verübeln? Hätte nie gedacht, dass du mich vermissen könntest“, erwiderte er mit einem Schulterzucken.
„Tja, jetzt weißt du's. Wird langweilig werden ohne dich.“
„Aber helfen möchtest du mir trotzdem nicht?“, wollte Manu wissen, als er sein Besteck auf den Teller legte. Torben schüttelte den Kopf: „Ich würd gern, aber ich kann's mir nicht leisten von diesem Schiff zu fliegen.“
„Denkst du nicht, dass wir woanders Arbeit finden würden?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Kannst mich ruhig feige und bequem nennen, aber ich mag es hier an Bord und denke, dass es woanders wesentlich schlimmer sein könnte“, antwortete Torben und fuhr sich durch seine blonden Haare. Manu konnte seinen Gedankengang nachvollziehen, denn er war genauso gern wie sein Kamerad an Bord der Donau. Aber er konnte das Lebewesen im Frachtraum nicht ignorieren. Torben nahm sich Manus Teller und sagte: „Ich nehm das für dich mit. Tu was du nicht lassen kannst, aber pass auf, in Ordnung?“
„Mach ich. Danke“, erwiderte Manu lächelnd und stand auf. Während Torben die Teller zurück zur Essensausgabe brachte, machte er sich auf den Weg aus dem Speisesaal. Aus dem Korb am Eingang, der mit den übrigen Brezen vom Morgen gefüllt war, nahm er sich zwei mit, das würde niemanden misstrauisch machen. Danach ging er zurück zu seiner Kabine. Er traf mehrere Matrosen, die aus der Richtung der Frachträume kamen, aber keiner von ihnen war Lagerarbeiter. Fast war er ein wenig enttäuscht, denn er hätte gern gewusst, ob außer ihm noch jemand die Harpyie entdeckt hatte. Aber gerade dieser Gruppe von Matrosen wollte er auf keinen Fall davon erzählen. Es handelte sich um eine Gruppe von sechs hochgewachsenen und durchtrainierten Männern, die alle einen militärischen Hintergrund hatten. Sie waren nicht direkt unfreundlich, aber Manu empfand sie als grob und ihr Humor war zeitweise eher makaber. Hauptsächlich waren sie auf der Brücke der Donau eingesetzt, wo sie ihre Befehle direkt vom Kapitän erhielten. Manu wollte sich nicht vorstellen, wie sie auf die Harpyie reagieren würden.
In seiner Kabine angekommen ging er direkt zu seinem Spind und holte eine Thermosflasche, sowie eine metallene Brotdose heraus. Er brach die zwei Brezen in passende Stücke, sodass sie in die Dose passten und verließ danach die Kabine mit der Thermosflasche in Richtung des Waschraums. Als er die Tür öffnete hörte er im hinteren Teil Wasserplätschern, doch vorne bei den Toiletten und den Waschbecken war niemand. Sorgfältig wusch Manu die metallene Flasche aus, bevor er sie mit frischem Wasser füllte.
„Willst du einen Ausflug machen?“, sprach ihn plötzlich jemand an und er drehte sich erschrocken um. Neben ihm stand Marcel, mit einem grauen Bademantel bekleidet, der sich gerade mit einem Handtuch die schulterlangen, schwarzen Haare trocknete.
„Nein, wie kommst du darauf?“, erwiderte Manu verwirrt, weil er nicht verstand, worauf Marcel hinaus wollte. Dieser zuckte mit den Schultern, als er meinte: „Naja, warum sonst solltest du deine Thermosflasche so gründlich ausspülen?“
„Ach so, das meinst du. Naja, ich dachte mir, ich sollte sie wieder mal sauber machen. Und öfter benutzen, gerade jetzt wo's Sommer wird“, versuchte er sich an einer halbwegs glaubwürdigen Erklärung.
„Wenn du es sagst“, kam nur von Marcel, als dieser den Waschraum verließ. Manu atmete kurz durch und war dankbar dafür, dass sein Kamerad nicht neugierig war. Bevor noch andere Leute ihm Fragen stellen konnten, verließ er ebenfalls den Waschraum und schnappte sich die Brotdose aus seiner Kabine.
„Jetzt muss ich es nur ungesehen zu Frachtraum zwei schaffen“, dachte er, während die Tür hinter ihm zufiel.
Wenige Minuten später schloss Manu die Tür vom Frachtraum so leise wie möglich hinter sich. Zu seiner Überraschung war er niemandem auf dem Weg begegnet, denn die zweite Arbeitsschicht des Tages hatte angefangen, sodass ein Teil der Matrosen gerade bei der Arbeit war. Die anderen Matrosen aus seiner Schicht hatten sich wahrscheinlich auf dem Oberdeck getroffen oder schliefen in ihren Kabinen, vielleicht saßen sie aber auch noch redend im Speisesaal. Manu selbst verbrachte seine Nachmittag sonst meist ebenfalls auf dem Oberdeck und genoss die Aussicht. Auch nach drei Jahren an Bord, war er immer noch begeistert und fasziniert von der Tatsache durch die Luft zu reisen.
Manu öffnete wieder das runde Fenster in der Nähe der Tür und stellte Box und Flasche auf den Boden. Danach griff er zur Lampe, entzündete sie und nachdem er sich die Box unter den Arm geklemmt hatte und die Flasche in der anderen Hand hielt, machte er sich auf den Weg durch den Frachtraum. Er war weiterhin vorsichtig und lauschte nach Geräuschen, doch abseits des allgegenwärtigen Motorenbrummens konnte er nichts hören. Vorsichtig spähte er um die letzte Kiste, die seinen Blick zu dem abgeschlossenen Käfig versperrte. Die Harpyie lag zusammengekrümmt auf der Seite, eine Position, die für Manu nicht nur unbequem wirkte, sondern auch für sie schwierig zu ändern schien, waren doch ihre Arme immer noch am Körper fixiert. Als Manus Schritte sich näherten, regte sich die Harpyie und bewegte den Kopf ein wenig. Er versuchte sich so zu nähern, dass sie ihn sehen konnte, weil er sie nicht unnötig erschrecken wollte. Die Krallen kratzten über den Metallboden, als sie versuchte sich aufzurichten, doch sie gab es nach wenigen Versuchen auf und blieb liegen. Ihr gegenüber stellte Manu außerhalb des Käfigs die Lampe auf dem Boden; daneben legte er die Metallbox. Er setzte sich im Schneidersitz hin, die Thermosflasche in der Hand.
Während er den Deckel von der Metallflasche schraubte, fragte er: „Hast du Durst?“
Es dauerte einige Augenblicke, bis die Harpyie darauf reagierte und Manu hoffte, dass sie nur von dem Angebot zu überrascht war. Sie hob den Kopf und nickte, woraufhin er den Deckel der Thermosflasche, der als Becher diente, mit Wasser füllte.
„In Ordnung“, erwiderte er, als er um den Käfig herumging, bis er bei ihr angekommen war. Das Licht der Lampe reichte nicht weit genug, sodass er nur im Halbdunkeln die Fesseln betrachten konnte. Er hatte vermeiden wollen mit einem Messer zu arbeiten, aber die Knoten machten einen gut gebundenen Eindruck. Die würde er nicht so leicht lösen können und Zeit wollte er damit auch nicht vergeuden. Manu griff in seine Hosentasche und holte sein Taschenmesser hervor.
„Bitte nicht bewegen, ich schneide das Tuch durch“, sagte er, als er durch die Stäbe griff. Glücklicherweise lag sie nah genug, sodass er sie gerade noch erreichen konnte. Vorsichtig führte er das Messer zwischen den Stoff und den Haaren der Harpyie. Es dauerte mehrere Momente, bis sich die scharfe Klinge durch den groben Stoff geschnitten hatte, doch schließlich war auch die letzte Faser durchtrennt und das Tuch glitt zu Boden. Erleichterte atmete Manu aus, als er das Messer wieder wegsteckte.
„Ich helf dir, warte kurz“, meinte er leise bevor er seine Hand zwischen ihren Arm und den Metallboden schob. Mit weniger Anstrengung als er vermutet hatte, schaffte er es, ihren Oberkörper anzuheben, sodass sie sich aus eigener Kraft aufsetzen konnte. Mit kratzenden Krallen und dem Klirren der Kette rutschte sie zurück und lehnte sich an die Eisenstäbe, was Manu vor Überraschung zurückweichen ließ. Er hörte, wie sie mehrere Male tief ein- und ausatmete.
In der Zwischenzeit nahm er den Becher auf und steckte ihn zwischen die Stäbe. Sie bemerkte die Bewegung, drehte schnell den Kopf und betrachtete den Metallbecher eine Weile. Auf Manu wirkte sie skeptisch und er überlegte bereits, wie er sie zum Trinken ermutigen sollte, als die kurze Distanz überwand und ihre Lippen an den Rand des Bechers legte. Vorsichtig kippte er den Becher, den sie gierig leerte.
„Noch mehr?“, fragte er lächelnd, woraufhin sie nickte. Manu lief zurück zu seiner Lampe und holte die Thermosflasche. Er füllte den Becher erneut, den die Harpyie wieder vollständig austrank, dieses Mal ein wenig langsamer.
„Fühlst du dich besser?“, wollte er wissen, als er den Becher wieder auf die Flasche schraubte. Sie nickte, vermied aber ihn anzusehen. Manu griff wieder nach seinem Taschenmesser und ließ die Klinge aufschnappen. Obwohl er nicht geplant hatte, sie von ihren Fesseln zu befreien, konnte er den Anblick schließlich nicht mehr ertragen. Es war schon schlimm genug, dass sie in einem Käfig mit einer Kette um den Hals saß, aber zu sehen, wie die dicken Seile ihr die weiß-grauen Flügel an den Körper pressten wollte er nicht mehr dulden.
„Halt kurz still, ich schneid die Seile durch“, sagte er und griff wieder durch die Metallstäbe. Die Harpyie schien wie erstarrt, während er mit seinem Messer am ersten Seil herum sägte, das Oberarme und Flügel an ihren Körper fixierte. Mit einem kurzen Schnalzen durchtrennte die Klinge schließlich das grobe Seil. Manu ging direkt zum nächsten über, welches mit demselben Geräusch zerschnitten wurde. Ganz auf das Schneiden konzentriert, bemerkte er nicht, wie sich die Harpyie anspannte. Das letzte Seil befand sich auf Höhe ihres Bauches und Manu musste sich herunterbeugen, um es in dem Halbdunkel zumindest ein wenig erkennen zu können. Als auch dieser Strick endlich durchtrennt war, setzte Manu sich seufzend auf.
„Geschafft“, sagte er erleichtert und ließ die Klinge seines Taschenmessers wieder einschnappen. Er steckte es gerade wieder in seine Hosentasche, als die Harpyie sich vor ihm plötzlich erhob und eilig von ihm weg stolperte. Sie schaffte nur wenige Schritte, bevor sie nach vorn fiel und die Hände zu Hilfe nehmen musste, um auf allen Vieren weiter zu krabbeln. Die Kette um ihren Hals klirrte und ihre Krallen kratzten hektisch über den Metallboden. Bei dem Ring angekommen, an dem ihre Kette befestigt war, hielt sie inne und ging in die Hocke. Schwer atmend und mit leicht geöffneten Flügeln drehte sie sich zu ihm um.
Manu brauchte einige Momente, in denen er sie einfach nur mit offenem Mund anstarrte. Sie war von kleiner, zierlicher Statur, aber durch ihre Flügel wirkte sie trotz ihres erschöpften Zustandes kampfbereit und er wollte ihre Krallen lieber nicht zu spüren bekommen. Er schaffte es schließlich seinen Mund zu schließen und aufzustehen. Mit der Thermosflasche in der Hand, ging er um den Käfig herum und zurück zur Lampe. Die Harpyie folgte ihm erst nur mit dem Kopf, drehte sich aber doch zu ihm um. Manu setzte sich neben die Lampe im Schneidersitz auf den Boden, öffnete die Metallbox und nahm ein Stück Breze heraus. Durch die Metallstäbe hielt er es ihr entgegen: „Hier für dich.“
Es dauerte eine Weile, bis sie sich zögerlich und gebeugt näherte. Eine Armlänge von seiner Hand entfernt verharrte sie, schnappte sich schnell das Brezenstück und machte zwei Schritte zurück um außer Reichweite zu sein. Manu beobachtete, wie die Harpyie einen kleinen Bissen zum Kosten nahm, bevor sie eilige den Rest aß.
„Schmeckt's dir?“, fragte er grinsend. „Ich hab noch mehr, du kannst so viel haben, wie du möchtest.“ Er nahm die Metallbox, die gerade so breit war, dass sie zwischen die Metallstäbe hindurch passte. Kauend schaute sie von ihm zu der gefüllten Box und wieder zu ihm. Erneut näherte sie sich vorsichtig, blieb allerdings dieses Mal bei der Metallbox hocken und nahm ein Brezenstück nach dem anderen heraus. Vorsorglich füllte Manu wieder den Deckel der Thermosflasche mit Wasser und stellte diesen ebenfalls dazu. Ihn selbst machte es immer sehr durstig, wenn er Brezen aß, deshalb nahm er an, dass es ihr vielleicht ähnlich ergehen würde. Tatsächlich griff sie nach einer Weile nach dem Becher und trank einige Schlucke.
Manu konnte gar nicht sagen, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Die Angst hier entdeckt zu werden war weit in den Hintergrund gerückt, dafür war er von der Harpyie zu fasziniert. Während er ihr beim Essen zusah beschäftigte ihn immer wieder die Frage, wer sie hierher gebracht hatte und zu welchem Zweck.
Existierte etwa ein Schwarzmarkt für Fabelwesen? Gab es Jäger, die sich darauf spezialisiert hatten? Besonders verstörte ihn aber die Tatsache, dass es unweigerlich jemand von dieser Mannschaft war, der die Harpyie hier versteckt hatte. Von niemandem konnte er es sich vorstellen, selbst diejenigen, die er nicht mochte, hatten auf ihn niemals einen so durchtriebenen Eindruck gemacht. Er war immer stolz darauf gewesen, dass er auf der Donau als Matrose leben und arbeiten durfte, einem der Handelsschiffe mit dem besten Ruf in diesem Land. Doch jetzt war er sich nicht mehr so sicher, ob er sich hier noch wohlfühlte.
Das Geräusch von Metall auf Metall holte ihn aus seinen Gedanken, als die Harpyie den Becher und die Box in seine Richtung schob. Beide waren leer.
„Fühlst du dich besser?“, fragte er, als er die beiden Dinge auf seine Seite der Metallstäbe holte. Sie nickte lächelnd, dabei bewegte sie ihre Flügel ein wenig. Manu fiel auf, dass sie entspannter wirkte und ihn interessiert ansah. Er drehte den Deckel auf die Thermosflasche und sagte: „Wie heißt du?“
Es folgte ein Stille, die ihn fast davon überzeugt hätte, dass die Harpyie gar nicht sprechen konnte. Doch er konnte sehen, dass sie scheinbar nach den richtigen Wörtern suchte. Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder und zögerte. Manu überlegte schon, ob er sich zuerst vorstellen sollte, als die Harpyie etwas sagte.
„Echo“, kam es schließlich aus ihrem Mund. Sie schien über die Silben zu stolpern, was ihn spekulieren ließ, dass seine Sprache für sie vielleicht schwierig auszusprechen war.
„Ein schöner Name“, erwiderte er lächelnd. „Ich heiße Manuel, aber du kannst mich Manu nennen.“ Echo nickte verstehend und fragte: „Du neuer Käufer?“
„Käufer?“, erwiderte er verwirrt. „Wie kommst du darauf?“
„Kein Käufer?“, hakte sie enttäuscht nach, worauf Manu den Kopf schüttelte.
„Wer ist dein jetziger Käufer? Wer hat dich hierher gebracht?“
„Großer Mann“, brachte sie hervor. Bei der Art, wie sie die Silben betonte, hörte sich Manus Muttersprache wie ein fremder Dialekt an.
„Ist Kapitän“, fügte sie hinzu. Die Worte hallten in seinem Kopf nach und er weigerte sich, das zu glauben.
„Bist du sicher?“, hakte er mit skeptischer Stimme nach. Echo zuckte zusammen, tat einen Schritt zurück und entfaltete ihre Flügel ein wenig.
„Ja“, erwiderte sie leise. Manu konnte es immer noch nicht fassen, aber er wusste auch, dass sie keinen Grund hätte ihn zu belügen. So viele Fragen tauchten in seinem Kopf auf, dass er sich nicht entscheiden konnte, welche er zuerst stellen sollte. Auch wenn er nicht wusste, ob Echo ihm überhaupt weitere Antworten geben konnte, immerhin war sie hier eingesperrt. Er öffnete den Mund, da er sich schließlich für eine Frage entschieden hatte, als die elektrischen Lampen an der Decke des Frachtraums plötzlich leuchteten.
„Verflixt“, fluchte er und konnte schwere Schritte hören. Er pustete das Feuer der Lampe aus und schlüpfte so schnell wie möglich aus seinen Stiefeln, bevor er sich die Thermosflasche und die Brotbox unter den rechten Arm klemmte. Mit der linken Hand hob er die Schnürsenkel seiner Stiefel und die Lampe auf. Nur mit Socken an den Füßen lief er zu einer Ansammlung von Kisten und quetschte sich zwischen zwei mannshohe Holzboxen. Mit klopfendem Herzen stand er vor Anspannung zitternd da und konnte nur hoffen, dass Echo ihn nicht verraten würde.
Die schweren Schritte kamen immer näher, bis sie schließlich stoppten. Echos Kette klirrte und Manu hörte, wie ihre Krallen über den Metallboden kratzten.
„Was zum Henker?“, erklang plötzlich eine tiefe Stimme, die Manu sofort erkannte. „Wie konntest du dich von deinen Fesseln befreien? Verflixte Harpyie!“ Wieder hörte er die schweren Schritte, das Knacken eines Schlosses und ein unbekanntes Quietschen. Vorsichtig linste er an der Holzkiste vorbei. Kapitän Zeppelin hatte die Tür zu Echos Käfig geöffnet. Sie hatte sich in den hinteren Teil geflüchtet, so weit wie möglich weg von der Tür und vom Kapitän.
Manu sah, wie Zeppelin ein paar Schritte auf Echo zuging, bevor er stehen blieb und sich nach unten beugte. Um mehr zu erkennen, war Manu zu weit weg, hörte aber erneut das Klirren einer Eisenkette und sah, wie Echo ruckartig nach vorn gezogen wurde. Verzweifelt stemmte sie sich dagegen, versuchte in dem engen Raum mit ihren Flügeln zu schlagen, doch sie kam dem Kapitän immer näher.
„Er zieht sie an der Kette zu sich!“, verstand Manu schließlich die Situation. Als sie nur noch wenige Schritte von Zeppelin entfernt war, hörte er einen kurzen Falkenschrei, der ihn zusammenzucken ließ. Echos Schrei erstarb jedoch sogleich, als sie grob nach vorn gerissen wurde, das Gleichgewicht verlor und auf dem Boden landete.
„Noch ein Mucks und ich schneid dir die Zunge raus“, drohte der Kapitän laut genug, dass Manu es hörten konnte. „Deine Stimme hat auf deinen Kaufpreis keine Auswirkung, also hindert mich nichts daran.“ Zeppelin ging in die Knie und hantierte am Boden herum. Nach einigen Augenblicken stand er wieder auf. Da Manu vermutete, dass der Kapitän jetzt gehen würde, versteckte er sich wieder. Es vergingen mehrere Minuten, in denen er nicht sehen konnte, was geschah, nur die Schritte Zeppelins zeigten an, dass er noch da war. Schließlich quietschte die Tür, erneut knackte das Vorhängeschloss und das Geräusch der Stiefel wurde leiser. Manu wartete weiterhin, bis plötzlich das Licht ausging und er nichts mehr sah. Seufzend entspannte er sich und trat vorsichtig aus dem Spalt zwischen den beiden Holzkisten. In seinen Taschen suchte er nach der Streichholzschachtel, die er sich vor mehreren Wochen mal von Torben geliehen und doch nie gebraucht hatte. Jetzt wäre sie seine Rettung. Er fand die kleine Pappschachtel schließlich in der Seitentasche an seinem linken Hosenbein.
Einen Augenblick später brannte die Petroleumlampe wieder, wenn auch nicht mehr lang, wie Manu feststellen musste. Eilig schlüpfte er in seine Stiefel und lief zu Echo. Sie lag regungslos am Boden.
„Echo?“, fragte Manu leise, als er bei dem Käfig angekommen war. „Bist du in Ordnung?“
Langsam hob sie den Kopf und stemmte sich mit den Armen vom Boden ab. Er sah, dass die Kette bereits gespannt war, was es Echo nicht möglich machte sich weiter aufzurichten, schon gar nicht aufzustehen.
In diesem Moment musste Manu sich entscheiden.
„Ich hol dich da raus. In zwei Tagen sind wir im nächsten Hafen und dann …“ Er brach ab, als ihm bewusst wurde, dass er keine Ahnung hatte, wie er vorgehen sollte. In zwei Tagen konnte noch viel passieren. Es kam ihm einerseits zu lang und andererseits zu kurz vor. Echos Blick konnte er nicht deuten. Glaubte sie ihm? Oder dachte sie, dass er log?
„Ich weiß, du hast keinen Grund mir zu glauben, aber ... ich werd's dir beweisen“, sagte er schließlich mit so viel Überzeugungskraft, wie er konnte, trotz der nagenden Zweifel in seinem Kopf. „Ich muss jetzt los, aber morgen komm ich wieder.“
Echo legte ihren Kopf auf den Metallboden und schloss die Augen. In Manu wechselten sich Wut und Enttäuschung ab und er wünschte sich, dass sie noch etwas sagen würde. Aber sie schwieg, obwohl er noch mehrere Augenblicke mit der Petroleumlampe in der Hand vor dem Käfig stand. Schließlich wandte er sich ab und ging, als er bemerkte, dass die Leuchtkraft der Lampe langsam abnahm.
„Ich kann es ihr nicht verübeln“, ging es ihm auf dem Rückweg durch den Kopf. „Warum sollte sie mir vertrauen? Sie kennt mich nicht länger als den Kapitän.“
Zu seiner Überraschung fand er das Fenster neben der Tür des Frachtraums weiterhin geöffnet. Zeppelin schien es nicht bemerkt zu haben. Manu schloss es, löschte die Lampe und nahm sie mit nach draußen. Petroleum konnte er im Maschinenraum erhalten, das würde auch weniger auffallen. Vorsichtig öffnete er die Tür und lauschte einige Momente, bevor er sich nach draußen wagte. Er ging direkt zu seiner Kabine, damit er die Brotbox und die Thermosflasche loswerden konnte. Dort angekommen wunderte er sich, dass Torben nicht da war.
„Ist es vielleicht schon Zeit fürs Abendessen?“, fragte er sich. Als er mit der Lampe wieder hinaus auf den Gang trat, blickte er auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits 18 Uhr war. Er beschloss, dass er sich zuerst um das Petroleum kümmerte und danach in den Speisesaal gehen würde.
Im Maschinenraum schenkte ihm keiner Beachtung, obwohl es gar nicht seine Schicht war. Doch die meisten Matrosen waren zu beschäftigt und alle, die es offenbar nicht waren, schienen sich nicht darüber zu wundern. Das Petroleum wurde in kleinen Metallfässern in einem Stahlschrank aufbewahrt. Das Nachfüllen ging schnell, obwohl Manu aufpassen musste nichts zu verschütten. Als die Lampe wieder gefüllt und damit einsatzbereit war, verließ er den Maschinenraum. Er überlegte einige Momente, ob er die Lampe gleich zurück in den Frachtraum bringen sollte oder sie auf dem Weg dorthin abstellen. Aber sollte jemand auf die Lampe stoßen konnte es sein, dass diese verschwinden würde und das konnte Manu sich nicht leisten. Also lief er zurück zu Frachtraum zwei, hing die Lampe wieder an ihren Haken und ging von dort direkt zum Speisesaal. Der Raum war gefüllt mit den Stimmen der Matrosen und dem Geräusch von Besteck auf Tellern.
Es gab Lasagne, was einem Festtagsessen gleich kam, denn nur selten machten sich die Matrosen beim Küchendienst die Mühe so etwas Aufwendiges zu kochen. Die Stimmung in der Küche musste also besonders gut sein. Im Speisesaal war sie es jedenfalls. Von einer Gruppe von Matrosen erklang heftiges Gelächter. Als Manu mit seinem gefüllten Tablett überlegte, wo er sich hinsetzen sollte, stand plötzlich Torben neben ihm. Sein Zimmerkollege bedeutete ihm zu folgen und Manu ging hinterher, bis sie zu einem Tisch in der Nähe der lachenden Gruppe kamen, wo bereits Torbens Tablett stand.
„Ich hab dich seit Stunden nicht gesehen, hab mir wirklich Sorgen gemacht“, begann Torben sofort das Gespräch, als Manu sich gerade erst hingesetzt hatte. „Wie lief’s?“
„Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen sollte“, meinte er leise, als er sich eine Gabel Lasagne in den Mund schob.
„Warum nicht?“, wollte sein Kamerad verwundert wissen, als er mit seinem Messer das Gericht auf seinem Teller bearbeitete. Am liebsten wäre es Manu gewesen, dass er erstmal hätte essen können, bevor er Torbens Fragen beantworten musste. Seine Stimmung war ohnehin gedrückt und er wollte zumindest das seltene Ereignis einer Lasagne genießen. Aber so wie Torben ihn kauend ansah, wusste Manu, dass er keine Wahl hatte.
„Ich weiß, warum die Harpyie hier ist“, antwortete er leise, während er auf seinen Teller sah.
„Ernsthaft? Das ging ja schnell“, erwiderte Torben verwundert. „Hat sie es dir gesagt?“
„Nicht ganz“, sagte Manu. „Ich sag's dir, aber du darfst jetzt nicht laut werden, in Ordnung?“
„Alles klar“, flüsterte sein Zimmerkollege, dabei steckte er sich demonstrativ ein großes Stück der Lasagne in den Mund.
„Der Käpt'n war da und hat nach der Harpyie gesehen.“
Torben zuckte zusammen, erstarrte in der Bewegung und sah ihn entsetzt an. Manu war froh, dass Torbens Mund voll war und er diesen geschlossen hielt. Als der Matrose schließlich wieder anfing zu kauen, fuhr Manu leise fort: „Ja, hat mich auch überrascht. Und jetzt weiß ich noch weniger als vorher was ich machen soll.“
„Hat er dich nicht gesehen?“, fragte Torben nachdem er geschluckt hatte, woraufhin Manu den Kopf schüttelte.
„So blöd bin ich nun auch wieder nicht.“
„Und, was hat er gemacht?“
Am liebsten hätte er diese Frage überhört. Er wollte die Situation nicht noch einmal wiederholen, die ihn jeden Respekt vor dem Kapitän gekostet hatte.
„Erzähl ich dir später“, raunte er und schob sich eine weitere gehäufte Gabel in den Mund. Sein konsequenter Blick auf den Teller vor sich zeigte seinem Zimmerkollegen, dass er nicht in der Stimmung war die Sache zu vertiefen. Torbens Blick spürte er noch eine Weile, aber er ignorierte ihn und hörte schließlich auch wieder das klassische Schaben von Metall auf Keramik, als sein Gegenüber weiter aß. Die Stille zwischen ihnen war nicht angenehm, aber Manu blendete es so gut es ging aus. Ab und an griff er zu dem Metallbecher Wasser neben sich um einen Schluck zu trinken. Ihre Teller waren schließlich geleert und beide Matrosen standen auf um ihr Geschirr zurück zu bringen. Schweigend gingen sie nebeneinander zu ihrer Kabine. Als sich die Tür hinter den beiden schloss, atmete Manu erleichtert durch, während Torben sich mit verschränkten Armen auf sein Bett setzte.
„Also?“, begann sein Kamerad fragend.
„In Ordnung“, erwiderte Manu seufzend, „ich erzähl's dir, aber mach mich nicht dafür verantwortlich, wenn ich dein Weltbild damit zerstöre.“
„So schlimm?“, entgegnete Torben verwirrt, während sein Gegenüber sich gegen die Wand lehnte. Manu ging nicht darauf ein, sondern fuhr fort: „Zeppelin will die Harpyie verkaufen.“
„Das ist nicht dein Ernst, oder? Jetzt verarscht du mich!“, entkam es seinem Kameraden in einer Mischung aus Entsetzen und Unglaube.
„Seh’ ich so aus?“, sagte er ernst, verschränkte die Arme vor der Brust und Torben schüttelte darauf langsam den Kopf. „Ich vermute, er wird sie auch gekauft haben. Was bedeuten würde, dass unser Kapitän nicht nur seine eigene Regel bricht, keine lebende Fracht zu transportieren, sondern Lebewesen schmuggelt.“
„Alter“, hauchte Torben, „was glaubst du, wie lang das schon laufen könnte?“
„Wer weiß?“, erwiderte Manu schulterzuckend. „Theoretisch könnte er gleich nach dem Desaster mit den beiden Pfauen damit angefangen haben. Vielleicht ist die Harpyie auch sein erster Schmuggel. Es ist mir absolut egal, wie lang er das schon macht. Wenn er es schon länger macht, dann wundere ich mich, wie all diese Lebewesen überhaupt überleben konnten. Er hatte nicht einmal Wasser für sie dabei!“ Bei seinem letzten Satz musste er sich dazu zwingen nicht zu laut zu sprechen. Natürlich hatte es keinen Sinn Torben anzuschreien, aber er war immer noch geschockt von dem, was er gesehen hatte. Der Schmuggel war dabei nicht einmal das Schlimmste für ihn. Sicherlich war es ein Verbrechen und er wollte sich gar nicht ausmalen, woher Echo kam und wohin sie gebracht werden würde. Doch die Tatsache, dass Zeppelin sich nicht mehr um die Harpyie kümmerte als um eine Kiste voller Maschinenteile machte Manu unbeschreiblich wütend. Ohne Versorgung würde sie genauso in dem Frachtraum sterben wie die beiden Pfaue.
„Was für ein Mistkerl“, fluchte Torben leise. „Wenn er schon dreckige Geschäfte machen muss, kann er sich wenigstens anständig um seine Fracht kümmern.“
„Ich muss sie da rausholen“, sprach Manu weiter, ohne auf seinen Zimmerkollegen einzugehen. „Ich kann eh nicht mehr hierbleiben.“
„Meinst du es bringt was, wenn wir uns an Adler wenden? Oder Merten?“, fragte Torben, doch sein Gegenüber zuckte nur mit den Schultern.
„Keine Ahnung, ob die nicht genauso dran beteiligt sind. Nur weil sie nicht dort auftauchen, heißt es nicht, dass sie nicht doch was damit zu tun haben.“
„Ich arbeite schon lang mit Adler und kenne seinen Standpunkt. Er war schon immer gegen lebende Fracht, weil die Donau dafür einfach nicht ausgelegt ist. Die Frachträume sind zu dunkel, es gibt zu wenig Frischluft und der ganze Aufbau ist einfach nur für verpackte Fracht gebaut worden. Er sagt auch immer, dass das der Grund ist, warum wir keine Passagiere mitnehmen, weil die Donau ein Handelsschiff ist und kein Vergnügungskreuzer“, erzählte Torben. Manu hätte ihm gerne geglaubt und er zweifelte auch nicht daran, dass sein Kamerad genau das sagte, was er wusste. Aber ob das tatsächlich der Wahrheit entsprach oder nicht, konnte er nicht einschätzen.
Seufzend begann er seine Arbeitskleidung auszuziehen und in etwas Bequemeres zu schlüpfen. Es war zwar noch nicht sehr spät, aber er war müde und wollte nur noch ins Bett. Torben tat es ihm gleich und wenige Minuten später lagen beide auf ihren Matratzen. Während sein Zimmerkollege noch ein wenig beim Schein einer Petroleumlampe las, drehte Manu sich im Bett darüber auf eine Seite, schloss die Augen und hoffte bald einzuschlafen.
Sein Kopf arbeitete noch einige Zeit, doch schließlich übermannte ihn der Schlaf, wenn auch nur ein leichter. Er erwachte einige Stunden später durch die Geräusche, die Torben beim Aufstehen machte, sodass sie gemeinsam zu ihrer Schicht im Maschinenraum erschienen. Eine hochgezogene Augenbraue war alles, was der Chefingenieur an Verwunderung zeigte und teilte den beiden schon zu Beginn spezielle Aufgaben zu. Manu verbrachte schließlich seine gesamte Arbeitszeit damit Zahnräder auszumessen und Modelle aufzuzeichnen. Keine besonders spannende Aufgabe, aber sie hielt ihn beschäftigt genug, dass die Schicht sich merkwürdig kurzweilig anfühlte. Die Frühstückspause ließ er dieses Mal nicht ausfallen, sagte aber wenig. Torbens Gesprächsansätze ließ Manu entweder unkommentiert oder antwortete so knapp, dass sein Gegenüber darauf nichts erwidern konnte. Schließlich gab sein Kamerad es auf, was ihm nur recht war.
Gedanklich beschäftigte sich Manu damit, wie er Echo aus dem Käfig holen sollte. An den Schlüssel für das Vorhängeschloss zu kommen war mehr als unmöglich, immerhin besaßen den nur Zeppelin, Merten und Adler und keiner von den dreien würde ihn einfach herausgeben. Es war nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt bei sich trugen oder in ihren Kabinen aufbewahrten, was einen Diebstahl für Manu zu schwierig machte, um ihn wirklich in Betracht zu ziehen. Es blieb also nur eine Möglichkeit: rohe Gewalt.
Er hatte sich bereits eine gedankliche Liste aller Werkzeuge angelegt, die er möglicherweise brauchte und war deshalb damit beschäftigt zu überlegen, wie er diese alle ungesehen zum Frachtraum bringen konnte. Ihm blieb immerhin nicht viel Zeit zum Ausprobieren. Und die Gefahr von Zeppelin entdeckt zu werden war auch nicht kleiner geworden.
Ein paar Stunden später saß er mit Torben beim Mittagessen. Es gab mal wieder Knödel, was Manu mit der momentanen Situation zwar nicht versöhnte, aber zumindest dafür sorgte, dass er Appetit bekam. Mit gut gefülltem Teller saß er kauend Torben gegenüber, der schließlich meinte: „Alles klar, was geht in deinem Kopf vor?“
„Mh?“
„Dass du bei der Frühstückspause wenig sagst, bin ich ja gewöhnt, du bist einfach kein Morgenmensch. Aber dein Blick ist schon die ganze Zeit so abwesend, als wärst du gar nicht hier“, erklärte sein Zimmerkollege und führt die Gabel zum Mund.
„Würde dir an meiner Stelle vermutlich auch so gehen“, erwiderte Manu zwischen zwei Bissen. „Immerhin muss ich herausfinden, wie ich den Käfig aufbekomme.“
„Schlüssel stehlen?“, schlug Torben achselzuckend vor, erhielt daraufhin aber ein kurzes Kopfschütteln.
„Zu riskant. Außerdem weiß ich nicht mal, ob sie die Schlüssel bei sich tragen oder in ihren Kabinen haben. Ich hab keine Zeit irgendwelche Sachen zu durchwühlen.“
„Was willst du dann machen?“
„Ich dachte, ich brech entweder das Vorhängeschloss auf oder zerstör die Gitterstäbe ... irgendwie“, sagte Manu mit gerunzelter Stirn. „Wenn ich nur wüsste, wie ich das schnell bewerkstelligen kann.“
„Da bin ich überfragt“, musste Torben zugeben. „Ich würde aber meinen, dass das Aufbrechen des Schlosses im Zweifelsfall schneller geht. So wahnsinnig schwer kann das nicht sein, immerhin hat der Lagerkäfig auch schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Das Schloss dürfte also auch etwas älter sein.“
„Aber warum hat ihn noch nie jemand aufgemacht?“, wollte Manu wissen.
„Zu viel Respekt?“, erwiderte sein Kamerad achselzuckend. „Ich kann nicht für die anderen sprechen, aber mich hat nie interessiert, was dort aufbewahrt wird. Und ich kenne auch keine Geschichte, dass es mal jemand gemacht hat.“
„Das ist auch irgendwie komisch“, murmelte er und starrte in seinen Teller. „Als hätte es auf diesem Schiff noch nie ein schwarzes Schaf gegeben …"
„Mhm, wenn du's so sagst, ist es natürlich merkwürdig“, gab Torben zu. „Ist schon sehr unrealistisch, dass es wirklich nie jemand versucht hat. Aber wir können leider nicht einfach die älteren Matrosen fragen, ob sie davon gehört haben. Oder gar wissen, wie es geht.“
„Leider“, seufzte Manu bevor er den letzten Löffel Soße in den Mund steckte. „Ich werde also einfach ein paar Dinge ausprobieren müssen.“
„Gehst du jetzt gleich?“, fragte Torben, woraufhin Manu nickte. Für einen kurzen Moment schien sein Zimmerkollege mit sich zu hadern, als wolle er sagen, dass er mitkommen würde. Doch stattdessen meinte er nur: „Viel Erfolg. Geh ruhig schon, ich bring dein Tablett weg.“
Fast hätte Manu sich dazu hinreißen lassen ihn umstimmen zu wollen, aber er wusste, dass das nicht möglich war. Torben würde ihm nicht helfen, so wie er gesagt hatte. Etwas, das Manu gerade jetzt besonders störte, denn er konnte Unterstützung gut gebrauchen. Vor allem von der einzigen Person, der er genug vertraute.
Kurze Zeit später stand er mit der gefüllten Thermosflasche und einem belegten Brot in der Brotdose vor der Tür zu Frachtraum zwei. In den Taschen seiner Arbeitshose befanden sich mehrere Werkzeuge, von denen er hoffte, dass sie ihm beim Aufbrechen des Schlosses nützlich sein würden. Er hatte sie vorhin aus einer Werkzeugkiste im Maschinenraum genommen und konnte nur hoffen, dass ihn niemand gesehen hatte. Noch ein letztes Mal lauschte er nach einem nahen Geräusch, bevor er die Tür öffnete und den Frachtraum betrat.
Echo bewegte sich nicht, als Manu sich dem Käfig näherte. Er fragte sich, ob sie vielleicht gerade schlief oder ihn willentlich ignorierte. Obwohl er nicht sagen konnte, warum, war er sich doch sicher, dass sie ihn vom Kapitän unterscheiden konnte. Aber vielleicht war sie auch einfach nur zu schwach? Ein Gedanke, der ihn nur noch mehr darin bekräftigte sein Wort zu halten und sie zu befreien.
„Hallo Echo“, grüßte er leise, als er sich vor der Käfigtür auf den Boden setzte. Es dauerte mehrere Momente, bevor die Harpyie sich rührte. Manu hatte die unangenehme Stille genutzt und die Werkzeuge aus seinen Taschen genommen, die er jetzt im Schein der Petroleumlampe auf den Boden legte.
„Was ist das?“, hörte er Echos Stimme und sah sofort auf. Sie stützte sich mit den Händen vom Boden ab, die Metallkette war stramm gespannt. Neugierig zog sie sich ein wenig nach vorn, um einen besseren Blick zu haben, doch Manu vermutete, dass sie trotzdem nicht viel erkennen konnte.
„Werkzeuge“, antwortete er lächelnd. „Ich möchte versuchen das Schloss hier aufzubrechen.“ Er griff zur Thermosflasche, schraubte den Deckel ab und füllte diesen mit Wasser.
„Hast du Durst?“
Echo nickte, woraufhin Manu aufstand und ihr den Becher durch die Stäbe rechts von ihr schob. Er war wirklich froh, dass der Käfig nicht quadratisch sondern rechteckig war. So weit wie sein Arm reichte, schob er den Metallbecher zu ihr, den sie vorsichtig mit einer Kralle näher heranzog. Genauso verfuhren sie mit der gefüllten Brotdose, sodass Echo kauend Manu dabei beobachtete, wie er das Vorhängeschloss inspizierte.
Es war relativ schwer und die Messingoberfläche bereits angelaufen. Der Bügel des Schlosses, der zwei hervorstehende Winkelösen miteinander verband, glänzte silbern. Das Schlüsselloch befand sich unten am Schloss und ließ Manus Hoffnung sinken. Er besaß kein Werkzeug, welches in den schmalen, für genau einen Schlüssel geeigneten Schlitz passen würde. Trotzdem wollte er es versuchen und stocherte mit dem kleinsten Schlitzschraubendreher in dem Schloss herum. Doch nichts bewegte sich. Auch mehr Kraft half nichts und die Tatsache, dass er nicht genug Licht hatte, machte es auch nicht einfacher. Seine Frustration steigerte sich nach einer Weile mit jedem Moment mehr, bis er schließlich entnervt seufzte und sich auf den Boden setzte.
„Es ist schwierig“, sagte Echo in die entstandene Stille. Aufgrund ihrer fremden Betonung der einzelnen Silben konnte Manu nicht erkennen, ob das eine Frage oder eine Feststellung war.