Mittlerweile ist der Begriff „Cancel Culture“ so überladen und gekapert, dass es schwer ist, darüber eine produktive Diskussion zu führen.
Aber fangen wir mal an mit der mittlerweile wohl geläufigsten Interpretation bzw. Assoziation, die Leute heutzutage haben, wenn der Begriff fällt: Es geht dann meistens um Leute, die sich bigot verhalten oder äußern, und dann dafür von vielen anderen Leuten – insbesondere eben von non-celebrities – dafür in großem Stil kritisiert werden. Viele Celebrities wie eben Künstler*innen, aber auch Konzerne, sind in gewisser Weise vom Rückhalt der Bevölkerung abhängig, denn ein großflächiger Boykott kann dazu führen, dass sie Einbußen in ihren Einnahmen erhalten. Das gibt natürlich nicht für alle Konzerne & Personen; manche sind zu groß, um boykottiert zu werden (sie verdienen oder haben bereits genug, egal wie viele Leute sich aus Prinzip entscheiden, sie nicht zu unterstützen; zB. Dave Chapelle, Trump, Prinz Andrew oder JKR.
Nun steht es aber natürlich Leuten frei, zu kritisieren und zu unterstützen, wen sie nunmal unterstützen wollen. Wenn sich eine Person als TERF geoutet hat, und man dann eben das doof findet und dann nichts mehr mit ihren Werken zu tun haben will, dann ist das halt, anders als Rechte das gerne aufmachen, keine Zensur. Leute verlieren ihre Plattform, ja, aber niemand hat das Recht auf eine Plattform, schon gar nicht wenn diese Plattform von Privatpersonen oder Konzernen zur Verfügung gestellt wird. Mit anderen Worten: Wenn Twitter oder eine Konzertveranstaltung entscheiden, dass sie Person X da nicht haben wollen, dann ist das keine Zensur, sondern einfach deren freie Entscheidung, mit wem sie assoziieren wollen und mit wem nicht. Zensur wäre es erst dann, wenn der Staat zu Twitter läuft und Twitter oder einem Konzertveranstalter sagt, dass sie Person X nicht dort plattformen dürfen, was aber in den meisten Fällen, um die es im Thema „Cancel Culture“ geht, eben nicht der Fall ist. Da geht es um Privatpersonen, die etwas nicht mehr unterstützen wollen oder es kritisieren, nicht um den Staat, daher ist jede Diskussion über „Meinungsfreiheit“ in diesem Kontext eine Nebelkerze (wie so oft).
Es sei auch nochmal genau auf den Punkt aufmerksam gemacht, dass es bei Cancelling in obigen Fällen meistens um Einnahmen von Geld geht. Eine Person wird entplattformt, wenn die Instanz, die die Plattform gibt (Publisher, Social Media Networks, Produzenten, etc) sich entscheidet, dass die Person ihr Image mehr ruiniert als es ihnen einbringt. Und manchmal passiert das eben nicht. So hat Netflix für sich ausgerechnet, dass Dave Chapelle eben ihnen mehr einbringt, als die Kritik an Chapelle ihnen schadet, deswegen erhält er von ihnen weiter eine Plattform und Geld für neue Specials (nähere Infos zum Thema Dave Chapelle insbesondere gibt es zB. in diesem Video).
Ich würde allerdings nicht so weit gehen, dass ich sagen würde, dass es „Cancel Culture“ nicht gibt. Das Phänomen, dass riesige Massen an Menschen, koordiniert oder unkoordiniert, mit wenig persönlichem Aufwand Kritik an etablierten Persönlichkeiten oder auch einfach Privatpersonen üben können, und im Anhang zu dieser Kritik auch Androhungen von Gewalt, Doxxing, und Bullying (zB. das Senden von extrem aversiven Inhalten wie Gore über DMs) & stochastischem Terror nicht weit entfernt sind, ist neu und erst mit einem wachsenden Anteil von Menschen, die aktiv in online Social Media aktiv sind, aufgekommen, und so etwas hat es derart vor Gamergate nicht gegeben – was tatsächlich so der erste wirklich globale Cancel-Angriff gewesen ist, den wir in dieser Form kennen (Nähere Informationen zum Thema Gamergate und zu konkreten „Cancelling“ Opfern).
Insofern ist der Begriff eben tatsächlich realexistent relevant; er beschreibt vielleicht nicht direkt und absichtlich, aber doch in irgendeiner Form greifbar, ein neuartiges Konzept das die Digitalisierung mit sich gebracht hat. Gleichzeitig ist der Begriff auch ein wenig irreführend, da er eine gewisse Form von Koordination und von bewusstem Entscheidung im Sinne von „Wir canceln jetzt X“ impliziert, was oft eben einfach nicht der Hintergrund ist (abgesehen von gezielten Kampagnen wie das oben benannte Gamergate). Oft sind es einfach viele Leute, die unabhängig von einander etwas kritisieren, was jemand gemacht hat, und kein koordiniertes, absichtliches Verhalten.
Ich würde auch nicht unbedingt so weit gehen zu behaupten, dass Celebrities von Canceling überwiegend keinen Schaden nehmen, oder dass es „nur in seltenen Fällen“ zu wirklichen Konsequenzen für sie kommen würde und das dann zum Anlass nehmen, „Cancel Culture“ zu trivialisieren. Die Konsequenzen hängen eben einfach sehr vom Einzelfall ab, und von was für einer Gruppe die gecancelte Person abhängig ist. Trump lässt sich beispielsweise eben einfach nicht canceln, weil seine Folgschaft jegliches Verhalten seinerseits einfach akzeptiert und unterstützt. Jemand, dessen Folgschaft andere Standards hat, lässt sich dann aber eben schon „canceln“. (Wobei, der Fairness halber sei gesagt, dass sich Trump schon canceln ließe, wenn er z.B. öffentlich White Suppremacy, Proud Boys, Oathkeepers oder andere Anteile seiner Plattform verurteilen würde, weshalb er das natürlich eben auch nie tun wird.)
Gleichzeitig passiert „Canceling“, bzw. zumindest etwas, das als solches oft bezeichnet wird, eben auch bei Personen öffentlichen Lebens, die keine super große Plattform haben, sondern zB. eben nur ein paar zehntausend oder hunderttausend Followers. Im Bereich des Bread-Tubes habe ich bereits des öfteren von Canceling gehört, das fürchte ich dann doch sehr real ist (Hier sind drei Videos von drei unterschiedlichen Youtuberinnen, die sich alle drei mit diesem Konzept befassen, weil es ihnen u.a. selbst passiert ist: Philosophy Tube, Contra Points, Lindsay Ellis). Gerade diese Berichterstattungen sind teilweise sehr erschütternd und zeigen, wie schnell sich Leute von einer Mob-Mentalität zu schädlichem und unreflektierten Verhalten bewegen lassen können, und das eben auch in sehr linken Szenen, obwohl viele annehmen würden, dass das quasi blinde Anprangern von Leuten von Leuten halt eigentlich nicht dem Anspruch der linken Szene entsprechen sollte. Versteht mich nicht falsch; in den Fällen, in denen diese 3 Personen bzw. Channels „gecancelt“ wurden, haben es die Betroffenen halt immer noch ziemlich gut überwunden. Im Sinne von: Das Cancelling hat ihr Image beschädigt, aber, soweit ich weiß, nicht ihre Fähigkeit, einen Lebenshaushalt zu erwirtschaften, und alle drei sind auch immer noch öffentlich aktiv bzw. könnten es sein, wenn sie wollten. Das „Cancelling“ ist also auch in diesem Fall nicht wirklich ein „Cancelling“ im eigentlichen Sinne des Wortes (ohne dabei die horrenden Taten kleinreden zu wollen, die in diesem Rahmen begangen wurden; letztendlich, und dessen sind sich diese drei Personen auch bewusst, profitieren sie auch alle von White Privilege und davon, in Industriestaaten zu leben).
Gerade im Zuge der Mobs möchte ich dann aber auch noch darauf hinweisen, dass es heutzutage auch nicht mehr ganz so einfach ist, einen Internet-Mob tatsächlich eins zu eins einem realen Gefühl einer Gruppe der Gesellschaft zuzuordnen. In vielen Fällen werden Botnets benutzt, um z.B. auf Twitter Hashtags zu popularisieren, die dann vonn der Öffentlichkeit als eine reale Bewegung wahrgenommen werden und Leute dann wiederum davon überzeugen, dass sie darüber auch entrüstet sein müssen. So ist erst jüngst im Amber Heard Trial eine Troll-Kampagne mit Bots gegen sie geführt worden, was großflächig zum Anti-Amber-Sentiment beigetragen hat, was dann u.a. so aussieht:
(Hier nachzulesen in einem Bericht)
Ähnliche Psy-Ops hat es auch schon seit Gamergate gegeben, wurden genutzt um Trump zu unterstützen, werden von TERFs verwendet um TERF-Ideologie in die Trends zu bekommen und werden auch von Staaten für Propaganda verwendet (z.B. momentan, um die Sanktionen an Russland zu kritisieren und Pro-Putin Gedankengut zu streuen).
Insgesamt muss ich daher sagen: Ich finde Verharmlosungen des Begriffs „Cancel Culture“, die so tun, als gäbe es das gar nicht, sehr schwierig, weil es das dann eben irgendwie doch in gewisser Weise gibt und dieser Aspekt durch die Reduktion verloren geht. Andererseits ist „Cancel Culture“ als Begrifflichkeit in der Form, wie es von den Reaktionären gekapert und auf eine Schiene mit Zensur gelegt wird, halt eben auch wirklich ein Strohmann, der mit der Realität nichts zu tun hat.