mariko: Richtig, mit dem Vorschautext hast du recht. Da ist der Bezug nicht eindeutig. Ich führe alle Personen auf und zwar in einer Form von solchen Beziehungen. Ehrlich gesagt halte ich nicht viel von Steckbriefen. Ich charaktirisiere meine Personen in meiner Geschichte, nicht durch einen Steckbrief vorher. Wenn ich explizit meinen Lesern erkkären muss, welche Charaktereigenschaften eine Figur hat, dann mache ich irgendetwas beim Schreiben falsch. (Ist nur meine persönliche Meinung. Außerdem wäre es bei der Anzahl an Charakteren bei mir nicht sinnvoll.) Die Karte ist selbst erstellt, allerdings ist es nur ein kleiner Ausschnitt aus der großen Weltkarte, weil diese zu groß fürs Bisaboard ist.
Übrigens hat sich im Glossar und im Personenverzeichnis ordentlich was getan.
Kapitel 1
Trivial, März 408
Silvio Gacest, Herzog von Clarae, an Alejandro Gacest, seinen geliebten Sohn, Grüße. Es ist ein Tag großer Trauer im Reich. Am neunten Tag des Märzes fielen seine Gnaden, unser erhabener Kaiser Friedrich VI. aus dem Hause Sejer, bei der Jagd vom Pferd. Unglücklicherweise verletzte er sich dabei schwer und fiel in ein Siechtum. Drei Tage danach starb der Monarch in seinem Bett in der Hauptstadt. Man könnte fast meinen, es sei ein Akt der Gnade der Dreizehn gewesen, ihn endlich sterben zu lassen. Die Qualen, die der arme Herrscher durchlitt, sind mit Worten nicht zu beschreiben. Ich möchte, dass du an meinem Hofe eine Trauerfeier für den verstorbenen Kaiser durchführst. Anschließend wirst du nach Selio reisen, wo momentan Enzo Loyd, Sir Enzo Loyd sollte ich wohl sagen, denn er wurde jüngst zum Ritter geschlagen, den Befehl hat. Ich habe mit dir bereits über die Durchführung eines Trainingslagers des Roten Ordens am Rilai in Bedon besprochen. Kümmere dich darum, dass die Erlaubnis dazu erteilt wird. Der junge Loyd wird wohl leichter zu überzeugen sein als der alte Loyd hier in der Hauptstadt. Wo wir gerade bei unserem Freund Herzog Jean sind – er wurde zum Lord Präsidenten des Kronrates gewählt. Der Rat entschied, angesichts der Situation diesen Posten, der vorher mit vom Erzkanzler ausgeführt wurde, wieder zu besetzen, da auf den Kronrat und die Erzkanzlei große neue Aufgaben zu kommen werden. Wenn du deinem Unterricht bezüglich des Stammbaumes der Sejer aufmerksam gefolgt bist, weißt du, dass Friedrichs Sohn und Erbe erst zehn Jahre alt ist. Lang lebe Kaiser August! Ein Kindskaiser – irgendwann musste das ja mal passieren. Seine Mutter, Anna, die sich nun übrigens Kaiserinregentin nennt, kommt mit der Regentschaft des Reiches alleine nicht zurecht. Und der vollkommen selbstlose Jean will sie am liebsten in den Witwenturm sperren und alleine mit dem Kronrat regieren. Macht gehört nicht in die weichen Hände einer Frau, meint er. Er macht den fatalen Fehler, das weibliche Geschlecht zu unterschätzen. Den Fehler werden wir nicht machen. Übrigens stimme ich deinen Namensvorschlägen für meinen zukünftigen Enkel zu. Hoffentlich bringt deine Frau den Kleinen unbeschadet zur Welt!
»Und so entkam Prinz Friedrich der Gefangenschaft und konnte nach Hause zu seiner sorgenden Mutter zurückkehren und bestieg wenige Jahre später den Thron als Friedrich III. Hörst du überhaupt zu?«, fragte der Lehrmeister ihn.
Die Frage riss August aus seiner Malarbeit heraus. Er antwortete schnell: »Ja, ja, ich habe alles verstanden, Meister Leron. Der Prinz hat den Piraten Arsaren-Wurzel in den Wein getan, selbst davon getrunken und vorher ein Gegenmittel zu sich genommen. So konnte er sie gefahrlos vergiften und entkommen.«
»Richtig. Und was ist das Gegenmittel für Arsaren-Wurzeln?«
»Äh…« Verlegen starrte er das Bücherregal an. Unglücklicherweise standen dort nur die 407 Bände der Kompletten Chronik der Gesamten Geschichte beginnend von der Gründung Trivials. »Beran-Blätter?«, riet er und schaute Leron hoffnungsvoll an.
»Nein, Damenzwiebel-Knollen. Hättest du Beran zu dir genommen statt die Damenzwiebel wärest du ebenso tot wie die Seeräuber.«
»Aber Arsaren ist doch nicht wirklich giftig! Ihr habt es doch selbst in eurem Schrank«, erwiderte August.
»Ja, aber ich gebe es verdünnt und dann nur sehr, sehr wenig. Die Menge macht das Gift und bei Arsaren-Wurzeln ist die giftige Menge sehr schnell erreicht. Dann wird aus dem Mittel zur Stärkung der Mannbarkeit recht schnell ein wirksames Gift. Viele Männer sind schon an Überdosen gestorben. Damit ist nicht zu spaßen.« Der Weißgardist, der den Kaiser bewachte, lachte leise auf, während Leron zum Bücherregal mit den Chroniken zurückging und das Buch mit der Aufschrift 77 zurück in den Schrank stellte.
»Wir schaffen es doch niemals, all die Bücher bis zu meiner Krönung zu behandeln!«, meinte August.
»Da hast du recht. Müssen wir das denn?«, fragte sein Lehrmeister.
»Aber ja! Ein Kaiser hat sooo viele Aufgaben – ich habe dann sicher keiner Zeit mehr für Eure Lehrstunden.«
»Oh doch, das wirst du schon noch. Deine Mutter wird noch einige Jahre zusammen mit dem Kronrat regieren, bis die volljährig und voll ausgebildet in den Künsten des Geistes und des Kampfes bist.«
»Ja, das habt Ihr bereits erwähnt.«
»Außerdem willst du bestimmt nicht die nächsten Jahre verpassen, oder? Wir sind jetzt im Zeitalter dreier Kriege angekommen, in denen dein Vorfahr Heinrich II. tapfer kämpfte.«
Er nahm das Buch mit der Aufschrit 78, als ein edel gekleideter Sekretär namens Charen die Bibliothek betrat. Er trug das Symbol des Klerus‘.
»Euer Gnaden, Erzkanzler Cyon erbittet Eure Anwesenheit im Ratssaal.«
August schaute verwundert auf: »Ich? Warum soll ich dabei sein? Mutter hat gesagt, ich müsste nicht an den Ratssitzungen teilnehmen.«
»Die Kaiserinregentin hat natürlich wahr gesprochen, aber es gibt wichtige Angelegenheiten des Reiches, die Eure Aufmerksamkeit erfordern. Es ist wirklich sehr dringlich, Euer Gnaden«, beharrte der Sekretär.
»Na geh schon, kleiner Kaiser. Der Erzkanzler hat sicher seine Gründe. Und pass ja gut auf!«, meinte Leron. Sein Schüler nickte und ließ sich von Charen in den Ratssaal führen, gefolgt von dem Weißgardisten. Vor dem Saal warteten zwei Diener, die ihm eine lange Robe aus purpurnem Stoff mit Hermelin anzogen und ihm die schwere, juwelenbesetzte Kaiserkrone aufsetzten. Der Frühling hatte sich gerade sehen lassen, doch unglücklicherweise schien das an den Palastdienern vorbeigegangen zu sein – sie heizten weiter kräftig. August schwitzte unter der schweren Robe und dem vermaledeiten Kopfschmuck, den er kaum tragen konnte, weil er so schwer war. Seine Bitten um eine kleinere Krone hatte seine Mutter aber leider abgelehnt, also quälte er sich in den Saal, wo die Hohen Mitglieder des Kronrates schon ungeduldig warteten. Selbst schuld, dachte August. Ein Herold rief ihn aus: »Seine Gnaden, August der Zweite aus dem Hause Sejer, Valenischer Kaiser, Herr des Serensen, der Bandelen, der Klaen und der Fyroi, Erzherzog der Kronlanden, stets Mehrer und Schützer des Reiches!« Die Anwesenden erhoben, verbeugten und setzten sich schließlich wieder. Er setzte sich an den Stuhl am Kopf. Rechts von ihm saß seine Mutter, Kaiserinregentin Anna, und links von ihm saß Jean Loyd, Herzog von Bedon und Präsident des Kronrates, der einen grimmigen Gesichtsausdruck zeigte.
Dort stand ein großer, rechteckiger Tisch in der Mitte des Raums, umkränzt von einer Unzahl an erlesensten, gepolsterten Stühlen. In der Mitte des Tisches zog sich fast über die ganze Breite ein Band an Statuen, die bei Bedarf herausgenommen werden konnten. Dargestellt war die Geschichte der Rebellion. Die Welt war von 20 Göttern erschaffen worden, die unterschiedlich und doch alle eines war. Viele Seiten desselben Wunders, nannten die Priester es. Sie erschufen Erde und Himmel, Mensch und Tier, Meer und Gebirge, Tag und Nacht. Doch eines Tages rebellierten sieben Götter, die sich als die mächtigsten und wichtigsten ansahen. Es kam zu einem großen Krieg der Götter, der weite Teile der Welt verwüstete. Schließlich besiegten die Dreizehn die Sieben und verbannten sie ins Reich tief unter der Erde. Von da an nannte man sie „die sieben Verstoßenen“. An dem Ort, wo die entscheidende Schlacht des Götterkrieges geschlagen wurde, errichtete später Friedrich I. Sejer, genannt »der Eroberer« oder »der Große«, die Stadt Trivial und die Weiße Burg in ihr.
An der Wand hingen Gemälde großer Könige sowie eine überdimensionale Karte des Valenischen Kaiserreiches mit seinen zehn großen Herzogtümern: Fyl, Lysion, Vereon, Bedon, Brasan, Clarae, Piwes, Lycien, die West-Yunkai und die Ost-Yunkai sowie das Erzherzogtum der Kronlande.
Ohne Umschweife begann Loyd zu reden: »Euer Gnaden, Mylords, Euer Ehren, uns haben beunruhigende Nachrichten aus dem Norden erreicht. Erzkanzler Cyon wird uns die genauen Details schildern«, sagte er und spielte nervös an einer Kordel seiner Kleidung herum, während sich Yanis Cyon langsam erhob.
Der alte Erzkanzler schaute einmal in die Runde und begann dann seine Ausführungen: »Euer Gnaden, Mylords, gestern traf ein Triaran in der Kaiserlichen Erzkanzlei ein. Er überbrachte uns eine Nachricht des Grafen von Jatisia, Lord Rasmus Likolei.« Triarane waren Vögel, die darauf abgerichtet waren, Nachrichten zu versenden, wie August wusste. Es waren sehr schlaue Vögel, die sogar teilweise menschliche Sprache verstehen konnten. Cyon fuhr fort: »In dieser Nachricht berichtet der Graf von einem Angriff der Nordmänner auf Jatisia!« Erschrockenes Gemurmel war zu hören. August dachte kurz nach, wo Jatisia lag. An der Nordküste von Fyl, fiel ihm ein, dort, wo schon früher Invasionsversuche der Nordmänner stattfanden. Die Nordischen Kriege nannte Meister Leron diese Kämpfe. »Der Graf berichtet nicht von einer Invasionsflotte, sondern von einer 1000 Mann umfassenden Angriffstruppe unter dem Befehl von Jarok, dem Bruder von König Erik. Sie griffen den Hafen an, eroberten die Schiffe, plünderten und brandschatzten die Stadt, mordeten und vergewaltigten die Einwohner – auch Kinder – und belagern momentan die Burg. Man erzählt, dass Jarok sich massenweise an edlen Jungfern verging, die er anschließend tötete, und ein Bad in ihrem Blut nahm. Selbiger Brief erging auch an die Jalburg, wo momentan Franz Riales, Euer Sohn, den Befehl hat«, sagte Cyon mit einem Blick auf den Herzog von Fyl, Lars Riales, der als Kaiserlicher Erzadmiral Mitglied des Kronrates war.
»Ich bin sicher, dass mein Sohn schon entsprechende Maßnahmen in die Wege geleitet hat, um die Nordmannen zu vertreiben«, entgegnete dieser, bevor er Blut in ein Taschentuch hustete. Riales war krank und erschien eigentlich seit drei Wochen nicht mehr im Kronrat, wurde aber ebenso wie der Kaiser von Cyon zu diesem wichtigem Anlass gerufen.
»Natürlich wird er das. Allerdings können wir nicht sicher sagen, ob das vielleicht nur die erste Angriffswelle ist. Was ist, wenn weitere tausende Männer kommen? Wir sollten eine Armee entsenden, um die Nordmänner zu vertreiben und Fyl wieder zu sichern«, meinte der Erzhofmarschall Simon Plebos. Riales indes schien wenig über seinen Vorschlag erbaut zu sein.
»Wenn eine solche Armee aufgestellt werden würde, würde ich natürlich das Kommando übernehmen«, bot er an. Kaiserin Anna zog überrauscht die braunen Augenbrauen hoch: »Mein lieber Herzog, es ist eine Freude, zu hören, dass es schon wieder so gut geht, nach Eurer schweren Krankheit. Mir liegt so viel an Eurer Gesundheit! Auf keinen Fall würde ich wollen, dass Ihr zum Wohle des Reiches meines Sohnes Euer eigenes Wohlergehen gefährdet. Es gibt sicher viele andere Lords, die geeignet sind, eine Armee anzuführen.«
Rigerius Black, der Lord Kommandant des Weißen Ordens, unterstütze sie: »Kaiserin Anna hat recht, Mylord. Wir alle wissen Eure Aufopferungsbereitschaft zu schätzen, aber wir wollen euch auf keinen Fall überstrapazieren.«
Resigniert gab Riales auf: »Vielleicht habt Ihr recht. Ich sollte mich wirklich noch schonen…«
Cyon rieb sich die Hände: »Einverstanden! Dann würde ich vorschlagen, dass wir Erzmarschall Kylian Loyd das Oberkommando geben. Wir werden die Vasallen der Kronlanden, von Lysion und vom nördlichen Bedon mobilisieren. Die Fyler Lords sollen sich dem Heerzug anschließen. Sind damit alle einverstanden?« Er schaute in die Runde, wo sich zustimmendes Gemurmel erhob.
»Vergessen Mylords vielleicht, dass in drei Monaten die Krönungszeremonie stattfinden soll?«, fragte Schatzmeister Silvio Gacest, Herzog von Clarae. »Das wird sicher einiges an Geld verschlingen und unsere Kassen sind sowieso schon leer. Ein solcher Feldzug, der nicht mehr zwingend nötig ist, reist ein unangemessenes Loch in unsere Kasse. Und außerdem: Was geschieht, wenn das nur eine Ablenkung ist und ihr wahrer Angriff Trivial gilt?«
Seine Meinung ging im Sturm der Empörung unter.
Wie man bei einer solchen Gelegenheit nur ans Geld denken könne, fragte Jean Loyd. Kleinkariertes Gewäsch nannte Robert Taras es. Trivial sei noch nie das Ziel der Nordmänner gewesen, gab Simon Plebos zu bedenken. Und Rigerius Black prahlte, dass der Weiße Orden immer noch genug Schutz gegen eine Horde Barbaren sei. August fand die Einwände von Lord Gacest eigentlich berechtigt, aber bei einer so heftigen Ablehnung durch die Mitglieder seines Kronrates wagte er es natürlich nicht, dass auszusprechen. Silvio schwieg nach diesen Zurechtweisungen auch, während August seine Unterschrift und sein Siegel auf eine Urkunde setzte, mit der Kylian Loyd den Saal verließ, um eine Armee aufzustellen.
Als der Kronrat dann auf das Turnier zu Ehren seiner Krönung zu sprechen kam, war August wesentlich aktiver. »Darf ich auch mitkämpfen?«, fragte er seine Mutter begeistert.
»Nein«, antwortete diese impulsiv. »Du bist noch viel zu jung.«
»Ich bin schon zehn!«, demonstrierte der Kaiser. »Das ist doch alt genug!«
»Nein!«, beharrte seine Mutter.
Der Präsident des Kronrates Loyd ging da wesentlich diplomatischer heran: »Euer Gnaden, gewiss seid Ihr den anderen Teilnehmer an Kraft und Mut schon ebenbürtig, aber am Feste zur Euer Krönung sollte Ihr nicht unbedingt selber kämpfen, sondern huldvoll dabei zuschauen, wie die Ritter Eures Reiches Euch salutieren und sich für Euch messen. Bitte genügt Euch doch mit dieser überaus kaiserlichen Aufgabe.«
»Ihr könntet auch gegen einen Strohritter kämpfen«, erbot Cyon. »Und so dem Reiche zeigen, dass ihm ein Kriegerkönig heranwächst.« Diesem Vorschlag stimmte August widerwillig zu. Er hätte zu gerne gegen einen echten Gegner gekämpft, aber die hätten ihn vermutlich sowieso gewinnen lassen. Er kannte diese Hofkriecher bereits, die ihn immer gewissen ließen, sei es nun beim Schwerkampf, beim Wettreiten, beim Kartenspiel oder beim Varesse.
Danach begangen die Erwachsenen über Sicherheitsauflagen zu diskutieren. Wie weit sollen die Zelte auseinanderstehen, wie sollen die Tribünen angeordnet werden, wo sollen Wachen stationiert werden usw. Gelangweilt bat August, nun wieder gehen zu dürfen, was seine Mutter ihm erlaubte.
Kaum dass er den Raum verlassen hatte, warf er seine Krone schon achtlos auf einen Tisch und hing die Robe über einen Stuhl. Seine Wache musste sich beeilen, um seinem Schützling zu folgen, denn schon flitzte der junge Kaiser los. Völlig außer Atem kam der arme Weißgardist im Stall an, als August gerade dabei zu sah, wie sein Pony Sängerin gesattelt wurde. Das Pferd hieß Sängerin, weil sein Gewieher so rhythmisch war, dass August erst dachte, dass es eine Melodie summt. Über die Schwierigkeiten seines Verfolgers konnte er nur lachen: »Also wirklich, Sir Aeron, ihr solltet Euch mehr anstrengen. Ihr hättet mich fast verloren. Das ist wirklich unverzeihlich.«
»Eure Gnaden haben völlig recht. Bitte verzeiht mir diesen Fauxpas«, entschuldigte Sir Aeron Rytherin sich. Der Ritter war einer der sogenannten »Inneren Elf«, der Elite des Weißen Ordens, von denen immer mindestens einer beim Kaiser weilen musste.
Ungeduldig wartete August, bis auch Aerons Pferd gesattelt war, was eine Weile dauerte, weil der Hengst bockte. Gerade als er aufgestiegen, kam laut bellend des Kaisers Hund Alcor, den er vor 3 Jahren zum Namenstag zu Geschenk bekam, an und erschreckte damit das Pferd des Ritters so sehr, dass es den Reiter wiehernd abwarf. August lachte den Weißgardisten lauthals aus, was diesem die Schamesröte ins Gesicht trieb. Alcor nahm währenddessen brav neben seinem Herren Platz. Doch länger wollte dieser wirklich nicht warten und ritt einfach davon. Aeron rief ihm noch etwas hinterher, doch im Rausche der Geschwindigkeit verstand der Fliehende die Worte nicht mehr.
Schon nach wenigen hundert Metern verließ er den Weg durch den Kaiserforst und ritt quer durch den Wald über Stock und Stein im Galopp. An einem kleinen See, der von einem Nebenarm des Rilai gespeist wurde, hielt er an und legte sich ins Gras. Sängerin trank ein wenig Wasser, als neben ihr Alcor ins Gewässer sprang und sie nass spritzte. Empört zog das Pferdemädchen sich vom See zurück und begann zu grasen. August indes fantasierte und träumte von Rittergeschichten, die er gehört hatte, und von den Taten, die er selbst einmal zu begehen beabsichtigte. Sein gesamtes Reich wollte er bereisen, jeden Teil. Dafür würde er vermutlich mehr als zwei Jahre brauchen, viel mehr, wenn er auch mal eine Weile an einem Ort bleiben wollte. Seinen ganz großen Traum, die ganze Welt zu bereisen wie Prinz Friedrich aus den Geschichten, würde er sich wohl nie erfüllen können, das wusste er. Nie würde er die größte Stadt der Welt sehen, Nidia, nie die großen Stadtstaaten des Ostens wie Dajos, Jolia, Hiliz oder Protas, die Wächterin der Meerenge. Nie würde er einen der seltsamen Volksstämme ganz weit im Osten, wie die Jislen, kennenlernen. Möglicherweise würde er einmal Saracesia besuchen können – als Gast oder als Eroberer –, aber selbst dann würde man ihm nie erlauben die sagenumwobenen Wälder ohne Wiederkehr im Süden der Insel zu betreten.
»Na, wer hat sich denn da davongeschlichen?«, fragte eine dunkle Stimme mit dem Akzent des Südens, die August aufschreckte. Neben ihm saß ein hochgewachsener Mann mit einem kleinen blonden Bart und in feinen Seidenkleidern auf einem Pferd. Sein Ring war mit einem großen gelben Topas besetzt.
August schaute auf. »Ah, Ihr seid es nur, Lord Gacest. Ihr habt mich aber erschreckt«, sagte er.
»Es ist gefährlich für Euch, alleine hier draußen zu sein. In dieser Gegend wimmelt es von Verbrecherpack der übelsten Sorte und Ihr tragt noch nicht einmal ein Schwert. Ihr solltet zurück reiten – sonst verliert der gute Sir Aeron noch seine Arbeit oder seinen Kopf, weil er Euch in so große Gefahr gebracht hat.« Das wollte August natürlich nicht. Peinlich berührt stieg er wieder auf Sängerin, die vergnügt ihre Melodie wieherte und in leichtem Trab los ritt. Silvio folgte neben ihm.
»Meint Ihr wirklich, dass die Nordmänner Trivial angreifen könnten?«, fragte August unvermittelt. Silvio schien von der Frage überrascht. Vergnügt musterte er den jungen Kaiser, bevor er antwortete: »Niemand kann voraussagen, was diese Barbaren vorhaben. Aber wisst Ihr wie König Erik von seinem Volk genannt wird? Der Feigling.«
»Das spricht nicht gerade dafür, dass er sehr gefährlich ist«, bemerkte August.
»In gewisser Weise schon, denn die Definitionen für den Begriff Feigling unterscheiden sich doch sehr zwischen unseren beiden Völkern. Für die Nordmänner ist Erik feige, weil er sich nicht sofort in jeden Kampf stürzt, seine Schlachten nicht selber schlägt und bis jetzt noch kein einziges Mal versucht hat, das Reich anzugreifen. Wir würden ihn vielleicht der Weise nennen. Er ist sehr klug und tut nichts, ohne vorher jede Eventualität abzuwägen. Deswegen kann ich es mir auch schwer vorstellen, dass ausgerechnet er einen solchen Angriff auf Fyl anordnen würde. Und sein Bruder Jarok ist zwar mutiger, aber auch absolut gehorsam. Er stand immer an seines Bruders Seite, als dieser mit List Rebellionen niederschlug. Deshalb muss man mit dem Schlimmsten rechnen«, erklärte Silvio. August nickte nachdenklich.
»Was wollen diese Nordmänner eigentlich von uns? Warum greifen sie uns immer wieder an?«
»Die Welt der Nordmänner ist dunkel und trist. Ihre Länder sind nicht sehr fruchtbar, müsst Ihr wissen. Früher waren sie die Schrecken der Meere. Sie plünderten Cialien, Fyl, Vereon, Piwes – ja sie zogen mit ihren Schiffen sogar über Rilai und Aloi bis nach Bedon für ihre Raubzüge. Die Republik wurde ihrer nie Herr. Im Jahre 73 vor der Gründung Trivials plünderten sie sogar Avalin, die damals natürlich noch der Republik gehörte und Avalarus hieß. Die Nordmänner bekriegten sich auch gerne gegenseitig. Sie gründeten Siedlungen an der Nordküste der Ebenen von Sacae und verdienten sich manchmal als Söldner für die Stadtstaaten, die gegeneinander Krieg führten. Und natürlich wanderten viele Nordmänner ins Reich ein, als es gegründet wurde, denn Friedrich der Eroberer eroberte sein Reich vor allem mit Armeen aus Nordmännern. Der Krieg liegt ihnen im Blut.«
»Das sagt man von den Fyroi auch«, meinte August.
»Das ist nicht das Gleiche. Die Männer des Nordens waren tapfere Eroberer und Plünderer. Die Menschen des Südens, die Fyroi genannt werden, verteidigen lediglich verbissen all das, was ihres ist, gegen die sie umgebenen Fremdvölker. Die Fyroi aus der Yunkai vielleicht weniger, aber die aus Clarae haben stets erbitterten Widerstand bis zum letzten Mann geleistet. Und die klimatischen Bedingungen haben ihr übriges getan.«
»Ward Ihr jemals in einem der Wüstenpaläste?«, fragte August. Leron hatte ihn einmal von diesen erstaunlichen Gebilden aus Clarae erzählt.
»Ihr habt also Gullivers Die vergessenen Herren der Wüste Claraes gelesen? Eine interessante Lektüre, wahrlich. Und es gibt diese Paläste, die er beschreibt, wirklich, allerdings sind sie nur noch Ruinen. Die Hochkultur, deren Name niemand mehr gedenkt, ist schon lange verschwunden und hat nur Mysterien hinterlassen.«
»Also habt Ihr einen solchen Palast besucht?«
»Ich habe sie alle besucht. Alle sieben. Es gibt dort einige Hinweise darauf, dass die vergessenen Herren der Wüste offenbar einem Kult mit sieben Göttern frönten. Wer weiß? Vielleicht haben sie die sieben Verstoßenen angebetet?«
»Warum solltet jemand so etwas tun?«, fragte August verwirrt. Die Verstoßenen waren für ihn das Böse. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand das Böse anbeten würde.
»Menschen hängen oft falschem Glauben an. Beschämt muss ich gestehen, dass auch in meinem Reiche, Clarae, das Wort der Dreizehn noch nicht von allen Menschen verinnerlicht wurde. Es dauert eine Weile, die Menschen auf den rechten Pfad zu führen, den die Priester der Dreizehn uns aufzeigen. Aber deshalb sind wir Menschen, so voller Fehler, so voller Makel.«
»Vielleicht war das der Grund für ihren Untergang«, sagte August. »Ich meine die Herren der Wüste. Vielleicht sind sie wegen ihres falschen Glaubens untergegangen. Die Götter haben sie gestraft.«
Silvio lächelte ob dieser kindlichen Naivität. »Das ist ein interessanter Gedanke, mein Kaiser, aber in der Regel machen sich die Götter die Hände nicht in einer solchen Weise schmutzig. Warum existieren die vermaledeiten Nordmänner noch? Warum die Republik mit ihrem großem Reiche? Warum haben die Götter nicht schon längst die Nomaden aus Sacae hinweggefegt oder die Freien Städte in Schutt und Asche gelegt? Das sind die Aufgaben ihrer Diener auf Erden. Und bei Zeiten beliebt es den Herren im Himmel, ihre Diener zu demütigen und verlieren zu lassen, um ihren Glauben zu testen.«
»Aber die Götter sind doch immer gerecht! Sie würden uns doch nie schaden!«
»Nein? Kennt Ihr die Geschichte von Hiob?« August schüttelte den Kopf.
»Das müsst Ihr auch nicht. Es ist eine sehr heidnische Geschichte, die die Bauern sich in Clarae erzählen.«
»Ich möchte sie trotzdem hören!«, meinte August.
»Wie es Euren Gnaden beliebt. Aber ich fasse mich kurz: Einst lebte ein Mann namens Hiob in Clarae. Er besaß 11.000 Tiere und zahlreiche Knechte und Mägde.«
»Ihr meint Sklaven?«
»Ich meine Knechte und Mägde. Dazu eine wunderschöne Frau, sieben Söhne und drei Töchter.«
»Der arme Mann!«
»All das waren Geschenke Gottes, denn Hiob war äußerst gläubig und Gott treu ergeben.«
»Welchem Gott? Maleis?«
»Im alten Glauben gibt es nur einen Gott, Euer Gnaden.«
»Nur einen? Das ist aber wenig, wir haben viel mehr!«
»In der Tat. Deswegen ist der Glauben der Dreizehn ja auch weitaus besser. Also wir waren gerade beim gläubigen Hiob. Eines Tages behauptete das Böse, dessen Name niemand nennt, gegenüber dem Gott, dass Hiobs Frömmigkeit nur daher komme, dass er alles von Gott erhalten hatte und er wettete, dass Hiob sich von Gott abwenden würde, wenn er ihm Unglück wiederfahren ließe. Also erlaubte Gott dem Bösen, ihn zu testen. Hiob verliert durch das Wirken des Bösen all sein Hab und Gut und seine Kinder und Frau dazu. Doch Hiob verfluchte den Gott, der ihn anscheinend strafte, nicht. Nackt bin ich aus meiner Mutter Leib gekommen und nackt kehre ich dahin zurück. Der Herr hat gegeben und der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!«
»Der spinnt doch! Der lobt jemanden, der ihn alles genommen hatte?«
»Ja. Aber das Böse ging noch weiter. Es meinte zu Gott, dass Hiob nur noch zu ihm halte, weil er sich bester Gesundheit erfreue. Also erlaubte der Herr dem Bösen, seine Gesundheit zu schädigen, nur das Leben sollte ihm bleiben. Überall an seinem Körper bildeten sich Geschwüre und Hiob litt schreckliche Qualen.«
»Meint Ihr so wie der dicke Lord Rytherin?«
»So etwas solltet Ihr nicht sagen. Aber nein, ich meine deutlich Schlimmeres. Diese Krankheit gibt es in diesem Teil der Welt nicht mehr. Alle seine Freunde rieten ihm, sich von Gott abzuwenden, doch Hiob blieb standhaft und feierte die Großartigkeit des Herrn.«
»Ein wirklich ungewöhnlicher großer religiöser Eifer.«
»Wohl war. Und Gott sprach mit donner dröhnender Stimme zu Hiob: Ich bin der, der alles schuf, der über alles wacht, der allem in seine Bahn verhilft. Und Hiob sprach: Allem, sagst du, hilfst du, jedem Getier, doch was ist mit mir? Warum plagest mich mit Höllenpein? Was hab Unrecht ich dir getan! Wo bleibt die Gerechtigkeit? Wo bleibt die Gnade Gottes, wo sein helles Licht, dass uns zur Wohltat führt? Wo bleibt sein Richtspruch, der die Guten nennt und die Bösen frevelt? Und Gott fragte: So glaubst, ich wäre nicht gerecht gewesen? Und Hiob: Ich glaub’s nicht nur, ich weiß es gar!«
»Das ist aber frech! So mit einem Gott zu reden würde ich nie wagen.«
»Dann seid ihr gut beraten. Aber Hiob kam sich schon ungerecht behandelt vor. Den Plan Gottes konnte er nicht ergründen. Dieser antwortete jedoch wütend: Wer ist es, der den Ratschluss verdunkelt mit Gerede ohne Einsicht? Ich will dich fragen, du belehre mich! Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag es denn, wenn du Bescheid weißt. Wer setzte ihre Maße? Du weißt es ja. Wer hat die Messschnurr über ihr gespannt? Wohin sind ihre Pfeiler eingesenkt? Oder wer hat ihren Eckstein gelegt, als alle Morgensterne jauchzten, als jubelten alle Gottessöhne? Wer verschloss das Meer mit Toren, als schäumend es dem Mutterschoß entquoll, als Wolken ich zum Kleid ihm machte, ihm zur Windel dunklen Dunst, als ich ihm ausbrauch meine Grenze, ihm Tor und Riegel setzt und sprach: Bis hierhin darfst du und nicht weiter, hier muss sich legen deiner Wogen Stolz? Bist du zu den Quellen des Meeres gekommen, hast du des Urgrunds Tiefe durchwandert? Haben dir sich die Tore des Todes geöffnet, hast du der Finsternis Tore geschaut? Hast du der Erde Breiten überblickt? Sag es, wenn du das alles weißt.«
»Ist ja gut! Genug, können wir diesen Teil überspringen?«
»Das ginge jetzt eigentlich noch eine Weile so fort, aber wie Ihr wünscht. Am Ende kann man sagen, dass Hiob seinen Fehler erkannte und Gott ihm für seinen festen Glauben ein weiteres langes Leben schenkte, in dem er mehr erhielt, als er vorher jemals hatte.«
»Und was lernt man aus dieser Geschichte?«, fragte August.
»Sagt Ihr es mir.«
August dachte kurz nach. »Dass nicht jedem Leid eines Menschen ein Unrecht vorausgegangen sein muss. Und das wir niemals den unendlichen Plan des Himmels in Frage stellen sollten.«
»Das habt Ihr schön formuliert. Ihr seht also, wie seltsam diese Welt ist. Nichts ist klar, nichts ist absolut, nicht einmal das Verhalten der Perfekten, denn was sie tun, können wir Vergänglichen nicht ergründen.«
Das war eine gute Geschichte, entschied August. Anhand des Waldes konnte er erkennen, dass sie dem Palast näher kamen.
»Ihr habt den Regenbogen in den Augen. Hat Euch das schon mal jemand gesagt?«, fragte Silvio.
August nickte. Im richtigen Lichteinfall funkelte seine Iris in allen Farben des Regenbogens, hatte man ihm erzählt. »Es bringt Glück, meint meine Mutter.«
»Oh ja, wer den Regenbogen im Auge hat, ist für Großes gestimmt.« Silvio dachte kurz nach. »Mögt Ihr Rätsel?«, fragte er dann.
»Au ja!«
»Also gut: Was ist's, das umfasst die ganze Welt?
Das, das alles unergründlich zusammenhält?
Das, wo die Sache und ihr Gegenteil gelt'?
Das, das Ganz ist und doch nur eine Hälft'?
Das, ohne das nicht sei die Welt?«
»Alles und Nichts«, antwortete August ohne groß nachzudenken. Silvio schaute ihn mit unergründlichem Blick an und ritt ohne eine Antwort hinfort. August ritt ihm hinterher.
Als sie den Pferdestall wieder erreichten, wartete dort schon ein weiteres Mitglied der Inneren Elf, Sir Giacomo Gacest, Silvios jüngerer Bruder. Mit einem Fußtritt wehrte er Alcor ab, als dieser nach seinem weißen Umhang schnappen wollte.
»Da seid Ihr ja! Wo ward Ihr nur? Wir haben uns so um Euch gesorgt! Aeron und vier weitere Ritter suchen immer noch den ganzen Forst nach Euch ab.« August war peinlich berührt. Er war sich nicht ganz klar gewesen, dass jetzt so ein Theater um ihn veranstaltet werden würde.
»Der See, Bruder. Das war doch sonnenklar, dass er dorthin reiten würde. Es ist ein herrliches Fleckchen Natur«, antwortete Silvio.
»Ich hoffe, meine Mutter wurde noch nicht informiert?«, frage August kleinlaut.
»Nein, die Kaiserinregentin wurde noch nicht informiert. Sie wollte nicht gestört werden«, antwortet Giacomo.
»Dann soll das auch so bleiben«, bestimmte der Kaiser.
»Wie ihr wünscht.«
»Wie spät ist es?«
»In der Halle hat man vor Kurzem das Mittagsmahl zu sich genommen. Für Euch steht in Euren Gemächern auch Essen bereit, Euer Gnaden«, antworte Giacomo.
»Dann wollen wir die Köchin nicht enttäuschen«, entschied August und ging schnellen Schrittes zu seinen Gemächern. Giacomo folgte ihm, während er ein paar Worte mit Silvio wechselte.
Es gab eine Champignon-Creme-Suppe mit Fleischeinlage sowie eine Schüssel Schokoladenpudding. Kakao war teuer, das wusste August, denn er musste importiert werden, weil er nur in Mironda und in den Freien Städten wuchs. Während des Essens las ihm ein Diener aus dem Rolandlied vor, einer Sage, die die Heldentaten eines Ritters namens Roland schilderte, der einst Friedrich dem Eroberer gedient haben sollte.
»Wo ist eigentlich meine Schwester?«, fragte August und spülte sich das Essen mit einem Schluck verdünntem Wein herunter. »Sie war heute morgen gar nicht beim Unterricht mit Meister Leron.«
»Prinzessin Maria war leider unpässlich«, antworte Giacomo.
»Warum?«
»Äh…nun ja… Frauenprobleme, Euer Gnaden.«
»Ich verstehe nicht, was Ihr meint.«
»Das müsst Ihr auch gar nicht, Majestät.«
Kaiserin Anna liebte nichts mehr, als sich nach einem anstrengenden Tag bei einem heißen Bad zu entspannen. Sie hatte sich in ihren Gemächern sogar extra eine feste Wanne aus Stein bauen lassen – ein absoluter Luxus. Dienerinnen erwärmten in großen Kesseln Wasser über dem Feuer und sammelten es anschließend in der Steinwanne. Mit Rosenöl aus Clarae wurde das Ganze perfektioniert. Für iher Unterhaltung sorgten Sängerinnen – aus verständlichen Gründen waren männliche Sänger nicht zugelassen. Die grazile Dienerin stimmte das Lied des Geheimnis‘ der Nacht an.
Der Sonne Strahlen ermüden nicht,
Uns alle, also auch dich und mich,
Täglich zu erinnern an den Wert des Lebens,
Es soll nicht sein vergebens.
Doch die Nacht, sie singt
Ein Lied, das in Versuchung bringt,
So süß und so berauschend,
Dass du bleibst starr und lauschend.
So möchtest nicht preisgeben,
Deine Seele und dein Leben?
Was der Nacht Melodie leis verspricht,
Ich glaub's, glaubst du's nicht?
So lasse dann die Vorsicht fallen,
Und sei der Nacht zu Gefallen!
Lass gehen, was dich ewig bindet
Und in der Trance der Nacht verschwindet!
Und genieße die Lust der Nacht,
Die langsam in deinem Körper erwacht,
Und mit der Liebe, die wahr ist und rein,
Soll kein Verzagen mehr sein!
Gib dich hin! Gib dich fort!
Fort an diesem magischen Ort!
Fort von allem, fort von denen,
Die uns wollen nicht verstehen!
So ist's geschehen, was keiner darf,
Was jeder will, was fort warf,
Die Regeln, die jeder kennt,
Und deren Bruch niemand nennt!
Von nun an gibt es kein Zurück! -
Ich bin zu tiefst entzückt!
Von nun gibt es kein Zurück! -
Schwelg' in deinem Glück!
Doch die Freud' ist ewig nicht,
Denn irgendwann kommt das Licht,
Denn der Zukunft hat keiner gedacht!
Also lebe die endlose Nacht!
Und die Wunden, gerissen,
Von der Nacht ohne Gewissen,
Am Tage ans Lichte gebracht,
Zerstören, was für sicher gedacht,
So bleibt was geschah, in all seiner Pracht,
Auf ewig das Geheimnis der Nacht!
So lebe die endlose Nacht!
Für wahr – das Los der Frauen war ein hartes. Das würde ihre jüngst erblühte Tochter noch herausfinden. Im Alter von 17 wurde Anna mit einem ihr vollkommen unbekannten Menschen vermählt, von dem sie nur wusste, dass er Kaiser war. Für wahr, Heinrich war ein äußerst gut aussehender Mann, dessen Ruhmestaten ihren Glanz im ganzen Reiche versprühten. Ruhmestaten mit dem Schwert und im Bett. Um weitere Ruhmestaten beider Arten zu begehen, verließ er sie schon wenige Tage nach der Hochzeit mit einer Armee Richtung Westen. Er sollte nie wieder zurückkommen. Nach dem Krieg wurde sie einfach an seinen Bruder, den neuen Kaiser, weitergereicht, Friedrich. Er hatte ihr fünf Kinder gezeugt, von denen allerdings nur zwei überlebten. Und für eines dieser Kinder musste sie jetzt die halbe Welt regieren.
Plötzlich spürte sie eine Berührung, die sie erschaudern ließ. Sie wollte die Augen öffnen, doch eine Hand verdeckte sie.
»Psst. Habt keine Angst. Und lasst die Augen geschlossen, bitte«, flüsterte ihr eine sanfte Stimme ins Ohr.
»Wer seid Ihr?«
»Ein Traum…«
Und mit dieser Antwort gab sie sich zufrieden und genoß die Empfindungen, die der Fremde ihr bereitete.
»Ich komme morgen wieder«, flüsterte er, nachdem sie fertig waren.
Und als sie die Augen wieder öffnete, war er schon fort.
August träumte in dieser Nacht äußerst schlecht. Unruhig warf er sich im Bett hin und her. Er träumte von einem Einhorn, dass in der Lache seines eigenen Blutes lag. Ein junger Adler lag ebenfalls in dieser Lache des roten Lebenssaftes und versuchte, zu fliegen, doch seine Flügel waren so schwer, so unendlich schwer, denn das Blut verklebte sie. Der Adler hörte ein Brüllen, Panik erfasste ihn, er riss die Flügel hoch und flog, immer nahe am Boden, denn in seinen Flügel klebte noch immer dieses Blut, dieses verfluchte Blut. Um ihm herum verschwommen die Konturen, er hörte das Rauschen des Meeres und den Lärm der Städte, er hörte das Kreischen eines Babys und das Weinen einer Frau, er hörte Gesänge, unheimliche Gesänge, in einer Sprache, die er nicht kannte, die ihm so schrecklich fremd war. Er flog durch einen Wasserfall, um dieses Blut, dieses verfluchte Blut, loszuwerden, doch es ließ sich nicht abwaschen, es klebte weiter und sang sein Klagelied. Auf einmal brach eine Stichflamme aus dem Boden und der kleine Adler flog direkt hinein und er schrie, er brannte, er schrie. Und überall dieses Blut, es umgab ihn wie ein Meer, das Heimat war, dieses verfluchte Blut! Ihn erfasste ein unbeschreibares Grauen, er wollte schreien, doch er konnte nicht, aus seinem Mund tropfte nur zähes, warmes Blut.
Eine Blutschuld muss beglichen werden, flüsterte ihm eine melodische Stimme ins Ohr, süß wie die Sünde und das tiefste Innere in Angst versetzend, und August schrie laut und erwachte, er keuchte und er schrie sich noch einmal die Angst aus dem Leib, so laut, dass es man es in der ganzen Burg hörte.
Ein böser Traum, dachte er. Nur ein böser Traum.