Part 4: Die bittere Wahrheit
Was hatte sich dieser Colin nur dabei gedacht, als er mir diesen gelben Quälgeist auf den Hals gehetzt hatte? War ich mit der bloßen Anwesenheit von ihm und Stan nicht bereits genug gestraft? Zugegeben: Stan ging ja, einigermaßen... Aber durch seine recht eigentümliche Art und Weise Freundschaften zu schließen, war Colin bei mir unten durch.
Pikachu, Colins Pokémon, hatte eine ganz und gar einmalige Art an sich, anderen wirklich den allerletzten Nerv zu rauben. Bis zu diesem Tag war ich der festen Überzeugung gewesen, Stans ewigpiepsender Minicomputer wäre das nervtötendste, was diese Welt zu bieten hatte. Ein Irrtum...
„Was weißt du schon?! Schließlich habe ich, und nicht du, das Turnier gewonnen! Und was hast du vorzuweisen? Einen kolossalen Bauchklatscher in der ersten Runde. Lachhaft... Wenn ich du wäre, würde ich mich schnell wieder in mein Mauseloch verkrümeln, aus dem du gekommen bist“, entgegnete ich Pikachu kühl.
Sein höhnisches Gelächter drang in mein Ohr.
„An deiner Stelle würde ich mir auf den Sieg nicht viel einbilden.“ Er verzog grinsend sein Gesicht und winkte mit seiner Hand, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen. „Dein dezenter Körpergeruch hat sicherlich all deine Gegner paralysiert.“
Meine Muskeln zuckten im Gleichtakt zu meinem immer schneller werdenden Puls und drohten die weißen Verbände an meinem Körper zu sprengen.
„Du kleiner, mieser...!“, rief ich wutentbrannt und wollte bereits zum Sprung auf die gelbe Nervensäge neben mir ansetzen.
„So, wir sind da...“, hörte ich Colins weit entfernte Stimme sagen.
Schlagartig wurde ich aus meinen hasserfüllten Gedanken hinauskatapultiert und fand mich auf den belebten Straßen von Moosbach City wieder. Stan und sein neuer Freund hatten bereits einen zehnsekündigen Vorsprung zwischen mir und Pikachu aufgebaut und sich vor einem weißen Gebäude mit apfelrotem Dach eingefunden, was ich sofort als ein weiteres Pokémon-Center identifizieren konnte.
„Wo bleibt ihr denn, ihr beiden?“, rief Colin und schaute die Straße hinab in meine und Pikachus Richtung.
„Komme!“, antwortete Pikachu, schenkte mir noch einmal eine hämische Grimasse und rannte unter etlichen, “Oh, wie süüüß“-Rufen, zu den beiden Menschen hinüber.
Mein Blick verfinsterte sich, als ich dem gelben Pokémon nachschaute. Alles, aber wirklich alles an Pikachu ekelte mich auf eine unbeschreibliche Art und Weise an: Die Sticheleien seiner fellsträubenden hohen Stimme, mit denen er auf eine schon fast krankhafte Art mich zu provozieren versuchte, sein vierbeiniger, und manchmal auch menschenähnlicher, aufrechter Gang, die augenkrebsverursachende Farbe seines knallgelben Fells, oder die verlogene Art, wie er sich mit seinen schwarzen Knopfaugen und mit seinem Wonneproppen-Gesicht bei den Menschen einschmeichelte.
„Sheinux! Wo bleibst du denn?“, rief Stan und winkte mir zu.
„Ja ja...“, murrte ich, kickte verdrießlich eine leere Getränkedose, die meinen Weg kreuzte, auf die dicht befahrene Straße und schlurfte zu meinem wartenden Trainer und dessen Begleitern hinüber.
Mit einem leisen Surren teilte sich die vollautomatische Eingangstür, als sich die beiden Menschen ihr näherten. Das wievielte Pokémon-Center war das nun eigentlich, dass ich an Stans Seite betrat? Das dritte oder sogar bereits das vierte? Mittlerweile hatte ich das Zählen aufgegeben... So glichen sie sich, bis auf einige wenige Ausnahmen, eh alle bis auf ein Haar:
Der markante, pharmazeutisch Geruch, wie ich ihn bereits von Übersee her kannte, lag in der Luft und auch der Eingangsbereich dieses Gebäudes schien dem selben Bauplan her entsprungen zu sein. Inzwischen verwunderte es mich bereits gar nicht mehr, dass auch jedes Pokémon-Center die gleiche Krankenschwester beherbergte. Lächelnd, hinter der Rezeption wartend und dem mir bereits altbekannten weiß-rosaroten Ärztekittel bekleidet, winkte sie uns zu ihr herüber. Von Pikachu hielt ich inzwischen einen mehr als nur großzügigen Abstand. Allein der Gedanke, man hätte mich als seinen Kameraden bezeichnen können, widerte mich an.
„Willkommen im Pokémon-Center von Moosbach City, Trainer.“ Sie gab vor unseren Augen einen vornehmen Knicks zum Besten. „Wie kann ich euch helfen?“
Colin löste gekonnt einen Pokéball nach dem anderen von seinem Gürtel und überreichte sie der Krankenschwester.
„Wir haben eine lange Reise hinter uns. Meine Pokémon müssten etwas aufgepäppelt werden, Schwester Joy“, sagte er. „Stan, was ist mit deinen?“
Stan schreckte auf.
„Oh ja...“
Er zupfte Feurigels Pokéball von seinem Gürtel und tat es seinem Gefährten gleich.
„Es ist mir eine Freude“, sagte die Ärztin namens Joy und tätigte erneut einen Knicks. „Oh, und wen haben wir da?“ Sie schaute abwechselnd zu Pikachu und mir. „Was ist mit den beiden?“
„Pikachu geht es gut. Aber Sheinux...“
„Ich kann für mich selber sprechen“, unterbrach ich Colin mürrisch. „Mir geht es formidabel“, log ich kühl und kehrte allen Anwesenden den Rücken zu. Warum musste eigentlich Colin für meinen Trainer sprechen? Soviel Rückrat musste er doch inzwischen besitzen...
„Hm, Sheinux scheint es auch gut zu gehen, auch wenn er nicht bei bester Gesundheit zu sein scheint“, sagte Joy.
„Meine Gesundheit ist meine Sache, danke“, entgegnete ich ihr tonlos.
„In Ordnung. In einer knappen Stunde sind eure Pokémon wieder in Höchstform. Wenn ihr derweil etwas die Zeit vertreiben wollt, steht unsere Küche natürlich in vollem Umfang für euch bereit.
Keine fünf Minuten später, hatten Stan, ich, Colin, und zu meinem großen Leidwesen auch Pikachu, uns an einem langen Tisch in dem gut gefüllten Speisesaal des Pokémon-Centers eingefunden. Es wäre unmöglich gewesen, einen direkten Vergleich zwischen dem Kantinenfraß am Land und den Speisen und Getränken an Bord des luxuriösen Kreuzfahrtschiffes zu vergleichen, doch war es im Grunde genommen gar nicht übel. Insbesondere, da mein Essen mit zuckersüßer Schadenfreude gewürzt war. So hatte ich endlich wieder meinen mir rechtmäßigen Stammplatz auf dem Tisch angenommen, während Pikachu auf dem kalten Boden sitzend sein noch kälteres Pokémon-Essen verköstigen musste.
Einige Male spürte ich deutlich, wie Pikachu missgelaunt zu mir nach oben schielte. Tja, die Maus war genau dort, wo sie hingehörte: Auf den Boden der Tatsachen. Sein Trainer hatte offenbar noch nie einen Gedanken daran verschwendet, den Tisch mit seinen Pokémon zu teilen. Zumindest bis heute...
„Sag mal Stan...“, murmelte Colin. Erneut spürte ich nicht nur Pikachus, sondern auch den Blick seines Trainers auf mir kleben. „Hat das einen bestimmten Grund, warum Sheinux nichts von dem Pokémon-Essen isst?“
Kauend, den Mund randvoll mit Paella gefüllt, schielte ich gereizt zu Colin hinüber.
Was war nur mit diesem Typen los? Wollte er etwa die ganze Welt gegen mich aufhetzen?
Stan mied währenddessen den Blick seines neuen Freundes und den meinen und schenkte sich stillschweigend Limonade in sein Glas.
„Stan?“, hakte Colin nach.
„Merkst du eigentlich nicht, das du den Leuten langsam auf den Zeiger gehst?!“, zischte ich.
„... Sheinux hat nicht viel für Pokémon-Nahrung übrig“, murmelte Stan.
„Und du lässt ihn immer auf dem Tisch mitessen?“, fragte Colin.
„Wenn es dir nicht passt: dort drüben ist noch jede Menge Platz“, sagte ich verbittert. Aus meinem Fell lösten sich bereits kleine Funken vor Rage, während mein Puls ins Unermessliche zu steigen schien.
„Ja...“, antwortete Stan.
„Cool. Muss ich auch einmal probieren“, sagte Colin.
Mir schwante bereits das knallgelbe Unheil auf mich zukommen.
Colins Kopf verschwand kurz unter den Tisch.
„Hey, Pikachu. Magst du nicht auch hoch kommen? Hier oben ist es doch viel schöner.“
Es kam so, wie es kommen musste: Kaum hatte Colin seine Worte zuende gesprochen und ich den Bissen in meinem Halse hinuntergeschluckt, war die sonnengelbe Gestalt Pikachus mitsamt seines Napfes auf dem Tisch zu meiner Seite aufgetaucht. Er grinste mich hämisch von der Seite an.
„So“, sagte Colin gut gelaunt. „Jetzt sind wir alle beisammen. Ist doch viel schöner.“
„Sprich du nur für dich...“, schoss es mir durch den Kopf und versuchte Pikachu, dessen markanter gelber Farbton mir nun in die Augen stach, mit allen mir zu Verfügung stehenden Mitteln zu ignorieren.
Wenn man von dem gierigen Geschmatze des mir seitlich sitzenden Pokémons absah, ging es an unserem Tisch, nach diesem unerwünschten Vorfall, recht friedlich zu. Zwar brannte mein Gesicht noch immer vor Zorn und meine Wut gegen Colin und Pikachu wollte nur langsam abflauen, doch konnte ich mein Mittagessen ohne weitere Vorkommnisse herunterwürgen.
Doch wie ich feststellen musste, ließ der nächste Angriff gegen mich nicht lange auf sich warten. Mein Trainer präsentierte uns gerade stolz die vier Schälchen Obstsalat, die er auf seinem Beutezug ergattern konnte, als Colin zu einem weiteren Schlag ausholte.
„Stan, was ich dich noch fragen wollte...“
Stan, gerade am Reinschaufeln seines Nachtisches, schaute interessiert zu Colin.
„Natürlich musst du nicht, aber ich denke, fragen ist okay...“
„Äh, von was redest du?“, fragte Stan verwirrt.
„Dein Feurigel. Würdest du ihn gegen eines meiner Pokémon tauschen wollen?“
Mir klatschte vor Schock die Obststückchen aus meinem Mund wieder zurück in das Nachtischschälchen vor mir. Konnte er das tatsächlich ernst meinen? Pokémon tauschen? Hatte ich, als Pokémon, denn überhaupt keine Rechte mehr? War ich denn nichts mehr wert als eine faules Stück Fallobst, dass an einem frühen Montagmorgen zu Schleuderpreisen auf dem Markt ausgerufen wird?
„Also...“
„Untersteh dich, auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken!“, rief ich wutentbrannt und richtete mich in die Richtung meines Trainers. Die Tischplatte bebte unheilbringend unter meinen Pfoten, als sich unsere Blicke trafen.
„Wenn ich etwas dazu sagen...“
„Niemand hat dich um deine Meinung gefragt, Maus!“, unterbrach ich Pikachu mit drohender Stimme und wandte mich zu in seine Richtung. Kaum noch konnte ich die kribbelnde Elektrizität, die meinen ganzen Körper durchflutete, zurückhalten.
Mit vereinzelten Obststückchen im Gesicht klebend, grinste er mich verstohlen an.
„Wollte dir eigentlich nur zustimmen“, sagte er buttrig.
„So?“, fragte ich, obwohl ich jede Wette darauf einging, das er das unmöglich ernst meinen konnte.
„Ja, wirklich“, sagte er, während sein hämisches Grinsen immer breiter wurde. „Es wäre eine absolute Verschwendung, wenn Colin solchen Flaschen, wie du eine bist, plötzlich trainieren müsste.“
Das Geräusch von auf dem Boden in Aberhunderte Bruchstücke zersplitterndem Glas hallte durch den belebten Raum, als mich meine aufgestauten Aggressionen nun endgültig überwältigt hatten und ich mich mit all meinem Hass auf das Mauspokémon stürzte. Das Zerbersten der Nachtischschale in meinem Ohr, läutete zu dem viel zu lange vor sich hin geschobenen Vergeltungsschlag gegen Pikachu, wie eine Ringglocke zu einem Boxkampf, ein. Tische und Stühle kratzten auf dem Boden. Ein Trommelfeuer von, in heller Panik aufgesprungenen Menschen und deren angsterfüllte Schreie, hämmerte in meinen Ohren, als ich mit der gelben Ratte wild auf dem Boden herumkullerte. Die Funken aus unseren Körpern schossen wild und völlig ziellos durch den Saal, zerdepperten unbewegliche Glasflaschen und Porzellan auf den Tischen und setzten jeden unter Hochspannung, der auch nur den Versuch wagte, sich in diesen Kampf einzumischen.
„Sheinux! Stopp!“, brüllte Stan, der inzwischen auch endlich auf den Beinen war.
„Misch dich nicht ein!“, donnerte ich ihm entgegen. Abermals entluden sich etliche Blitze aus meinem Fell, denen Stan nur ganz knapp entging.
Von Pikachus süßem Babyface fehlte inzwischen jede Spur. Auf den kalten Platten mit mir herumwälzend, war sein Gesicht hässlich und wutverzerrt.
„Stopp! Hör auf Pikachu!“, schrie Colin, doch da hätte er ebenso gut einem Fluss befehlen können, nicht mehr zu fließen. In den schwarzen Knopfaugen seines Pokémons loderte der selbe überirdische Hass, der auch in mir tobte.
Die von Panik ergriffenen Schreie der übrigen Menschen wurden immer lauter. Eine ferne Fensterscheibe zerbarst durch einen unserer ziellos abgefeuerten Blitze.
Mit schier seiner ganzen armseligen Kraft, versuche Pikachu mich von seinem Körper zu hieven. Die spitzen Krallen seiner beiden Hände schürften über meine Beine, bis ich zum finalen Schlag ausholte.
Ein ekelhafter, pelziger Geschmack kribbelte mir auf der Zunge, als mein Kiefer den astdünnen Arm Pikachus durchstach. Das, vor Schmerzen aufheulende Geräusch meines Widersachers, echote durch den Raum, als sich meine blanken Zähne immer tiefer in seinen Körper bohrten. Die lang ersehnten Klageschreie Pikachus und seine schweren Tränen, die ungehört auf den Boden aufschlugen, erfüllten mich mit einem schon lange nicht mehr verspürten Gefühl der Zufriedenheit. Ja, Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird. Doch die parteiischen Ringrichter sahen das anscheinend doch etwas anders. Ein gewaltiger Schatten drängte sich plötzlich zwischen mir und dem Rampenlicht. Noch bevor ich meine zuckersüße Rache in vollen Zügen genießen konnte oder überhaupt realisieren konnte, wie es um mich herum geschah, erfasste mich ein unbarmherzig reisender Luftzug. Im Hauch einer Sekunde lösten sich meine Pfoten, mit denen ich Pikachu auf den Boden presste, von dem wehrlos zappelnden Pokémon, meine Zähne, die sich fest in dem Arm der Maus verankert hatten, schnappten plötzlich ins Leere und alles um mich herum versank in einem bunten Farbenmehr. Sämtliche Rufe und Schreie, Pikachus Klagelaute, einfach jedes Geräusch im Raum ging in einem gewaltigen Rauschen unter. Ehe ich mir es versah, fand ich mich schwebend in der pechschwarzen Leere meines Pokéballs wieder.
Etliche Minuten zogen dahin, bis ich endlich begriff, was soeben passiert war. Doch wollte ich es einfach nicht glauben: Stan, der Mensch, der sich selbst als mein Freund und Trainer schimpfte, hatte mich erneut auf gemeinste und hinterhältigste Art hintergangen, obwohl ich im Grunde nur in seinem Namen gehandelt hatte.
Verschlungen von der Finsternis, tauchten vor meinem geistigen Auge die Gestalten, Colins, Pikachus, und die meines Trainers auf. Bei jedem weiteren Bild schien der Zorn ins Unermessliche zu steigen. Man konnte es überhaupt als Wunder bezeichnen, das der von all meinen aggressiven Gefühlen überschwemmte Pokéball, nicht schlagartig in Abertausende Stücke zersplitterte.
Warum nur...? Warum hatte er mich hintergangen? Wo wir doch in den letzten Tagen unser gemeinsames Band enger, als es überhaupt jemals vorstellbar war, geknüpft hatten...
Ich würde mich rächen...
Wie lange ich mein Dasein in meinem verteufelten Gefängnis gefristet hatte, konnte ich nicht sagen. Die Erfahrung lehrte mich, dass die Gesetze der Zeit in der schier endlosen Leere des Inneren eines Pokéballs eine ganz andere Rolle spielten, als dass sie es in der Welt des Lichtes, des satten grünen Grases und der, der prall gefüllten Mülltonnen taten.
Tief in dem eng verstrickten Netz meiner hasserfüllten Rachegedanken gefangen, öffnete sich plötzlich, nach einer mir endlos vorgekommenen Zeit, das Portal in die Freiheit. Meine Augen begannen unter dem gleißenden Lichtschwall heftig zu Tränen, während mich abermals der gnadenlose Windsog packte, und mich durch die Luft in die Freiheit wirbelte.
Der schon beinahe in längst vergessene Ferne gerückte markante Geruch von jungen Nadelbäumen und klebrigem Harz, dass an langsam aus der Rinde verletzter Bäume heraussickerte, strömte mir in die Nase und in jede einzelne Pore meines Körpers. Kein fester und harter Beton, sondern leicht feuchte, lehmige Erde war unter meinen Pfoten zu spüren. Geblendet von dem grellen Licht der Außenwelt, linste ich in die mir völlig unbekannte Umgebung, deren Umrisse von Sekunde zu Sekunde immer klarer wurden. Bereits sehr späterer Nachmittag musste angebrochen sein. Goldgelbe Sonnenstrahlen bahnten sich mühselig ihren Weg durch das dichte Blatt- und Nadelwerk der zahlreichen, anmutig in den Himmel reichenden hölzernen Kolosse und fielen schwach auf den mit Tannennadeln übersäten, staubigen Waldboden. Nicht weit von mir entfernt, war ein Knistern und Knacken zu hören; offenbar ein kleines Lagerfeuer, dass munter vor sich hin flackerte.
Plötzlich traf mein Blick eine Gestalt vor mir: Stan. Sein blasses Gesicht starrte mich mit vorwurfsvoller Miene an. Meine Gesichtszüge verfinsterten sich schlagartig bei seinem Anblick. Gerade, als er seinen Mund wohl zu einem weiteren Vergeltungsschlag gegen mich öffnen wollte, fuhr ich ihm ins Wort.
„Spar es dir, was auch immer du sagen willst! Ich will es gar nicht erst hören!“
Stan blickte mich einige Sekunden lang völlig ausdruckslos an. Auch wenn er mich wohl wieder nicht verstehen konnte, musste jedoch mein wutverzerrtes Gesicht mehr als nur eine deutliche Sprache sprechen.
Er seufzte.
„In Ordnung...“, sagte mein Trainer und kehrte mir den Rücken zu. „Wir sind hier drüben. Wenn du magst, kannst du uns ja Gesellschaft leisten.
Langsam schritt er von dannen. Ich war schon fest davon überzeugt, dass er mich keines weiteren Blickes würdigen wollte, als er sich plötzlich noch einmal zu mir herumdrehte.
„Ach ja... Nur damit du es weißt: Es ist Colin zu verdanken, das du wieder hier sein darfst. Es wäre daher mehr als angebracht, sich bei ihm für dein Verhalten zu entschuldigen...“
Mit diesen seiner Worte ließ er mich mit all meiner aufgestauten Wut allein.
Ich mich bei Colin entschuldigen? Ausgerechnet ich? Wer hatte denn damit angefangen, die ganze Welt gegen mich aufzuhetzen? Er doch! Nicht ich! Wenn sich hier jemand entschuldigen sollte, dann war er es! Doch war mir völlig klar, dass ich auf eine Entschuldigung lange warten konnte. Die Menschen waren in ihrer ganzen Ignoranz und Dummheit viel zu kurzsichtig, als dass sie ihre Fehler eingestehen würden.
Regungslos stand ich rauchend vor Zorn auf der Stelle und bohrte mit meinem Blick brennend heiße Löcher in die dicke Rinde der kräftigen Bäume um mich herum.
Letztendlich, nach einer gefühlten halben Stunde des Wartens, entschied ich mich dann doch, mich zu den Menschen zu gesellen. Das Geräusch des flackernden Lagerfeuers und der Geruch von verkohlten Holz, wurde mit jedem meiner Schritte in die Richtung, in der mein Trainer nach seiner kurzen Moralpredigt verschwunden war, immer intensiver. Schon bald tauchten die Umrisse von Stan und Colin auf, die auf einer, wohl vom Wind umgestoßenen Eiche, hinter dem Lagerfeuer saßen.
Es dürfte für euch wohl keine Überraschung sein wenn ich euch sage, dass ich weder Colin noch Stan beim Vorrübergehen in die Augen sah, geschweige denn mich bei einem von beiden für die Gnade, mich auf meinem Gefängnis zu befreien, bedankte. Hoch erhobenen Schwanzes stolzierte ich an den beiden, auf einmal völlig wortkargen Menschen vorbei, und ließ mich auf der anderen Seite des Lagerfeuers nieder. Zufrieden musste ich jedoch feststellen, dass von Pikachu, einem der Hauptgründe für all dem heutig geschehenem Ärger, jede Spur fehlte. Offenbar hielt es Colin für das Beste, ihn fürs Erste unter Schloss und Riegel zu halten.
Nicht viel Zeit zog ins Land, bis Stan und Colin ihre Schweigsamkeit überwanden und wieder damit begannen, leise über allen möglichen Menschen-Quatsch zu reden. Nur kleine ihrer Gesprächsfetzen drangen durch das rhythmische Knistern und Knacken des Lagerfeuers zu mir hindurch. Mein Unterbewusstsein schien die meisten ihrer Worte einfach abzublocken. Aber was scherte es mich auf, worüber sie redeten?
Langsam aber sicher spürte ich, wie meine Augen unter dem Einfluss des wärmenden Lagerfeuers immer schwerer wurden. Schon fast war ich in die heile und unbekümmerte Traumwelt übergetreten, als ich plötzlich das Wort „Turnier“ undeutlich zu mir herüberschallen hörte. Verstohlen linste ich in die Richtung der beiden Menschen und spitzte die Ohren.
„... Sieg war einfach phänomenal! Umwerfend! Atemberaubend!“, tönte Colin.
Stan schwieg.
„Glaub mir: Bereits als du mich in der ersten Runde geschlagen hattest, wusste ich, dass du das Turnier gewinnen wirst! Ehrlich!“
Selbst durch das hell aufflackernde Funkenmehr vor mir, konnte ich ein zartes rosarot auf Stans Wangen zu mir herüberleuchten sehen.
„Feurigel war echt eine Wucht. Schade, das es nicht fürs Finale gereicht hat. Hätte ihn gerne noch einmal richtig in Aktion erlebt.“
Meine Aufmerksamkeit machte bereits wieder Anstalten, sich von der realen Welt zu verabschieden, als ich jedoch plötzlich meinen Namen fallen hörte.
„Was ich aber überhaupt nicht verstehe ist, warum du während dem Finale kurz davor warst, das Handtuch zu werfen, obwohl du auf Sheinux’ Stärke bauen konntest...“
„Wie sollst du auch...“, murmelte ich schlafestrunken, während meine Augenlider von Mal zu Mal immer mehr an Gewicht zulegten. „Zu dem Zeitpunkt hatten wir an dich noch nicht gedacht. Da war die Welt noch in Ordnung...“
Natürlich waren Colin und sicherlich auch jeder einzelne Zuschauer über Stans merkwürdigen Verhalten mehr als nur verwirrt gewesen. Schließlich hatte keiner von ihnen weder etwas von den Vorfällen auf den Straßen von Oliviana City, noch von den mahnenden Worten der Ärztin im Pokémon-Center mitbekommen.
„Also...“, murmelte Stan.
„Ja?“, bohrte Colin nach.
„Nun sag es ihm schon...“, gähnte ich mürrisch. „Wie man mich beinahe zu einem Bettvorleger verwandelt hat. Als ob es mich jetzt noch großartig interessieren würde...“
„Du musst mir aber versprechen, nicht zu lachen, okay?“, murmelte Stan beklommen.
Lachen? Wieso lachen? Was war denn bitte so lustig daran, beinahe von einem Auto überrollt zu werden?
“Versprochen“, sagte Colin hastig. „Aber jetzt sag schon!“
„Ich hatte einfach Angst...“, nuschelte Stan.
Angst? Irgendwie verstand ich kein einziges Wort.
„Angst? Vor was?“, wollte Colin wissen.
„Sheinux... Ich hatte einfach Angst, dass er mich vor den Zuschauern bloßstellen würde. Er macht irgendwie nie das, was man ihm sagt. Ich hasse es einfach, wenn ich mich vor anderen lächerlich mache. Darum wollte ich ihn bei dem Turnier nicht antr... – AAARRRGH!“
Selbst in meiner schier, in endlose Weiten gerückten Heimat, musste man die quälenden Schmerzensschreie meines Trainers hören, als ich jedes noch so kleine Fünkchen aus meinem Körper in den Stans leitete.
Colin kippte vor Schreck rücklings von dem Baumstamm, auf dem er und Stan vor wenigen Sekunden noch so friedfertig gesessen hatten.
Die Worte des Verräters, der sich all die Zeit über als meinen Freund bezeichnet hatte, waren wie Zehntausende rasiermesserscharfe Klingen, die soeben gnadenlos mein Herz durchlöchert und einen ozeangroßen Krater an dieser Stelle hinterlassen haben. Keine Vernunft, sondern blanker Hass, regierte mein Handeln, als ich den Körper des Menschen vor mir, mit meiner gesamten Wut überschwemmte. Heftig zitternd, mein Fell steil zu Berge gerichtet, hatte ich nur einen einzigen Wunsch: ihm Schmerzen zuzufügen. Mich für diesen niemals zu verzeihenden Verrat zu rächen.
Die sich auf dem Boden vor Schmerzen krümmende Gestalt Stans, blieb mit dem Abflauen meines Funkenstroms regungslos liegen. Eine einsame Träne blitzte auf meinem Gesicht auf und sickerte ungesehen in den feuchten Waldboden, als ich Hals über Kopf in den Wald rannte.