Kapitel V.: Die erste offizielle Erkundung
Es war der Abend des letzten Tages, an dem Raven und Xell ihre Strafe in Form des Wachdienstes abgesessen hatten. Raven beobachtete gedankenversunken den Sonnenuntergang, als ein keuchen Xell’s Anwesenheit ankündigte.
„Uff, da steckst du also. Ich habe dich überall gesucht...“
Raven schwieg.
„Was machst du hier eigentlich?“, wollte Xell wissen.
„Er ist wunderschön. Meinst du nicht?“, antwortete Raven verträumt.
Xell schaute sich verwirrt um.
„Häh? Wovon redest du?“
Raven seufzte tief.
„Der Sonnenuntergang. Während des Wachdienstes der letzten Tage, habe ich die Sonne kaum zu Gesicht bekommen. Man lernt solche Dinge erst dann richtig zu schätzen, wenn sie nicht mehr da sind...“
„Hör mal“, sagte Xell. „Plaudagei trommelt gerade die gesamte Gilde vor Knuddeluff’s Quartier zusammen. Es scheint wichtig zu sein. Beeil dich besser.“
Nur mühselig konnte sich Raven von dem strahlenden Antlitz der Abendsonne lösen. Er folgte Xell zurück in die Gilde, warf aber im letzten Moment noch einen Blick auf die Sonne, bevor diese hinter dem nächsten Hügel verschwand.
Es herrschte reger Trubel in der Gilde. Alle Gildenmitglieder hatten sich bereits vor Knuddeluff’s Quartier versammelt und redeten wild aufeinander ein.
„Jetzt sag uns schon was los ist Plaudagai!“, rief Krakeelo aufgebracht.
„Auweia. Ist irgendwas passiert?“ fragte Sonnflora beunruhigt.
„Wann gibt es endlich Abendessen?“, quiekte Bidiza.
„Das Abendessen ist soweit fertig“ antwortete Palimpalim. „Es fehlt nur noch...“
„RUHE!“
Plaudagei hatte das Wort ergriffen. Es herrschte augenblicklich absolute Stille.
„Ah, Team Kugelblitz ist auch eingetroffen. Dann kann es ja losgehen.“
Plaudagai räusperte sich.
„Wir bekamen vor wenigen Stunden eine beunruhigende Nachricht von Oberwachtmeister Magnezone erhalten. Offenbar ist im Schemengehölz, nordöstlich von hier, die Zeit zum Stillstand gekommen.“
Wie zu erwarten war, löste Plaudagei’s Hiobsbotschaft erneute Unruhen unter den Gildenmitgliedern aus.
Plaudagei versuchte mit aller Kraft, die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken und schrie sich mittlerweile heiser.
„RUHE BITTE!“, krächzte er zum fünften Mal, bis sich endlich wieder Ruhe einkehrte.
„Also wo war ich...? Achja: Also wie ich bereits gesagt habe, ist im Schemengehölz die Zeit stehen geblieben. Kein Leben rührt sich mehr. Der Tau liegt wie versteinert auf den Pflanzen. Ja sogar die Kraft des Windes ist gebrochen. Es ist wirklich beängstigend...“
Es herrschte eine beklemmende Stille, während Plaudagei sprach.
„Die Ermittlungen laufen bereits auf Hochtouren. Wir können bislang nur mutmaßen, was sich im Schemengehölz zugetragen hat, aber wir befürchten das Schlimmste...“
„Das Schlimmste? Was soll das sein?“, fragte Digdri.
Plaudagei’s Miene verfinsterte sich.
„Wir vermuten, dass im Schemengehölz ein Zahnrad der Zeit geruht haben muss und das irgendjemand es gestohlen hat.“
Man hätte glauben können, es sei eine Bombe eingeschlagen: Die angespannte Stille unter den Gildenmitgliedern hatte sich schlagartig in ein heilloses Durcheinander von verwandelt.
„UNMÖGLICH!“, brüllte Krakeelo aufgebracht.
„Das kann nicht dein ernst sein...“, rief Digda.
„Wer um alles in der Welt sollte ein Zahnrad der Zeit stehlen?“, quiekte Bidiza.
„JETZT SEID DOCH MAL STILL!!!“
Plaudagei’s Gesicht hatte sich vor lauter Anstrengung mittlerweile rot verfärbt. Flehend sah er zum Gildenmeister. Knuddeluff nickte und trat vor.
„Freunde. Bitte hört mir zu. Es ist sehr wichtig“
Alle Blicke waren auf Knuddeluff gerichtet. Die Luft knisterte vor Spannung.
„Wir können nur mutmaßen, was sich im Schemengehölz zugetragen hat, aber die Theorie um das Zahnrad der Zeit liegt am nächsten, das ist wahr...“
Alle Gildenmitglieder schwiegen und waren wie im Bann an Knuddeluff’s Worte gefesselt.
„Oberwachtmeister Magnezone hat uns als Gilde darum gebeten, alle unerklärliche Vorfälle während unserer Arbeit zu melden und gleichzeitig die Augen nach dem Schurken dieser Schandtat offen zu halten. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass ihr jetzt nicht in Panik verfällt, sondern eurer Arbeit gewissenhaft nachkommt. Dann werden wir diese Krise gemeinsam meistern. Einverstanden?“
Etwas zögernd, aber kräftiger denn je, jubelten alle Gildenmitglieder zu Knuddeluff’s aufbauender Rede.
Beim gemeinsamen Abendessen, war wie zu erwarten, der Diebstahl des Zahnrads der Zeit das Tischgespräch des Tages. Jeder wollte zu dem Thema seine eigene Theorie beitragen, nur Raven hielt sich im Hintergrund. Als gerade Sonflora das Wort ergriff, stieß er mit dem Fuß Xell sanft gegen das Bein.
„Hör mal Xell. Kannst du mich bitte mal bezüglich dieser Zahnrad-Geschichte aufklären?“, flüsterte er leise.
„Matürnich. Wasch wilscht du wischen?“
„Schluck am besten erst mal runter...“
„Ah ja. Jetzt geht’s besser. Also was willst du wissen?“, fragte Xell.
„Einfach alles. Ich hab von einem Zahnrad der Zeit noch nie etwas gehört...“
Xell holte tief Luft.
„Zahnräder der Zeit... sind mystische Gegenstände. Man erzählt sich, dass die Zahnräder die Zeit der Welt im Gleichgewicht halten.“
„Zahnräder? Es gibt also mehrere?“, wollte Raven wissen.
„So erzählt es zumindest die Legende. Die Zahnräder der Zeit sollen so gut in unserer Welt versteckt worden sein, dass noch nie jemand eines zu Gesicht bekommen haben soll. Bislang war es eher nur ein Mythos, eine Geschichte die man sich weitererzählt. Aber wenn man den Vorfall im Schemengehölz genauer betrachtet, wird die Geschichte wohl war sein...“
„Aber warum sollte irgendjemand ein Zahnrad der Zeit stehlen wollen? Wusste er nicht was passieren würde, wenn er es entwendet?“, fragte Raven energisch.
Xell ruhte einige Sekunden, bevor er antwortete.
„Das weiß ich wirklich nicht...“
„Meinst du, dass die anderen Zahnräder in Gefahr sind? Was glaubst du würde passieren, wenn alle Zahnräder geraubt würden?“, bohrte Raven nach.
„Darüber möchte ich ehrlich gesagt gar nicht nachdenken... Aber mach dir keinen Kopf darüber. Ich wette, das Oberwachtmeister Magnezone den Schuldigen sehr schnell finden wird“, sagte Xell und wandte sich wieder seinem Teller zu.
Raven war während des ganzen Abends sehr unbehaglich zumute sein. Sicher, Xell sagte ihm, er solle sich keine weiteren Gedanken darum machen, aber irgendwie ging ihm die Geschichte um die Zahnräder der Zeit nicht aus dem Kopf. Obwohl er von ihnen heute das erste Mal gehört hatte, kam ihm das alles merkwürdig vertraut vor.
Es fiel ihm schwer, an diesem Abend ruhe zu finden. In seinen Träumen befand er sich erneut an einem Strand und wieder jagte er verzweifelt der Sonne nach. Ihm kam es vor, als würde er bereits seit Stunden rennen, als die Sonne wieder einmal krachend zu Boden fiel. Nichts um ihn herum rührte sich mehr. Die Wolken waren wie am Himmel festgenagelt und das Meer wie eingefroren. Er wollte fliehen, doch sein ganzer Körper wurde plötzlich ganz steif und begann sich langsam in Stein zu verwandeln. Verzweifelt und mit aller Kraft versuchte er sich zu wehren, doch war er binnen weniger Sekunden zu einer lebendigen Statue erstarrt.
Schweißgebadet schreckte Raven aus seinem Schlaf. Sein Herz hämmerte wie verrückt.
“Beruhig dich. Es war nur ein Traum. Nichts davon ist passiert. Nichts...“
Sehnsüchtig warteten die Gildenmitglieder am nächsten Morgen auf neue Informationen zu den Vorfällen im Schemengehölz. Leider brachte Plaudagei nicht die erwünschte frohe Botschaft, die sie sich erhofft hatten.
„Es gibt noch nichts Neues bezüglich der Geschehnissen im Schemengehölz. Tut mir Leid. Wenn es neue Infos gibt, werde ich sie euch sofort benachrichtigen. Bis dahin gehen wir unserer gewohnten Arbeit nach.“
Der Jubelruf war an diesem Morgen deutlich schwächer als sonst. Missgelaunt strömten die Gildenmitglieder in alle Himmelsrichtungen davon.
Raven und Xell wollten gerade die Leiter zum ersten Untergeschoss hochsteigen, als Plaudagei’s Stimme ertönte.
„Team Kugelblitz zu mir bitte!“
Verwirrt sahen sich Raven und Xell an. Sie hatten doch ihren Strafdienst mit gutem Gewissen abgesessen. Was konnte Plaudagei von ihnen wollen? Etwas verunsichert gingen sie zu Plaudagei zurück.
„Gildenmeister Knuddeluff ist der Meinung, dass ihr soweit seid, eure erste offizielle Mission in der Gilde zu erfüllen.“
Xell’s Augen strahlten vor Freude.
„Wirklich? Wahnsinn!“
„Ja wirklich. Eigentlich solltet ihr bereits früher auf diese Mission geschickt werden, aber wegen diesen Zwischenfällen...“ Plaudagei hüstelte gekünstelt. „Naja ihr wisst schon...“
Raven wusste worauf Plaudagei anspielte: Der Vorfall mit Sonnflora’s Tagebuch und der Racheaktion an Krakeelo.
„Auf jeden Fall...“ fuhr Plaudagei fort, „...sollt ihr auf eure erste Erkundungsmission geschickt werden. Zeigt mir doch mal bitte eure Wunderkarte.“
Xell war vor Freude völlig aus dem Häuschen. Es fiel ihm in diesem Moment des Glücksgefühl sehr schwer, die Karte aus dem Schatzbeutel zu bergen. Nach langem Kampf hatte er sie endlich auf dem Boden ausgebreitet.
„Dann lasst mich mal sehen... Eure Erkundung führt euch an diesen Ort“, sagte Plaudagei und deutete auf einen Punkt nordöstlich von Schatzstadt.
„Was werden wir dort vorfinden?“, fragte Raven.
„Tja, das sollt ihr ja herausfinden“, kicherte Plaudagei. „Wir möchten das ihr beide die Umgebung um den Wasserfall erkundet. Fühlt ihr euch dieser Aufgabe gewachsen?“
„Na und ob!“, antworteten Raven und Xell im Chor.
„Wunderbar. Dann legt am besten gleich los. Viel Glück. Bis heut Abend“, sagte Plaudagei und flatterte davon.
„Wahnsinn Raven. Das ist unsere große Chance! Ich kann es immer noch nicht richtig fassen. Unsere erste offizielle Erkundung. Wahnsinn...Echt...“
Angesicht der gestrigen Vorfälle im Schemengehölz, fiel es Raven etwas schwer, Xell’s Euphorie zu teilen, doch die vorausstehende Erkundung lenkte ihn zumindest etwas von der Zahnrad-Geschichte ab und dafür war er sehr dankbar.
Es war eine ereignislose Reise. Sie folgten mit leichtem Rückenwind dem Verlauf eines Flusses und rätselten begeistert, was sie wohl erwarten würde.
Das ferne Plätschern, kündigte ihre baldige Ankunft an ihrem Zielort an. Eindrucksvoll erhob sich der Wasserfall, den sie auf ihrer Karte gesehen hatten.
Das hinabfallende Wasser schmetterte mit unglaublicher Wucht auf den Fluss, dem sie die ganze Zeit über gefolgt waren.
„Ich würde vorschlagen, dass wir uns trennen. Jeder nimmt sich eine Seite des Flusses vor. Einverstanden?“, schlug Raven vor.
„Gute Idee. Meld dich, sobald du etwas entdeckst“, antwortete Xell und machte sich auf, die linke Seite zu erkunden.
Raven war gezwungen, eine geeigneten Übergang über den Fluss zu suchen. Die Strömung war viel zu stark, als das er einfach rüberschwimmen konnte.
Nach kurzer Suche, fand er eine geeignete Überführung. Leichtfüßig sprang er über einige im Fluss liegende Felsen, und erreichte so endlich das andere Ufer.
Sein Blick schweifte über die Landschaft. Wo sollte er anfangen zu suchen und nach was suchte er eigentlich? Eher ziellos wanderte Raven durch das flache Gras und drehte jeden Stein auf den Kopf. Nach etwa einer Stunde musste es sich eingestehen, dass es hier wohl nichts zu entdecken gab. Ein vorbeifliegender Smettbo-Schwarm was das Aufregendste, was er entdeckt hatte und das würde auf die Gilde sicherlich keinen Eindruck schinden, da war er sich sicher.
Betrübt überquerte Raven erneut den Fluss und hoffte, dass zumindest Xell etwas interessantes zu berichten hatte. Xell’s enttäuschter Gesichtsausdruck bei ihrem Treffen, sagten ihm aber schon mehr als 1000 Worte.
„Hast du etwa auch nichts erwähnenswertes gefunden?“, fragte Raven bestürzt.
Xell schüttelte den Kopf.
„Nein nichts. Außer du nennst das hier erwähnenswert...“
Er hielt Raven eine magere Pirsifbeere vor die Augen, die er bei seiner Erkundung wohl gefunden hatte.
„Ein sehr mageres Ergebnis unserer ersten Erkundung“, nuschelte Xell und stopfte sich die Pirsifbeere in den Mund.
Er fluchte laut.
„Hier muss es doch etwas geben. Das kann doch gar nicht sein!“
„Wir haben alles abgesucht...“, meinte Raven trocken.
Xell schaute sich fieberhaft um. Sie durften jetzt nicht einfach aufgeben. Mit dieser Schmach konnten sie nicht in die Gilde zurückkehren.
„Vielleicht sollten wir den Fluss etwas unter die Lupe nehmen? Was meinst du?“, fragte Xell am Rande der Verzweiflung.
„Versuch macht klug...“, seufzte Raven deprimiert.
Gemeinsam suchten sie das Flussbett vom Ufer aus nach möglichen Eigentümlichkeiten ab. Schlussendlich mussten sie sich jedoch eingestehen, dass es an diesem Ort wohl einfach nichts gab.
Gerade als sich Raven auf den Nachhauseweg machen wollte, rief Xell seinen Freund noch einmal zu sich zurück.
„Schau mal“, sagte er und deutete auf einen Felsvorsprung der sich nur unweit vor dem Wasserfall erhob.
„Ich glaub kaum, dass wir da oben noch was finden werden Xell...“, sagte Raven nüchtern.
„Die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Komm schon“, entgegnete Xell motiviert und kletterte den Vorsprung hinauf.
Etwas wiederwillig tat es Raven seinem Freund gleich und erreichte kurze Zeit später die Klippe. Der Wasserfall war nun in greifbarer Nähe geraten. Bedrohlich schoss das Wasser hinab. Raven schüttelte den Kopf, doch Xell war immer noch nicht bereit, aufzugeben.
„Vielleicht liegt ja du unten etwas im Wasser...?“, mutmaßte Xell und näherte sich immer weiter dem reißenden Wasserfall.
WAMM!
Xell haute es glatt von den Füßen. Das niederschmetternde Wasser ließ ihn einige Meter zurückpurzeln.
„Bist du in Ordnung?“, fragte Raven erschrocken.
„Boah! Wahnsinn!“, keuchte er und rappelte sich wieder auf. „Ich bin OK... Raven versuch du doch mal bitte, da vorne ins Wasser zu schauen. Vielleicht hast du ja mehr Glück als ich.“
Raven hatte zwar keine Lust, einen solch spektakulären Sturz wie sein Freund hinzulegen, doch war es wohl die einzige Methode, seinen Freund davon zu überzeugen, dass es an diesem Ort einfach nichts gab. Behutsam näherte es sich dem Wasserfall.
WAMM!
Auch Raven wurde von den Wassermassen meterweit zurückgeworfen. Gerade als er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, überkam ihn ein vertrautes, unbehagliches Gefühl. Ein plötzlicher Schwindelanfall, schnell aufkommende Finsternis und das unangenehme Gefühl in ein endloses Loch zu stürzen. Völlig schwerelos schwebte Raven über dem Felsvorsprung vor dem Wasserfall, der Verwunderlicherweise, völlig stumm floss. Doch Xell war nicht da. Stattdessen konnte er den schattierten Umriss einer Gestalt unter sich erkennen. Raven konnte nicht erkennen wer es war, doch kam ihm die Gestalt merkwürdig bekannt vor. Sie starrte einige Sekunden lang auf das Wasser, als sie offenbar völlig entschlossen in den Wasserfall hineinsprang. Doch sie wurde weder Strömung erfasst noch zurückgeschleudert, sondern verschwand einfach hinter der Wasserbarriere.
Wieder machte sich die Finsternis um ihn breit. Raven schreckte auf. Das laute Tosen des Wasserfalls verriet ihm, dass er sich wieder auf seiner Erkundung mit Xell befand.
Xell beugte sich über ihn.
„Bist du in Ordnung?“
Raven brauchte kurze Zeit, um überhaupt zu realisieren, was um ihn herum gerade geschehen war. Er hatte erneut einen Traum erlebt, in dem ein Wesen, offenbar ein Pokémon in den Wasserfall hineingesprungen ist. Aber wer war es und warum sollte man freiwillig in die Wassermassen hineinspringen? Außer...?“
„Alles OK bei dir?“, fragte Xell erneut.
„Der Wasserfall.“
Xell runzelte die Stirn.
„Häh? Was ist mit dem Wasserfall? Hat dir einen ganz schönen Schlag versetzt oder?“
„Nein, darum geht es nicht“, antwortete Raven energisch. „Hinter dem Wasserfall... ist etwas versteckt.“
„Wie kommst du denn plötzlich darauf? Woher willst du das wissen?“
„Ich hatte... eine Vision“, sagte Raven und starrte auf den Wasserfall.
„Eine Vision? Was hast du dieses mal gesehen?“, fragte Xell aufgeregt.
Raven erzählte Xell von seinem eben erlebten Traum und von dem Pokémon, dass hinter dem Wasserfall verschwand.
Xell schluckte und sah besorgt auf die Wassermassen, die von oben herabschossen.
„Meinst du das ernst? Das sieht sehr gefährlich aus... Was passiert, wenn hinter dem Wasserfall nichts ist? Wir werden mit voller Wucht gegen die Felswand prallen...“
„Erinnerst du dich? Ich hatte mit den anderen Visionen auch recht. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass der Wasserfall ein Geheimnis birgt“, antwortete Raven entschlossen.
Xell starrte noch immer besorgt auf die Brandung vor ihm.
„Gut. Ich vertraue dir Raven. Ich glaube an dich“, sagte er entschieden.
„Lass uns gleichzeitig durch den Wasserfall springen. Und bloß nicht die Nerven verlieren, OK?“, sagte Raven und ging in Position.
Xell stellte sich neben ihn und machte sich zum Spurt bereit.
„Fertig?“
Xell nickte stumm.
„3...“
„2...“
„1...“
„LOS!“
Zeitgleich rannten Raven und Xell los. Nur noch wenige Schritte trennten sie vor den niederschmetternden Wassermassen. Jetzt oder nie: Sie sprangen gegen die Strömung.
PLATSCH!
Ein Schwall von kaltem Wasser ergoss sich über ihnen. Für einen kurzen Moment glaubte Raven, dass Xell mit seiner Vermutung tatsächlich recht hatte und sie jeden Moment gegen eine Felswand schlagen mussten, doch nur wenige Augenblicke später purzelten sie in eine versteckte Grotte. Xell war blitzschnell wieder auf den Beinen.
Völlig baff schweifte sein Blick über die Höhle. Sie befanden sich in einer weiten Felsgrotte. Hinter ihnen brauste das Wasser weiterhin pausenlos hinab, während dutzende Stalagmiten kühles Wasser auf den Boden tropfen ließen.
„Du hattest wirklich recht! Es ist eine versteckte Höhle! Wahnsinn!“
„Um ehrlich zu sein: Mit diesem Ergebnis hatte ich selbst nicht gerechnet...“ musste Raven eingestehen, als er sich beeindruckt umschaute.
„In Ordnung. Dann lass uns mal die Höhle erkunden“, sagte Xell außer sich vor Freude.
Ihre Schritte halten laut in den weiten Gängen der Höhle. Völlig sprachlos wanderten sie an kunstvollen Steinformationen vorbei, die wohl vor Äonen von Jahren von der Höhle selbst geschaffen worden mussten.
„Die hier sieht wie Plaudagei aus, findest du nicht?“, lachte Xell und deutete auf Gebilde, dass Plaudagei tatsächlich sehr ähnlich sah.
Raven drehte den Kopf einige male und betrachtete die Skulptur von allen Seiten.
Er grinste.
„Jetzt wo du es sagst...“
Ein schriller Schrei ließ Raven plötzlich aufschrecken. Xell sprang auf der Stelle auf und ab und fasste sich an sein Genick.
„Was ist denn los? Ist etwas passiert?“, fragte Raven besorgt.
„N-Nein alles in Ordnung“, keuchte Xell. „Mir ist eben nur etwas eiskaltes Wasser in den Nacken getropft. Da hab ich mich wohl etwas erschrocken...“
Sein Blick wanderte an die Decke, an der zahlreiche Stalagmiten hinabhingen.
„Lass uns weiter gehen“, schlug Raven vor.
Etwa eine Stunde lang, folgten sie die verschlungenen Pfade der Höhle, als sich der Weg immer weiter ausdehnte.
„Da vorne. Siehst du das? Da ist ein Licht!“, rief Xell und deutete auf eine große Öffnung vor ihnen.
Hals über Kopf rannten sie der Lichtquelle entgegen. Völlig fassungslos blieben sie plötzlich stehen. Mit einem solchen Fund hatten sie nicht einmal im Traum gerechnet: Vor ihnen lag ein weiter Raum, in dem von allen Seiten die kostbarsten Juwelen fröhlich in allen Regenbogenfarben funkelten.
Minutenlang brachten Raven und Xell kein Wort hinaus so perplex waren sie über ihre Entdeckung.
„Wahnsinn Raven! Wahnsinn! Hast du so etwas schon mal gesehen?!“, stotterte Xell endlich nach 5 Minuten des Schweigens.
Raven schüttelte stumm den Kopf, während er einen besonders prächtigen Topas bewunderte.
„Unsere Freunde werden Bauklötze staunen, wenn wir ihnen davon berichten. Wir sollten aber schon mal einige Edelsteine mitnehmen. Sonst glauben die uns das nie“, sagte Xell.
„Ich kann es ja selbst nicht glauben...“, lachte Raven.
„Schau dir diesen Stein mal an, Raven. Das wäre doch das perfekte Souvenir. Meinst du nicht?“ Xell deutete auf ein besonders großes rosafarbiges Juwel.
Mit aller Kraft versuchte er das Juwel aus dem Boden zu ziehen. Nach langem Kampf, musste er sich aber geschlagen geben.
„Uff! Steckt zu fest im Boden...“, keuchte er. „Versuch du mal dein Glück Raven.“
Raven schob, rüttelte und zerrte mit all seiner Kraft an dem Edelstein, doch auch er musste schließlich kapitulieren.
„So einfach gebe ich mich nicht geschlagen. Lass mich noch einmal versuchen Raven“, sagte Xell entschlossen und schob Raven sanft zur Seite.
Und wieder geschah es. Raven verlor den Boden unter den Füßen und wurde in eine neue Vision hineingezogen. Erneut sah er den merkwürdig vertauten Schatten eines Pokémons. Auch es kämpfte verbissen mit dem Edelstein, als plötzlich ein gewaltiger Wasserschwall die Höhle überflutete und das Pokémon mit sich riss.
So schnell wie die Vision kam, war sie auch wieder vorbei und Raven befand sich wieder mit Xell in dem juwelenbesetzten Raum. Sein Freund mühte sich noch immer, das Juwel aus dem Boden zu bergen.
Raven ließ sich seine Vision noch einmal vor Auge führen.
>“Was ist da eben passiert?“ Warum wurde in meiner Vision die Höhle auf einmal überflutet. Was sollte das?“<
„Rückt und rührt sich nicht. Na warte! Ich krieg dich!“, rief Xell und packte noch einmal besonders fest zu.
Plötzlich fiel es Raven wie Schuppen von den Augen.
„XELL!!! STOPP!!!“
Doch es war bereits zu spät. Ein lautes Rauschen kündigte die nahende Katastrophe bereits an. Eine gigantische Flutwelle schoss blitzschnell auf die beiden zu, erfasste sie und riss sie mit sich mit.
Raven kämpfte minutenlang verbissen gegen die Wassermassen, um den Kopf über Wasser zu halten. Mit unglaublicher Gewalt schlugen sie gegen eine Wand. Offenbar hatte die Höhle ihr Ende gefunden. Raven wurde es schnell klar: Sie würden ertrinken. Doch die Wassermassen bahnten sich ihren Weg nach oben. Es stieg immer höher, immer höher, bis...
Tageslicht!
Über eine enge Öffnung wurden Raven und Xell aus der Höhle hinausgeschleudert.
Klatschend fielen sie in einen großen Teich. Raven spotzte erschöpft angenehm warmes Wasser.
Keuchend sah er sich um. Xell hatte es offenbar gut überstanden und schaute zu ihm hinüber. Um sie herum tummelten sich einige Pokémon, die sie bereits von so manchem Bummel in Schatzstadt kannten.
„Seid ihr beide in Ordnung?“, fragte ein Schildkrötenähnliches Pokémon, welches sich auf einem Felsvorsprung sonnte.
„J-Ja. Ich glaube schon...“, keuchte Raven. „Wo sind wir?“
„Das sind die heißen Quellen von Schatzstadt“, antwortete er. „Ein Ort zum entspannen und um wieder frische Energie zu tanken. Ihr habt uns ganz schön erschreckt, als ihr aus heiterem Himmel einfach so ins Wasser geplumpst seid.“
„Entschuldigung. War keine Absicht...“ japste Xell. „Wir waren gerade auf einer Erkundung, als uns eine Flutwelle überraschte und uns hierher getragen hat.“
„Puh! Ihr solltet euch vielleicht hier noch eine Weile ausruhen, bevor ihr euch auf den Rückweg macht. Das warme Wasser der Quelle wird euch sicher gut tun“, meinte das Pokémon auf dem Felsen.
Nach kurzer Rast machten sich Raven und Xell auf den Nachhauseweg.
„Ich möchte in den nächsten Tagen keinen Tropfen Wasser mehr sehen...“, murmelte Xell.
„Ich ehrlich gesagt auch nicht. Es ist eine Schande, dass wir überhaupt keinen Edelstein mitnehmen konnten. Glaubst du, die anderen werden uns diese Geschichte glauben?“, fragte Raven.
„Sie müssen einfach“, sagte Xell entschlossen.
Am späten Nachmittag erreichten Raven und Xell endlich die Gilde. Sogleich machten sie sich auf die Suche nach Plaudagei, um ihm ihre Erlebnisse zu schildern.
Wie sich herausstellte, machte sich Raven unnötig Gedanken, denn Plaudagei war von ihrer Entdeckung sichtlich beeindruckt.
„Eine Höhle hinter dem Wasserfall? Rand gefüllt mit Juwelen? Wirklich? Das ist ja fantastisch! Unglaublich! Wie um alles in der Welt seid ihr nur auf die Idee gekommen, hinter dem Wasserfall zu suchen? Das ist eine wirklich bahnbrechende Entdeckung! Niemand hatte davon nur die geringste Ahnung!“
Raven verfiel in Gedanken.
>“Niemand? Nein! Jemand wusste davon. Ich hatte es in meiner Vision gesehen. Aber wer war das? Ich kenne ihn. Da bin ich mir absolut sicher!“
Gedanklich führte er sich das Pokémon noch einmal vor Augen. Woher kannte er es? So viele Bekannte hatte er ja nicht. Außer Xell, einigen Stadtbewohnern und den Gildenmitgliedern natürlich...
Plötzlich begriff er. Warum hatte er es nicht bereits früher erkannt. Es konnte niemand anderes sein als Gildenmeister Knuddeluff. Die Form war einfach unverwechselbar.
„...wartet nur bis der Gildenmeister davon erfährt. Er wird sicherlich außer sich vor Freude über eure Entdeckung sein.“
„Ähm Plaudagei. Eine Frage: Kann es sein, dass Knuddeluff selbst schon einmal den Wasserfall erkundet hat?“, fragte Raven schüchtern.
„Wie kommst du darauf? Er hätte euch dann ja wohl nicht auf diese Erkundung geschickt oder?“, antwortete Plaudagei verwundert.
„Bitte tu mir den Gefallen und frag ihn einmal. Stell mir keine Fragen warum. Ich bitte dich lediglich um diesen einen Gefallen“, bettelte Raven.
Plaudagei schüttelte verwundert den Kopf, aber kam Raven’s Bitte nach. Für kurze Zeit verschwand er in Knuddeluff’ Quartier.
„Was soll das?“, fragte Xell, als Plaudagei die Tür hinter sich zuschlug.
„Erklär ich dir später. Jetzt will ich es erst selbst wissen“, antwortete Raven.
Die Minuten verronnen. Endlich öffnete sich die Tür und Plaudagei trat hervor.
Er hatte einen merkwürdig verdutzten Gesichtsausdruck.
„Und?“, löcherte Raven.
„Öhm, also...“
„Ja???“, bohrte Raven nach.
„Als ich Knuddeluff von eurer Entdeckung berichtete, wurde er plötzlich sehr nachdenklich. Auf einmal fiel ihm ein, dass er tatsächlich vor langer Zeit den Wasserfall erkundet hatte.“
Xell klappte der Kiefer nach unten.
„Was? Dann haben wir ja gar keine neue Entdeckung gemacht, oder?“, sagte er betrübt.
„Wenn man es so sieht, dann hast du wohl recht“, antwortete Plaudagei trocken.
Xell ließ enttäuscht den Kopf hängen.
Nach dem Abendessen saßen Raven und Xell noch lange Zeit in ihrem Gildenquartier.
Raven erklärte Xell endlich, dass er die Gestalt aus seinen Visionen als ihren Gildenmeister identifizieren konnte. Anschließend ließen sie den vergangenen Tag noch einmal Revue passieren. Xell seufzte einige male tief, als sie über ihren Ausflug in die Wasserfallhöhle redeten.
„Keinen Schatz und keine wirklich neue Entdeckung...“
Raven schwieg.
„Aber weißt du was? Es war echt aufregend. Auch wenn wir für die Gilde keinen bahnbrechenden Fund getan haben, so haben wir zumindest für uns eine gewaltige Entdeckung gemacht. Findest du nicht?“
Raven war froh, dass Xell endlich wieder guter Dinge war.
„Ja, da hast du auf jeden Fall Recht.“
„Ich weiß nicht, ob ich es dir schon einmal gesagt habe, aber danke! Wirklich“, nuschelte Xell verlegen.
„Wofür denn?“, fragte Raven verdutzt.
„Nur durch dich, bin ich zu einem Erkunder geworden. Wärst du nicht bei mir gewesen, würde ich vielleicht immer noch vor der Gilde stehen und darauf hoffen, dass sie mich zu ihnen einladen und ich hätte all diese Abenteuer nicht erlebt. Alles nur dank dir, Raven.“
Raven errötete. Er wusste gar nicht was er sagen sollte.
„Ich bin mir absolut sicher, dass wir gemeinsam eines Tages das Rätsel um mein Reliktfragment lüften werden. Auf diesen Tag freue ich mich jetzt schon.“ Er umklammerte das Reliktfragment und betrachtete, wie der Mond an ihnen vorbeizog.
„Ja, eines Tages... Achja! Mir ist noch etwas wichtiges eingefallen: Deine Schwindelanfälle!“
„Was ist damit?“, fragte Raven neugierig.
„Ist dir schon einmal aufgefallen, dass du immer wieder Visionen bekommst, wenn du etwas berührst? Damals die Sache mit Traumato. Da hast du...“
„...erst Azurill berührt und dann Traumato angerempelt und hatte jedes mal eine Vision“ beendete Raven den Satz. „Stimmt du hast recht!“
„Und heute ebenso. Als du den Wasserfall berührt hattest, bekamst du deine erste Vision und die zweite, als du den Edelstein im Inneren der Höhle berührt hattest. Erinnerst du dich?“
„Ja du hast recht!“, rief Raven.
„Da ist noch etwas: Jedes mal, wenn du etwas berührst und eine Vision bekommst, siehst du etwas, dass mit dieser Person oder Gegenstand in Verbindung steht. Aber komischerweise siehst du manchmal in die Vergangenheit und manchmal in die Zukunft. Die Visionen von Traumato waren Ereignisse, die noch geschehen werden und die Visionen von heute, waren bereits passiert. Ganz ehrlich: Ich finde deine Gabe beeindruckend. Sie wird uns sicherlich noch bei vielen Gelegenheiten von großen Nutzen sein.“
„Ich fühle mich dennoch etwas unwohl dabei...“, antwortete Raven.
„Ich glaube mir wäre auch nicht ganz Wohl bei dem Gedanken, in eine andere Welt gerissen zu werden. Vielleicht finden wir ja im Laufe der Zeit noch mehr darüber raus“, sagte Xell gähnend.
„Ja, vielleicht...“, sagte Raven und legte sich in sein Bett.
„Morgen wird sicherlich wieder ein aufregender Tag. Ich hoffe man schickt uns wieder auf eine Erkundung. Für heute habe ich aber wirklich genug. Ich bin hundemüde. Ich werde mich mal aufs Ohr hauen. Schlaf gut Raven.“
„Du auch.“
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