Part 2: Das Museum der Langeweile
Am fernen Horizont zeichneten sich die schemenhafte Umrisse eines, vom bloßen Umfang her, gigantischen Bauwerks ab. Doch Colins Anlass zur Freude, den er in diesem Augenblick an den Tag legte, wollte mir beim besten Willen nicht in den Kopf gehen. Bereits als wir uns noch in schier unendlicher Ferne zu dem Gebäude befanden, stellte sich mir die Frage, wer auf die völlig verblödete Idee kam, mit einem solch hässlichen Fleck die schöne Landschaft zu verunstalten. Trotz einer solch schier unbeschreiblichen Größe, dass er mühelos den Wölkchen auf den Kopf spucken könnte, strahlte das Gebäude gleichzeitig eine unglaubliche Aura der Langeweile aus. Sah man nämlich von dem bloßen Ausmaß ab, wirkte das restliche Gelände zum Todsterben öde. Eine triste graue und absolut gleichförmige Fassade, nahezu kein einziges Fenster, umringt von einem schier endlosen hartem Asphaltmeer: ein hässlicher quadratischer Klotz in der Landschaft.
Warum auch immer schienen Stan und Colin, im Gegensatz zu mir, ganz aus dem Häuschen zu sein.
„Irre! Wie groß das ist“, sagte Colin ehrfürchtig.
„Hammer geil“, stimmte Stan mitein.
Was mit den beiden Menschen los war? Keinen blassen Schimmer ... Ich meine: die halbe Landschaft plattgewalzt und zu welchem Zweck? Für einen hässlichen Betonklotz. Was man für eine große Mülltonnenplantage man an dieser Stelle anpflanzen hätte können ...
Doch der Tatsache zum Trotz, dass kein Festmahl auf uns wartete, schienen sich die beiden vor Freude fast zu beäumeln. Insbesondere Stan – ja, ihr habt richtig gehört, Stan – war plötzlich wie ausgewechselt.
„ ... haben das Raumfahrtzentrum in Moosbach City abgerissen und abseits von der Stadt wieder auferstehen lassen; wohl wegen dem Lärm. Kannst dir ja vorstellen was das für ein Krach sein muss, wenn die eine Rakete ins Universum jagen. Hast du eigentlich gewusst, dass die vor sieben Monaten eine bemannte Rakete zum Mars geschickt haben? Der Anlass dazu war, dass sie neulich mit einer Drohne Spuren von liquiden Teilchen auf der Planetenoberfläche gefunden haben. Im Moment aber kreisen sie, laut den Berichten im Fernsehen, in einer Umlaufbahn um den Planeten und scannen die äußere Ionosphäre des Planeten nach elektromagnetischen Resonanzen. Das ist aber noch nicht alles. Das Raumfahrtzentrum hat außerdem vor einigen Jahren eine Sonde Richtung Alpha Centauri geschickt. Das ist übrigens mit 1,3 Parsec das uns am nächstgelegene Sonnensystem. Es wird aber leider noch Jahrzehnte dauern, bis sie endlich den Rand unseres Systems erreicht hat und wir Infos von der anderen Seite bekommen. Wusstest du eigentlich, dass ... Deklination ... Hyperraum ... Lichtgeschwindigkeit ... Zeitdilatation ... gravimetrische Verzerrungen ... Quantensingularität ...“
Wie bitte, was? War ich hier der einzige, der kein Wort mehr verstand? Wie? Ihr auch? Gut, dann ist die Welt ja scheinbar doch noch in Ordnung und die Sonne dreht sich nach wie vor um uns ... Mars? Nicht einmal dem widerwärtigsten Schokoriegel würde ich einen solch hirnverbrannten Namen geben und was zum Plaudagei soll ein Parsec sein? Kann man das essen, oder ist das vielleicht doch eher eine Krankheit? Reich mir mal bitte die Schüssel mit dem Parsec runter. Ne, doch nicht ... Ich leide unter Parsec; ja, das passt, würde ich sagen.
Es grenzte schon fast an Körperverletzung, mit was Stan uns attackierte. Alles sprudelte in einer solch unglaublichen Geschwindigkeit aus ihm heraus, dass man sich wundern musste, dass er noch keinen grausamen Erstickungstod erlitten hatte. Neben Stans wasserfallartiger Flut an Gelaber kam Colins übliches sinnloses Geschwätz wahrlich wie ein ruhiges Bächchen in der Trockenzeit rüber. Einfach nur grausam, kann ich euch sagen ...
Colin, sichtlich überfordert, doch dennoch Interesse heuchelnd, klebte unterdessen an Stans Lippen wie frisch gekochte Nudeln auf dem Fußboden. Ich hingegen unternahm vergebliche Versuche, die hirnrissige Unterhaltung der beiden irgendwie zu überhören. Vergeblich, wie ihr euch sicher denken könnt ...
Die Grasflächen Hoenns, die unsere Schritte die ganze Zeit über so sanft und einladend abgefedert hatten, mussten mehr und mehr dem harten und tristen Betonboden des Raumfahrtzentrums weichen. Auch die imposante Größe, als wir uns nun in der unmittelbaren Nähe des Gebäudes befanden, wollte nichts an der Tatsache der unumstrittenen Hässlichkeit des Gebäudes ändern. Was wir jedoch vor wenigen Minuten nicht vor Augen hatten war, dass wir das Vergnügen hatten nach langer Zeit der Isolation eine wahre Armee von Menschen mitten im Nirgendwo wieder anzutreffen. Wie ihr euch sicher denken könnt, kehrte schon bald wieder der gewohnte Alltag ein: Kaum hatten wir uns seinen emsig kreuz und quer plaudernden Artgenossen auf Geruchsreichweite genähert, verschlug es Stan – wer hätte das gedacht - mal wieder völlig die Sprache; Colin übernahm stattdessen seine übliche Rolle als gehirnamputierte Labertasche; und ich, von einem Heer aus Zweifüßlern stark in Bedrängnis gesetzt, lieferte jedem, der das Pech hatte, ausgerechnet mir auf die Pfoten zu treten, ein schlagfertiges Argument, dem legendären Voltensobezwinger besser gebührenden Respekt und Diskretion zu zollen.
Keine Minute verging, bis meine Peiniger endlich kapiert hatten, mit wem sie es hier zu tun hatten und einen gewaltigen Abstand zu mir, Stan und Colin einnahmen und sich somit die Reihen um uns lichteten.
„Wie lange wir wohl anstehen müssen?“, fragte Colin mit leicht verlegenen Unterton, offenbar stark bemüht, irgendwie von meinem schockierenden Verhalten abzulenken und einen unbeteiligten Eindruck zu heucheln. „Wann machen die eigentlich auf? Eine Idee?“ - „Öhm ...“
Ja, das war endlich wieder der Stan, den ich seit jeher kannte; still und zurückhaltend. Alles war wieder beim Alten.
Zu welchem Zweck wir hier anstanden war mir trotz meiner nun wieder nahezu makellosen Sichtfreiheit ein Rätsel. Colin, ungeduldig im Minutentakt auf seine Armbanduhr schielend, trippelte nervös und auf seinen Zehenspitzen auf der Stelle umher, was dem Dreikäsehoch aber natürlich nicht sonderlich viel half. Zwischenzeitlich stießen mehr und mehr Menschen zu der bunt gemischten Gruppe, die sich vor den Toren des Raumfahrtzentrums versammelt hatte und reihten sich – unter dem uns gebührenden Respekt versteht sich – hinter uns ein.
Schon längst hatte ich jegliche Hoffnung abgelegt, dass wir wohlmöglich doch für ein zweites Frühstück anstanden, als sich die Schlange von Menschen sich langsam aber sicher sich voran bewegte; und wie als ob man dies das Startsignal war, begann, zu meinem Leidwesen, die Treterei und Schubserei auf Neuem.
„Na endlich! Hat ja auch lange genug genauert “, hörte ich den Klang von Colins Stimme irgendwo in dem restlichen Stimmengewirr untergehen.
Laut vor mich hin fluchend, als mich doch gerade wieder jemand unbarmherzig angerempelt, ja fast überrannt hatte, tauchte plötzlich Stan vor meinen Augen auf, der sich zu mir hinunter kniete
„Warte, ich nehm dich auf den Arm.“ – „Du willst mich auf den Arm nehmen? Sehe ich wirklich so aus, als wollte ich auf den Arm genommen werden? Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie bekloppt das aussehen würde? Nee, mein Lieber. Das lässt du ... Autsch! Kannst du nicht aufpassen, wo du hintrittst oder hast du etwa keine Augen im Kopf?!
Na warte ...!“
Es war ein geknickter Schwanz, eine Vorder- und eine äußerst schmerzende Hinterpfote, sowie drei weitere, von mir leicht angesengte Menschen notwendig, bis ich schließlich und endlich doch die Notwendigkeit von Stans Angebot in Betracht zog, und auf sein Angebot schweren Herzens einging. Meinen hohen Logenplatz auf den schmächtigen Armen meines Trainers eingenommen, kämpften wir uns Menschenschulter an Menschenschulter in einem solch langsamen Tempo durch die Heerscharen von Besuchern das selbst ein Schneckmag uns spöttisch belächeln würde.
„Wo hast du denn gesteckt? Dachte schon, du wärst in der Menschenmenge verloren gegangen“, sagte Colin. Nach minutenlanger Schleichfahrt hatten wir endlich eine dem Ausmaß des ganzen Gebäudes entsprechend große Einganghalle betreten. Außer dem Geruch einer chemischen Keule, wohl von dem frisch gebohnerten Fußboden, der kahlen grauen Zimmerdecke und vielen vertrauten Gesichtern gab es hier, trotz meinem erhöhten Beobachtungsposten nichts zu entdecken. Doch entging es mir nicht, dass Colin, als er mich auf Stans Armen bemerkte, einen kurzen Augenblick verstohlen zu mir hinab grinste.
„Lach nicht so blöd, Krümel“, keifte ich, ihm meinen vernichtendsten Blick zuwerfend. „Wenn Stan nur ein kleines Stückchen größer wäre, könnte ich dir Gartenzwerg volle Ladung ins Gesicht spucken. Wie würde dir das gefallen, eh?“
„Übrigens kann man sich hier vorne offenbar für eine Führung eintragen lassen.“ Colin deutete in die Richtung einer besonders großen Menschentraube, etwas von unserem leicht abgeschiedenen Stehplatz in der Nähe des Eingangs entfernt. „Was meinst du, sollen wir uns dort auch eintragen?“
„Gehen wir lieber wieder. Hier gibt’s ja doch nichts Interessantes zu sehen, und schon gar nichts zum Essen ...“, wollte ich ihm antworten, doch Stan kam mir zuvor.
„Ja, warum nicht ...?“, antwortete er schulterzuckend und durchquerte, wenige Augenblicke später, mit Colin an seiner Seite den Raum.
Fragt mich nicht warum, aber irgendwie hatte ich bei der ganzen Schose ein mulmiges Gefühl in der Magengegend ...