Schritt für Schritt schleppe ich mich voran. Schritt für Schritt spüre ich die stechenden Schmerzen in all meinen Gliedmaßen. Schritt für Schritt halte ich es aus, denn ich darf heute nicht scheitern, ich muss hier weg. Schritt für Schritt ...
Der Gestank von verwesendem Fleisch mischt sich mit dem Gestank von Maschinenöl. Ich kann sie schon sehen. Da vorne. Da vorne im Licht stehen sie. In ihrer Mitte steht dieser Tisch, der an irgendwelche Maschinen angeschlossen ist. Sie planen wieder irgendetwas. Ich schleiche mich näher heran. Noch bin ich im Schatten, unsichtbar für sie.
Das große, dunkle Pokémon schreitet in den hinteren Bereich des Raumes, wo ich es nicht mehr sehen kann. Ein angsterfüllter Schrei ertönt.
"Gladiantri?", hauche ich nicht hörbar. Das war mit Sicherheit seine Stimme, die da eben schrie. Was sie nur mit ihm vorhaben?
Ich beobachte, wie das finstere Pokémon wieder an den Tisch zurückkehrt, Gladiantri fest im Griff. Er zappelt und versucht verzweifelt, sich zu wehren. Doch er hat keine Chance. Das finstere Pokémon legt ihn unsanft auf den Tisch, während das gelbe Pokémon mithilfe seiner Psychokräfte Fesseln anbringt, damit Gladiantri sich nicht mehr bewegen kann.
"Bereit!", ruft das dunkle Pokémon. Das Pokémon, dessen Körper aus drei metallenen Teilen besteht, schwebt zu einer Art Kontrollvorrichtung, die an der Decke angebracht ist. Es stößt mächtige Blitze aus und lenkt diese auf die seltsame Vorrichtung.
Ein Blitz schießt hinunter, gefolgt von einem markerschütternden Schrei. Der Raum ist erfüllt von einem gleißenden Licht, das selbst mich umfässt. Es ist schmerzhaft, meine Gliedmaßen fühlen sich an, als würden sie sich endlos dehnen, mein Fell brennt mir auf der Haut, als würde mir jedes einzelne Haar ausgerissen, meine Knochen scheinen jeden Moment zerbersten zu wollen. Ich unterdrücke den Drang, zu schreien.
Langsam geht das Licht wieder zurück und mit ihm die Schmerzen. Ich versuche, einen Schritt vorwärts zu machen, um etwas zu erkennen, doch meine Beine geben nach und ich breche zusammen. Ich starre auf meine Vorderpfoten. Was ist mit meinem Fell passiert? Es ist nicht mehr nur so braun, wie es sein sollte. Ein paar Stellen sind gelb, manche blau, manche rot. Wie ist das möglich? Was war dieses Licht?
Ich richte meinen Blick nun wieder auf die drei feindlichen Pokémon und Gladiantri. Aber ... Gladiantri! Was haben sie mit ihm gemacht? Er sieht ganz anders aus als vorher. Größer, stärker. War das eine ... Entwicklung? So schnell?
"Eindringling! Eindringling!" Ich drehe mich um. Hinter mir schwebt Porygon. "Oh nein, das tut mir leid! Das war meine Programmierung!" Wütend sehe ich das Pokémon an. Eigentlich sollte er doch auf unserer Seite stehen, so, wie die Feinde ihn bei seiner Erschaffung gequält haben. Wenn seine Software nur nicht von den Feinden entwickelt worden wäre.
Die drei Pokémon drehen sich in meine Richtung und kommen näher. Haben sie mich gesehen? Das kann doch nicht sein! Was nun? Mein Herz hämmert schneller und lauter gegen meine Brust als je zuvor. Ich weiß, ich habe nur eine Chance. Und es ist nicht diese Sackgasse hinter mir.
"Ihr bekommt mich nie!", brülle ich und renne auf die Pokémon zu. Das gelbe Pokémon greift nach mir, doch ich weiche ihm aus und renne weiter. Das finstere Pokémon versucht ebenfalls, mich mit seinen blutroten Klauen zu erwischen, doch es verfehlt mich ganz knapp. Das metallene Pokémon senkt sich aus der Luft herab und steht mir nun genau im Weg. Ich nehme all meinen Mut zusammen und strecke es mit einem Bodycheck nieder, da spüre ich, wie mich irgendeine Macht an der Bewegung hindert.
Das gelbe Pokémon hat seine beiden Löffel erhoben und hält mich in der Luft schwebend gefangen. Ich kann mich nicht bewegen, ich kann nicht schreien. Ich bin wehrlos. Ich bin verloren.
"Jetzt bist du dran, Abschaum!", brüllt das finstere Pokémon und schreitet auf mich zu.
Doch plötzlich ertönt ein lautes Zischen und die beiden Pokémon gehen zu Boden.
"Porygon!", rufe ich überrascht.
"Lauf, Evoli!", ruft er mir zu. Ich nicke und renne weiter.
Dieser Raum wirkt so unglaublich steril, und obwohl all die medizinischen Werkzeuge und Experimentvorrichtungen sauber aussehen, stinkt es auch hier nach Tod und Verwesung.
Auf den silbergrauen Fliesen kann ich ein verzerrtes Spiegelbild von mir sehen. Anscheinend hat sich nicht nur der Körper von Gladiantri verändert, meiner jedoch nicht so drastisch. Einzig einzelne Stellen meines Fells scheinen die Farbe geändert zu haben. Wie ich wohl aussehen würde, wenn ich komplett entwickelt wäre? Wie man wohl die Weiterentwicklung von Evoli nennt?
Inzwischen bin ich am Ende dieses Raumes angekommen. Ich gehe durch die Tür hindurch und bin wieder von Dunkelheit umgeben. Hier stehen einige kleine Käfige, gerade groß genug für ein Pokémon meiner Größe.
Mollimorba liegt in einem davon. Sie scheint zu schlafen.
Yorkleff sitzt in einem anderen und heult laut. Irgendetwas scheint mit seinem linken Auge nicht zu stimmen, es schimmert milchig weiß und ist blutunterlaufen. In einem Käfig hinter ihm sitzt ein kleines Pokémon, das ebenfalls genau wie Yorkleff aussieht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er jemals Geschwister hatte. War das auch eines ihrer Experimente?
Ich gehe nun langsamer. Das alles waren einmal meine Freunde. Sollte ich versuchen, sie auch zu befreien? Aber wie soll ich das machen? Kann ich es überhaupt?
In einem weiteren Käfig sitzen Fluffeluff und Pii und streiten sich. Ich nähere mich dem Käfig.
"Was ist los mit euch?", frage ich ruhig. Eigentlich waren die beiden immer die besten Freunde.
"Verräter!", ruft Pii. Ich weiche wieder zurück. "Verräter! Ihr seid alle Verräter!"
"Was habe ich denn getan?", frage ich vorsichtig.
"Du gehörst doch zu denen!", brüllt Fluffeluff. Sie dreht sich zu Pii. "Und du auch!"
Ich habe keine Ahnung, was mit den beiden los ist. Sie können das doch nicht ernst meinen! Was haben die Feinde nur mit ihnen angestellt? Was haben sie nur aus uns allen gemacht? Wir waren einmal ein friedliches Dorf aus Kindern, doch jetzt ... Wir sind überhaupt nicht mehr wir selbst. Wir sind Fremde.
Ich wende mich ab und laufe schnell weiter. Ich muss von hier weg, sonst darf nichts mehr zählen!
Die Korridore werden immer düsterer, in manchen befinden sich Lachen von irgendwelchen klebrigen Substanzen auf dem Boden, die das Fell an meinen Pfoten verkleben. Dieser Ort ... Ich will hier keine Sekunde länger sein. Ich will mich befreien und wieder glücklich werden. Glücklich, so wie früher.
Ich laufe weiter, bis ich vor einem Problem stehe. Vor mir eine Wand, links und rechts von mir je ein Weg. Keiner von beiden scheint zu einem Ausgang zu führen. Wo soll ich nur hin?
"Evoli, hier entlang!", zischt eine Stimme.
Porygon! Ich habe zwar keine Ahnung, wie er hierher gekommen ist, aber ich bin froh, ihn zu sehen. So seltsam es ist, aber dieses von den Feinden erschaffene virtuelle Lebewesen, das sich Porygon nennt, ist der Einzige, dem ich hier noch trauen kann. Er ist der Einzige, der nicht mehr nur ein Schatten seiner Selbst ist.
Ich folge ihm durch den von zischenden Neonröhren beleuchteten Korridor. Er führt mich durch ein regelrechtes Labyrinth an Wegen, bis wir plötzlich in einer Sackgasse stehen. Ich sehe mich verwirrt um. Hat er sich verlaufen?
Er bewegt sich hinter mich und versperrt mir den Weg. "Jetzt hab ich dich."
Da verändert sich sein Körper. Das große, finstere, feindliche Pokémon!
Es lacht hämisch, als es mich mit seinen langen Klauen ergreift. "Dass du tatsächlich darauf hereingefallen bist ... Du Trottel! Das ist dein Ende!"