Siegertreppchen
Der Captain geht mit seinem Schiff unter, und darum ist es wohl nur passend, wenn sich mein letzter Wettbewerb um die freisten Freibeuter der sieben Weltmeere dreht. Wofür stehen Piraten? Für Seeräuberei, Brandschatzungen, Plündereien, Schatzsuchen, oder wollen sie einfach nur frei sein und Rum saufen? In diesem Wettbewerb ist es eure Aufgabe, eine kurze Erzählung zum Thema Piraten zu schreiben. Dabei gilt nicht nur die klassische Variante, wie man sie aus Geschichten und Filmen kennt - moderne Piraterie ist ein weit gefasster Begriff. Tobt euch aus. Ein Pokémonbezug ist nicht verpflichtend.
Platz 1
Die Wolken zogen immer dichter zusammen und es würde nicht mehr lange dauern, bis der Sturm über sie hinwegfegte. Wäre die Lage ein wenig anders, hätten sie den Sturm sogar zu ihrem Vorteil genutzt, doch so wie es gerade aussah, würde es ihnen noch zum Nachteil gereichen.
„Käpt’n!“, schrie ihr erster Offizier gegen den Wind und deutete zurück zum Heck. Der Wind blies stark und sie musste ihren Dreieckshut gut festhalten, damit er nicht in die See flog. Dunkelbraune Strähnen lugten darunter hervor und fielen ihr immer wieder in die Augen. Sie würde, wenn sie das hier überstanden haben, Sam darum bitten, ihre Mähne zu kürzen. Sie nervte sie schon jetzt, obwohl sie kein besonders langes Haar trug.
Mit ihren blau-grünen Augen sah sie zurück und über ihre Mannschaft hinweg. Sie eilten, um Seile und Segel besser zu befestigen, doch unheimlicher war der Klang der Kanonenschüsse im Hintergrund. Männer schrien auf und einige von ihnen deuteten auf die anfliegenden Kugeln.
„Achtung!“, schrie jemand. Die Erschütterung folgte nur wenige Sekunden danach, als die See noch mehr aufgewühlt wurde, als die Kanonenkugel nur knapp neben dem Steuerbord im Meer eintauchte. Knapp vorbei am Rumpf, aber durchgeschüttelt wurden sie trotzdem alle. Shira griff nach dem Steuerrad, einerseits sich festhaltend, andererseits versuchend das Schiff wegzudrehen.
Wenn sie dem Marineschiff nicht entkamen, wäre das hier ihr letztes Abenteuer. Dazu durfte es nicht kommen! Sie war nicht ohne Grund Käpt’n dieser Mannschaft! Frauen an der Spitze sah man nur selten und bei allen Ozeanen, es hatte verflucht viel Anstrengungen gekostet, diese Bastarde auf ihre Seite zu ziehen! Sie würde keineswegs zulassen, ihre Mannschaft zu verlieren, geschweige denn ihr eigenes Leben!
„Marios, übernimm das Steuer“, brüllte sie gegen den Wind an und wartete, dass der Riese zu ihr trat. Er war ein guter Mann, wenn auch sehr temperamentvoll. Man nannte ihn nicht ohne Grund „Streithahn Marios“. Wenn er einmal los legte, dann gab es keine heilen Knochen mehr. Besonders, wenn er sich gemeinsam mit Bruchfaust Cyndric ins Getümmel stürzte. Beide Männer besaßen in etwa die gleiche Körperstatur und -größe und beide waren sie streitlustig. Doch sie besaßen auch ihre Unterschiede, selbst wenn man das kaum glauben wollte.
Mit seinen riesigen Pranken griff Marios nach dem Steuerbord. Er war ein guter Steuermann, weswegen Shira ihm völlig vertraute. Sie selbst eilte ihren anderen Männern zu Hilfe und befestigte eines der Hauptseile am Mast.
„Käpt’n, der Wind dreht“, rief ihr Smutje, der durch das ganze Gerüttel im Schiffsrumpf nach oben gescheucht worden war.
„Dammisch!“, war alles, was sie dazu zu sagen hatte. Wenn der Wind drehte, würde es schwieriger werden dem Marineschiff zu entkommen. Viel schlimmer noch: Sie würden an Fahrt verlieren und eingeholt werden. Was nun? Versuchen weiter zu fliehen oder sich dem scheinbar unausweichlichem Kampf stellen? Sie wusste, dass ihre Männer müde waren und ihr geliebtes Schiff schon einiges abbekommen hatte. Würden sie einen Kampf überleben? Andererseits … Wenn es sich nicht vermeiden ließ, dann sollten sie wenigstens mit einem großen Knall untergehen, aye?
„Hart Steuerbord“, brüllte sie Marios entgegen.
„Was?“ Ihr Smutje und einige andere Männer hinter ihr, schienen darüber entsetzt zu sein. Wenn sie das Schiff wendeten, würden sie dem Feind noch entgegen segeln! Konnten sie sich das leisten?
„Mach schon!“, geiferte Shira den Einwürfen zum Trotz, ihrem Steuermann entgegen. Dieser verzog seine Lippen zu einem grimmigen Lächeln und folgte ihrem Befehl. Wenn sein Käpt’n darauf aus war sich mit der Marine anzulegen, dann würde er der Letzte sein, der was dagegen sagen würde.
„Festhalten!“, brüllte er mit seiner tiefen Stimme und lachte gehässig auf. Auf dem Deck kullerten einige Männer umher. Shiras Smutje verlor dabei den Boden unter den Füßen, denn die Holzplanken waren wegen dem Meer rutschig. Er bekam den Mast nicht mehr zum Greifen und prallte gegen die andere Seite der Reling, wodurch ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde.
„Damian, alles gut?“, wollte Shira wissen, die sich Sorgen um den jungen Piraten machte, und trat auf ihn zu. Er war wie eine Art Bruder für sie in der Zeit geworden, die sie mit all den Bastarden hier verbracht hatte.
„Geht schon, Käpt’n“, stöhnte er und rieb sich über die Rippen. Offenbar hatte er Schmerzen, doch er biss die Zähne zusammen und rappelte sich wieder auf.
„Kanonen bereit machen“, bellte sie weitere Befehle. Da die Kanoniere schon vorhin unter Deck in Stellung gegangen waren, vertrödelten sie keine kostbare Zeit, um schussbereit zu sein.
„Sollen sie nur kommen“, knurrte Shira und blickte über das Meer zur Marine.
Aron der Schlächter, wie er auf dem Meer genannt wurde, verfolgte sie schon seit drei Tagen und drei Nächten. Shira wäre diese Hetzjagd niemals eingegangen, wenn sie nicht wüsste, wie gefährlich Aron war. Dieser Mann besaß nicht ohne Grund seinen Beinamen. Er würde keine Gnade gewähren. Mit keinem einzigen Piraten, besonders mit ihr nicht. Er hasste sie, so wie sie ihn hasste. Sie verbanden seit über zwei Jahren eine Feindschaft, die mit einer kleinen Lappalie in einer alten Schenke begonnen hatte. Während Aron der Meinung war, dass er alles bekommen konnte, was er wollte, demonstrierte Shira ihm, dass bei ihr nichts zu holen war. Es war irrsinnig sich so einem gefährlichen Mann zu widersetzen, doch schon immer war sie anders gewesen. Statt als sittsame kleine Ehefrau hinterm Herdfeuer zu stehen, suchte sie ihre grenzenlose Freiheit auf dem Meer. Nur zu gut erinnerte sie sich noch an die Anfangszeit, als sie eine Mannschaft gesucht hatte, mit der sie segeln konnte. Nicht als Mitglied, sondern als Kapitän eines Schiffes.
„Bereit machen!“, riss sich Shira selbst aus ihren Gedanken und ließ die Kanoniere feuern. Die ersten Schüsse knallten durch die Luft und stoben das Meerwasser auf. Währenddessen nahm der Wind immer mehr zu, so dass es schwieriger wurde sich überhaupt auf den Beinen zu halten.
„Käpt’n, da kommt ein weit’res Schiff!“, rief Cyndric ihr zu, der an einem Seil nach unten rutschte. Bis gerade eben war er im Ausguck gewesen, doch allmählich wurde es da oben zu gefährlich. Außerdem wollte er sich den Spaß nicht entgehen lassen, sollten sie auf Tuchfühlung mit der feindlichen Marine gehen.
„Hast du die Flagge gesehen?“, wollte sie von ihm wissen, als der beinahe zwei Meter große Kerl neben ihr stehen blieb.
„Aye“, antwortete er ihr und grinste breit, so dass sie seine Zahnlücke bewundern konnte.
„Gut.“ Sie selbst musste lächeln, denn sie hatte seinen Blick richtig gedeutet. Sie wusste, welches Schiff da auf sie zu kam und drehte sich deshalb zu ihrer Mannschaft. Ihren Säbel zog sie dabei aus der Scheide und hielt ihn weit nach oben.
„Es ist soweit! Schluss mit der Flucht, Schluss mit der Jagd! Wir werden diesen verdammten Landratten zeigen, was ihnen blüht, wenn sie sich mit UNS anlegen!“ Sie musste gegen den Wind schreien, doch noch lauter war das Getose ihrer Männer, die dem Kampf entgegen fieberten. Egal wie müde sie waren, wie hungrig ihre Mägen knurrten, sie würden kämpfen. Dafür liebte sie jeden einzelnen von ihnen. Es war schwer gewesen, sie auf ihre Seite zu ziehen, doch gerade das und das vergangene Erlebte hatte sie alle zusammen geschweißt.
Weitere Kanonenschüsse waren zu hören. Holz ächzte und zerbrach in Tausende Splitter, die durch die Luft flogen. Die ersten Männer schrien vor Schmerzen auf und Shira wusste, auch Blut floss bereits in die tiefe See.
„Bereit machen zum Entern!“, rief sie, als nur noch wenige Meter zwischen ihrem und Arons Schiff waren. Die ersten Piraten schwangen sich an Seilen über die Reling zu der Marine, die sie willkommen hießen. Schreie wurden lauter, während der Wind um ihre Ohren pfiff. Klingen trafen aufeinander und schnitten tiefe Wunden ins Fleisch des Gegners.
Shira hielt sich selbst nicht zurück. Sie würde Aron entgegen treten müssen, damit dieser Spuk endlich ein Ende fand. Es wurde Zeit, dass der Schlächter selbst zur Schlachtbank geführt wurde. Kein weiterer Pirat sollte durch seine Hand mehr sterben!
Während sie sich auf das andere Marineschiff schwang, kam das dritte Schiff immer näher. Die schwarze Flagge mit dem Totenkopf war ein schlechtes Zeichen für die Hüter des Gesetzes. Für Shira war es die Rettung. Sie hätte sich nicht in den Kampf gestürzt, wenn sie nicht gewusst hätte, dass dort Tyron angesegelt kam. Ein Mann, der noch länger Pirat war als sie, obgleich er nur wenige Jahre älter war. Er war einer der wenigen Außenstehenden, der sie akzeptierte. Als Frau wie auch als Kapt’n einer Piratenmannschaft. Man konnte sagen, dass sie beide unabhängige Verbündete waren. Sie trafen sich hier und dort und segelten dennoch stets mit ihren eigenen Schiffen weiter - getrennt.
Mit einer Drehung wandte sich Shira um und blickte direkt in die stechenden Augen Arons. Es war soweit, der Kampf würde beginnen. Es würde sein Untergang werden, das schwor sie sich und hob die Arme mit dem Säbel und stürzte sich auf ihren Erzfeind.
„STIRB!“
Platz 2
'Egal', überlegte Karrhen nachdenklich, 'über welchem Meer man dahinsegelt – man fühlt sich klein und schwach, geradezu bedeutungslos.'
Sanft dahin rollende Wellen kräuselten die unstete Oberfläche des Ozeans, der sich um sie herum erstreckte, während ein allgegenwärtiges Rauschen eine kaum hörbare Melodie von Weite und gefährlicher Verheißung summte. Immer wieder brach sich das schräg einfallende Licht auf den Kämmen der unsteten Wellen und ließ die gleiche Stelle von Augenblick zu Augenblick in einem anderen Ton funkeln. Die ständig in Bewegung befindlichen Wipfel schienen ihr lockend zuzuwinken und zum Verweilen einzuladen, doch Karrhen wusste, dass der Schein trog: Nicht umsonst bezahlte man sie für diesen Job, anstatt berittene Boten auszusenden – unter dem undurchdringlich scheinenden Nadel- und Blättermeer des Waldes lauerten Gefahren, von denen man ehrfurchtsvoll flüsternd am sicheren und behaglichen Tisch einer Taverne erzählte.
Der graubraune Greif, der sie über die gewaltige Fläche des Weißenhains trug, schlug etwas kräftiger mit den Schwingen, um ein Luftloch zu umfliegen und wieder eine geeignete Strömung zu finden. Lächelnd tätschelte die Kurierin den Hals ihres ungewöhnlichen Reittieres. Es war zwar entgegen ihrer Überzeugung, ein Nutztier mit einem Namen zu versehen, doch sie hatte das zuverlässige Mischwesen aus Löwe und Adler schon nach kurzer Zeit in ihr Herz geschlossen. Vielleicht würde sie ihre Ansichten doch überdenken.
Zuversichtlich drehte sich das brünette Leichtgewicht leicht im Sattel und überprüfte zum wiederholten mal den festen Sitz der Taschen, die zu beiden Seiten des Greifs festgeschnallt waren.
Sie wusste nicht genau, aus was ihre Lieferung bestand. Es wäre gelogen, zu behaupten, dass sie nicht neugierig gewesen wäre. Doch es gehörte zu ihrem Geschäftscredo, dass das nicht ihre Angelegenheit war, und die Kunden schätzten das. Zumindest nahm sie das an. Gut, es würde wohl niemand etwas ahnen, wenn sie einen kurzen Blick in die Beutel warf, doch sie stand erst am Anfang ihrer geschäftlichen Unternehmungen und war gerade dabei, sich einen Ruf aufzubauen. Warum also ein unnötiges Risiko eingehen?
Karrhen rückte den ledernen, mit geschliffenen Glasscheiben ausgestatteten Sichtschutz zurecht, der sie vor dem bisweilen scharfen Zugwind schützen sollte, und konzentrierte sich wieder voll und ganz auf den Weg, der noch vor ihr lag.
In der Ferne konnte sie bereits die Flanken der Amolleberge erahnen, die wie eine steile Inselgruppe aus dem Grünen Meer herausragten. Dort hinter lag das Ziel ihrer Reise - das Königreich Revlan, in dessen Hauptstadt sie die Eilsendung bringen sollte.
Plötzlich ließ der Greif unter ihr ein heiseres, warnendes Kreischen ertönen und schlug unsicher mit den Flügeln. Karrhen zischte und krallte sich an der Haltestange ihres Sattels fest.
Sie hatte sie auch gesehen.
Von Westen, mit Blut des untergehenden Tages im Rücken, hielten ein paar diffuse Schatten zielsicher auf sie zu.
Die junge Frau fluchte saftig. Sie konnte die Zahl der rasch näher kommenden Gruppe wegen des Gegenlichts nur schwer einschätzen. Der Richtung zufolge, aus der sie kamen, war es jedoch wahrscheinlich, dass es sich um eine der Banden handelte, die Luftkuriere auf dem Weg über das unwegsame Meer aus Grün überfielen und um ihre Beute erleichterten.
„Verdammte Krötensöhne!“, krächzte Karrhen mit wild galoppierendem Herzen. Rasch lehnte sie sich über den Hals ihres Greifs und gab ihm mit den kurzen Lenkstangen das Signal, schneller zu fliegen. Insgeheim verfluche sie ihren Übermut und ihren entsetzlichen Geiz, dass sie alle Warnungen und Ratschläge in den Wind geschlagen hatte.
Sie hoffte, dass ihr erster größerer Auftrag nicht der letzte sein würde.
Liszt zischte triumphierend und schmiegte sich noch enger an den schlanken, wendigen Körper seines Flugwarans. Hitzig glühten seine Wangen vor Aufregung und das Blut rauschte mit atemberaubender Geschwindigkeit in seinen Ohren. Den anderen, laut brüllenden Mitgliedern seiner Mannschaft schien es ähnlich zu gehen: Die erste Beute seit dem letzten Halbmond, und noch dazu allein und schutzlos unterwegs!
Mit einem immer breiter werdenden Grinsen brachten er und seine Kameraden sich in Formation. Die dünnhäutigen, ledrigen Flügel des Reptils zwischen seinen Schenkeln schlugen weich, aber kräftig durch die Luft und brachten ihn dem einsamen Flieger mit schlängelnden Bewegungen immer näher. Geschickt flog Liszt eine Schleife, um sich auf die anderen Seite der Beute zu bringen, während der Rest auf anderen Wegen versuchte, die sie zu umzingeln. Er war mittlerweile nahe genug, um zu erkennen, dass das das vor ihm befindliche Wesen ein Greif war, dem schmalen Körperbau und den ruckartigen, nervösen Bewegungen nach zu Urteilen ein noch junges, unerfahreneres Tier.
Liszt leckte sich mit einem bösen, erwartungsvollen Grinsen die spröden Lippen, als er den wild umherflatternden Zopf des Reiters und die wohlgeformten Rundungen bemerkte.
'Soso, ein Weib', dachte er. 'Das verspricht noch größeres Vergnügen, als ich erwartet hatte ...'
Von wegen Galopp. Die wilde Pferdeherde rannte nun irre und panisch durch ihren Brustkorb und versuchte verzweifelt, ihr knöchernes Gefängnis zu sprengen.
Karrhen bemerkte, wie die bedrohlich aussehenden Gestalten auf ihren fliegenden Echsen sie langsam umkreisten und zu umzingeln begannen. Erstickt keuchte sie auf, als sie aus dem Augenwinkel etwas aufblitzen sah. Hastig schlug sie gegen den gefiederten Hals des Greifen, der die Flügel einklappte und sofort ein paar Meter in die Tiefe fiel. Gerade noch rechtzeitig, um dem geübt geworfenen Handbeil zu entgehen, das auf der anderen Seite sogleich von einem weiteren der laut grölenden Angreifer aufgefangen wurde.
Der Greif breitete erneut die Flügel aus und bremste den Sturz auf einer unsichtbaren Luftströmung ab, doch von unten schraubte sich bereits das nächste Mitglied der Bande empor. Ein lautes Kreischen zerriss die Luft, als das Reptil des Marodeurs die Löwenschwinge hart an der Seite traf.
Karrhens Beine waren zwar fest mit Schnallen am Sattel verschnürt, doch der Stoß hatte ihren Reitgefährten genug aus dem Gleichgewicht gebracht, vielleicht sogar verletzt.
Eher taumelte als flog das Tier über der lebendigen Ebene aus Zweigen und Blättern und schien sich nur noch mit Mühe in der Luft halten zu können.
Ein erstickter Schrei setzte sich in ihrer Kehle fest, die junge Frau konnte sich nur noch wie von Sinnen an den kräftigen Hals des Greifen klammern.
Und zu all den Göttern beten, an die sie nie geglaubt hatte.
Entschlossen kniff Liszt die Augen zusammen, den Blick unbeirrbar auf seine Beute fixiert, die sich nicht einmal großartig wehrte. Schade. Aber vielleicht würde sich die Kleine dafür bei anderer Gelegenheit als feuriger erweisen …
Mit präzisen Pfiffen signalisierte Liszt seinem Waran, den Greif noch einmal zu rammen. Elegant beschrieb das schwarz geschuppte Tier einen gedrehten Bogen, während seine Kameraden das gefiederte und pelzbewehrte Wesen auf andere Weise zu schwächen versuchten.
Mit einem kräftigen Stoß schraubte sich das Reptil erneut empor, der jehe Ruck verursachte ein erregendes Kribbeln in der Magengegend des Lufträubers. Mit einem freudigen Knurren erwartete Liszt den Aufprall.
Karrhen fiel.
Sie wusste nicht, was genau passiert war, doch wo vor einem Moment noch der warme, beruhigende Körper ihres Partners gewesen war, befand sich nur noch der nutzlose Ledersattel zwischen ihren Beinen. Mit lähmendem Schrecken erkannte sie, während die rauschenden Wipfel immer näher kamen, dass sie nichts tun konnte. Tausend Nadeln des Entsetzens stachen in ihren Körper, während die Schwerkraft sie unerbittlich weiter nach unten riss.
Plötzlich streifte irgendetwas ihren Schädel – dann erbarmte sich die Finsternis ihrer.
Platz 3
Holz ist kalt. Es ist kalt, wenn es vom Tod flüstert, kalt wie der Henker. Kalt wie das Beil.
Oh, ja, ich kenne das Schafott, kann mich nicht erinnern, es jemals nicht gekannt zu haben. Ich habe es angesehen, als Kind. Neugierig, sensationsgierig wie ein Kind, wie Kinder sind. Meine Mutter wollte nicht in die Faszination in meinen Augen sehen. Sie wollte den Schrecken sehen, die Furcht. Aber ich war ein Kind und Kinder kennen keine Furcht. Nicht so wie ich es jetzt tue.
Furcht. Ich dachte, ich hätte sie verloren, auf dem Meer. Ich dachte, die Fluten hätten sie aus mir herausgespült, mich mit einer Salzschicht überzogen, die keine Angst durchdringen könnte. Ja, ich kann es schmecken, kann es hören: das Salz des Meeres in der Luft, den schiefen Gesang der Möwen, so disharmonisch. So herrlich disharmonisch. Wie Er. Wie sein ganzes Sein.
Er tanzt über das Deck, das warme Holz lacht knirschend. Er dreht sich, taumelt zur Reling, streckt den Kopf in den Wind. Ich folge ihm, weil ich seine Leichtigkeit liebe und es mir bisher noch nicht gelungen ist, sie in mich aufzunehmen. Das Schiff teilt das Meer, sein Lachen die Luft.
"Warum lachst du?", frage ich ihn, ernsthaft irritiert und noch neugieriger.
"Landratte", ist seine Antwort. "Landratte."
Das Wasser muss meine Wut wohl spüren, es wirft sich brüllend gegen das Schiff. Die Segel fluchen und lassen sich doch nicht beirren. Sie hangeln nach dem Wind, bezwingen das Meer wie Er meinen Zorn. Die Wut ebbt ab, bis zur nächsten Ebbe, die wir wohl in einer Schänke verbringen werden. Es geht an Land.
Ich vermisse das Meer, betrachte es in der Ferne. Blau in Blau schmiegt es sich an den strahlenden Horizont. Ich beobachte das Auf und Ab der Wellen, solange ich kann. So schön. So unendlich schön. Die Hand auf meiner Schulter: fordernd. Ich wehre mich nicht. Es scheint mir zu mühselig. Ich bereue nichts. Nur, dass ich das Meer nicht mehr sehen kann, als ich nieder knie. Mir bleibt nur die Flut aus Menschen, ihr Tosen in der Luft. Ein Kind in der Menge betrachtet mich mit der Neugierde eines Kindes.
Er lächelt mich an, bevor er mich schultert.
"Du willst ein Pirat sein?" Er lacht sein lautestes Lachen. "Du Landratte?"
"Ich habe mich auf das Schiff geschlichen!" Protestierend schlage ich auf seinen Rücken ein. "Ist das etwa keine Leistung?"
Er hält nicht inne; nicht eine Sekunde. Und doch ...
"Vielleicht", sagt Er. "Vielleicht."
'Vielleicht'. Er hasste dieses Wort und sagte es ständig. 'Vielleicht'. Er hat mich dem Kapitän vorgestellt. Er hat mich zu einem Piraten gemacht, hat mich dem Recht entrissen. Endlich. Ich konnte es nicht allein, konnte nicht aufs Meer hinaus, konnte mich nur beugen – dem Gesetz, der Regierung, dem Status quo. Dabei wollte ich nie viel. Nur böse sein. Meeresgrundtief gierig. Und Er? Er hat mich Bescheidenheit gelehrt, weil ein Pirat – ein in aller Naivität idealisierter Pirat – genau das ist: bescheiden.
Ich senke den Kopf. Nicht vor dem Henker, nicht auf seinen Befehl. Auch nicht vor den braven Bürgern, nicht vor der Welt, nicht vor einem falschen Gott. Ich senke mein Haupt vor dem Meer. Es kann es nicht sehen. Er auch nicht. Er ist fortgegangen, mit den Wellen. Er hat sie rot gefärbt, sie haben ihn angelächelt. Und Er? Er hat mich angelächelt.
"Landratte", hat der Schelm aus seinen bleichen Augen geflüstert. "Landratte."
Landratte. Bis zu seinem letzten Moment hat er mich so genannt. Und bis zu seinem letzten Moment hat er es nicht ernst gemeint. Ich habe die Bewunderung in seinen Augen gesehen, wenn er sie in meinen sah. Die, die mich gefangen nahmen, haben es nicht gesehen. Sie haben mich angespuckt, mich zu Boden geworfen, mich ferngehalten von den Tiefen der See. Weil es nicht das Schauspiel gewesen wäre, das ihr Blutdurst wünscht. Ich kann es ihnen nicht verübeln, ich am Allerwenigsten. Sie sind Piraten, so wie ich. Sie wollen es nur nicht wissen.
Die Menge tobt. Die Menge johlt.
Ich wollte immer ein Pirat sein. Ich habe immer davon geträumt. Und als ich es war, wollte ich noch mehr sein. Ich wollte Er sein. Und jetzt: kaltes Holz unter mir, kaltes Eisen in meinem Nacken. Er ist fort, tanzt mit dem Meer. Doch ich bin hier, ich bin hier, an diesem Ort, an dem alles Leben verschwimmt. Und alles wird anders.
Alles wird wie ...
Wie ein …
Wie ein Traum. Wie mein Traum. Ein Alptraum, pflegte meine Mutter zu sagen. Doch sie irrte. Ein Alptraum ist, wie dieser Traum endet, wie ich ihn beende, als ich den Kopf tiefer senke.
Der Preis meiner Freiheit ist ihr Verlust.