Kapitel 8 – Das 1-Tages-Praktikum
(BPV)
„Ich hoffe, ihr wisst alle, was heute ist?“, schreit Fräulein Mai in unser Klassenzimmer, als sie es betritt. Die ganze Klasse saß unnormal hibbelig auf ihren Plätzen. Daran dürfte unsere Klassenleitung eigentlich schon bemerken, dass keiner vergessen hat, was für ein spezieller Ausflug uns heute erwartet. Das 1-Tages-Praktikum steht an, wie immer gegen Ende des Schuljahres, ganz nahe bei den Abschlussprüfungen.
Die ganze Klasse wurde bereits vor einer Woche in mehrere Gruppen eingeteilt und zu verschiedenen Ranger Basen zugeteilt. Ich darf zusammen mit Kathrin und Primo nach Brisenau, dort, wo unser Freiluftunterrichtslehrer Frohderich arbeitet. Auch ein paar, die den Wunsch hegen, Mechaniker oder Techniker zu werden, dürfen zur Brisenau Basis, und haben ab dann entweder bei den Technikern Einführungen und hören persönliche Eindrücke, oder sie sind bei ein paar Außeneinsätzen der Mechaniker dabei.
Da jedoch gestern bereits zwei Gruppen genau das in Brisenau erlebt haben, sind heute wir als Ranger dran. Im Gegensatz dazu waren gestern die Ranger bereits in der Ranger Vereinigung, dafür wird heute gewechselt. Auch Rhythmia darf heute das Ranger HQ besuchen, zusammen mit Celia und Anna. Es gefällt ihr ganz und gar nicht, dass ich mit ihrem besten Freund den ganzen Tag verbringen muss, und nicht sie. Seit sie es weiß, hat sie mir das Leben noch schwerer gemacht als bisher.
„Nun denn, ihr wisst, wohin ihr müsst. Macht bitte keine Abstecher, trödelt nicht, bleibt höflich und seid allen voran vorsichtig! Wenn ihr euch verletzt, werdet ihr so schnell nicht mehr erleben, wie es jemanden geht, der bereits euren Traumberuf ausübt“, schärft sie uns ein, „Das 1-Tages-Praktikum ist während eures Schuljahres eine einmalige Erfahrung.“ Die Schüler brummeln zustimmend, während sie das Klassenzimmer verlassen.
Primo, Kathrin und ich, wir trotten hinterher. Ich spüre den bohrenden, giftigen Blick von Blondi in meinem Nacken, bis wir vor dem Schultor spielen. Meine Nackenhärchen haben sich auf dem Schulhof bereits aufgestellt und dem Drang, sie mit einem Knurren abzuschrecken, muss ich ebenfalls unterdrücken. Das einzige, was ich machen kann, ist, meine Hände zu Fäusten zu ballen und darauf warten, dass wir uns endlich trennen können.
Am Schultor ist es schließlich so weit. Rhythmia muss sich, glücklicherweise, mehr beeilen als wir, um rechtzeitig zur Vereinigung zu kommen. „Bis heute Abend!“, verabschiedet sie sich zwitschernd von ihrem besten Freund und meiner besten Freundin, ignoriert mich weiterhin und zischt anschließend über die Holzbrücke. Ungerührt starre ich ihr hinterher. Ein ganzer Tag ohne sie, dafür darf ich zusehen, wie echte Ranger arbeiten. Das müsste mein absoluter Traumtag werden. Jedenfalls während meiner Schulzeit.
Kathrin scheint diese Ansicht voll und ganz zu teilen. „Lasst uns schon gehen“, drängelt sie, packt sich meinen Arm und zieht mich hinter der Blondine, die schon längst im Wald auf der anderen Seite verschwunden ist, her. Primo hingegen ist genauso ruhig wie immer. Der macht keine Hektik. Nur kurz blicke ich mich zu ihm um. Sein entspannter Gesichtsausdruck wird von einem verträumt wirkenden Lächeln geziert.
Wir wollen gerade durch das Tor gehen, als jemand an uns vorbeizischt und kurz danach auch ein kleines Bidiza hinterher. Als ich mich schnell umdrehe, schneller, als ich gewollt hatte, schaffe ich es sogar noch zu sehen, wie Klein Hein, der Milchmann in der Gegend, auf einen der Bäume klettern will. Leider schafft er es kaum. Schließlich klammert er sich nur noch an dem Stamm, gerade so weit oben, dass das Bidiza ihn selbst springend nicht erreichen kann.
Es quietscht weiterhin bei den Wurzeln, umrundet den Baum und scheint total ausgelassen zu sein. „Spielt er Fangen mit dem Bidiza?“, fragt sich Kathrin. Ihr verwunderter Blick bestätigt, dass sie noch nie jemanden getroffen hat, der Angst vor Pokémon hat. Für mich ist das auch ein Schock gewesen, gerade, weil Hein vor einem viel zu kleinem Babyknospi weggelaufen ist. „Nein, ganz und gar nicht“, jammert er, ein Stück den Stamm hinabrutschend.
Grinsend greife ich nach meinem FangKom und ehe ich es mich versehe, habe ich das verspielte Bidiza bereits zu meinem Pokémon Freund gemacht. Freudig mit dem Schwänzchen wedelnd, läuft es zu mir herüber und springt um meine Beine herum. Kathrin beugt sie zu ihm hinab, um es hinter den Ohren zu kraulen. „Was bist du denn für ein süßes Ding“, kichert sie.
„Weißt du“, sage ich ihr so leise, dass Hein mich nicht verstehen kann, „Klein Hein hier ist nicht nur unser Milchmann, sondern auch die einzige Person in ganz Almia, die Angst vor Pokémon hat. Leider macht es ihm sein Beruf nicht leichter, denn der Milchgeruch scheint die Pokémon anzulocken.“ Inzwischen ist Hein zu uns herüber gekommen, aber seine Augen hat er unruhig auf das Bidiza gerichtet, das Kathrin immer noch streichelt.
„Es wird Ihnen nicht hinterherlaufen“, erkläre ich ihm, „Erstens ist es viel zu abgelenkt durch Kathrins Streicheleinheiten und zweitens wird es sich Ihnen nicht mehr nähern, solange ich nicht sage, dass es das tun soll.“ „D-danke“, stammelt er, „Ich glaube, wenn ich daheim bin, brauche ich erst mal Aspirin…“ Sich die Stirn reibend, zieht er von Dannen. „Wie kann man nur Angst vor dir haben“, murmelt Kathrin und krault ein letztes Mal das Bidiza, „Aber jetzt erst mal weiter. Auf nach Brisenau!“
Wortlos lasse ich mich von meiner besten Freundin mitziehen. Auf der Holzbrücke wird sie langsamer und blickt erst einmal runter auf den reißenden Fluss. Normalerweise dürfen wir den Schulbereich nicht verlassen, das heißt, alles hinter halb des Schultores ist für uns mehr oder weniger unbekanntes Terrain. Uns wurde mitgeteilt, dass das so sein muss, weil wir auch unsere Abschlussprüfung teilweise hier austragen werden.
„Ich wusste gar nicht mehr, wie stark die Strömung hier ist!“, quiekt Kathrin. Tatsächlich sieht das Wasser unterhalb der Brücke nicht gerade so aus, als wäre es zum Baden gut geeignet. Das Ufer zu beiden Seiten ist teils steinig, teils felsig und teils auch dicht mit Gras bewachsen. „Wie solltest du auch, wenn du sie erst einmal gesehen hast, und das war damals, als du zum ersten Mal in Richtung Schule gegangen bist“, lache ich.
„Naja, Baden möchte ich da drin auf jeden Fall nicht“, meint sie noch und dreht sich zu mir um. Primo hat uns inzwischen eingeholt, obwohl er immer noch träumerisch dreinschaut. Was ist denn mit ihm heute los? Tagträumen passt doch sonst auch nicht zu ihm. Ich wedele mit einer Hand sicherheitshalber vor seinem Gesicht. „Dir geht’s gut?“, frage ich. Er benimmt sich ein wenig so wie Kathrin, bevor sie mir erzählt hat, was an ihrem fünften Geburtstag passiert ist.
Verwirrt blinzelt er mich an, als hinge ein Schleier vor seinen Augen, dann sagt er: „Klar, ich muss heute nur die ganze Zeit an etwas denken…“, erklärt er. „Und an was, wenn ich frage darf?“ Abwehrend schüttelt er den Kopf. „Morgen ist es vorbei“, verspricht er. Zweifelnd hebe ich eine Augenbraue, aber Kathrin hat schon wieder meinen Arm. So langsam wird sie Rhythmia immer ähnlicher, was es das hinter sich herziehen angeht.
Aber lange macht sie es ohnehin nicht. Denn mitten auf der Holzbrücke treffen wir abermals auf eine Person. Ein kleines Mädchen, um genau zu sein, mit taillenlangen, blonden Haaren, in denen eine rote Schleife steckt, und in einem lila Kleidchen. Ihr verzweifeltes „Mein… Mein großer Bruder“ und ihr Schniefen habe ich schon von weitem gehört. Ein Blick genügt um zu merken, wie hilflos die Kleine ist.
Als wir bei ihr ankommen, werden ihre Augen ganz groß. Ihr Wimmern wird zu leise, um noch etwas zu hören, aber ich frage trotzdem nach. „Was ist denn mit deinem großen Bruder?“ Die Nase hochziehend murmelt sie: „Er ist nicht hier…“ Meine Gegenfrage bleibt mir erspart, als ich bereits Schritte hinter mir wahrnehme. Ich wirbele herum. Zwei Jungen haben soeben die Holzbrücke betreten und ich erkenne sofort an den Haarfarben, wer das ist.
„Hey, Tag, allen zusammen“, ruft Michel uns entgegen, „…. Was ist hier denn-“ Weit kommt er nicht, denn er wird von Albert neben ihm abgeschnitten: „Melodia! Was machst du denn hier?“ Sofort hellt sich das Gesicht des Mädchens auf. Freudig kichernd läuft sie an mir vorbei: „Hey, Albert! Ich wollte dich besuchen!“ Ich bemerke, wie Kathrin die Geschwister interessiert beobachtet und sich währenddessen ein Lächeln nicht verkneifen kann. Sicherlich kann sie nicht anders, als an ihre kleine Schwester Lucy zu denken.
Albert findet es allerdings nicht gut, dass er Besuch hat. „Aber Melodia! Ich hab dir doch gesagt, du darfst nicht hierherkommen. Noch dazu alleine. Du weißt doch, wie lange und gefährlich der Weg von hier bis nach Havebrück sein kann.“ Das Mädchen fängt an, zu schmollen. „Aber… Großer Bruder! Ich musste dich einfach sehen…“, wimmert sie. „Melodia…“, der blonde Junge streicht ihr über den Kopf, „Ich vermisse dich ja auch, und sorge mich um dich, aber genau deswegen darfst du mich nicht besuchen. Komm, wir gehen gemeinsam zurück nach Havebrück.“
Lächelnd nimmt er sie an der Hand, winkt uns kurz und verschwindet schließlich mit seiner kleinen Schwester und Michel am Ende der Holzbrücke. Wir starren ihnen eine Weile hinterher, Melodias blonde Haare leuchten sogar noch, als sie den Schatten des Waldes betreten. „Gib es zu“, sage ich aus den Mundwinkeln zu Kathrin, „Die zwei haben dich an dich und Lucy erinnert.“ „Natürlich“, erwidert sie, „Das würde sogar zu meinem Schwesterherz passen, dass sie mich ohne Erlaubnis in der Schule besuchen kommt.“
Um ehrlich zu sein hatte ich mir das schon gedacht. Aus den Briefen kann man deutlich herauslesen, wozu Lucy fähig ist, und Regeln zu brechen scheint eine ihrer Stärken zu sein. Mein Bruder ist genauso, nur, dass er mir damit nicht hilft. Im Gegenteil, das hat ihm jahrelang geholfen, mir das Leben schwer zu machen. Um mir diese Erinnerungen aus dem Kopf zu schlagen, ziehe ich dieses Mal Kathrin in Richtung Wald.
„Wir müssen in die Gänge kommen!“, verkünde ich, „Ansonsten kommen wir noch dazu spät!“ Während meine beste Freundin und ich in unserem normalen Tempo recht schnell vorankommen, hängt Primo mit seinem träumerischen Gang hinterher. Er scheint kaum wahrzunehmen, was um ihn herum passiert. Selbst, als ein paar Knospi direkt vor ihm über den Weg hüpfen, nimmt er keine Notiz davon. Wenn das den ganzen Tag so anhält, dann stelle ich ihn heute Abend zur Rede. Dieses Verhalten passt absolut nicht zu ihm.
Der Weg durch den Wald ist erfrischend und fast ein wenig zu kühl. Die Sonnenstrahlen durchdringen kaum die Äste der vielen Bäume um uns herum, der Boden ist gesprenkelt mit Licht und Schatten. Mit meinen Ohren kann ich viele Pokémon in unserer Umgebung wahrnehmen, doch nur wenige von ihnen zeigen sich, wie die Knospi. Schließlich erkenne ich den lichten Ausgang und die ersten Häuser von Brisenau.
Das Dorf ist nicht übermäßig groß, aber es ist auch nicht zu klein. Ein großes Schild am Anfang verkündet in geschwungenen Lettern „Brisenau“, darunter befindet sich eine Karte. Wir nähern uns dieser und schauen sie uns genauer an. Auf ihr sind die wichtigsten Häuser vermerkt, die man als Tourist und als neu Hinzugezogener wissen sollte. Die Ranger Basis, die Farm von Klein Hein, der Supermarkt, das Postamt und ein kleines Restaurant.
„Jetzt wissen wir wenigstens gleich, wohin wir müssen“, sage ich und wende mich der Straße zu, der man folgen muss, um zur Ranger Basis zu gelangen. Kathrin bleibt noch einen Moment stehen. „Guck mal, Bodo“, murmelt sie, „Wenn man weiter nach Süden geht, dann kommt man nach Schikolingen.“ „Mh, ich weiß. Der Weg ist allerdings zu lang als dass wir uns vor oder nach dem Praktikum hinschleichen könnten“, erkläre ich, „Wir haben höchstens die Chance, dass wir mit den Rangern dorthin gehen werde, aber irgendwie glaube ich nicht, dass wir das tun werden.“
Sie nickt kurz. Wahrscheinlich muss sie daran denken, wie nah sie ihrer Schwester gerade ist, und dass sie sie dennoch nicht besuchen darf. Am besten versuche ich, sie auf andere Gedanken zu bringen. „He, Kathrin“, sage ich, leise genug, damit uns Primo nicht verstehen kann, „Was glaubst du, ist mit ihm los.“ Ich mache eine leichte Bewegung in seine Richtung. Meine beste Freundin wirft einen Blick nach hinten und antwortet dann: „Vielleicht liegt es daran, dass Blondi nicht bei ihm ist. Ich hab ihn ohne sie gesehen…“
Ungläubig schüttele ich den Kopf. „Quatsch, im Schlafsaal führt er sich auch nicht so auf.“ „Aber da macht er wahrscheinlich kaum mehr als schlafen und träumt deswegen ohnehin, oder?“, kontert sie. „Das kann schon sein, aber irgendwie glaube ich das einfach nicht. Die zwei kennen sich zwar bereits seit dem Kindergarten, aber dass er ohne die Blondine so drauf ist, das ist nicht ganz logisch.“
„Jetzt bin ich unlogisch?“, beschwert sie sich und knufft mich. „Nicht du“, gebe ich lachend zurück, sie an mich ziehend und an der Seite kitzelnd, „Aber deine Gedankengänge!“ Kichernd wehrt sie sich gegen meinen Griff. Sie hätte keine Chance, aber ich gebe nach und lasse sie wieder frei. Sie war mir ohnehin so nahe, dass ich Angst gehabt habe, dass sie mein Herz hört, wie es viel zu schnell hämmert und meinen Brustkorb sprengen will.
Die Basis ist nicht schwer zu finden. Zum einem sticht sie aus der Menge der umliegenden Häuser, weil es so glänzend ist, zum anderen wächst ein riesiger Baum aus dem Dach heraus. Wer das übersieht, hat wirklich keine Augen im Kopf. Leider trifft das ziemlich auf Primo zu, der direkt am Eingang vorbeiläuft. Ich muss ihm hinterher und ihn aus seiner tagträumerischen Trance holen. Kopfschüttelnd kehre ich mit ihm zu meiner besten Freundin zurück.
Zu dritt betreten wir die Basis. Der Raum hinter der automatischen Türe ist groß und halbrund. Es ist wahrscheinlich, dass er noch größer wirkt als er in Wahrheit ist, weil er so menschenleer ist. Keine Menschenseele lässt sich blicken. Nur die Pflanzen neben der Türe, ein langer Tresen in der rechten, hinteren Ecke, dahinter ein großer, schwarzer Monitor und ein Bild an der Wand auf der anderen Seite. Der Boden ist blank poliert und jeder Schritt halt unheimlich. Eine Tür, die sich direkt gegenüber der Eingangstüre befindet, muss in die Schlafsäle und zur Küche führen.
Mein Herz überschlägt sich, als Kathrin sich meinen Arm nimmt und sich daran festklammert. Eine komplett leere Ranger Basis? Soll das ein Scherz sein? Oder bitterer Ernst? Was hat das alles zu bedeuten? „Hier ist wirklich sehr viel los, meinst du nicht?“, sagt Kathrin ironisch. Ihre Stimme erklingt im ganzen Zimmer, übertönt beinahe das Rascheln, das kurz darauf hinter den Tresen hervorkommt.
Eine Frau mit lilafarbenen Haaren erhebt sich. „Tut mir leid, tut mir leid“, piepst sie, sich den Kopf haltend, der offensichtlich schmerzt, „Ich habe meine Brille fallen lassen, deswegen habe ich nicht mitbekommen, wie ihr hereingekommen seid.“ In der freien Hand hält sie die genannte Brille. „Ihr seid doch sicherlich die Schüler für das 1-Tages-Praktikum? Kommt doch bitte her. Ich habe hier etwas für euch“, winkt sie uns zu sich herüber.
Bereits bevor wir ankommen, streckt sie uns einen Brief entgegen, den ich sogleich entgegennehme. „Den hat euch unser Chef dagelassen. Unsere Ranger mussten nämlich allesamt auf eine Mission, auf eine große Mission!“, erklärt sie uns weiter. Ich öffne den Briefumschlag und ziehe einen leichten, kleinen Zettel heraus, auf dem nicht viel steht. Für Primo und Kathrin lese ich laut vor.
„Willkommen, ihr drei
Kaum, dass ihr in unserer Basis ankommt, müsst ihr auch schon wieder weg. Ich habe eine sehr wichtige Mission für euch. Bei meiner Technikerin Lea habe ich ein Paket dagelassen. Lasst es euch geben und bringt es so schnell wie möglich zum Windspiel Hügel, der sich westlich vom Dorf befindet. Lasst euch den genaueren Weg von Lea beschreiben und behandelt das Paket mit absoluter Vorsicht.
Ich freue mich auf unser Treffen, Urs.“
„Gut, das war der Brief“, bemerkt Lea, bevor sie sich kurz bückt, um etwas hochzuheben, „Hier, das Paket, dass ihr abliefern sollt. Denkt wirklich daran, dass darin empfindliche Ware ist. Niemals auf die Seite drehen, oder auf den Kopf, nicht schütteln. Es fällt auf, wenn ihr das macht, also lasst es lieber bleiben und geht vorsichtig damit um.“ Kathrin nimmt es an sich, darauf bedacht, es so gut wie möglich gerade zu halten.
Dann zeigt uns die Technikerin noch auf einer Karte, wie wir am besten zum Windspiel Hügel gelangen und schickt uns los. Wir verabschieden uns von ihr, bevor sich die automatische Türe der Basis hinter uns schließt. Zum Glück müssen wir als erstes nur der Straße folgen, bis wir Brisenau verlassen, und danach gelangen wir automatisch auf einen Pfad, der durch den Wald zwischen Brisenau und dem Zephyrstrand führt. Natürlich sind auch Schilder aufgestellt, aber dank Lea brauchen wir diese nun nicht mehr.
Der Zephyrstrand ist mit Sicherheit einer der schönsten Orten auf ganz Almia. Der Strand besteht aus sehr feinem, weißem Sand, in Sommertagen immer von der Sonne aufgewärmt und angenehm weich an den Füßen und zwischen den Zehen. Muscheln verschiedenster Arten finden sich in der Nähe des Wassers, kleine und große, zerschlagene und ganze. Das Wasser schwappt mit leichten Wellen auf das Land, bevor es sich wieder zurückzieht, um erneut mit einem leichten Klatschen erneut auf den Strand zu treffen.
Die Sonne bringt das Meer zum Glitzern, als wären abertausende von Diamanten auf der Oberfläche, die nur darauf warten, dass man zu ihnen schwimmt und sie einsammelt. In sanften Kreisen ziehen Wingull und Pelipper in der Luft darüber ihre Bahnen. Ihre Nester haben sie ganz in der Nähe an einem Klippenrand. Früher war ich im Sommer gerne hier, der Anblick hat mich immer beruhigt. Leider hatte ich nur selten die Gelegenheit.
„Wow, das ist aber schön hier“, flüstert meine beste Freundin fasziniert. „Ja, das ist wahr“, stimme ich zu. Da wir eine ganze Weile am Strand entlang gehen müssen, bevor zu dem Aufstieg kommen, den wir einschlagen müssen, um an unser eigentliches Ziel zu gelangen, können wir den Ausblick noch weiterhin genießen. Das Rauschen begleitet uns den ganzen Weg über.
Ein Feldweg führt von dem Strand weg, beschildert mit „Windspiel Hügel“. Das ist der Aufstieg, von dem Lea gesprochen hat. Sie meinte, es gäbe nur einen einzigen Weg, der an den Strand anschließt und wieder nach Norden führt. Außerdem ist das Schild zu eindeutig. Allerdings gehen wir nicht sofort weiter, da sich mitten auf dem Weg ein älterer Mann und drei verschiedene Pokémon befinden.
Das Gefühl, nun festen anstelle von sandigem Grund unter den Füßen zu haben ist erleichternd. Kathrin und ich bleiben zuerst eine Weile stehen, um auf Primo zu warten, der mit seiner traumwandlerischen Art immer noch langsamer ist als normalerweise. Dafür können wir zuhören, wie der Herr mit den Pokémon spricht und sie füttert. „Ach, Pachirisu, Pachirisu“, das kleine Elektrohörnchen streicht ihm um die Füße, „So niedlich, so niedlich…“
Während er es streichelt, versucht ein dicklicheres Pokémon aus seinen Jackentaschen Pokémonfutter zu mopsen. „Was ist los?“, natürlich bleibt der misslungene Diebstahl nicht unbemerkt, „Stimmt etwas nicht, Mampfaxo? Du hast doch nicht etwa schon wieder Hunger?“ Mampfaxo steckt sich eine Pfote in den Mund und schlabbert darauf herum. Es hat ganz offensichtlich einen leeren Magen. Das letzte Pokémon, das kleinste von allen, sieht ihm dabei zu. Augenblicklich hört es auf, an seinem Knursp zu knabbern, um es dem Hunger leidenden Mampfaxo zu überlassen.
Mit einem Bissen ist die Pokémonsüßigkeit auch schon verschwunden. Garantiert ist das türkisblaue Pokémon davon noch nicht satt, aber es bedankt sich überschwänglich bei dem niedlichen Katzenpokémon. „Evoli, ach Evoli“, sagt nun der Mann, der bemerkt hat, was es getan hat, „Opferst du tatsächlich deinen letzten Knursp für jemand Fremdes. Du bist wirklich ein liebes Ding.“
„Nicht nur lieb…“, höre ich Kathrin neben mir hauchen. Als ich aus den Augenwinkeln zu ihr schaue, sehe ich, wie ihre Augen, die weit aufgerissen sind, regelrecht glitzern. Sie hat ihre Hände zu Fäuste geballt und sie dicht vor ihrem Oberkörper, als würde sie jeden Moment wie eine Bombe losgehen. Ich weiß schon länger, dass Evoli ihr Liebling ist, aber dass sie so reagiert, wenn sie eines zu Gesicht bekommt, damit hatte ich nicht gerechnet.
„Hey, warum steht ihr denn hier so tatenlos herum? Sollten wir uns nicht beeilen?“ Kathrins Quietscher ist tatsächlich kein Freudenquietscher wegen dem Evoli, sondern einer, den sie erschrocken ausstößt. Primo ist nun bei uns angekommen, aber wir haben ihn nicht bemerkt, weshalb meine schreckhafte beste Freundin wegen seinem plötzlichen Auftauchen beinahe einen Herzinfarkt bekommen hat. Überrascht klammert sie sich an meinen Arm, wobei ich reflexartig, ebenfalls durch einen kleinen Schock, einen Arm um ihre Taille lege und sie an mich ziehe.
Primos verwunderter Blick wandert zwischen uns her. „Mensch, Primo“, schimpfe ich, „Du kannst dich doch nicht einfach so anschleichen, das macht man nicht. Außerdem bist du doch derjenige, der mal einen Zahn zulegen sollte.“ Mein Herz rast schnell und treibt meinen Puls in die Höhe. Leider hat der alte Mann uns durch Kathrins Aufschrei bemerkt.
„Eurer Kleidung nach zu urteilen seid ihr von der Ranger Schule und garantiert gerade mitten im 1-Tages-Praktikum, habe ich Recht?“, sagt er zu uns und geht ein paar Schritte auf uns zu, „In den letzten 1-Tages-Praktiken waren ständig Schüler hier, immer mit einem Paket. Deshalb habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, die Praktikanten, also euch Schülern, ein kleines Quiz zu stellen, das mit ihrem späteren Beruf zu tun hat. Seid ihr bereit? Gut. Ich hoffe doch, dass ihr mir sagen könnt, was ein Partner Pokémon ist?“
Primo hätte normalerweise schneller geantwortet als ich hätte denken können, aber momentan ist er wieder so geistesabwesend, dass ich vor ihm zum Zuge komme: „Einfach! Ein Partner Pokémon ist ein Pokémon, das einem Ranger sehr nahe ist und ihn ständig begleitet. Man kann sich selbst eines aussuchen, sobald man ein Ranger wird. Als Schüler darf man nämlich noch keines haben.“
„Ding Dong, das ist richtig“, stimmt der Herr zu, „Und als Zusatzinformation meinerseits möchte ich euch sagen, dass, alle Ranger, die ich kenne, ihr Partner Pokémon auf dem wundervollen Zephyrstrand getroffen haben. Er scheint ohnehin eine sehr bindende Wirkung zu haben, auf Pokémon und auf Menschen.“ Durch seine Brille hindurch betrachtet er mich, woraufhin mir einfällt, dass ich ja Kathrin noch im Arm habe. Schnell lasse ich sie los und brummele in mich hinein. Warum habe ich nicht bemerkt, dass sie noch direkt neben mir steht?
Vielleicht hatte ich mich zu schnell an ihre Wärme gewöhnt. An ihre Nähe. „Auf jeden Fall habe ich noch eine weitere Frage für euch. Wenn ihr einmal Ranger seid und es zwei Pokémon gibt, die gerne eurer Partner Pokémon sein würden, was macht ihr? Dürft ihr beiden ihren Wunsch erfüllen?“ Dieses Mal ist Kathrin schneller bei der Antwort: „Ja, man darf. Als Ranger darf man mehrere Partner Pokémon haben, aber es darf einen immer nur ein einziges begleiten. Die anderen müssen an einem sicheren Ort darauf warten, dass sie an der Reihe sind.“
„Sehr gut, das ist wieder richtig“, der Mann lächelt uns an, „Die Ranger Schule scheint euch Schüler, wie eh und je, bestens vorzubereiten.“ Mit diesen Worten spaziert er an uns vorbei auf den Strand und ließ uns alleine zurück. Einen Moment lang blicken Kathrin und ich uns verwundert an, aber Primo schien das ganze überhaupt nicht bemerkt zu haben. Er träumt leise vor sich hin, den abwesenden Blick gen Himmel gerichtet, die Augen inzwischen beinahe geschlossen. Was ist nur los mit ihm?
Ich stupse ihm unsanft in die Seite, um ihn aufzuwecken. „Hey, Primo, nicht schlafen“, schimpfe ich ihn, „Wir sind auf einer Mission, hast du das schon vergessen? Also, Schluss mit der Träumerei!“ Sein Gesichtsausdruck wirkt im ersten Moment tatsächlich so, als wäre er gerade im Bett gelegen und ich hätte ihm einen Eimer mit eiskaltem Wasser übergeschüttet. Grinsend deute ich auf dem Weg, den wir folgen müssen, um weiter zu kommen.
Der Pfad wendet sich noch eine Weile zwischen mehreren Bäumen hindurch, dann stoßen wir auf eine Treppe. Dieses Mal hängt auch Kathrin ein wenig hinterher, da sie das Paket trägt. Sie versucht, extra vorsichtig damit zu sein, damit sie es auf gar keinen Fall fallen lässt. Auch drehen darf sie es nicht. Verkrampft hat sie beide Arme darum fest geschlungen. „Willst du das wirklich noch weiterhin tragen?“, frage ich vorsichtig nach. Ich will jetzt nicht behaupten, sie sei ein Schwächling, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich stärker als sie bin. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich ein Junge bin und sie ein Mädchen ist…
„Klar, ist ja nicht mehr weit“, beschwichtigt sie mich. Ihr Blick ruht einen Moment auf dem Schild, das neben der Treppe in die Erde eingeschlagen wurde. Darauf steht in dicken schwarzen Buchstaben gut leserlich geschrieben: „Windspielhügel – Warnung an verliebte Pärchen vor Steinschlag.“ „Selbst, wenn Pärchen dieses Schild sehen“, murmelt Kathrin, „Glaube ich kaum, dass sie sich beim Turteln daran erinnern, dass sie davor vor Steinschlag gewarnt wurden.“
Obwohl sie mich nicht berührt, spüre ich dennoch durch die Luft ihre Wärme auf meinem Arm prickeln. Das bewirkt außerdem auch, dass mein Herz mehr als einen Zahn zulegt, als würde es für einen Marathon trainieren wollen. In dem Schatten der Bäume um mich herum fühlt sich ihre Nähe und mein erhöhter Puls angenehm an. „Nur noch diese Treppe hoch, dann sind wir da“, sage ich zu ihr.
„Du scheinst sehr nervös deswegen zu sein.“ Primo hatte sich von hinten an mich herangeschlichen. Mein Herz macht einen zusätzlichen Hüpfer. Ich nicke nur kurz. Er muss nicht wissen, dass es nicht wegen dem 1-Tages-Praktikum und unserer Mission ist. Obwohl mir lieber wäre, wenn das der richtige Grund wäre. Aber ich kann mir so was nicht aussuchen. „Dann beeilen wir uns besser“, höre ich Kathrin neben mir, „Wer weiß, was uns dort oben erwartet.“
Also, was wirklich dort oben, ganz hinten auf dem Windspielhügel, ist, daran hätten wir nicht gedacht. Nach einem kurzen Weg durch ein kleines Waldstück können wir auf eine große Fläche hinaustreten. Das Gras dort wird von einem starken Wind flach auf dem Boden gedrückt. Auf der rechten Seite ist eine steile Felsenwand, offensichtlich die, die den Steinschlag verursacht. Eine kleine Menschenansammlung befindet sich in der Mitte des Hügels, lachend und scherzend.
Sie stehen weit genug weg von der Wand. „Da ist ja Frohderich“, flüstert Kathrin leise, „Und auch die anderen… Das sind doch Ranger. Die haben fast alle eine Ranger Uniform an. Aber… Was machen die hier?“ „Wir könnten hingehen und… Fragen?“, schlage ich vor. Primo, verträumt wie ohnehin den ganzen Tag, schlendert an uns vorbei. Er scheint nicht zu bemerken, dass dort vorne die Ranger stehen. Er ist dermaßen abwesend, dass er sogar viel zu nahe an der Felswand entlangspaziert.
„Halt, Primo!“, schreie ich und laufe ihm hinterher. Erschrocken stellt er sich gerade hin, bevor er sich umdreht. Verwundert blinzelt er mir entgegen. Ich deute nach oben und sage zu ihm: „Hast du das Schild vorhin nicht gelesen? ‚Warnung von Steinschlägen‘. Dabei ist doch dein Lieblingssatz ‚Wer lesen kann ist klar im Vorteil.‘“ „Hab ich wohl vergessen“, erwidert er. Kopfschüttelnd drehe ich mich um.
Und natürlich bleiben wir mit der Aktion nicht unbemerkt. Die Ranger, die wir vorhin noch beobachtet haben, haben uns jetzt bereits gesehen. Nur Kathrin, die in dem Schutz der Bäume geblieben ist, sehen sie nicht. „Hey, ihr zwei! Ihr kommt doch garantiert von der Ranger Schule und seid für das 1-Tages-Praktikum von Lea hierhergeschickt worden! Wo habt ihr denn unser Paket gelassen?!“, ruft uns Frohderich entgegen.
Erst jetzt meldet sich Kathrin: „Das ist hier, bei mir!“ Sie tritt hinter den Bäumen hervor und blickt unser zwischen mir und der Rangergruppe hin und her. „Ach, gut“, sagt der Ranger weiter, „Dann kommt alle drei mal zu uns her. Wir beißen nicht, wirklich nicht!“ Das mag ja stimmen, aber davor haben wir auch keine Angst. Wobei, Angst kann man das nicht nennen, wir haben eher Ehrfurcht vor ihnen, weil sie bereits unseren Traumjob bereits ausüben dürfen.
Die Truppe besteht aus zwei Frauen und zwei Männer, einer davon Frohderich. Die anderen sind mir unbekannt. Der älteste von ihnen ist ein Mann mit dunkellila Haaren. Er macht einen stämmigen Eindruck, stark und unbeugsam. Sein Gesichtsausdruck ist grimmig, man merkt, dass er Erfahrung in seinem Beruf hat. Trotz der harten Nuss, die er zu sein scheint, hat er etwas Freundliches an sich. Dass man ihm vertrauen kann.
Frohderich daneben grinst wie üblich. Seine Arme hat er vor der Brust verschränkt, während das Knospi zu seinen Füßen leicht vor sich hin kichert. Die junge Frau neben ihm hat dunkelgrüne Haare, die beinahe schwarz in der Sonne schimmern. Sie ist ähnlich zierlich wie Kathrin, aber noch einen Kopf größer. Sie hat den Kopf selbstbewusst in die Höhe gereckt, die hellgrünen Augen funkeln schalkhaft. In ihren Armen hält sie ein Haspiror.
Die letzte Person hat eine kurze, hellrote Jungenfrisur, eine lange Schlabberhose, fingerfreie Handschuhe, ein verdrecktes T-Shirt und darüber Hosenträger. An ihrem Gürtel hängen mehrere Werkzeuge. Die Hände gegen die Hüfte gestemmt lächelt sie uns freundlich entgegen. Sie hat kein Partner Pokémon dabei, aber sie macht ohnehin nicht den Eindruck, als wäre sie ein Pokémon Ranger.
„Also, ich hoffe doch, ihr habt das Paket mit Vorsicht behandelt!“, begrüßt uns der Mann, der neben Frohderich steht, „Das ist nämlich echt wichtig! Nicht rütteln, nicht schütteln und erst recht nicht auf dem Kopf stellen!“ Kathrin tritt ein paar Schritte nach vorn, um es ihm zu überreichen. Frohderich stellt sich neben den Mann, öffnet das Paket so, dass wir den Inhalt nicht sehen können und ruft schließlich in die Runde: „Hey, Leute, unser Mittagessen ist endlich eingetroffen!“
Moment… Was?! Ist es das, was Kathrin getragen hat? Essen?! Frohderich wirft einen kurzen Blick in unsere Richtung und bekommt direkt einen Lachanfall. „Oh, Gott… Euch Schüler kann man immer wieder reinlegen, mit dem gleichen Trick, aber eure Gesichtsausdrücke sehen jedes Mal anders aus. Unbezahlbar.“ Er muss sich den Bauch halten und in die Knie gehen, so sehr schüttelt es ihn.
Während Kathrin und ich verdutzt, und Primo verträumt aussehen, Frohderich sich vor Lachen krümmt und die Pokémon fröhlich auf der Wiese tollen, breiten die übrigen eine bereits mitgebrachte Picknickdecke aus und lassen sich darauf nieder. Das Essen aus dem Packet legen sie in die Mitte, damit es für jeden zugänglich ist. „Los, ihr seid eingeladen“, erklärt der Mann mit den lila Haaren, „Ich bin übrigens Urs, der Chef der Brisenau Basis. Und bevor ihr auf falsche Gedanken kommt… Dieser Scherz war nicht meine Idee.“
Sofort beschwert sich Frohderich: „Aber, Chef! Du hast doch gesagt, dass das eine gute Idee ist! Und jedes Jahr stimmst du wieder zu, dass wir das machen sollen!“ Kopfschüttelnd wendet er sich uns zu. „Und ein freudiges Hallo an euch drei! Hättet wohl nicht geglaubt, dass wir uns so schnell wiedersehen? Tut mir übrigens immer noch echt leid, dass der Freiluftunterricht damals so schnell enden musste…“
„Das nächste Mal habe ich Freiluftunterricht!“, ruft die Dunkelgrünhaarige, „Mein Name ist Luana und ich bin noch nicht sonderlich lange Ranger. Ich war die erste, mit der sie diesen Streich gespielt haben, müsst ihr wissen.“ Die Frau mit den roten Haaren kichert. „Ja, aber bei dir war das Essen ungenießbar. Du bist nicht so sorgfältig mit dem Packet umgegangen, wie es dir beauftragt wurde… Ich bin Eleonora“, stellt sie sich vor, „Wie ihr garantiert schon bemerkt habt, habe ich weder die Ranger Uniform an, noch bin ich im Besitz eines Partner Pokémons. Das hat auch seinen Grund! Ich habe den Posten der Mechanikern an der Brisenau Basis inne.“
„Ähhm…“, beginne ich langsam. „Ich bin Bodo. Und das sind Kathrin“, ich deute auf meine beste Freundin, die ganz nahe neben mir steht, „Und Primo.“ Mein braunhaariger Klassenkamerad hat sich bereits gesetzt als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass man zum Essen eingeladen wird. „Kommt, setzt euch auch“, fordert uns Urs auf. Er hat bereits ein dickes Sandwich in den Händen. „Willkommen zu unserem Praktikantenbegrüßungsfestmahl!“
Wir setzen uns genau dorthin, wo wir gerade stehen, Kathrin direkt neben mich und mit einem auffällig großen Abstand zu Primo. Bevor ich mich bedienen kann, merke ich, wie bei der Rangerin mir gegenüber ein kleines, wissendes Lächeln auf die Lippen huschte. Auch in ihren Augen funkelte ein gewisser Glanz, den ich bereits bei Rhythmia bemerkt hatte. „Ach, so ist das“, murmelt Luana, gerade laut genug, dass wir sie verstehen können, „Ihr zwei seid zusammen?“
Es klang weniger wie eine Frage. Sie verlangte geradezu, dass wir „Ja“ sagen, dass sie ein „Nein“ nicht zulassen wird. Mein Herz macht einen aufgeregten Hüpfer, als Kathrin neben mir versteift. „Was?! Nein!“, entfährt es mir nach einer Sekunde Stille. „W-Wir sind nur beste Freunde“, setzt Kathrin dazu. Mein Puls schnellt, falls überhaupt möglich, noch mehr in die Höhe. Luanas Grinsen verdeutlicht, dass sie uns nicht glaubt.
„Okay…“, sie zieht das Wort unnötig in die Länge, „Und was ist mir dir, Primo? Hast du auch eine… Beste Freundin?“ Der Angesprochene merkt den triefenden Sarkasmus in diesen zwei Worten nicht und plappert frei heraus: „Ja, aber sie hat sich dazu entschieden, Technikerin zu werden. Momentan ist sie in der Ranger Vereinigung, wegen ihrem Praktikum. Sie redet immer sehr viel und ich glaube, sie hat das Talent dazu, dass zu werden, was sie sein will.“
„Was es das ‚viel reden‘ angeht hast du Recht“, stimmt Urs zu, „Unsere Technikerin, Lea, die kann manchmal gar nicht aufhören, zu reden. Ich wette, sie spricht sogar im Schlaf, weil sie die Anzahl der Wörter, die sie an einem Tag sprechen will, tagsüber nicht erreicht.“ Lachend stimmt Eleonora zu. „Dann ist es aber lustiger, ihr zuzuhören!“
Wir sitzen eine Weile in dieser gemütlichen Runde. Kathrin und ich erzählen, wie wir die Schule finden, die Lehrer und unsere Mitschüler, und erhalten dafür viele Informationen aus dem Leben eines Rangers von allen Seiten. Jeder der drei Ranger hat andere Vorlieben, der eine steht mehr auf Action, der andere erledigt seine Arbeit mit Witz. Interessant, zu erfahren, dass sie alle das gleiche Ziel haben, dieses aber immer anderes erreichen wollen. Die Unterhaltung hätte ewig so weitergehen können, aber das tat sie nicht. In gewisser Weise spüre ich bereits davor anhand des Kribbelns in meinem Nacken, dass etwas passiert ist.
Wir bereden gerade die Missgeschicke, die Luana während einer besonders heiklen Mission passiert sind, als jemand keuchend die Stufen zum Windspielhügel hochhastet. Er sieht reichlich mitgenommen aus, in seinen Haaren hängen Äste und Blätter und sein T-Shirt ist zerfetzt. Wahrscheinlich hat er sich von dem Strand aus durch den Wald zu uns geschlagen, um schneller da zu sein.
„Hilfe, Ranger!“, ruft er uns, völlig aus der Puste, entgegen, „Bitte, ihr müsst zum Strand.“ So schnell, wie Urs auf den Beinen ist, so schnell kann ich gar nicht reagieren. „Was ist los, Junge?“, fragt er forsch nach. Der Neuankömmling nimmt sich kurz Zeit, damit sich seine Stimme nicht überschlägt, wenn er anfängt zu reden. „Wir waren… Am Strand“, erklärt er, „Meine Freundin und ich. Zuerst war alles ganz friedlich, aber dann hat sich mit einem Schlag alles geändert. Die Pokémon wurden gemein und haben mit einem Mal meine Freundin eingekreist. Jetzt wollen sie sie nicht mehr gehen lassen, attackieren jeden, der nur in ihre Nähe kommt.“
Urs nickt verständnisvoll. „Leute? Ab hier übernehmen wir!“, ruft er uns übrigen zu, „Das ist eine Notfallmission! Kathrin, Bodo, Primo! Ihr kommt auch mit! Wir brauchen so viel Unterstützung, wie wir habenkönnen, damit wir die Pokémon wieder unter Kontrolle bringen können. Los, auf zum Strand.“ „Verstanden“, erwidern wir einstimmig und folgen dem Chef den Weg hinab zum Strand. Dort angekommen sehen wir unser Problem sofort.
In der Nähe des Meeres sitzt ein Mädchen am Boden, weinend. Um es herum befinden sich mehrere Schalellos und Schwalbini, aber auch ein Mampfaxo, ein Pachirisu und ein Evoli. Ohne Zweifel sind das dieselben, mit der der nette alte Herr von vorhin geredet hat. Aber was für Beweggründe hat die zuvor zutraulichen Pokémon dazu veranlasst, ein wehrloses Mädchen gefangen zu nehmen?
„Wir müssen das Durcheinander beenden“, befiehlt Urs, „Luana, Frohderich, ihr kümmert euch um die Schalellos und die Schwalbini, unsere Praktikanten, ihr fangt am besten die übrigen drei. Wer welches fängt, das könnt ihr doch sicherlich untereinander ausmachen. Aber beeilt euch, wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Meinen FangKom halte ich bereits in meinen Händen, ich brenne geradezu darauf, zu beweisen, was ich kann.
Primo läuft so schnell er kann auf das Pachirisu zu, dessen Backentaschen bereits vor Angriffslust knistern. Leuchtende Blitze schießen über den kleinen Körper bis hinauf zu dem aufstellten, langen Schweif. Das Evoli daneben rollt sich aufgeregt am Boden und wirkt dabei mehr wie ein flauschiger, hyperaktiver Ball als ein gefährliches Pokémon. Kichernd schickt Kathrin ihre Fangscheibe darauf zu. Ich hätte wissen müssen, dass sie es fangen will. Es ist ihr Lieblingspokémon.
Also bleibt für mich nur noch das Mampfaxo übrig. Es hat eine Pfote in seinem Maul, um darauf herum zu kauen, während ihm Sabber aus den Mundwinkeln läuft. Grinsend mache ich ein paar Schritte darauf zu. Es wirkt ähnlich gefährlich wie das gummiballähnliche Evoli. Wahrscheinlich sind die beiden nur mit den anderen Pokémon mitgelaufen, weil es auch unter ihnen eine Art Gruppenzwang gibt.
Kathrin und ich, wir beenden unsere Fangversuche gleich schnell. Das Mampfaxo lasse ich sofort frei, aber meine beste Freundin behält ihr Katzenpokémon noch. Dieses sprintet in einer irrsinnigen Geschwindigkeit auf das zierliche Mädchen zu und der Sprung in ihre Arme reißt sie beinahe von den Füßen. Schwankend torkelt sie über den Strand, bei dem Versuch, ihr Gleichgewicht wieder zu finden. Gerade, als es sie beinahe endgültig von den Füßen zu reißen droht, kann ich sie auffangen. „Eeeevoliii“, quiekt das kleine Pokémon.
Es schmiegt sich an Kathrins Hals, wirft mir einen kurzen Blick zu und steigt dann schnurrend auf ihrem Kopf. Lachend dreht sich meine beste Freundin zu mir um. Eigentlich will sie nach dem Evoli greifen, legt allerdings stattdessen die Arme um mich. „Wie ist es gelaufen, Leute?“, dringt Urs Stimme an mein Ohr, „Waren eure Fangversuche erfolgreich?“ Ich wende meinen Blick über Kathrins Kopf hinweg zu den anderen.
Primo und Frohderich bejahen sofort, nur Luana lässt sich noch ein wenig Zeit. Zuerst kann ich sie gar nicht finden, bis mir auffällt, dass sie bei dem Mädchen ist, das zuvor auf dem Strand zusammengebrochen ist. Ihre Augen glimmen in meine Richtung. Sie sagt: „So wie es aussieht waren wir alle erfolgreich, nur Kathrin scheint mehr als nur ein Pokémon gefangen zu haben.“
Damit haben wir sofort die Aufmerksamkeit von allen auf uns. Meine einzige Hoffnung liegt auf den Schultern des kleinen Evolis, das hoffentlich als hyperaktives Pokémon interessanter ist als Kathrin, die sich an mich klammert. „Alles freilassen“, kommt es von Urs. Ich spüre sofort, wie meine beste Freundin ihren Griff lockert und schließlich nach dem Evoli greift, das immer noch auf ihrem Kopf herumtollt. Vorsichtig setzt sie es auf dem Boden ab.
„Also, tschüss, kleines Evoli“, sagt sie und streichelt ihm ein weiteres Mal über das weiche Fell. Als sie sich wieder erhebt, läuft das kleine Katzenpokémon allerdings nicht weg. Stattdessen streicht es schnurrend um Kathrins Beine herum. Es macht keine Anstalten, verschwinden zu wollen. Selbst, als wir zurück zu den Rangern gehen, kommt es mit und lässt sich nicht abschütteln. Urs beäugt es unsicher. „Ich dachte, ihr lernt bereits in der Schule, Pokémon freizulassen?“
„Haben wir ja auch, aber… Die Kleine will nicht weg…“, erwidert Kathrin. Schließlich gibt sie dem nun kläglich maunzenden Evoli nach und hebt es hoch. Zufrieden schnurrend reibt es sein Köpfchen an Kathrins Wange. Ist es normal, dass man ein Pokémon darum beneidet? Besonders dafür, dass es mit der besten Freundin kuscheln darf, und man selbst darf das nicht?
„Darf ich sie nicht noch eine Weile behalten?“, murmelt Kathrin in das Fell des Evolis. Sie? Ein weibliches Evoli? „Na gut“, gibt Urs schließlich nach, „Ihr zwei scheint ein gewisses Band aufgebaut zu haben. Ihr wisst schon, so ein Band, das ein Ranger zu sein Partner Pokémon zueinander haben. Aber du darfst sie nicht in die Schule mitnehmen. Du weißt doch, dass es dort untersagt ist, bereits Partner Pokémon zu haben.“
Er wendet sich den übrigen Rangern und der Mechanikerin zu. „Luana, Frohderich, ihr zwei überprüft am besten noch den Rest des Strandes nach weiteren aufgedrehten Pokémon. Wir können nicht davon ausgehen, dass das die einzigen sind, die aufgescheucht wurden, da wir die Ursache nicht herausgefunden haben. Eleonora, du kommst mit mir mit, wir müssen unser zurückgelassenes Picknick noch holen. Primo, Kathrin und Bodo? Ihr drei geht sofort zurück zur Ranger Basis und wartet dort darauf, dass wir zu euch stoßen. Ansonsten für alle… Mission geschafft!“
Das gilt für uns übrige, dass wir nun unsere Rangerposen einnehmen dürfen. Bei mir heißt das, meine Pose nach einem gekonnten Salto einzunehmen. Kathrin ihre Pose sehe ich zum ersten Mal. Sie aktiviert ihren FangKom, dreht sich einmal um ihre eigene Achse, auf einem Bein und stemmt danach eine Hand gegen die Hüften. Primo wirft seinen SchulfangKom senkrecht in die Luft, dreht sich und kaum, dass er die Drehung beendet hat, fängt er das Gerät wieder.
„Ach, wie schön, ihr habt ja bereits Ranger Posen! Ihr scheint euch wirklich bestens auf das Leben als Ranger vorbereitet zu haben“, lobt uns Urs, „Aber jetzt auf mit euch. Wir sehen uns dann später.“ Und mit diesen Worten verschwindet er. Luana und Frohderich haben sich bereits verzogen. Alleine sind wir nun auf dem Strand, nur Kathrin, Primo, das Evoli und ich. „Können wir nicht noch eine Weile hier bleiben? Ich find’s so schön hier, und je näher wir der Schule wieder kommen, desto ferner fühle ich mich dem kleinen Pokémon“, bittet mich Kathrin.
Primo hat sich bereits entfernt, in Richtung Feldweg, der zurück nach Brisenau führt. Als er bemerkt, dass wir nicht kommen, dreht er sich um. Mit einem fragenden Blick sieht er mich an. „Geh‘ schon mal vor“, rufe ich ihm zu, „Wir kommen später hinterher.“ Bei meinen Worten spüre ich neben mir, wie die prickelnde Wärme, die Kathrin, wenn sie zu nahe steht, an meinen Armen auslöst, verschwindet. Sofort fahre ich herum, um zu sehen, was passiert ist.
Als ich bemerke, dass sie sich nur in den Sand gesetzt hat, erhole ich mich schnell wieder von dem kleinen Schreckensmoment. Vorsichtig setze ich mich neben sie. Das kleine Evoli beäugt mich aus zufrieden geschlossenen Augen, schnurrend und von Kathrin hinter den Ohren gekrault werdend. Meiner Meinung nach ist es sich noch nicht sicher, was es mit mir anfangen soll. In welcher Verbindung ich zu Kathrin stehe.
Eine Weile sitzen wir einfach nur am Strand, die Vogelpokémon und das Meer beobachtend. Der Wind hier ist nur halb so stark wie auf dem Windspiel Hügel, dafür wird einem nicht so schnell kalt. Die Sonnenstrahlen fallen ungehindert auf uns herab, nur hin und wieder von schneeweißen, flauschig aussehenden Wolken unterbrochen. Ich nutze die Ruhe, um den Sand aus meinen Stiefeln zu leeren.
Irgendwann erhebt sich Kathrin wieder, das schnurrende Pokémon in den Armen. „Wir sollten besser zurückgehen, bevor es heißt, wir haben die Befehle missachtet“, murmelt sie und begibt sich in Richtung des Feldweges. In den Wald dahinter ist Primo bereits verschwunden. Wer weiß, ob er schon in Brisenau angekommen ist, oder ob er immer noch tagträumend umherschlendert.
„Komm, machen wir ein Wettrennen“, schlage ich vor, „Wer als erstes bei Primo ankommt, hat gewonnen! … Bereit? 1… 2… 3!“ Sofort spurten wir los, am Anfang noch ständig über kleine Sandhügel stolpernd und im Sand selbst stecken bleibend. Erst, als wir den Feldweg erreicht haben und endlich festen Grund unter den Füßen, können wir besser rennen. Aber anstelle eines richtigen Wettrennens laufen wir einfach nebeneinander her, durch den kühlen Wald. Der kommt uns, nach dem von Sonnenstrahlen erhellten und erwärmten Platz am Strand eisig vor.
Die Luft ist feucht und vereinzelt fallen Tropfen, die vom gestrigen Regen noch in den Wolken hängen, auf mich herab. Primo holen wir schneller ein, als ich erwartet hätte. Es sieht mehr so aus, als würde er nicht wissen, wo er hin muss, so sehr taumelt er. Als wir bei ihm ankommen, seufzt er einmal tief. „Heey, Primo, aufwachen“, rufe ich ihm zu, „Jetzt ist nicht die Zeit, um zu schlafen. Wie kannst du das überhaupt? Gehen und pennen gleichzeitig? Das musst du mir mal beibringen!“ Er dreht sich zu uns um.
„Ach, da seid ihr ja bereits. Dachte eigentlich, ihr wollt noch ein bisschen länger am Strand bleiben“, meint er ruhig, aber völlig ahnungslos, dass man seine Worte auch falsch verstehen könnte. So ist es jedenfalls bei mir so. In meinen Ohren klingt es, als wären nur Kathrin und ich am Strand gewesen, ohne das Evoli, am besten noch mit Sonnenuntergang auf einer Picknickdecke und ganz nahe beieinander. So hat sich das für mich angehört.
Sogleich erscheint ein passendes Bild in meinem Kopf, nur, dass Kathrin bei diesen nicht mit dem Evoli kuschelt. Sofort schüttele ich den Kopf. „Nein“, sage ich dann, „Uns wurde befohlen, zur Basis zurückzukehren, also sollten wir das auch machen.“ Meine Gesichtsfarbe hat sich trotzdem verändert. Ich spüre ganz eindeutig, wie es durch mein Blut erhitzt wird. Nur Kathrin scheint sich nicht weiter Gedanken darüber zu machen.
„Evo, Evoli, Evo, Evo!“, meldet sich das kleine Evoli zu Wort. Es sitzt immer noch in ihren Armen, wechselt aber nun auf ihre Schulter. Meine beste Freundin krault es am Nacken, bevor sie murmelt: „Ich weiß, meine Kleine. Aber ich muss zur Schule zurück, auch, wenn du nicht mitdarfst…“ Das klang ganz danach, als hätte sie das Katzenpokémon tatsächlich verstanden. „Moment… Kathrin? Weißt du wirklich, was das Evoli gesagt hat?“
Verwundert blinzelt mich meine beste Freundin an. Auch Primo guckt verwirrt, als wüsste er nicht, wovon ich rede. Innerlich sackt mein Herz ein paar Stufen hinab, während es bei dem Anblick von Kathrin auch noch ein paar Saltos schlägt. Na, das habe ich wieder klasse hinbekommen. Meine Ohren haben mal wieder etwas aufgenommen, was sie normalerweise nie registriert hätten, und jetzt wundern sich alle, warum ich doch davon weiß. Hoffentlich komme ich aus der Sache wieder heraus.
„Öhm, ja“, erwidert Kathrin, „Um ehrlich zu sein kann ich das bereits, seit ich klein bin. Mein Vater hat es mir beigebracht, und so etwas verlernt man nicht, ähnlich wie Fahrrad fahren. Er hat mir allerdings auch geraten, nicht allzu vielen davon zu erzählen, wie es eine seltene Gabe ist und nicht jeder es erlernen kann. Daher steht die Chance wohl niedrig, dass ich es jemals jemanden beibringen kann.“
„Wow“, ist alles, was ich herausbekomme. Kathrins Wangen haben einen leichten Rosaschimmer angenommen. Heute mache ich einfach alles falsch. Ich wollte sie doch gar nicht in Verlegenheit bringen… Primo hingegen guckt nur entspannt zwischen uns umher, bevor er sich umdreht und wortlos weitergeht. Wir folgen ihm, am Anfang noch eher still, aber wir finden bald ein neues Gesprächsthema. Das kleine Evoli bindet sich immer wieder mit ein, obwohl niemand außer Kathrin es verstehen kann. Und wenn sie darauf antwortet, können Primo und ich kaum erraten, was das Pokémon gesagt hat.
In der Ranger Basis müssen wir nicht lange auf Luana, Frohderich, Urs und Eleonora warten. Sie kommen alle gleichzeitig an, schnaufend, aber offensichtlich unbeschadet und in guter Laune. „Das war ein toller Tag. Ihr drei habt uns wirklich ein fantastisches Mittagsmahl geliefert!“, meint Urs, „Aber leider ist euer 1-Tages-Praktikum hiermit bereits vorbei. Sogar eine Mission mitsamt Fangversuch hattet ihr dabei… Das war bei uns noch nie so, nicht wahr, Leute?“
Die übrigen drei nicken heftig. „Ich fand’s auch echt klasse. Wäre doch toll, wenn ihr hier arbeiten könntet, sobald ihr die Schule beendet habt“, sagt Frohderich mit einem schalkhaften Grinsen, „Jeden Tag Essen von euch geliefert zu kriegen… Au ja, das wäre toll.“ Sein Chef schlägt ihn daraufhin mit der Handfläche gegen den Hinterkopf. „Na na, wir wollen es nicht zu weit treiben“, schimpft er.
Luana kichert. „Frohderich, manche Scherze solltest du dir echt manchmal verkneifen“, meint Eleonora, aber ich winke ab. „Ach, wir wissen doch, dass das nicht ernst gemeint war. Wir würden uns trotzdem darauf freuen, hier arbeiten zu dürfen“, erwidere ich. Urs nickt. „Nun gut, ich denke, ihr solltet nun zurück zur Schule gehen. Allerdings bin ich mir sicher, dass wir uns alle später einmal wieder sehen werden.“ Wir grinsen uns an. Es wäre wirklich toll, wenn wir zur Ranger Basis in Brisenau versetzt werden würden. Auch, wenn hierher wirklich nur die Besten der Besten kommen.
Alles, was wir noch tun können, ist, uns zu verabschieden, bevor wir auf die Türe zuschreiten. Weit kommen wir jedoch nicht. Kaum, dass wir vor ihr stehen, öffnet sie sich unerwartet. Kathrin macht einen Satz nach hinten, tritt dabei auf ein Kabel am Boden, stolpert und fliegt beinahe nach hinten, wäre ich nicht da gewesen. So fange ich sie gerade noch rechtzeitig aus. Halb hängend, halb stehend liegt sie nun in meinen Armen. Obwohl ich zuerst nicht viel sehen kann, weil ihre Haare mir die Sicht versperren, spüre ich die Blicke der anderen auf uns ruhen.
„Oho, wen haben wir denn da?“, erklingt eine neue Stimme, die mir unbekannt ist. Unwillkürlich verstärke ich meinen Griff um meine beste Freundin herum, ziehe sie auf ihre Beine, jedoch gleichzeitig auch näher an mich heran. Auch kann ich mich nun selbst wieder gerade hinstellen, was mir ermöglicht, über Kathrins Zöpfe hinwegzublicken. Ein älterer Herr mit einem weißen Bart, buschigen weißen Augenbrauen und durchdringenden hellgrünen Augen befindet sich im Türrahmen. Er zwirbelt seinen Bart, während auf in meine Richtung guckt.
„Ich nehme an, 1-Tages-Praktikum? Hatten wir heute an der Ranger Vereinigung auch. Als ich diese verlassen habe, ist gerade ein Mädchen angekommen, ein verrücktes, aufgedrehtes kleines Ding. Sie konnte nicht aufhören, zu reden, besonders, als die auf die Techniker traf. Soweit ich mich erinnern kann, war ihr Name… Lütmia? Irgendetwas in der Art…“ der Mann überlege kurz und ich musste mir ein Lachen verkneifen. Es war nur zu offensichtlich, von welcher Blondine er sprach. „Nun, denn. Urs, ich muss ein kurzes Wort mit dir wechseln!“
Mit schnellen Schritten geht er an uns vorbei, ohne uns noch einmal eines Blickes zu würdigen. Nachdem wir den ganzen Truppe noch einmal ein „Tschau!“ zugerufen haben, stürmen wir aus der Basis und machen uns auf den Weg in Richtung Schule. Unterwegs machen sich Kathrin und ich über Rhythmias neuen Spitznamen lustig. Besonders meine beste Freundin findet ihn gut, da Blondi sie immer wieder gerne „Cathy“ nennt. Immer noch.
Aber nach diesem Tag hat Kathrin nun einen Spitznamen, den sie gegen sie verwenden kann.