Inspiration: Ich habe mir als Thema die sieben Todsünden vorgenommen und mir Habgier rausgepickt.
Datum: August 2014
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Mit dem Herzen sehen
Yaels Herzschlag setzte für einen kurzen Augenblick aus. Die kühle Nachtluft scharf einsaugend, genoss sie die Stille vor dem Gefühlssturm, der sich gleich im Innern ihres Magens ausbreiten würde. Zumindest fühlte es sich immer so an, als kämen die ganzen Gefühle aus dieser Gegen aber ganz so sicher war sie sich da auch nicht. Wie ein Schatten hangelte sich die kleine Gestalt am Gerüst des Balkons in die Höhe. Handgriff für Handgriff, geschickt wie eine Katze, geräuschlos und schnell wie ein Geist. Das Mädchen kämpfte gegen die leise Stimme des schlechten Gewissens, welches sie immer befiel, wenn sie kurz davor war, ihre Reserven erneut aufzufüllen. Schließlich brach sie nicht in Häuser ein, weil sie ein böser Mensch war! Nein, im Grunde genommen hatte sie gar keine andere Wahl, denn das Leben hatte ihr nichts geschenkt. Warum sollte sie sich nicht holen, wovon anderen zu viel gegeben war?
Das raue Gestein scheuerte ihre Hände auf, als sie sich mit einem letzten Kraftakt auf den Balkon zog. Beinahe lautlos berührten die kleinen Füße den Boden, die Augen suchten nach einer Bewegung im Innern des Hauses, doch nichts regte sich. Yael erhob sich rastlos, näherte sich der Balkontür und hebelte sie mit wenigen, geübten Handgriffen in Windeseile auf. Der Geruch von frischer Farbe stieg der Einbrecherin in die Nase als sie den angrenzenden Raum betrat und Yael stutzte. War da etwa doch jemand zu Hause?
Das Mädchen ignorierte, dass ihre Hände vor Aufregung zitterten. Ein älteres Haus, alleinstehende, wohlhabende Besitzer- ihr liebstes Beuteschema! Gleich würde es soweit sein, in wenigen Sekunden würde sie wieder was Richtiges zwischen die Zähne bekommen, sich baden und in feiner Kleidung in fremde Betten legen können. Ein emotionales Ausruhen in einer gehobenen Gesellschaft, die nicht die ihre war. Ein kurzer Moment, der nur in ihrem Kopf existierte. Zu ihrer Linken entdeckte sie bereits die ersten Wertgegenstände, die sich auf dem Schwarzmarkt gut tauschen lassen würden. Doch das, worauf sie aus war, konnte man nicht kaufen. Selbst der große Plasmafernseher, der die Mitte des Wohnzimmers schmückte, würde ihr nicht geben, wonach sie suchte. Das Mädchen schüttelte den Kopf über sich selbst. Wozu sollte sie auf Liebe und Geborgenheit hoffen, wenn sie hier das große Geld machen könnte? Alles andere war doch sowieso nur Blödsinn, den die Menschen von sich gaben, wenn sie noch jung und naiv waren. Liebe! Wärme! Sie glaubte nicht mehr daran.
Die Menschen, die hier lebten, besaßen mit Sicherheit allen Luxus dieser Welt und doch erschien Yael das Haus besonders kühl, dunkel und abstoßend. Fast so, als hätte das ganze Geld das Licht aus dem Haus vertrieben. Man kann sich wohl doch nicht alles kaufen, dachte sie sich. Verstummt vor Anspannung erreichte sie einen angrenzenden Raum, von dem her der Duft von frischer Farbe ausströmte. Neben einem kleinen Lämpchen sitzend, beobachtete sie erstarrt einen alten Mann, der Pinselstrich um Pinselstrich mehr Farbe auf die weiße Leinwand vor ihm auftrug. Yaels Blick blieb am Gehstock des Mannes haften, der neben ihm auf dem Boden lag. Direkt daneben entdeckte sie ein Küchenmesser, an dessen Spitze ein wenig blaue Farbe haftete. Ihr erster Impuls galt der Flucht, in Häuser einbrechen, in denen jemand zuhause war, schien ihr eine denkbar schlechte Idee.
„Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“, rief der Mann, drehte sich auf seinem knarrenden Holzstühlchen um, erhob sich flinker, als er den Anschein machte und griff nach seinem Stock. Das Mädchen schluckte leer, die Gedanken flirrten in ihrem Kopf umher, doch zu einer klugen Lösung konnte sie sich nicht durchringen. In einer Sackgasse hatte sie sich bisher nie befunden!
„Ich bin mir sicher, dass du einen verdammt guten Grund haben musst, einen alten Mann, der kaum noch den Weg von seinem Schlafzimmer zu seiner Küche schafft, so zu erschrecken. Gut, dass ich dich schon vor Stunden habe hier rumschleichen hören“, sagte der Hauseigentümer, während er auf Yael zuging „so war ich wenigstens vorbereitet und ahnte, dass du kommst. Wenn ich nur wüsste, was du hier zu suchen hast.“ Im fahlen Licht der kleinen Lampe wirkte der Greis größer als er eigentlich war und die altersbedingten Furchen, die sein Gesicht zeichneten, tiefer und markanter als bei Tageslicht. „Normalerweise benutze ich das hier nur, wenn ich versuche mir ein Stück Brot zu schneiden“, sagte er und wedelte mit dem Küchenmesser herum. Das heimatlose Mädchen schluckte erneut, die Augen wandte sie keine Sekunde vom Messer ab. Die Erwähnung von Essen liess ihre Knie weich werden. „..aber vielleicht muss ich es diesmal für was Anderes benutzen.“ Der alte Mann kam noch einen Schritt näher und streckte dann die freie Hand aus um sich an der Wand abzutasten. Mit dem Stock berührte er Yaels Füße und blieb dann stehen. Als seine hellblauen, umherirrenden Augen die ihren trafen wurde der Einbrecherin klar, dass ihr Gegenüber sie nicht sehen konnte. Er ist blind, schoss es ihr durch den Kopf.
„Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken, ich dachte, hier sei niemand zu Hause!“, brachte das Mädchen heraus und wusste sofort, wie dumm sie sich anhörte. Wie naiv sich die Aussage eines kleinen Kindes auf den armen, blinden Mann auswirken musste. Dieser hob seinen Stock und tippte ihr damit zielsicher gegen die Brust, sodass Yael hinfiel.
„Siehst du? Ich erkenne auch, wo deine Schwachstellen liegen ohne, dass ich Augenlicht dazu brauche. Wie kann es dann sein, dass du, obwohl du funktionierende Augen im Kopf hast, nicht merkst, dass das nicht dein Haus ist?“, fragte der Greis. Der Tonfall wurde schärfer. Yael musste sich etwas einfallen lassen.
„Du hast wenigstens ein Haus…“, war die einzige, kümmerliche und trotzige Antwort, die dem Mädchen einfiel. Alle Energie fiel auf einmal von ihm ab, hilflos kauerte es sich am Boden zusammen, bis ihr heiße Tränen die Wangen herunterliefen. Dabei wollte sie doch stark sein, ihn bestehlen und die Wertsachen unter Ihresgleichen verteilen! Sie spürte, wie der Mann sich zu ihr hinunter beugte.
„Merkst du was?“, war die banale Frage, die Yaels Schluchzen zum Stillstand brachte. Sie blickte auf und sah in zwei leere Augen. „Ich habe ein Haus aber du…“, begann er leise, „du hast die ganze Welt. Ich male den Regenbogen nur aus Erinnerungen an sehende Zeiten, du kannst ihn tatsächlich mit deinen Augen erkennen. Wenn das kein Reichtum ist…“, sagte der alte Mann schließlich in die Stille hinein. Der Blick der Einbrecherin wanderte zum Gemälde, an welchem der Greis gerade saß. Undeutlich erkannte sie die Farben eines Regenbogens, die er zwar falsch angeordnet, jedoch richtig ausgesucht hatte.
„Ich sehe mit diesen Dingern kaum noch was“, der Greis deutete auf sein Gesicht „…nur Umrisse und bei gutem Licht etwas Farbe. Es reicht um zu leben.“ Mit diesem Satz drehte er sich um und wackelte wieder an seinen Arbeitsplatz zurück. Gerade als Yael sich aufrappeln und davon rennen wollte, hielt er sie ein letztes Mal auf:
„Du magst zwar mit den falschen Absichten hier her gekommen sein, aber wenn du mir etwas Gesellschaft leisten möchtest, komm doch morgen Abend wieder.“ Yael blieb abrupt stehen und horchte, ob sie gerade richtig gehört hatte. „Du kannst dich waschen und etwas essen. Dafür bringst du mir die richtigen Farben auf den Teller hier“, fügte er an und wedelte mit einem farbigen, verschmierten Plastikteller. Ein schüchternes Strahlen schlich sich auf das Gesicht des Mädchens. Mit Geld kann man eben doch nicht alles kaufen!