Der Friseursalon war ein mittelständisches Geschäft ohne größere Ausschmückungen; aber er wirkte sauber und zuverlässig. Momentan rasierte ein recht junger Friseur - wahrscheinlich noch in der Ausbildung - einen älteren Herrn mit leichten Gewichtsproblemen auf dem Platz, der am weitesten weg vom Schaufenster stand; ein anderer beobachtete seine Aufmachung erstaunt von der Kasse aus, senkte aber schnell den Blick, als Artemis den Blick erwiderte, wenn auch mit weniger Neugier und mehr Entrüstung.
Still griff er sich eines der Frisurmusterbücher, welche neben den Magazinen im Wartebereich lagen, und blätterte darin herum, bis er auf eine unauffällige, mittellange Frisur stieß, die seinen Ansprüchen genügte. Mit dem Buch stand er auf und zeigte das Bild dem neugierigen Kassierer, welcher nickte und ihn bat, sich den Mantel auszuziehen und Platz zu nehmen. Art nahm Platz, verzichtete aber auf das Ablegen des Mantels und nahm den leicht unsicheren Blick des Friseurs zufrieden in Kenntnis. Während ihm der Friseur einen zweiten Mantel zum Auffangen der Haare umlegte, nahm er seine Mütze ab und betrachtete sein schwarzes Haar im Spiegel. Wirklich entsetzlich zerzaust - es wurde Zeit, dass er wieder etwas Form hinein brachte.
Die zaghaften Versuche des Friseurs, Konversation zu beginnen, prallten an Arts eisigem Schweigen ab. Schließlich ließ er sich den schwarzen Mantel abnehmen, bezahlte den Haarschnitt (von seinen anfangs $25 blieben nun noch $6.50 zurück) und verließ den Laden ohne ein Wort des Abschieds. Hinter ihm wischte sich der Friseurmeister die Stirn und versuchte sich zu beruhigen, damit er keinen schlechten Eindruck auf normale Kunden machte.
Draußen sah er sich kurz um. Ein oder zwei bekannte Gesichter sah er, aber er war sich nicht sicher, ob er wirklich mit einem von ihnen mitgehen sollte. Wirklich wichtig war ihm hier eigentlich nichts - vielleicht sollte er die sechseinhalb Dollar behalten? Die Leiterin hatte zwar Kassenbons verlangt, aber nicht erwähnt, was sie mit dem Restgeld machten. Das einzige, was immerhin ein bisschen verlockend wirkte, war die Videoarcade etwa 200 Meter weiter (für Art klar erkennbar) - aber wie sollte er sich da einen Kassenbon ausstellen lassen? Vielleicht, wenn sie eigene Chips anstelle von Quartern für ihre Automaten nutzten...
Die Stimme neben ihm kam nun, wo er nachdachte, etwas überraschend. Als er sich umdrehte, stand plötzlich der Pyrokinetiker mit den schwachen Kenntnissen im Wejauisch vor ihm. Wie hieß er? Jeza? Cheja? Nun, er schien freundlich zu sein, oder zumindest nicht ganz so verhaltensauffällig wie seine erste Bekanntschaft bei den Erleuchteten? BTW, was machte Laverne eigentlich? Vermutlich Klamotten kaufen. Er bezweifelte, dass die 25 Dollar für seinen flamboyanten Geschmack ausreichend waren.
Artemis räusperte sich. "Well, ich hätte auf jeden Fall nichts dagegen. Aber... gibt's 'nen bestimmten Ort, wo du hinwillst? Ich hab eigentlich schon alles erledigt, was ich hier machen wollte. Falls du eine Idee hast - by all means, tell it." Plötzlich fiel ihm Chejas Fremdsprachenschwäche wieder ein. "Ich meine, wenn du eine Idee hast, sag sie mir ruhig."
Artemis drehte sich schnell um und blickte Cheja an.
"Well, ich hätte auf jeden Fall nichts dagegen. Aber... gibt's 'nen bestimmten Ort, wo du hinwillst? Ich hab eigentlich schon alles erledigt, was ich hier machen wollte. Falls du eine Idee hast - by all means, tell it." Artemis stockte. "Ich meine, wenn du eine Idee hast, sag sie mir ruhig."
Nur langsam kam Cheja dem schnellen Wortfluss hinterher. Es dauerte schon fast viel zu lang, bis er endlich alles verstanden hatte – hoffentlich alles.
„Also, ich tue nicht wissen, was ist hier. Alles ist so… anders, du weißt?“
Cheja schaute erneut die Einkaufspassage hinauf. Viele Leute, viele bunte Geschäfte. Er erkannte kaum etwas. Was konnte man hier auch tun? Lebensmittel kaufen? Er hatte von dem exzessivem Konsum der westlichen Welt gehört, doch was genau sie kauften, wusste er nicht.
Artemis schien jedoch zumindest zu wissen, was hier zu tun sei.
„Bist du mal hier gewesen? Lass uns nur umgucken.“
Langsam schlenderten sie die Straße hinauf. Einige Blicke wurden den beiden zugeworfen: Verwunderung, Interesse, Angst, Verärgerung; vieles war dabei. Die beiden kamen an Geschäften vorbei, unter denen sich Cheja nichts vorstellen konnte. Vor einem Laden, in dessen Schaufenster dutzende Fernsehbildschirme standen, die ein Fußballspiel übertrugen, standen noch mehr Menschen - hauptsächlich Männer - die auf die Bildschirme starrten. Geschäfte, aus denen junge Frauen kamen, die unter ihrer Schminke ersticken zu schienen, auf Stelzen, bepackt mit vier, fünf, sechs Tüten. Ein golden erhelltes Geschäft erschien. Eine hölzerne Fassade mit zwei großen Fenstern und eine sich im Kreis drehenden Tür. Cheja verlangsamte sein Tempo und spähte hinüber zu dem Geschäft. Es war malerisch, dezent in der Einkaufspassage und doch auffallen.
"Warte", sagte er zu Artemis und deutete auf das Geschäft. "Lass uns gehen dort."
Es war ein Uhrengeschäft - und kein 08/15 Uhrengeschäft. Silberne, goldene Uhren waren im Schaufenster ausgestellt, alle mit einem kleinen, unauffälligen Preisschild – mindestens vierstellig. Doch Cheja konnte damit nichts anfangen. Er war erstaunt von der Schönheit und Eleganz der Werke.
„Tust du meinen, dass wir… dass wir können gehen da rein?“, fragte er Artemis.
Art runzelte die Stirn. Das Uhrengeschäft war schon eine Nummer - und das waren die Preisschilder auch. Die beiden waren dort defintiv fehl am Platz. Cheja selbst schien das ja auch erkannt zu haben, also würde ihn die Absage nicht so schwer treffen. Er fing an mit den Worten "Tja, wir sind nicht umbedingt...", wobei er beiden Hände in den dafür vorgesehen Manteltaschen vergrub.
Seine rechte Hand schloss sich um etwas Rechteckiges, woraufhin er verwirrt innehielt. Er konnte sich nicht daran erinnern, bei seiner Abreise irgendetwas in seinem Mantel verstaut zu haben - alles, was es wert war, mitgenommen zu werden, hatte er in seinen Rucksack getan, Geld und Fahrkarten eingeschlossen. Interessiert zog er seine Hand aus der Tasche. Sie hielt seinen Ausweis.
Für einen Moment vergaß er Cheja und betrachtete nur das Stück Plastik in seiner Hand. Ein viel jüngeres Abbild seiner Selbst blickte ihn aus einem kleinen Fenster an, ohne Lächeln, nur der Blick eines Zwölfjährigen, der diese Zeremonie über sich ergehen ließ in dem Wissen, dass sie bald vorbei sein würde. Das kleine Plastik war der Beweis, dass er Artemis Benjamin Faraday war - und das mindestens bis Ende 3487, denn so lange war der Ausweis gültig.
Was sagte ihm der Ausweis? Nun, dass er Art Faraday war. Es erinnerte ihn an seine Familie, denn die trug zu großen Teilen den gleichen Namen. Es war nicht so, als wäre ihm seine Familie je besonders wichtig gewesen - oder er ihr - aber nun wirkte es etwas surreal. Ausgerechnet er befürchtete, nicht in den Juwelierladen hineingelassen zu werden? Ein Witz.
Er kehrte ins Hier und Jetzt zurück, steckte den Ausweis in seine Tasche zurück und trat zwei Schritte zurück, um den Namen des Geschäfts zu lesen. DeRoot, also eine Filiale der hauptsächlich im Westen verbreiteten DeRoot-Juwelierkette. Gut zu wissen. Er sog hörbar Luft ein und trat wieder einen Schritt nach vorne, neben Cheja. "Weißt du was? Wir gehen rein. Es ist okay. Oder, besser gesagt, es wird okay sein."
Wirklich? Es freute Cheja, dass sein enkulturierter Freund sich dazu entschied, den Laden zu betreten. Er hatte kaum damit gerechnet. Es schien, als hätte Artemis durch das Papier Erleuchtung gefunden – Cheja konnte keine Gedanken lesen, also war ihm der Grund zunächst egal.
Die beiden durchschritten die Tür und fanden sich in dem erdrückenden Geschäft wieder. Unter Glaskuppeln eingeschlossen waren verschiedene Uhren- und Schmuckgegenstände auf gestellt, alle schimmernd. An den Wänden, an Regal angebracht, drehten sich die Uhren im Kreis, was Chejas Blick fing, doch schnell verwirrte. Die Brillanten und Diamanten glänzten in dem warmen Licht, das von kleinen Deckenstrahlern kam. Ein in Anzug gekleideter Mann Mitte zwanzig beriet einen ebenfalls adrett aussehenden Mann, der eine mindestens zwanzig Jahre jüngere Wasserstoffblondine im Arm hielt.
Cheja ging auf die andere Seite des Ladens, weil die Personen die beiden Neuankömmlinge schräg angeguckt haben. Artemis und er fanden sich vor einem Regal wieder, welches dutzende Uhren zeigte. Einige fielen durch ihre überdimensionale Größe auf – sie waren fast so groß wie Chejas Handfläche –, andere funkelten sie nur an, doch alle tickten im selben Takt. Wenn man genau hinsah, erkannte man, dass selbst die kleinen, goldenen Zeiger sich synchron bewegten, als würden sie alle von einer Person gesteuert werden. Neben dem Regal hing ein vergrößertes Ausstellungsstück, welches das Innenleben einer solchen Uhr zeigte: In mehreren Schichten übereinander angebracht waren viele, viele kleine Zahnräder, mit winzigen Zähnchen, die sich untereinander verhakten. Ein bewegtes Spiel, perfekt abgestimmt, mit einer Präzision und Filigran, die bezaubernd und beängstigend zugleich war.
„Entschuldigung!“, räusperte sich eine Stimme hinter Cheja. Sein Körper zuckte schlagartig. „Wenn ich Sie bitten dürfte, dieses Geschäft zu verlassen“, sagte der Mitarbeiter, der soeben noch den Reichen Schnösel bediente, „denn wir bedienen nur eine sorgfältige und ausgewählte Kundschaft.“ Er schaute die beiden jungen Männer genau an und schien auf ihre Kleidung zu schielen. „Wenn ich Sie also bitten dürfte“, und er deutete mit seinem Arm den Weg zu Tür.
Chejas Kopf wurde heiß. Dem Mann sind wohl einige Sicherungen durchgebrannt, wir der sich aufführt. Artemis schien das alles nicht zu interessieren. Er schaute dem Mitarbeiter in Anzug starr und ausdruckslos in die Augen, während er in seiner Jackentasche suchte. „Hier", entgegnete er kurz und reichte dem Mann das Papier, das er vor dem Laden gefunden hatte.
Dieser hielt sich mit dem Lesen des Scheines einige Zeit auf, schaute dann skeptisch zu Artemis. „Artemis Benjamin Faraday? Van Faraday? Die Waffenschmiede?“ Er hielt kurz inne. „Also, meine Herren, gestohlen habt ihr wohl auch. Ihr seht mir nicht wie Nachkommen dieser Familie aus – besonders du nicht“, sagte er mit Fingerzeig auf Cheja. „Wenn ich nicht sofort die Polizei holen soll, dann möchte ich euch nun dem Laden verweisen.“ Er machte ernst. Er gab Artemis das Stück Papier zurück und schob Cheja Richtung Eingangstür. „Ihr seid mir schon sehr suspekt vorgekommen als ihr hier hineingekommen seid.“ Und damit standen beide draußen in der Mittagssonne.
Cheja warf noch einen Blick zurück in den Laden, mit dem Funkeln, dem Glitzern, dem Reichtum und dem Mann, der einem Kollegen etwas erzählte.
OT: Der Gemeinschaftspost von Tungsten. und mir. Vielleicht kommt noch etwas dazu, bis die zwei Stunden dann rum sind^^