Die Zeit zwischen Belaines geschlagener Aufforderung nach Bestätigung und Eves Antwort in Gleichmut war zäh, langsam und unangenehm verronnen. In diesen aufzehrenden Momenten wirbelten ihre Gedanken tiefer in den Strudel negativer Emotionalität hinein, von der Überforderung, auf die Zusicherung ausgerechnet jener Person angewiesen zu sein, die einen eben noch heruntergeputzt hatte, hin zur diesmal ausschließlich unschön gefärbten Frage, die so viel von Belaines Verhalten bestimmte: Was würde man nun über sie denken? Nur das Schlechteste, es war mehr als naheliegend. Alle anderen, wirklich alle, die in ihrer Durchschnittlichkeit so sorglos durch die Höhle spaziert waren, Knurspe verteilt und Angelruten ausgeworfen hatten, würden nie verstehen können, was gerade in ihr vorging; dass sie ein gutes Recht auf ihren Meltdown hatte, dass sie mit Anschuldigungen, Guardiankolleginnen und Selbstbildschäden zu kämpfen hatte, gegen die deren eigene Problemchen, wie auch immer die gerade aussehen mochten (denn Belaine hätten die Jugongs, Wegkreuzungen und Fangbemühungen in ihrer Umgebung im Moment nicht egaler sein können) ein Frühlingsspaziergang waren, ein Stäubchen, das man sich von der Bluse wischt, ein einzelnes falsches Zeichen beim Eintippen eines Passwortes, kurz – eine Nichtigkeit. Unter ihrer Firnschicht aus Beschämung, Trotz und Hilflosigkeit begann giftiger Hass auf wirklich alles zu kochen. Belaines Atmung galoppierte ihr wieder davon und sie bekam Schluckauf. Zum Glück für alle Beteiligten hatte Eve ihre Antwort formuliert, bevor die üble Mixtur im bates’schen Innenleben einen kritischen Punkt überschreiten konnte.
Ich hasse dich nicht. Ein Wolkenbruch über einem schwelenden Brandherd, gleichsam verzog Belaine das Gesicht und ließ noch einige weitere Tränen laufen. Warum sie das getan hatte? Offensichtlich, weil… Belaine hörte in sich hinein. Dort spielten gerade die letzten Zeilen eines Liedes, bei dem ihre damaligen Kindermädchen empört die Nase gerümpft hätten. So kam sie nicht weiter.
„Weil… alle guten Pokémontrainer… machen das.“ Oh, die Dreistigkeit, sie in Frage zu stellen! Aber sie konnte jetzt nicht mehr beißen, allerhöchstens… in den sauren Apfel. Für Belaine kam eine Erklärung dem Strecken der Fahnen gleich, doch die tragische Wahrheit war, dass sie sich ihre Niederlage in allen Punkten bereits eingestanden hatte. Sie hatte nichts mehr außer ihrem betont defensiven Tonfall.
„Ich, ich hatte die Optionen des Stollos durchschaut…!“ Traurig senkte sie den Kopf. „Wir, also Glurak, also… wir hätten kämpfen können, ich weiß das doch – die Gefahr war minimal…“
Diese Annahme hatte bereits vorhin nicht der Wahrheit entsprochen, und da die Zeit weder stehengeblieben war, noch beabsichtigte, Rücksicht auf Belaines Illusionen zu nehmen, sollte sie gleich noch viel unwahrer werden: Wie um die naive Aussage Lügen zu strafen, erbebte das finstere Gewölbe gleich darauf, Belaine sah auf, die blanke Enervierung aus ihren Augen sprühend und die Kiefermuskeln verkrampft. Sie war so done. Sie wollte einfach zurück zur Basis und Teams allerhöchstens auf Showdown builden. Dieses Desaster einer Übung und all die wilden Pokémon konnten ihr sowas von den Buckel runterrutschen. Als Kampfgeist konnte man dieses Aufflammen beim besten Willen nicht bezeichnen, vielmehr war es nur noch der grenzenlose Groll gegen all die Ungerechtigkeiten, die ihr widerfahren waren, der sie noch davon abhielt, sich ganz den miserablen Umständen zu ergeben.
Eine Felswand war eingestürzt, ein Knakrack hatte sich offenbart. Belaine verzichtete auf eine weitere Analyse, die Angst vor Eves Reaktion behinderte sie fast so sehr daran, wie die Angst, von einem Drachenpokémon ohne Schutz in (zweifellos deliziöse) Scheibchen geschnitten zu werden. Stattdessen grub sie ihre Hände in den feuchten Kiesboden und schrie.
Sinnlose, verwirrte Ausflüchte waren ihre Antwort. Natürlich, was auch sonst? Belaine wusste sich nicht zu erklären, etwas anderes war gar nicht zu erwarten gewesen. Was hatte sie sich erhofft, zu hören? Vernunft? Hah, genau. Nein, stattdessen stolperte der Verzögling ziellos über seine eigenen Worte, ungeschickt wie das Kleinkind, als das sie sich geradezu aufführte; vergebens versuchend, ihrem geistlosen Handeln irgendeine Substanz zu verleihen, als wäre es nicht blanke Idiotie gewesen. Ein lächerliches Bild, das sie zu gern mit Spott quittiert hätte, ganz wie der primitive Drang nach Genugtuung es forderte. Doch ihr Gegner war hier und jetzt nur ein bloßes, bedürftiges Häufchen Elend, das seine himmelschreiende Misere selbst zu verantworten hatte. Ihre absurden Mühen, Gesicht für leere Nichtigkeiten zu wahren, waren Schmach und Strafe genug. Salz in der Wunde war nieder und würde dieses Desaster nur in neue, unnötige Tiefen zerren.
So zwang sich Eve, ihrer ekelhaften Wünsche zum Trotz, zur Stille, während Belaine sich um Kopf und Kragen brabbelte. Der übertrieben abwehrende Tonfall war es, der die Wut in ihr erneut zum Kochen gebracht hatte. Siedend heiß fraß er an den kümmerlichen Überresten, die die letzten Bruchstücke ihrer geschundenen Nerven zusammenhielten. Da war es wieder; das Gefühl, vorgeführt zu werden. Ein gutmütiger Idiot zu sein. Wie sie es verfluchte, beinahe dem Mitleid erlegen zu sein. Es wäre nie soweit gekommen, hätte nie soweit kommen müssen, wenn Belaine sich ihren Fehler eingestanden und erwachsen reagiert hätte. Wenn sie gar nicht erst stehen geblieben wäre – wenn sie nachgedacht hätte!
Eve verzog das Gesicht zu einer ekelhaften Grimasse. Ihr war das alles zu viel. Womit hatte sie das eigentlich verdient? Die weinende Belaine würdigte sie keines Blickes, sondern starrte reglos in die gähnende Leere, in der irgendwo abseits unbekümmert neue Bande geschlossen und hausgemachte Knurspe geteilt wurden. In jeder anderen Situation hätte sie sich vielleicht dazu gesellt, die Stimmung genossen und ermutigt, doch gerade war sie ein ironischer Schlag ins Gesicht. Lachhaft, frustrierend, unfair. Die Trommeln hinter ihren Schläfen lähmten ihre Gedanken. Sie fühlte sich verloren, abgeschnitten vom Geschehen um sie herum. Belaines zerreißendes Schluchzen drang wie durch einen dichten Nebel in ihr Bewusstsein ein und verlor sich im Hintergrund der dröhnenden Kakophonie. Alles war mit einem Mal so laut, so erdrückend. Das Tropfen der Stalaktiten, das Rauschen des Sees, das gedämpfte, entfernte Gerede, die abgestandene, muffig-feuchte Luft, das kalte Gestein in ihrem Rücken, ihre klamme, klebende Bluse – alles verschmolz zu einem einzigen übermächtigen Klumpen, der sie langsam zu verschlucken drohte. Sie wollte hier fort. Zurück in ihre Bibliothek, zurück in ihr Zimmer, egal. Irgendwohin, wo sie sich verstecken konnte, wo sie allein – wo es r u h i g war. Warum war sie überhaupt hier? Die Inkompetenz anderer war nicht ihr Problem! Leute wie Belaine waren der Grund, weshalb sie in diesem... diesem Bullshit festsaß. Wenn sie doch nur–
Die Veränderungen um sie herum bekam sie nicht mit. Nicht die aufkommende Unruhe zwischen den Pokémon, nicht das Höherschlagen der Wellen. Erst das erste Donnern, noch dumpf hinter ihr, ließ sie, noch halb im eigenen Kopf gefangen, hochschrecken. Belaines hysterischer Schrei verlor sich in einem der folgenden, ohrenbetäubenden Schläge. Ehe sie begreifen konnte, was überhaupt geschah, erschütterte schließlich ein finales Beben die Höhle und die Wand unweit von ihnen stürzte mit brachialer Gewalt ein. Überall wirbelte Staub umher und nahm ihnen nicht nur die Sicht, sondern reizte auch Augen und Atemwege. Sie spürte, wie der Boden unter ihren Füßen vibrierte, als das Knakrack sich mit gewaltigen Schritten näherte. Ihr Herz setzte aus. Plötzlich fühlte sie sich wieder dem Stolloss gegenüber. Panik übernahm das Steuer. Sie packte Belaine, ohne nachzudenken, an der Schulter und zerrte wild an ihr, unfähig ein Wort herauszubringen. Wir müssen hier weg!
Schon wieder war es passiert. Man hatte sie gepackt. Wie einen Regenmantel auf dem Küchenstuhl bei schlechter Witterung hatte man sie einfach ergriffen und mitgenommen. Glücklicherweise war, noch bevor Belaine sich in einer ausgiebigen Evaluierung der Ereignisse nach Frechheit verlieren konnte – das Knakrack hatte zumindest noch keine ihrer persönlichen Grenzen übertreten – Eves panischer Funke auch auf sie übergesprungen. Ein solcher Prozess lässt sich leicht be- und herunterschreiben, wird dem begleitenden blanken Entsetzen, dem gelaufenen Rotz und dem Wasser und den Äußerungen primitiver Todesangst, die so ihre Bühne fanden, aber in keiner Weise gerecht. Wie zuvor ließ sich Belaine von Eve mitschleifen, leistete diesmal aber keinerlei Widerstand, sondern hängte sich sogleich an ihre momentan einzige Chance auf Rettung. Dies war keine Metapher; nachdem bereits sämtliche Hemmungen gegenüber allem über Bord geworfen worden waren, klammerte sich Belaine so ungestüm an den noch klar denkenden Teil des unglückseligen Duos, dass Eve sich am nächsten Morgen – falls sie ihn denn sehen sollte – über Lidschattenabdrücke und schlimmeren Schmierereien auf ihrem Oberteil freuen dürfen würde.
„EVE ICH WILL NICHT HIER SEIN! ICH WILL WEG!“
Halb hinterherstolpernd, halb selbst stoßend sah sie zu, dass sie Land gewann. Wo die anderen Guardians sich in diesem Moment herumtrieben wusste sie nicht, im besten Fall wahrscheinlich zwischen ihr und dem Knakrack; nachdem ihr Körper das Bezwingen einer lebensgefährlichen Situation zur Hauptpriorität gemacht hatte, brauchte sich Belaine solcher Gedanken auch nicht mehr zu schämen. Nach außen drangen gerade ohnehin nur die Begleiterscheinungen ihrer Panik, Hyperventilation, hässliche Klagegeräusche, ihr Schraubstockgriff. Wenn sie ihn auch nur einen Hauch lockern würde wäre sie tot, dessen war sie sich ganz sicher. In Sachen Orientierung hingegen konnte sie nicht mit annähernd so viel Sicherheit glänzen, sie waren inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem die ungefähre Richtung „weg von Knakrack“ nicht länger ausreichte. Mehr Distanz musste her, aber nun stellte sich auch die Frage nach dem wie – zumindest hätte sie das getan, doch Belaine, die sich ohnehin nicht mehr in ihrem eigenen Kopf zurechtfand, geschweige denn in der Umwelt, stellte sich keine Fragen mehr. Stattdessen verlagerte sie ihr Gewicht auf Eves linke Seite, sodass diese in dieselbe Richtung schauen musste wie sie auch und zeigte zitternd auf einen Spalt in der Höhlenwand. In diesem Spalt schien der unterirdische See einen seiner Ausflüsse zu haben, davor hatte sich Eis abgelagert.
„In there“, heulte sie und trat Eve versehentlich auf den Fuß.
Hinter ihnen bebte und polterte es, wann immer der Drache und sein Widersacher aufeinanderstießen. Die Wucht hinter jedem Schlag ließ das Gestein unter ihren Sohlen gefährlich vibrieren und trieb ihr die Panik wie einen Flock immer tiefer in die Brust. Welche arme Seele es auch immer sein mochte, die sich dem Feind da so selbstlos entgegenwarf, um ihnen eine heile Flucht zu ermöglichen; Eve, ihrer lebensnotwendigen, rationalen Denkweise beraubt, klammerte sich blind an die gezwungene Zuversicht, dass ihre Ablenkung dem Monstrum ebenbürtig war – denn würde sie versagen, oh Gott Gnade, waren sie alle verloren.
Der Gedanke verselbstständigte sich und drängte ihr grafische Vorstellungen allerlei möglicher Verletzungen vor das innere Auge; Horrorszenarien voller blutiger, klaffender Löcher, bloß liegender Knochen und schmerzerfülltem Geschrei und Gejammer, gegen das sie machtlos war, gerissen von den ungetümen Klauen eines angefixten Raubtiers, das erst ablassen würde, wenn sein Instinkt befriedigt war.
Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und fast brachte der Würgreiz sie zum Husten. Die Enge in ihrer Brust hatte sie längst zum Keuchen gebracht, jeder kostbare Atemzug stach und schien zu wenig. Ihr Körper, obwohl gesund, war schrecklich außer Form und viel zu zügig an seine Grenzen gekommen. Ihre Beine ächzten unter der Last und Belaines überlegene Statur zerrte an ihren müden Muskeln, doch sie war zugleich unendlich dankbar für die Kooperation ihrer Partnerin.
Die plötzliche Bewegung traf sie unvorbereitet. Sie schrie überrascht auf, als Belaine sie abrupt in eine andere Richtung drängte. Eve war sich sicher, der Ruck würde sie von ihren Füßen werfen, doch Belaine zog sie einfach weiter und sie stolperte ungeschickt hinterher, ihr Kopf durch den Schock leer gefegt bis auf das Dröhnen ihres Herzschlags.
Ihr erster Instinkt, nachdem sie sich wieder gefangen hatte, war, Belaine für ihre unüberlegten Dummheiten – schon wieder – anzuschreien. Was, wenn das Untier auf sie aufmerksam wurde? Doch der Anblick des Lichtes – Tageslicht? –, das da durch die Öffnung in der Wand sickerte, auf die sie zuhielten, überschrieb jede andere Emotion. Sie ignorierte den dumpfen Schmerz in ihrem Fuß und preschte voran.
Das Eis, und den Fluss, den es bedeckte, sah sie zu spät. Es war ein schmaler Streifen, kaum länger als Belaine, und breit genug, um als die rettende Brücke zu fungieren, die sie über das Wasser nach draußen brachte. Dennoch zögerte sie. Gedanken über einbrechendes Eis und die kalte Dunkelheit darunter und was in ihr lauern mochte, griffen nach ihr. Doch die Furcht, von dem Ungetüm gefasst zu werden, überwog. Ungeschickt setzte sie den ersten Schritt auf das viel zu dünn wirkende Eis. Unter ihr knackte es gefährlich. Hinter ihr brüllte der Drache. Sie schrie auf, ließ Belaine los und jagte über das gefrorene Stück. Es war vorbei, noch bevor sie es richtig begreifen konnte, doch das war nicht mehr wichtig. Kaum festen Boden unter den Füßen, warf sie ihrer Partnerin auf dem Eis einen letzten Blick zu, überzeugt, dass sie den Rest unbeschadet allein schaffte, und floh hinaus in Sicherheit.
Eve hatte das Kunststück vollbracht, sich aus Belaines Klammergriff zu lösen – nur ein weiteres tragisches Ereignis in einer langen Folge von tragischen Ereignissen. Wie vor den Kopf gestoßen sah sie zu, wie die Frau, auf die sie in den letzten paar Minuten exzessiv das gesamte Spektrum menschlich wahrnehmbarer Emotionen projiziert hatte, sich kurzerhand einen wackligen Vorsprung über den gefrorenen Pfad verschaffte und… sie zurückließ. Ein erneutes Suhlen in der eigenen Hilflosigkeit wirkte sofort wieder sehr attraktiv, doch das Knakrack war noch immer hinter ihnen und selbst Belaine wusste inzwischen, dass eine Selbstmitleidpause zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich ihre letzte gewesen wäre. So rief sie bloß panisch Eves Namen, diese drehte sich um, starrte sie flüchtig an und nahm dann die Beine in die Hand. Verlassen. Verlassenverlassenverlassen. Verkrampft, verängstigt und völlig durch den Wind stolperte also auch Belaine über die Eisfläche und hätte sich wohl zu ihrer Schuhwahl gratuliert, wären ihre Gedanken durch ihren Herzschlag noch zu hören gewesen.
Ihr Körper kam intakt im Tageslicht an, der Zustand ihres Geistes hingegen gab eher Anlass für Diskussionen. Kraft- und sprachlos trat sie aus dem Höhlenspalt hinaus und blieb teilnahmslos in der Gegend stehen, die traurig zerlaufenen Fäden aus schwarzer Schminke vermochten nur oberflächlich darauf hinzuweisen, wie durch und durch furchtbar sie sich fühlte. Sie wollte nicht mehr, wollte und konnte nicht mehr.
OT: Pt. 2 des Psychoterrors auf Poni mit Ulti, es war mir wie immer eine Ehre