Kapitel 1 - A thursday in the life of Jan
Gelangweilt starre ich aus dem Busfenster. Wieder ist ein Schultag vorbei. Wieder darf ich die zwölf Kilometer Schulweg mit dem Bus bestreiten. Wieder geht eine dreiviertel Stunde meiner kostbaren Freizeit verloren. Es ist schon seit neun Jahren das selbe. Jeden Morgen hin, jeden Nachmittag wieder heim. Das kotzt mich an.
Während ich gedankenverloren auf die Rapsfelder schaue, an denen der Bus vorbeirauscht, kreischen die Kinder hinten im Bus herum und spielen irgendwelche albernen Spielchen. Ich habe gelernt, dieses nervtötende Herumgehüpfe zu ignorieren. Alles andere würde mich unzurechnungsfähig machen. Urplötzlich knallt es ohrenbetäubend und der Bus neigt sich auf die rechte Seite.
„Ach, Scheißdreck!“, flucht der Fahrer. Er steigt aus, während sich die anderen alle nach rechts drehen und versuchen, etwas zu erkennen. Ich riskiere auch einen Blick aus dem Fenster, kann aber nichts erkennen. Eine Weile lang ist es mucksmäuschenstill und ich genieße die Minuten der Stille. Niemand regt sich, nur fahren ein oder zwei Autos am Bus vorbei. Ein paar Minuten lang ist es, als würde die Zeit stillstehen. Nun tritt der Fahrer, noch mieseptriger als sonst, wieder ein, stellt sich breitbeinig in die Gangmitte und brüllt: „Endstation, aussteigen. Wir haben einen Platten.“ Ein Aufstöhnen durchwandert den Bus, jeder ist sich darüber klar, dass wir nun noch länger nicht nach Hause kommen werden.
So. Jetzt stehe ich also da, immer noch sieben Kilometer von zu Hause weg, hungrig, mit schwerer Schultasche und Druck auf der Blase mitten in einem Rapsfeld. Donnerstage gehören verboten. Der Busfahrer brüllt in sein Handy hinein. „Rutscht mir alle den Buckel runter! Kann man hier nicht mal einen Ersatzbus ohne irgendwelche Fisimatenten bestellen?! Ich glaub', es geht los!“ So auf 180 habe ich ihn noch nie erlebt. Jedenfalls sitze ich jetzt echt in der Tinte. Ich besitze zwar ein Handy, aber leider habe ich hier keinen Empfang. Mein Harndrang fängt langsam an, sich die Kontrolle über meine Aktionen zu verschaffen. Der Hunger mischt auch noch ein bisschen mit.
Die Kinder krakeelen aufgeregt durcheinander, sodass ich am liebsten einen einzigen, langen Schrei machen würde, damit endlich Ruhe im Karton ist. Ich stelle meinen Rucksack ins Gras, setzte mich darauf und nehme den Kopf in die Hände. Es stinkt mir alles. Die Schule, die Gegend, das Nichtvorhandensein eines Funknetzes, der Donnerstag, mein bisheriges Leben.
Diese ganze Situation bestärkt mich nur, so schnell wie möglich auszuwandern. In die City, wo was los ist. Und mit „los“ meine ich nicht irgendwelche Festchen, bei denen der Musikverein mit Humbta-Humbta-Täterää-Blasmusik meine Gehörnerven zu Tode quält. Was bringt mir ein Stelldichein in Oberkrain, wenn ich mich nirgends einstellen will?
Ein Kind stolpert und fängt an, zu weinen.
Nein. Das ist zu viel! Ich explodiere. Mein Geduldsfaden ist gerissen. Ich stehe auf und gehe weg von dem ganzen Trubel, bis ich mich hinter einer Eiche verstecke. Einmal tief durchgeatmet und die Stille genossen. Tut das gut.
Außerdem nutze ich die Gunst der Stunde und erleichtere mich. Das tut noch besser. Auf die Frage, warum ich nicht schon zwei Minuten früher einfach die hundert Meter gelaufen wäre, komme ich gar nicht. Ein Vogel fängt an, zu zwitschern. Nachdenklich lasse ich meinen Blick über die Landschaft schweifen. Sanfte Hügel, allesamt sattgrün oder quietschgelb, je nach dem, ob es sich um eine Streuobstwiese oder ein Rapsfeld handelt. Dazwischen Feldwege, im Hintergrund ein kleines Wäldchen. Nur die Straße direkt vor mir stört die ultimative Idylle. Ein blaues Auto fährt an mir vorbei, und ich denke mir: 'Richtig so. Einfach nur weg hier! Frei sein – das ist das Größte.' Diese grenzenlose Natur hängt mir zum Halse raus. Klar ist sie schön, aber ich bin fünfzehn. Ich will was erleben und nicht inmitten der Einöde meines Lebens fristen.
Ich seufze. Mindestens noch drei Jahre muss ich hier eben doch meines Lebens fristen. Wobei mir ein 'höchstens' lieber wäre. In letzter Zeit fragen mich meine Eltern ständig, was ich mal werden wollte. Ich weiß es ganz ehrlich nicht. Was auch daran liegt, dass es in meiner Gegend nicht wirklich interessante Betriebe gibt. Du kommst aus diesem Teufelskreis der Urbanisierung nicht raus. Während alle großen Betriebe in die Stadt ziehen und dort hässliche Arbeitersiedlungen errichtet werden, zersiedelt sich die Landbevölkerung, die Strukturen, wenn es sie denn überhaupt gegeben hat, verfallen – die Städte werden in Sachen Versorgung klar bevorzugt. Sei es schnelles Internet, sauberes Wasser, billiger Strom. Nicht zu vergessen das Ärztenetz oder die Sicherheit – in Niederschasslingsheim besteht der Feuerschutz aus einer dreiköpfigen Freiwilligen Feuerwehr. Das jüngste Mitglied ist 68 Jahre alt. Der Löschwagen ist es auch. Ich bin mal gespannt, was passiert, wenn irgendeiner dementen Dame die Dampfnudeln anbrennen.
Ich kehre wieder zu meinem Rucksack zurück. Deprimiert genug bin ich ja schon, da verkündet der Busfahrer, dass es noch eine halbe Stunde dauern würde, bis der Ersatz käme. Die Nachricht rammt sich mit voller Wucht in meinen Bauch hinein, ich setze mich und habe nun endgültig die Lust verloren. Mit knurrendem Magen fange ich an, wahllos irgendwelche Blumen zu pflücken und dann die Blütenblätter abzurupfen. Damit schlage ich drei Minuten tot. Ich stütze den Kopf mit der Hand auf, seufze – und irgendwann fallen mir die Augen zu.
Anscheinend bin ich eingenickt und wieder aufgewacht, denn im nächsten Moment sehe ich den Ersatzbus vor mir, zwei Meter hoch, genauso verrostet wie der alte Bus. Na ja, besser als nichts. Es kann heimgehen. Endlich. Nachdem alle eingestiegen sind, setzt sich das Gefährt in Bewegung. Sieben Haltestellen trennen mich also noch von meinem heiß ersehnten Mittagessen.
Langsam leert sich der Bus, quälend langsam. Mit Schneckentempo kämpfe ich mich durch die Busfahrt. Lange genug hat es ja gedauert, aber jetzt darf ich endlich aussteigen. Vor mir liegen noch sagenhafte fünfhundert Meter Fußweg, ans andere Ende des Dorfes. Ja, es ist nur ein halber Kilometer, mehr hat Niederschasslingsheim nicht zu bieten. Das ist lächerlich. Ehe ich mich versehe, stehe ich auch schon vor der Haustür.
Man merkt es wahrscheinlich, dass mich diese ständige Monotonie ziemlich motivationslos rüberkommen lässt. Es ist aber auch echt ein Dilemma. Seit mittlerweile neun Jahren jeden Tag das selbe traurige, stille Örtchen, das ich auf meinem Schulweg passieren muss, seit neun Jahren jeden Tag die selben alten, verschrumpelten Landwirte, die mich in schönstem Dialekt grüßen. Es ist grauenhaft. Ich schließe in meiner vollkommenen Melancholie die Haustüre auf und schlurfe in mein Zimmer, wo ich den Rucksack achtlos in die Ecke schmeiße. „Wo warst du?“ tönt es drohend aus der Küche. „Der Bus hatte 'ne Reifenpanne und der Ersatzbus Verspätung“, antworte ich nicht ohne einen gewissen Zorn. „Und das soll ich dir glauben?“
Was soll das denn heißen? Verdammt, ich hocke da eine halbe Stunde freiwillig inmitten tiefster Einöde rum und lass die Gegend auf mich wirken, klar, ich hab' ja nichts besseres zu tun! „Ja, solltest du. Es wäre definitiv besser für dich“, gifte ich zurück. Es steht mir bis oben hin. Lasst mich einfach alle in Ruhe. „Auf jetzt, die Spaghetti sind eh schon kalt. Jetzt komm' in die Küche und iss' was“, befiehlt meine Mutter.
Der Hunger zwingt es hinein. Die Nudeln sind klebrig, viel zu lang und die Soße kann man nicht so nennen. Und nicht mal heiß oder al dente ist dieser ganze widerliche Haufen. Was habe ich heute morgen eigentlich falsch gemacht? Bin ich irgendwie mit links aufgestanden oder ist mir sonst irgendwas entgangen? Ich stochere in meinem Essen herum und stütze den Kopf mit der anderen Hand. Der Appetit ist verpufft, als wäre er nie da gewesen. Mir langt's. Ich schiebe den Teller zur Seite und gehe unter dem Vorwand, mit den Hausaufgaben anzufangen, in mein Zimmer. Aber natürlich werde ich mich jetzt nicht hinsetzen und zu allem Überfluss auch noch Latein pauken, nein, ich werde meiner momentanen Lieblingstätigkeit nachgehen.
Also schalte ich den Computer an und öffne das Programm 'Satellite'. Das ist eine Software, mit der man sich die gesamte Erde auf Satellitenfotos ansehen kann. Schnell gebe ich als gewünschten Ort Sonnstadt ein, denn das ist die größte Stadt im Lande. Sieben Millionen Einwohner, sie schlägt damit zum Beispiel Berlin um das doppelte. Da will, nein – da muss ich hin.
Langsam zoomt das Programm auf die Häusermasse, auf die Flut von Dächern, Straßen, Bahnlinien und Parks. Überall erscheinen Punkte, die Fotos symbolisieren sollen. Einen mitten in der Innenstadt klicke ich an.
Durch die porträtierte Fußgängerzone, die von vielen Läden gesäumt wird, tummeln sich alleine schon auf diesem einen Bild mehr Menschen als Niederschasslingsheim Einwohner hat. Offenbar wurde es im Sommer aufgenommen, die Bäume, die die Ladenstraße säumen, sind allesamt tiefgrün beblättert. Ein Pärchen schleckt ein Eis und lacht über irgendetwas. Zwei ältere Herren sitzen auf einer Steinbank und unterhalten sich. Im Hintergrund sieht man etliche Hochhäuser in den Himmel wachsen. Auf der linken Seite erkennt man die Front eines verglasten Gebäudes, über dem Eingang thront in großen Messingbuchstaben der Schriftzug „Stadtbibliothek“. Auf dem gepflasterten Platz vor ihr steht ein großer Brunnen, um den herum einige Kinder spielen. Die Passanten gehen gerade in Geschäfte hinein oder aus irgendwelchen Cafés raus, sie betrachten eine Skulptur am Rand des gepflasterten Weges oder weichen einem vorbeifahrenden Kastenwagen aus. Ich betrachte das Bild lange. Ich sehe mir jedes einzelne Detail an, zum Beispiel den Finken in der Eiche da rechts oder den gelben Schnuller, den das Baby im Kinderwagen da in der Mitte im Mund hat.
Auf einmal bekomme ich ein seltsames Gefühl. Es gleicht einem leichten Kitzeln, hat einen Hauch von Schmerz. Von den Füßen über die Beine bis in meinen Bauch schlängelt sich das Gefühl vorwärts. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Eine Träne kullert meine Backe entlang und schlägt auf der Tastatur auf. Ich würde es als Fernweh bezeichnen – oder ist es die schiere Eifersucht auf alle, die auf dem Bild dargestellt sind? Vor meinem inneren Ohr kann ich den Trubel hören, die Szene erwacht vor meinem geistigen Auge zum Leben. Überall wuseln Menschen umher, allesamt mit einem angenehmen Lächeln im Gesicht. Urplötzlich kommt in mir ein unheimlicher Drang auf, gehen zu wollen. Einfach wegzulaufen, am besten gleich in diese Passage der Innenstadt.
Und dann ist die Vision weg.Ich nehme meinen Kopf schon wieder in die Hände, ich blicke auf meine Tastatur hinab. Und ich schluchze. Eigentlich bin ich keine Heulsuse, aber jetzt gerade übermannt mich das totale Selbstmitleid. Lauter Fragen gehen mir durch den Kopf. Warum dürfen andere in der Stadt leben? Warum wohne ausgerechnet ich ausgerechnet im letzten Loch? Warum können wir nicht einfach wegziehen? Gleichzeitig durchspiele ich im Kopf das Szenario „Jan in der Großstadt“, schon zum x-ten Mal stelle ich mir vor, wie ich eine Wohnung mitten in der Stadt gefunden habe und das Gefühl genieße, in der Zivilisation zu leben und zu arbeiten. Ich male mir aus, was ich unternehmen würde, wie meine Wohnung aussähe...
Zu allem Überfluss fange ich auch noch an zu weinen. Alles gleichzeitig. Mein junges Hirn bricht total zusammen. Außer Kontrolle lasse ich meinen Kopf los und knalle auf die Tastatur. Der ganze Frust des Tages bricht aus mir heraus. Jetzt schleicht sich auch noch eine traurige Streichermelodie in meinen Kopf ein. Damit kann kein normaler Mensch fertig werden. Ich muss mich in den Griff bekommen, sonst springe ich augenblicklich schreiend aus meinem Fenster und laufe los.
Nein, ich habe eine bessere Idee. Ich schnappe mir ein Taschentuch und schnäuze mir die Nase. Die Tränen werden aus dem Gesicht gewischt, dann hole ich meinen MP3-Player aus dem Regal und stöpsele mein Headset ein. Das Kabel wird unter meinem T-Shirt hindurch zu meinen Ohren geführt. Ich schalte den Player an und mache einen Spaziergang, eine schöne, große Runde mit Musik. Denn dann kann ich immer so schön klar denken und konzentriert über alles mögliche nachsinnieren. Also gehe ich aus dem Haus, einmal über die Straße und biege rechts ein; nun bin ich auf einem Feldweg, der neben einem Bach entlangführt, gesäumt von Trauerweiden. Sie lassen ihre langen Äste mit den vielen ovalen Blättern tief hängen. Auch wenn es erst März ist, haben sie schon ausgetrieben und begonnen, zu wachsen.
Während ich vor mich hinschlurfe, gehe ich alle möglichen Zukunftsszenarien durch, wie eben am Computer. Lebhaft wird aus dem Weizenacker neben mir vor meinem geistigen Auge eine Menschenmasse, die sich eilig durch die Innenstadt wälzt. Aus den Bäumen werden die Hochhäuser, in die Menschen ein- und ausgehen. Die Hügel werden zu einer Kulisse aus Wolkenkratzern, Straßen voller Autos, U-Bahn-Haltestellen, Kiosken, grauen Kästen, Straßenlaternen, Ampeln... Ich verliere mich gänzlich in einer Scheinwelt aus Gedanken, hinterlegt von fetzigen Techno-Rhythmen, die aus den Kopfhörern gegen meine Trommelfelle wummern. Ich hole tief Luft und genieße meine Vision. Und dann fasse ich einen Plan. In den Sommerferien fahre ich nach Sonnstadt. Koste es, was es wolle. Ich muss dringendst hier raus, alles andere treibt mich früher oder später in die Depression. Ich muss etwas erleben, diese kontinuierliche Ereignislosigkeit hier macht mich wahnsinnig. Ich möchte nie wieder etwas von einer Therapie im Grünen hören, nie wieder etwas von Niederschasslingsheim wissen! Ich möchte nie wieder in dieses versiffte Kaff zurück – mal ganz davon abgesehen, dass sich in spätestens dreißig Jahren die Bevölkerung dezimiert haben dürfte, denn so lange machen es die Opas und Omas hier nicht mehr.
Stellen sich andere Fragen: Wie will ich das ganze anstellen? Ich sehe mich in meiner Vision um. Ein Blick nach rechts: Ein Bus rauscht vorbei. Ein Blick nach links: Die Tram fährt gerade ein. Ein Blick geradeaus: Der Hauptbahnhof baut sich vor mir auf. Ein Flugzeug fliegt über mir. Die Lösung liegt auf der Hand und ist obendrein ein herrlicher Zungenbrecher: Öffentlicher Personenfernverkehr. So banal diese Lösung ist, so genial ist sie. Ich sehe da absolut kein Problem, mit Bus und Bahn geradewegs ins Glück zu fahren. Ja, ich werde Urlaub auf eigene Faust machen. Ganz ohne Eltern, die wieder zu irgendwelchen Verwandten gehen. Nein danke, ohne mich. Ich gehe nach Sonnstadt, fünfhundert Kilometer Weg werden wohl nicht für umme sein.
Und dann ist da noch mein zweites Ziel. Ich will auch endlich eine feste Freundin haben. Weil es hier aber damit sehr schlecht aussieht, werde ich meinen Urlaub nutzen und mir eine Partnerin verschaffen. Noch ein Grund mehr, auszubrechen. Wieder bedrückt mich das Fernweh. Es boxt sich in meinen Bauch und überwältigt mich. Unwillkürlich laufe ich schneller, getrieben vom schieren Verlangen nach urbaner Atmosphäre. Ich durchlaufe die weitläufige imaginäre Innenstadt, schaue den Zügen hinterher, die ratternd an mir vorüberziehen und lese auf einem Plakat, das an einer Litfaßsäule hängt: „Frühlingsfest. Freitag, 12. März ab 15 Uhr auf dem Sportplatz“.
Urplötzlich finde ich mich wieder in der realen Welt. Was eben noch eine pulsierende Großstadt war, ist jetzt wieder unerträgliche Natur. Mir fällt ein, dass ich morgen auf dem Frühlingsfest bewirten muss. Aus der Welle der Euphorie ist ein ganzer Berg von Hass auf die Welt geworden. Statt schöner Freizeit in meiner Gedankenwelt darf ich nach der Schule auch noch auf dieses beknackte Festchen. Ich drehe um und gehe wieder heim. Ich will mich nur noch verkrümeln und am besten nie wieder an die Luft. Zumindest nicht in diesem hintersten Winkel des Erdballs.
Die Musik geht mir mittlerweile auch auf den Keks, weshalb ich sie abstelle. Wo eben noch ein harter Synthesizer meine Vorstellung einer Weltstadt perfekt gemacht hat, zwischert jetzt ein Vogel vergnügt durch die Luft. Ein Ehepärchen joggt an mir vorbei. „Hallo!“ grüße ich gespielt freundlich. Ich werde angelächelt und dann wieder in Ruhe gelassen. Besser so. Wenn ich schon in einem Sumpf aus Selbstmitleid und Melancholie festsitze, dann aber auch bitte ohne irgendwelche scheinheiligen Nachbarn, die mich eh auf den Tod nicht ausstehen können.
Rumms. Die Haustür fällt ins Schloss und ich schließe mich in mein Zimmer ein. Ich will am liebsten gar nichts mehr sehen. Ich befasse mich wieder mit Bildern von Städten. Wahrscheinlich wirst du jetzt ein tolles Bild von mir als ständig schlecht gelaunten Jungen ohne Hobbys haben, der seine ganze Freizeit darauf verwendet, sich Fotos anzuglotzen und davon zu träumen, dort zu sein. Das ist aber nur ein Teil von mir. Normalerweise bin ich gut drauf, „relaxt“ und hänge mit meinen Freunden ab. Allerdings haben die werten Herren und Damen heute entweder Zahnarzttermine, müssen Babys sitten oder irgendwelche Rasen mähen. Und in Niederschasslingsheim wohnt nicht mal einer von denen. Tja, die haben's halt richtig gemacht.
Ach, ich fange schon wieder damit an. Die Zeit bis zum Abendessen nutze ich dazu, Fahrpläne nach Sonnstadt zu suchen. Nach ein wenig Recherche finde ich einen komfortablen, bezahlbaren Weg in den Urlaub. Insgesamt muss ich, Wartezeiten mit einkalkuliert, sechs Stunden lang Bus und Bahn fahren. Alleine schon die Tickets werden mich fünfzig Euro kosten. Dann muss ich auch noch irgendwo übernachten und brauche Geld für mich... Das wird eine teure Freizeit. Aber das ist es allemal wert. Außerdem habe ich vorher noch Geburtstag. Meine Laune steigert sich wieder. „Jan, könntest du mal kommen?“ ruft mich meine Mutter zu ihr.
Sie sitzt gerade vor dem Fernseher und schaut sich die Nachrichten an. „Du, Jan. Ich wollte dich mal fragen, was du dir eigentlich zum Geburtstag wünscht. Du wirst ja schon in zwei Wochen sechzehn. Mensch, bist du alt geworden...“ Flink antworte ich: „Geld. Einfach nur Geld. Nichts weiter.“ – „Echt, nur Geld? Aber das ist doch irgendwie langweilig. Da kann man ja gar nichts in Geschenkpapier einwickeln...“ – „Mama, ich werde sechzehn, nicht sechs. Du brauchst auch keinen Kindergeburtstag zu schmeißen. Es reicht, wenn meine Freunde kommen dürfen und ich einen Kuchen, Geld und ein Bier habe. Mehr will ich nicht.“ – „Ein Bier? Bist du dir sicher? Das schmeckt doch bitter!“ Ich stöhne. „Ja und? Man muss doch seine neuen Rechte auskosten.“ – „Hm, na gut. Aber dass du es mir ja nicht übertreibst, hörst du?“ – „Ja ja, ist ja gut.“ Mein Vater kommt zur Tür herein. Stürmisch stellt er seinen Aktenkoffer in den Flur und hängt sein Sakko an den Kleiderhaken.
„Jan, ich hab' dir was mitgebracht.“ Er übergibt mir ein großes Paket. „Ich habe erfahren, dass ich an deinem Geburtstag nicht da bin. Ich muss auf Geschäftsreise.“ Das entsetzt meine Mutter. „Was? Das kann dein Chef nicht tun! Alles was recht ist, aber du hast die letzten fünfzehn Jahre jeden 25. März freigehabt, da kannst du jetzt nicht einfach auf Geschäftsreise gehen! Du meldest dich krank.“ – „Schatz, das geht nicht. Es ist wichtig. Verstehst du, es geht hier um die Zukunft der Firma und nicht zuletzt um meine Beförderung...“ Sollen die doch labern. Ich wende mich wieder meinem Paket zu. „Jan, das machst du erst in zwei Wochen auf!“, befiehlt mir mein Vater, der mich aus dem Augenwinkel gesehen haben muss. Ein genuscheltes „Ja“ meinerseits ist meinem Vater Antwort genug, er wendet sich wieder meiner Mutter zu, ich verkrieche mich wieder.
Auf dem Weg zu meinem Zimmer komme ich an unserem Spiegel vorbei. Ich stocke und sehe mir mein Gesicht noch mal ganz aus der Nähe an. Was ist denn das? Da bildet sich doch tatsächlich ein Flaum an der Oberlippe. Prima, dann darf ich mich bald rasieren! Zufrieden gehe ich in die Küche, wo ich eigentlich gar nicht hinwollte, und nehme mir ein Glas Orangensaft. Während ich daran nippe und die linke Hand in der Hosentasche habe, starre ich aus dem Fenster hinaus in den Sonnenuntergang.
'Ich gehe nach Sonnstadt – und meine Sonne geht wieder auf.'