• ♘ ~ Kapitel 4 - Such das Puzzleteil •
Frederik hatte nach Wochen wieder eine Nacht in seiner Wohnung verbracht. Sein Schlaf war unruhig gewesen, denn er verspürte nach wie vor eine Bedrängung in seinem eigenen Zuhause. Wie gerädert hatte er sich gefühlt, als er am Morgen seinen Kaffee geschlürft hatte. Es war eine ziemliche Plörre gewesen, aber das hatte ihn nicht sonderlich gestört. Er hatte seit Langem einen freien Tag bekommen. Diesen Tag wollte er dazu nutzen, sein geliebtes Holzpferdchen wieder zu finden. Nach seinem vorletzten Mord an dem jungen Mädchen musste er das Pferd beim Stolpern verloren haben. Er konnte es seither nicht mehr wiederfinden. Dieser Verlust versetzte ihn einigermaßen in Panik, schließlich war es das einzige Erinnerungsstück an seine Familie, seine Vergangenheit und gleichzeitig ein Mahnmal für seine geschundene Zwangsmörderseele. Ohne das Pferd war er sehr ängstlich und zurückhaltend. Die geschnitzte Holzstauette war die einzige Erinnerung an sein glückliches, wundervolles Leben vor dem schrecklichen Autounfall in seiner Kindheit. Diese wundervollen Erinnerungen wollte er nicht gehen lassen.
Frederik blieb nichts anderes übrig, als ins Polizeibüro zu gehen und zu sehen, ob dort sein Holzpferd unter den Beweisen lag. Natürlich würde er nicht einfach reinspazieren können, er musste sich in die Höhle des Löwen schleichen, quasi durch die Hintertür. Ihm behagte es gar nicht, sich an seinem freien Tag wie ein Dieb verhalten zu müssen und dann auch noch ins Polizeipräsidium einzubrechen, aber trotz aller Bedenken war es sein Holzpferd, sein größter Schatz - und sein einziger.
Der junge Mann zog sich eine Jacke über. Draußen war es heute recht kühl. Der Herbst hielt jetzt Einzug und die ersten Blätter hatten sich an den Bäumen schon gelblich verfärbt. Frederik fröstelte, als er auf die Straße trat. Sofort steckte er die Hände in die Taschen, während er zum Präsidium lief. Er hatte die ganze Nacht an seinem Plan gearbeitet, möglichst diskret nach seinem Pferd zu suchen. Das größte Problem dabei war, dass er ohne fahrbaren Untersatz auskommen musste. Sein Auto wäre zu auffällig gewesen, aber das hatte ihn vor die Frage gestellt, wie er am schnellsten ohne Räder wieder würde verschwinden können, zumal es helllichter Tag war.
Doch Frederik wäre nicht er selbst gewesen, wenn ihm nicht ein Plan eingefallen wäre. Immerhin war es sein Beruf, Pläne zu schmieden. Als er am Präsidium ankam, es war ein recht kurzer Fußmarsch von nicht ganz zehn Minuten gewesen, zeigte seine Uhr auf genau elf. Wenn er noch eine Stunde warten würde, wären die Beamten mit der Mittagspause beschäftigt, aber das wäre nicht sein Stil gewesen. Nein, er suchte die Herausforderung. Obwohl ihm ohne seinen Talisman ziemlich viel seiner Waghalsigkeit abhanden gekommen war, ließ er es sich nicht nehmen, alles auf eine Karte zu setzen. Er schlich sich geduckt durch die Büsche, die die Wacht umgaben. Auf der Rückseite des Hauses fand er tatsächlich ein offenes Fenster eines Büros. „Was lassen die bei der Kälte hier das Fenster offen?“, sagte Frederik zu sich, während er in das Büro einstieg.
Der Teppichboden, auf dem er landete, war grau. Die weißen Raufasertapeten an den Wänden machten zusammen mit der kargen Ausstattung einen kahlen Eindruck, man musste sich beim Arbeiten hier unheimlich langweilen, wenn man nicht gerade etwas am PC spielte. Der junge Mann verspürte ein unterschwelliges Gefühl der Gefahr, immerhin war er ein gesuchter Mörder, wenn auch ein zu seinen Taten verdonnerter. Wenn es nach ihm ginge, würde er sofort mit den Morden aufhören, aber wann ging es schon mal nach dem eigenen Kopf? Die Gewissheit jedoch, dass es potenziell brenzlig werden könnte, löste in dem Auftragskiller Herzklopfen aus. Frederik horchte an der Tür zum Korridor. Es war nichts zu hören. Fast geräuschlos öffnete er die Tür zum Gang. Links oder rechts? Frederik hatte keine Ahnung, wohin es zum Raum für Spuren und Beweismaterial ging.
Alle seine Sinne liefen auf Hochtouren. Er lauschte angestrengt den gespenstischen Geräuschen aus dem Gang und roch den starken Kaffeegeruch. Aus seinen Gedanken sprudelten etliche Szenarien hervor. Was würde passieren, wenn ihn ein Polizeibeamter entdeckte? Konnte er sich überhaupt unauffällig verhalten? Er dachte über einige Lösungen seiner Problemszenarien nach. Irgendwann würde sicherlich auch ein Beamter seinen Weg kreuzen. In Filmen wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, die Garderobe aufzusuchen und sich dort eine Polizeiuniform zu klauen.
Plötzlich sah er einen Schatten, der sich um die Ecke herum auf den Gang zubewegte. Schnell und leise verschwand Frederik wieder im Bürozimmer und verschloss die Tür hinter sich. Sein Herz klopfte noch angespannter als gerade eben, als sein Gehörsinn leise Schritte wahrnahm. Die Person näherte sich langsam dem Zimmer. Frederik lief nervös auf dem Teppich herum und betete in Gedanken darum, dass die Person nicht das Zimmer betreten würde. Doch die Schritte stoppten direkt vor der Tür. Frederik fokussierte sie schlagartig mit weit aufgerissenen Augen. Wie in Zeitlupe sah er, dass die Türklinke herunter gedrückt wurde. In seinem Kopf gingen etliche Alarmsignale los. Ohne weiter nachzudenken, sprang er auf einen der drei gepolsterten Stühle vor dem Schreibtisch. Möglichst unauffällig wollte er dort sitzen. Er probierte, eine lockere Haltung einzunehmen und blickte auf den Boden. Nur im Augenwinkel konnte er erkennen, wie die Tür aufging.
Die Angst, auf diesem Alleingang zu versagen und womöglich noch heftigen Ärger zu kassieren, ließ Frederik nicht mehr los. Es war untypisch, dass er bei einem seiner Pläne versagen oder gar Probleme bekommen würde. Es musste einfach - wie immer - alles passen. Denn jedes Detail war sonst immer genauestens vorausgesehen und durchdacht, denn ihm wurden für gewöhnlich alle nötigen Informationen überreicht. Er musste niemals unvorbereitet zur Tat schreiten. Diesmal jedoch war es ein Egotrip, so unsicher und riskant wie ein dunkler Tunnel. Niemand konnte wissen, wann wieder Licht zu sehen war, wann der Tunnel endete und welche Gefahren im Tunnel lauerten. Frederik war komplett ahnungslos und saß mächtig in der Patsche. Etwas Angstschweiß tröpfelte über seine Stirn, während er sich auf ein ruhiges Atmen und auf seine lockere Haltung konzentrierte. Nur keine Nervosität anmerken lassen.
„Ach, und Sie sind also derjenige, der eine Aussage über den Mord machen möchte?“, fragte der Polizist in blauer Uniform, der das Zimmer betreten hatte, etwas unsicher und überrascht. Frederik sah den Mann freundlich an. Er musste etwa vierzig sein, ein Mann im mittleren Alter, der einige eindeutige Geheimratseckchen auf seinem Kopf besaß und damit zielstrebig auf eine Halbglatze zuging. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen verschwand Frederiks Nervosität. Er hätte Schauspieler werden sollen. Endlich war ein Licht im dunklen Tunnel seines eigenen Plans gefunden, nach einer Weile, die Frederik ewig vorgekommen war, und er war sich sicher, dass es der Ausweg war.
„Ja.“ Die fragende Unsicherheit im Gesicht des Polizisten verschwand. Er setzte sich auf den Bürostuhl hinter dem Schreibtisch und fing an, in den Papieren zu wühlen. Frederik saß wie versteinert auf dem Stuhl und dachte angestrengt nach.
„Ist irgendetwas?“
„Nein, nein“, sagte Frederik automatisch, „alles okay.“
„Na gut.“ Der Polizist machte es sich auf dem Stuhl bequem und las kurz auf einem Zettel. „Also, Sie und Ihr Zwillingsbruder hatten immer ein sehr gutes Verhältnis zu Ihrem großen Bruder, richtig?“ Frederik nickte nur lächelnd und speicherte die Information greifbar im Kopf ab.
Der Polizist notierte etwas auf dem Zettel, unleserliches Gekritzel.
„Kam Ihnen die Wohnung ihres Bruders in irgendeiner Weise anders vor, als sie vor dem Mord war?“, las der Polizist von seinem Zettel ab und sah Frederik mit fragendem Blick an.
„Ich habe nichts Auffälliges bemerkt, nein.“ Um weiterhin keine Zweifel bei dem Beamten zu erwecken, setzte sich Frederik aufrecht hin und sah mit leicht traurigem Blick auf den Schreibtisch. Er musste nun zeigen, dass ihn der Mord seines Bruder mitgenommen hatte. Jedenfalls musste so tun als ob.
„Ist Ihnen an ihrem Bruder in letzter Zeit etwas aufgefallen? Hat er anders geredet, sich anders aufgeführt oder irgendetwas in der Art getan?“ Wartend spielte der Polizist mit dem Kugelschreiber in seiner Hand. Frederik dachte kurz nach und fuhr damit mit dem Blick auf dem Schreibtisch herum.
„Ich wüsste nicht, was es sein könnte. Eigentlich... ja, eigentlich war alles ganz normal.“ Frederik fing an zu jammern. „Es kam doch alles so plötzlich…“.
„Ja, ich verstehe“, tröstete der Polizist einfühlsam. „Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn wir weitere Fragen haben.“ Frederik nickte mit trauriger Miene. Fast hätte er geschnieft, aber es dann doch gelassen. „Sie dürfen jetzt gehen.“
Frederik war erleichtert, all dies durchgestanden zu haben, in das er sich selbst hineingeritten hatte. Allerdings hatte er weiterhin keine Spur des Holzpferds. Er hatte es gerade mal geschafft, überhaupt ins Präsidium zu gelangen, und musste nun herausfinden, wo sich das Beweismaterial befand. Draußen auf dem Gang war er wieder allein, umgeben von unzähligen grauen Holztüren, aus denen Stimmen erklangen und den Gang in die Verpackung eines Puzzlespiels verwandelten, in dem jede der Türen ein Puzzleteil darstellte. Frederik wusste nicht einmal, aus wie vielen Teilen das Puzzle bestand und musste vergeblich nach dem Teil mit den Beweismaterialien suchen.
Frederik hasste Puzzlespiele, Wimmelbilder mochte er ebensowenig. Ihm blieb jedoch nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und sich auf die Suche zu begeben. Für ein möglichst unauffälliges Verhalten, falls ihn noch jemand erwischen sollte, schritt er wie gewöhnlich durch die Gänge. Nach einer Weile gelang er ins Treppenhaus.
Hoch oder runter? Die Wegweiser spendeten nur wenig Aufklärung, im Stock über Frederik waren noch weitere Büros und im Keller waren nur die Lagerräume vermerkt. Trotzdem klang das noch am besten, weshalb Frederik die Treppe nach unten nahm. Fünfzehn Stufen später fand er sich in einem langen, schummrigen Korridor wieder. Der graue Linoleumboden war genoppt und zeigte hier und da Risse. Auch die Verputzung der Wand war schon eines höheren Alters. In regelmäßigen Abständen führten die selben gräulich angestrichenen Holztüren in Räume, von denen sich Frederik nur vorstellen konnte, was in ihnen lag. Lediglich kleine Schildchen neben den Türrahmen konnten Aufschluss darüber geben, was sich hinter den Türen verbarg. Trainingsraum. Toiletten. Putzkammer. Aktenlager. Dunkelkammer. Lager für Arbeitsmittel. Lager für Beweisführung. Beweisführung! Ausgerechnet die allerletzte Tür! Frderik fiel ein Stein vom Herzen. Leise drückte er die Klinke herunter, in der Annahme, der Eingang wäre sicherlich verschlossen. Umso verwunderter war er, als sie sich problemlos öffnen ließ, ohne ein einziges Quietschen.
Er betrat einen stockdusteren Raum, dessen Lichter durch einen Bewegungsmelder ansprangen und dabei klickende Geräusche von sich gaben. Jetzt war ein mechanisches Summen von den Lichtröhren zu hören, die an der Decke baumelten. Ansonsten war es still.
Im Lager waren lauter metallene Regale aufgestellt, fein säuberlich in akkurat gleichen Abständen. Alles war alphabetisch nach Fällen sortiert, überall stapelten sich Pappkartons und Kisten, jedes Beweisstück war genauestens ettiketiert und protokolliert. Es glich einer Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen, das Holzpferd zu finden, wo Frederik solche Wimmelbilder doch auf den Tod nicht ausstehen konnte. Nach einiger Ernüchterung über die Ausmaße des Lagerraumes fasste er sich wieder.
Zunächst versuchte er es unter H wie Holzpferd. Nach einer Viertelstunde war dort allerdings immer noch nichts zu finden. Was war mit B wie brauner Stein? Frederik wühlte sich angespannt, aber trotzdem so leise wie möglich durch die Kisten. Er las alle möglichen Namen für Fälle, von denen er teilweise auch in der Zeitung gelesen hatte und von denen zwei Morde auch von Mitgliedern seiner Bande begangen worden waren. Aber seine gesuchte Statuette war nicht dabei.
„Vielleicht sollte ich eine Vermisstenmeldung rausgeben.“ Dieser Satz schob sich urplötzlich in seine Gedanken und Frederik blieb einen Moment verdutzt stehen. Wie konnte er nur auf so was kommen? War ihm die Aufregung tatsächlich schon so zu Kopf gestiegen, dass er völlig durcheinander geriet? Der junge Mann stolperte einen Schritt vorwärts und stieß sich den Kopf an einem quer an der Wand stehenden Regal. Es war mit einem schlichten „Steine“ betitelt. Verblüfft musterte er die Kartons, die dort aufgereiht standen. Auf einen war mit schwarzem Filzstift „Fall Sönderbergstraße 12b“ gekritzelt. Das war die Adresse von dem Mädchen, bei dem Frederik sein Pferd verloren hatte! Hastig schnappte er den Karton und zerrte ihn nach vorne an den Rand der Tragfläche. Er durchsuchte den Inhalt, Kleiderfetzen, Fotos von der Blutlache und vom Mädchen selbst... Frederik hielt beim Anblick des toten Menschen inne und ekelte sich vor sich selbst und seiner Tat. Jetzt machte er noch schneller, das Pferd zu finden. Er wühlte in der Kiste und grub sich nach ganz unten. Doch plötzlich hörte er leise Stimmen und immer lauter werdende Schritte mehrerer Personen.
Wieder war er angespannt und gleichzeitig auch wütend. So kurz vor seinem Ziel wollte er nicht aufgeben, aber irgendetwas musste er tun. Verzweifelt suchte er den Lichtschalter, den es nicht gab. Er packte sich mit der Handfläche auf die Stirn und fluchte innerlich. Seine Nervosität ließ sein Denkvermögen aussetzen. Er klemmte sich kurzerhand hinter ein zugestelltes Regal, in der Hoffnung nicht entdeckt zu werden.
Mit einem kurzen Geräusch ging das Licht aus. Zeitgleich stoppten die Personen direkt vor der Tür. Jetzt saß Frederik wirklich in der Klemme.