Kapitel 12: Alone after all
|| You take the breath right out of me
You left a hole where my heart should be ||
~ Breaking Benjamin - Breath
Er war sich sicher, dass Benjamin noch etwas auf dem Herzen lag. Etwas Schweres, Lastendes, das eines Gesprächs bedurfte, sobald sich die nächste Gelegenheit ergab. Leider, so befürchtete Shohei, zöge sich dieses Bedürfnis wahrscheinlich für bestimmte Zeit in die Länge.
Sie hatten einen gemütlicheren Platz als den Gang ergattern können, es glich fast einem Wunder bei dem regen Betrieb, und es füllte sich weiterhin. Kaum ein Buchregal blieb uninspiziert, überall raschelte, blätterte, flüsterte, stöberte es, und enttäuscht zog man von Dannen, als man realisierte, dass Shohei und seine Begleiter die Stoffsessel im hinteren Teil der Bibliothek für sich beanspruchten. Dort saßen die drei Jungs in trauter Runde, während hinter und rechts von ihnen dumpfe Schritte erklangen, Haarprachten an ihnen vorbei wehten und der süßliche Geruch alten Papiers sich mit zahlreichen Parfums und Rasierwassern mischte. Shohei mochte jene neue Duftnote nicht. In seinen Augen verfälschte es die eigentlich so friedvolle, ihm gar heilige Atmosphäre.
„Warum wollen die kritische Werke abschaffen…?“, wunderte sich Simon gelangweilt. Er lag mehr in seinem roten Sessel, als dass er saß, die Arme lang ausgestreckt auf den Seitenlehnen ausgebreitet, seine Füße lagerten übereinander geschlagen auf dem niedrigen Holztisch in ihrer Mitte. Er seufzte wehleidig. „Bestimmt findet sie keine Bücher und lässt uns hier umsonst warten…“
„Wir wissen wohl alle, wer in dem Fall schuld wäre“, grummelte Shohei, begradigte seine eher geflegelte Haltung, saß nunmehr aufrecht. Er verachtete Simons Ansichten, seine Methoden, so unwissend einen Menschen zu beurteilen, sobald man nicht unverzüglich auf seine Wünsche reagierte, ihn womöglich zu längerer Geduld zwang. Und die Sache mit Benjamin war für Shohei längst nicht vergeben und vergessen, in mancherlei Hinsicht verhielt er sich außerordentlich nachtragend. Missbilligend funkelte er Simon an, der jedoch lächelte bloß neckisch.
„Jedes Mädchen auf diesem Planeten käme auf Knien zu mir angekrochen, wenn ich es wollte“, prahlte er, warf den Kopf in den Nacken, damit einige nervende, blonde Strähnen aus seinem Gesicht verschwanden. Er fühlte sich wohl in seiner Rolle als moderner Don Juan.
Shohei enthielt sich jeglichen Kommentares, er wusste, früher oder später spräche Simon aus reiner Gehässigkeit Geneviève an, um Shohei aus dem Konzept zu bringen und völlig zu entwaffnen – es klappte wirklich jedes Mal. Hin und wieder hatte er sogar geglaubt, ihre wunderschönen Locken hier zwischen den Stahlgerüsten entdeckt zu haben, doch keine besaß deren vollendete Eleganz, unübertreffliche Schönheit, geschweige denn jene Schwerelosigkeit in ihren Schritten, die Shohei den Verstand kostete, dachte er daran. Matte schlicht sich in das Rubinrot seiner Iriden, seine Gedanken liefen Gefahr, in ungeahnt tiefe Dimensionen abzudriften, allerdings wusste Benjamin dies gekonnt zu verhindern. Natürlich drang Benjamins Stimme zu Shoheis betäubtem Verstand vor, sie kannten sich schließlich bereits eine ganze Weile.
„Ich würde es rückgängig machen“, entgegnete Benjamin monoton. Unter seinem beharrenden Blick schürte Shohei einen Hauch von Unbehagen in sich. Seit wann konnte Benjamin so viel aus seiner Mimik lesen? In dem kalten Röhrenlicht wirkten Benjamins Züge noch blasser als sonst, um einiges fahler, schlaffer, müder. Sein schwarzer Rucksack ruhte vor ihm auf seinen in braun gekleideten Beinen, fest umklammerten Benjamins Finger dessen Halteschnallen. Es schmerzte Shohei, sehen zu müssen, wie er sich nach wie vor die Angelegenheit mit Geneviève vorwarf, so gern hätte Shohei ihm in der Hinsicht seine Unschuld versichert, doch unglücklicherweise teilte Simon ihre Anwesenheit. Und erführe er, dass sie mit Shohei Schluss gemacht hatte, weil sie in Benjamin eine Affäre vermutete….
„Ich nicht“, antwortete Shohei barmherzig, ein mitfühlendes Lächeln stahl sich dabei auf seine Lippen. Für einen Sekundenbruchteil, so meinte Shohei, blitzte ein Funke von immenser Emotionalität und Rührseligkeit in Benjamins braunen Augen auf, verdrängte kurzzeitig die Beschlagenheit seiner Reue, ehe sie sich alle der just angekommenen Itoe zuwandten. Zwei recht dicke Bücher trug sie in den Armen mit sich.
„Entschuldigt bitte die Wartezeit, allerdings musste ich sie vorher prüfen. Das gehört zu meinen Vorschriften.“ Vorsichtig platzierte sie die Wälzer auf dem Tischchen in der Mitte der Runde, umfasste anschließend fest Simons Fußknöchel, hob sie hoch, und ließ sie neben dem Tragemobiliar auf den Boden fallen. „Ich denke nicht, dass die Bibliothek dein Zuhause ist.“ Shohei entlockte es ein abruptes Prusten, und sogar Benjamin gelang es nicht, sich ein Grinsen zu verkneifen. Simon glotzte wirklich wie ein begossenes Snubull aus der Wäsche, den Mund halb geöffnet, obwohl kein einziges Wort diesen zu passieren gedachte. Sie gefiel Shohei ungemein, wusste sie zweifelsohne mit Menschen umzugehen, die Aufmüpfigen in die Schranken zu weisen. Siegreich verschränkte sie die Arme vor der Brust, lächelte süffisant. „Außerdem kannst du es noch so sehr wollen, wie es dir beliebt. Bis ich auf allen Vieren zu dir krieche, können Karpador fliegen.“
Das war der Punkt, an dem Shoheis Frohsinn unvermittelt erstarb. Woher wusste sie von Simons Aussage? Er runzelte argwöhnisch die Stirn, seine Augen huschten unruhig umher, spähten in Winkel und vor allem obere Ecken des relativ hohen Zimmers, suchten sogar den Tisch vor ihm und die ihm am nächsten positionierten Stahlregale ab, begutachteten eindringlich die weiße Raufasertapete. Ein kurzer Seitenblick zu Benjamin verriet ihm, dass der exakt dasselbe vermutete, wissend nickte er Shohei zu. Spionage- und Überwachungskameras, nicht weit entfernt, mit Ton. Man zeichnete sie samt ihrer Gespräche auf, für ‘Sicherheit im Gebäude‘ wahrscheinlich, nur genügte Shohei das als Erklärung nicht. Was sollte hier bitte geschehen? Wilde Verschwörungen? Rebellionen? Im Gegensatz zu ihm selbst schien Benjamin recht unbeeindruckt von alledem, hatte er mit so etwas gerechnet? Er entzog sich Shoheis bohrenden Augen, drehte sich von seinem Retter weg, neigte sein Haupt, sodass haselnussbraunes Haar sein Antlitz hinter seinem Mantel verbarg. Später würde er Benjamin garantiert zur Rede stellen, sobald sie in Zweisamkeit harrten. Vorerst musste Shohei sich wohl oder übel mit Simons wiedergewonnener Stimme und entsprechender Fassung begnügen.
„Normalerweise reicht ein Gespräch, aber… bei dir widerspenstigem Ding brauche ich anscheinend leider zwei“, tönte es von Simon, künstlich belästigt seufzte er. „Das artet ja langsam in richtige Arbeit aus.“ Demonstrativ hob er seine Beine und positionierte seine Füße erneut auf dem Tischchen, inzwischen weilte sein Ellbogen aufrecht an der Seitenlehne, die Rücken seiner Finger stützten seinen ach so schweren Kopf. Nicht einmal Shoheis mahnender Blick stoppte ihn. „Na los, bestrafen Sie mich bösen Buben, Sensei.“
„An mir beißt du dir die Zähne aus, Shõnen.“ Das letzte Wort betonte Itoe besonders abschätzig, neigte ihren Oberkörper dabei absichtlich triumphierend in seine Richtung. Shohei linste flüchtig zu dem Mädchen herüber, bereitete allerdings seinem Manöver ein ebenso schnelles Ende, als er sich eigens dabei ertappte, wie seine Pupillen bestimmte Bereiche ihrer Bluse fixierten. Sie war eben doch ein attraktives Geschöpf mit ansprechender Figur, und ein Mann blieb letztlich ein Mann. Trotzdem schämte Shohei sich für sein Verhalten, zeigte er somit bereits erste Züge, welche denen Simons ähnelten.
„Darf ich wirklich?“, hinterfragte Simon sofort, verführerische Begeisterung untermalte seine Stimme, erwartungsvoll befeuchtete seine Zunge seine Lippen. „Mein Mund hat bislang stets mindestens einen Schwachpunkt gefunden. Und so in bisschen Schmerz… gehört einfach zum Spaß dazu.“ Kopfschüttelnd vergrub Shohei die Stirn in seiner Handfläche, verdeckte seine in Scham getränkten Augen, hoffte, dass niemand seine erröteten Wangen bemerkte. Niemals zuvor war ihm etwas oder jemand dermaßen peinlich gewesen, Simon übertraf hiermit wahrhaft alles Unangenehme, was Shohei bisher erlebt hatte. Selbst zehn Ausrutscher im Winter auf glattem Eis verkörperten nichts, verglichen mit seinem Rivalen. Wenigstens ließ er Benjamin in Ruhe, aber ein fremdes Mädchen so ruchlos anzugraben, noch dazu eine Angestellte der Bibliothek… am liebsten versänke Shohei im Boden, zusammen mit Benjamin, auf dass jener ebenfalls in sicherem Gewahrsam ruhte. Zu seinem im Nachhinein geltenden Erstaunen ignorierte Itoe Simon ziemlich rigoros und ergriff stattdessen Shoheis Hand. Irritiert sah er sie an, entdeckte in den Fenstern ihrer Seele jedoch nichts, das ihre Intentionen offenbarte.
„Würdest du mich kurz begleiten? Es gibt da etwas, das ich dir zeigen will.“
„Und wir dürfen das nicht erfahren, oder was?“, protestierte Simon entrüstet, erhielt aber nicht im Geringsten eine Form der Aufmerksamkeit, von keinem. Shohei bemerkte am Rande Benjamins flehenden, resignierten Gesichtsausdruck, zögerte deshalb, Itoe zu folgen. Er wusste, Benjamin hasste ihn für seine Geheimnisse, für jedes einzelne, und Shohei hatte sich prinzipiell geschworen, in Zukunft ehrlich zu ihm zu sein, dennoch… Auch wenn er die Gewissheit ob Benjamins Trauer kaum ertrug, erhob Shohei sich letzten Endes und beugte sich unter weiteren Beleidigungen Simons Itoes Willen.
Zielgerichtet führte sie ihn zwischen diversen Regalen umher, bog links ab, erst ganze Zeit später wieder rechts, laut Shoheis Einschätzungen befanden sie sich fast am anderen Ende des Raumes. Kurz darauf erreichten sie eine schwarze Tür mit einem Schild daran befestigt, ‘Privat‘. Hektisch suchte Itoe das Umfeld nach anderen Leuten ab, stellte sicher, dass niemand sie beobachtete, riss die Tür auf und schubste Shohei hinein. Zweifellos ein kräftiges Mädchen.
Finsternis umhüllte Shoheis Gestalt, Itoes gleichsam, nachdem sie sich zu ihm in das enge Kämmerchen gequetscht hatte, direkt vor ihn. An seinem Rücken spürte Shohei mehrere Ablageflächen mit Dingen darin, was genau vermochte er nicht zu sagen. Seine linke Hand ertastete einen länglichen, kalten Gegenstand, vermutlich ein Besenstiel aus Holz oder Ähnliches, es verleitete ihn zu der Annahme, sich mit Itoe eine Art Putzraum zu teilen. Ihr warmer Atem, sowie einige ihrer wie er wusste blauer Strähnen kitzelten an seinem Hals. Die aktuelle Situation war bedenklich, keineswegs in seinem Interesse noch dazu, kannte er Itoe doch gar nicht, zumal kontinuierlich Geneviève in seinem Kopf spukte und Schaden anrichtete. Zudem… begäbe er sich niemals auf Simons Niveau herab. Niemals.
„Okay, heißt du?“, unterbrach Itoe das beklemmende Schweigen. Shohei wäre am liebsten ein erleichterter Seufzer entwichen, hätte er nicht ihr Gesicht unmittelbar vor sich. Er war froh, dass in diesen vier Wänden erbarmungslose Dunkelheit herrschte, stieß er bei jedem Atemzug eigentlich ungewollt gegen ihre Oberweite, und schaffte es nicht, die ansteigende Hitze auf seinen Wangen zu unterdrücken. Nervös zupften seine verschwitzten Finger am Saum seines Shirts.
„ Shohei“, wisperte er halblaut, unschlüssig, was sie genau plante.
„In Ordnung. Also, wir haben nicht allzu viel Zeit, bevor uns jemand erwischt, und anders ging es nicht…“ Ihre Hände wanderten hinauf zu ihrem Kopf, wobei sie Shoheis Oberkörper hier und da streiften. Er hielt angespannt den Atem an. „Weißt du, dass du merkwürdige Freunde hast?“ Kurz überlegte Shohei, wenigstens Benjamin gegen ihren Vorwurf zu verteidigen, beließ es allerdings dabei. Seine Lage war heikel genug. „Naja, jedenfalls schienst du mir der Vernünftigste von denen zu sein, deshalb rede ich jetzt eben mit dir.“
„Danke, das ist echt ein Kompliment“, platzte es spöttisch aus ihm heraus. Mehr Freiraum für eine eigens getätigte Ohrfeige für seine Dummheiten wäre ihm in dem Moment sehr entgegen gekommen. Unbeeinflusst davon begann Itoe, ihren Kopf hin und her zu schütteln, ihre Haare peitschten verspielt in sein Gesicht, er musste fast niesen.
„Entschuldigung“, beteuerte Itoe. „Aber das musste sein. Könntest du das bitte auch machen?“
„Wenn du mir dann endlich sagst, was Sache ist“, forderte der Angesprochene, leistete ihrer Bitte trotzdem schon vor ihrer Antwort Folge. Behutsam glitten seine Finger zu seinen Haaren, er versuchte, Itoe dabei weder versehentlich an einer ungeeigneten Stelle zu berühren, noch sie irgendwie mit seinen Armen auszuknocken. Mehrmals fuhr er sich mit gespreizten Fingern durch seine pechschwarzen Strähnen, zerzauste sie. Unterdessen erfüllte Itoe ihren Teil der Vereinbarung.
„Dies ist der einzige Raum, in dem weder Kameras, noch Abhörwanzen installiert sind“, erläuterte sie schwer atmend, schluckte. „Ansonsten wird in dieser Bibliothek so gut wie jeder Bereich überwacht, um zu gewährleisten, dass niemand entkommt, der gefährlich ist oder der das System gefährden könnte. Ich muss es wissen, ich arbeite für die Bibliothek, also für die Bürgermeisterin Sabrina und folglich für die Regierung.“
„Was hat das denn mit mir zu tun? Mit uns?“, warf Shohei ein, in Wahrheit zweifelte er ein wenig an ihren Worten. Nichtsdestotrotz fesselte sie seine verfluchte Neugier, und sofern Benjamin ebenfalls dieses Wissen besaß… Als er spürte, wie Itoe ihre Kleidung derangierte und verschob, verstand er es augenblicklich als selbigen Appell an ihn. Wer würde so eine Geschichte frei erfinden? Außerdem wäre es zumindest in Ansätzen eine logische Erklärung für Benjamins Verhalten.
„Die Bücher. Ich habe sie nicht aus den Regalen des Hauptraumes geholt, sondern sie von einer Ladung stibitzt, die gerade verbrannt werden sollte. Wissen ist Macht, Shohei, und das dulden die Politiker nicht. Unerklärliches verleitet zu Begeisterung und gleichzeitig zu Misstrauen, führt zu Kritik, führt zu Fragen. Einen normalen Trainer räumen sie mit Links aus dem Weg. Menschen lieben Mysteriösitäten, deshalb soll es sie nicht mehr geben.“
Geschockt hielt Shohei in seinen Bewegungen inne. Er wollte dem nicht trauen, nicht seinen Ohren und erst recht nicht Itoe, denn wenn es sich dabei nicht um Lügen handelte, steckten sie in gewaltigen Schwierigkeiten. Man vernichtete die Informationen, welche Benjamin eventuell von seinem Leiden erlösten, zusätzlich trachtete man ihm auch so nach dem Leben, falls das mit seiner Kraft an die Öffentlichkeit geriet. Simon zwar ebenso, aber… naja. Shoheis Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als er an all die Bedrohungen dachte, denen Benjamin ausgesetzt war, von denen er ihn nie zu schützen imstande wäre, was ihn hauptsächlich störte. Sein eigenes Leben könnte er bloß einmal opfern, danach… Gott, er allein unter Simons Obhut, das… undenkbar. Unerträglich. Letzten Endes verlöre er Benjamin also doch an ihn. „Und… ihr wolltet darin lesen, in diesen verbotenen Büchern, das macht euch sozusagen zu Staatsfeinden.“
„Was soll ich tun? Hier kann ich ihnen das alles unmöglich berichten“, keuchte Shohei verzweifelt. Bislang hatte er immer eine Lösung gefunden, nicht unbedingt gut, funktionieren tat sie jedoch stets einigermaßen. Stickige Luft zwängte sich in seine Lungenflügel, schenkte ihm nicht genügend frischen Sauerstoff zum klaren Nachdenken, verlangsamte solche Prozesse vielmehr. Er schwitzte bereits leicht.
„Du gehst gleich da raus und lässt sie in dem Glauben, wir hätten… naja, du weißt schon. Nach meiner Schicht treffen wir uns heute um 18 Uhr auf dem großen Platz vor der Bibliothek, okay?“
„Und was ist mit dir?“, stutzte Shohei. „Ich meine –“
„Sie werden mich nicht feuern, höchstens mein ohnehin niedriges Gehalt auf ein Minimum kürzen“, flötete Itoe fröhlich. „Nichts wird hier lange so hart geahndet wie Verrat. Denn darauf steht der Tod.“ Ohne Vorwarnung ergriffen ihre zarten Finger erstaunlich fest den Kragen seines schwarzen Shirts und zogen Shohei näher zu ihr. Forschend glitten ihre Hände über seine Schultern, schließlich schlang sie ihre Arme verlangend um seinen Hals und gleichsam presste sie ihre warmen Lippen auf diesen. Shohei erstarrte auf der Stelle, seine Hände ballten sich vor Schreck zu Fäusten und sein Hirn entledigter sich sämtlicher Gedanken, die es momentan beinhaltete, als er weiterhin leichte Saugbewegungen auf seiner Haut spürte. Er wagte es nicht, sie von sich zu stoßen, zum Einen, weil es innerhalb jenes kleinen Kämmerchens sowieso zu nichts geführt hätte, geschweige denn sie verletzen wollte, und zum anderen… er wusste es nicht. Für ihn fühlte es sich an, als betröge er Geneviève, obwohl sie Shohei allem Anschein nach nicht mehr liebte, und dennoch brach er das aktuelle Geschehen nicht ab. Bevor die Welle an Schuldgefühlen ihn jedoch endgültig zu überwältigen drohte, beendete Itoe vorerst ihr Tun. Mit piepsiger, beinahe verführerischer Stimme hauchte sie ihm ins Ohr. „Keine Sorge… es soll nur echt aussehen.“ Und mit fest aufeinander gepressten Zähnen unterdrückte Shohei die Frage, wieso sie denn nicht einfach ihren Lippenstift an seinem Shirtkragen abgewischt hatte, so, wie es alle Frauen bei ihrem Geliebten taten.
Mulmigen Gefühles schritt er zurück zu Benjamin und Simon, sein schwarzes Shirt verzerrt, die Strähnen zerzaust und abstehend, und der Glaubwürdigkeit zuliebe besaß er nunmehr einen rötlichen Abdruck ihrer Lippen am Hals. Er hasste Lügen wirklich abgrundtief und wollte einfach nur, dass die restlichen Stunden bis zum Ende von Itoes Schicht möglichst schnell vorbei rasten, damit er ihnen endlich die Wahrheit beichten konnte, vor allem Benjamin, seinem kleinen Sorgenkind. Was ihm wohl jetzt durch den Kopf schoss? Wie fühlte er sich? Im schlimmsten Falle hatte Simon es geschafft, ihn auf seine Seite zu bringen, denn irgendwie war er Benjamin mit der Aktion ja schon ziemlich abweisend begegnet, geheimnistuerisch und falsch, und er rechnete mit der Forderung, die Gruppe zu verlassen.
Aus Shohei unerfindlichen Gründen entfernten sich bei dem Gedanken, allein nach Prismania zurückkehren zu müssen, die hohen Wogen seines scheinbaren Lebensinhaltes; seiner Aufgabe; der Möglichkeit, seinem Alltag zu entfliehen. Von Einsamkeit gezeichnet harrte er in seinem Apartment, auf seiner Arbeit, als Barkeeper dort in dem Club, ohne jemanden, der Zuhause auf ihn wartete, der wegen ihm bis in die Nacht wach blieb, der ihn bloß aufgrund einer Entschuldigung aus dem Schlaf riss… Er hatte sich viel zu sehr an Benjamin gewöhnt, stellte Shohei alarmiert fest, er war ein zu immenser Teil seines sonst so faden Daseins geworden, und deshalb würde der Abschied später umso schwieriger. Trauriger. Gefühlvoller.
Just verließ er das Labyrinth der Regale und Stahlstützen, schlenderte geradewegs auf seine beiden Begleiter zu, welche eifrig in den Werken stöberten, die sie von Itoe erhalten hatten. Hoffnungsvoll schaute Benjamin zu Shohei auf, versuchte, dessen Augenkontakt zu erhaschen, doch als er den Abdruck an Shoheis Hals entdeckte, weiteten sich seine Iriden vor Entsetzen, widmeten sich wenig später erneut zwanghaft intensiv der Lektüre und wichen Shoheis Aufmerksamkeit aus. Simon hingegen wählte die offene Initiative, erzürntes, in seiner Ehre gekränktes Grün stocherte in Shoheis Seele, kratzte ihm die Augen aus und zerfleischte mit reger Freude sein leidendes Herz. Natürlich, seinem ärgsten Rivalen zu trotzen verkörperte für Shohei nichts Neues und solange man Geneviève nicht erwähnte ebenso wenig ein Problem, aber Benjamin mit seinen Handlungen so dermaßen vor den Kopf zu stoßen… fühlte sich alles andere als angenehm an.
„Was erzählt die Literatur denn Schönes?“, fragte Shohei so beiläufig wie möglich, versuchte, das folgende Gespräch von Anfang an in einigermaßen richtige Bahnen zu lenken. Die Luft im Umkreis der drei Jungs gewann sekündlich an Spannung, Shoheis Schuldbewusstsein erstickte fast unter dem Druck der unausgesprochenen Vorwürfe und insgeheimen Anschuldigungen, die Benjamin und Simon in sich hegten, und verfügte er nicht über die Kenntnisse hinsichtlich der Überwachungstechnik, hätte er sich unverzüglich erklärt. Er betete stumm, Simon hielte sich ein einziges Mal mit seiner großen Klappe zurück.
„Nun“, brach Benjamin das beständige Schweigen. „Diese Bücher sind wahrscheinlich nichts für dich, da sie sich größtenteils auf pokemonorientierte Religion berufen. Laut den Verfassern gab oder gibt es sechs Pokemon, die zusammen die Hauptbestandteile dieser Welt bilden, nämlich Mew, Celebi, Rayquaza, Jirachi, Giratina und Darkrai.“
„Unglücklicherweise sind ihre Aufgaben in einer anderen Sprache definiert worden, sicherlich der Internationalität halber“, ergänzte Simon maßlos empört, schob das Buch in Shoheis Richtung. Diesem schwante bereits Schlimmes, kannte er Simon lange genug, um die Täuschung in seiner Intonation zu enttarnen. „Ich glaube, das ist eher dein Fachgebiet, Shohei.“ Und tatsächlich war es das – Akzent über den Vokalen, recht weiche, unhörbare Buchstaben am Ende der Worte. Eindeutig Französisch. Geneviève hatte ihm die Sprache beigebracht, so hatten sie in der Schule reden können, ohne dass jeder ihre Sätze verstand, da man immerhin nicht ausschließlich über Anständiges sprach. Es rief Shohei ihre liebliche Stimme in Erinnerung, die Niedlichkeit, mit der sie manche Silben betonte, ihre zarten Finger, wie sie verspielt seinen Hals streichelten, wenn sie ihm etwas zuflüsterte… Gott, er hatte Simon damals eindeutig zu viel von sich preisgegeben. In der Rolle seines ehemaligen besten Freundes symbolisierte er wahrhaft gleichsam seinen schlimmsten Feind.
„Hm…“ Ausdrucksloser Miene betrachtete Shohei die Begriffe, den Triumph gönnte er Simon unter keinen Umständen. „‘Lumière‘ bedeutet Licht, sprich Mew beherrscht das Licht. Die Zeit für Celebi und Rayquaza als ‘ciel‘ regiert den Himmel. ‘Désire‘ heißt übersetzt Wunsch, was bei Jirachi nicht abwegig sein dürfte. Klar, Giratina ist der Schatten und ‘cauchemar‘… Darkrai, der Albtraum.“
„Wow…“, staunte Benjamin. „Ich wusste nicht, dass du…“ Shohei entging keineswegs die Niedergeschlagenheit, die sich in Benjamins Äußerung widerspiegelte, und er biss sich auf die Zunge, nichts diesbezüglich zu erwidern.
„Jedenfalls“, fuhr Simon fort. „Schufen diese sechs Pokemon mit Hilfe ihrer Kräfte Arceus, auf dass es als ultimative Figur als ihr Gott fungierte. Arceus teilte die anderen legendären Pokemon daraufhin in Riegen ein. Jede Riege nahm einen anderen Status ein und sollte anderen Befehlen folgen – doch das Wichtigste für uns sind die ‘Mächte‘, die ausführenden Gewalten. Denn ihnen gehören der Phönix, der Donner-Vogel und der Eis-Adler an.“
„Lavados, Zapdos und Arktos…“, murmelte Shohei vor sich hin. Allmählich setzten sich die separaten Teile in seinem Verstand zusammen, leider nur extrem langsam, hüllten spontane Emotionen und Eindrücke Shoheis Rationalität in dichten Nebel. Ausführende Gewalten… vollbrachten den Willen ihres Herrn und schritten präsent in Ereignisse ein, die sich auf dem falschen Wege zutrugen und verkehrte Konsequenzen verursachten. Und sofern Benjamins Feuerkraft tatsächlich von Lavados stammte, könnten sie wenigstens sicher sein, dass ihm ein bestimmter Zweck beiwohnte.
„Außerdem schreiben die hier, es gäbe Möglichkeiten, spezielle Rituale, mit denen man versucht habe, sich solcher Macht zu entledigen – mit Erfolg!“ Gar euphorisch deutete Benjamin auf einige Zeilen des Buches, das Shohei momentan hier und da stellenweise las. Endlich ein Hoffnungsschimmer für Benjamin, kurzweilig schob sich sogar Shoheis schlechtes Gewissen hinsichtlich des Gespräches mit Itoe in den Hintergrund, denn sofern jene Gerüchte sich als wahr entpuppten, neigte sich Benjamins Leidenszeit dem Ende zu, ohne dass ein Suizid dies ermöglichte. Er wäre frei von dem Fluch, frei von der permanenten Furcht, jemanden versehentlich zu verletzen, er könnte in seine Heimat… Da spross sie wieder, die Erkenntnis, zum Schluss so oder so allein zu hausen. Es trübte die Freude über Benjamins Heilungsaussicht, zumal er just im selben Augenblick ein Zitat inmitten des Textes entdeckte, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, und es verfrachtete ihn unmittelbar in ein moralisches Dilemma. Schwach formte er die Worte mit seinen Lippen, wollte sich vergewissern, dass seine Netzhaut ihn nicht doch aus reiner Laune heraus betrog. Simon und Benjamin beachteten ihn nicht, plapperten munter weiter. Bloß Shohei stürzte innerlich in grenzenlose Tiefe, wurde in ein schwarzes Loch gesogen, dem zu entkommen gar unmöglich schien. Zu seinem eigenen Glück hatte Benjamin davon keine Übersetzung verlangt.
Sie wartete bereits einige Zeit lang.
Wüsste Itoe nicht ob ihrer speziellen Fähigkeiten Bescheid, käme sie wahrscheinlich nicht umhin, zunehmende Angst im Laufe der Abenddämmerung zu verspüren, die mittlerweile einbrach. Eine Metropole gleich Saffronia war schließlich des Nachtens nicht ganz ungefährlich, erst recht nicht für junge Mädchen wie sie, und man las und hörte zu viel in den Nachrichten, als dass man nicht beunruhigt sein durfte. Entführungen, Vergewaltigungen, Morde… Die Menschen, denen dergleichen widerfuhr, hatten sicherlich auch nicht damit gerechnet, solchen Kriminellen zum Opfer zu fallen. Doch verfügten sie dennoch nicht über das, was Itoe besaß.
Schneisen von rot, gelb, orange, ja sogar rosa stoben aus Richtung ihres Urhebers kommend auseinander, benetzten das eigentlich azure Himmelszelt und gestalteten es zu einem flammenden Inferno um, bei dem nichts in der Lage war, sich ihm erfolgreich zu entziehen. Wenige mutige Wolken wagten es, dem famosen und doch alltäglichen Naturschauspiel zu trotzen, indem sie ihre flauschigen Körper vor das Spektakel schoben, allerdings erfasste sie sogleich die Verursacherin von alldem und tauchte ihr strahlendes Weiß in ein hauchzartes Lila. Vor diesem lodernden Firmament verwandelten sich die Hochhäuser Saffronias in schlichte, schwarze Silhouetten, welche, aus dem richtigen Winkel betrachtet, beinahe eine vollendete Reihe aus unterschiedlich hohen Gebäuden bildeten. In dem ein oder anderen Fenster erkannte man noch Licht, ungewöhnlich, aber keineswegs selten, mussten viele Angestellte aus Existenzgründen Überstunden dulden, obwohl die reguläre Arbeitszeit um achtzehn Uhr endete. Itoe fühlte mit ihnen. Wenn sie sich nicht für Vorlesungen oder Veranstaltungen in Geschichte eingetragen hatte, teilte sie ihr leidiges Schicksal. Bildung und Arbeit, ständig dieselbe Leier, ihr reichte es allmählich. Sie wollte leben. Und nun eröffnete sich ihr die Gelegenheit dazu.
„Pünktlichkeit ist nicht so eure Stärke, was?“, rief sie den drei Jungs spöttisch zu, während sie seelenruhig und in aller Gemütlichkeit über den weiten Platz vor der Bibliothek auf sie zu schlenderten, vorbei an diversen dürren Bäumen, von Sitzbänken umbringt, und dem zahlreichen Außenmobiliar eines Cafés. Nicht einmal das Rascheln der saftig grünen Blätter konnte ihre angespannten Nerven besänftigen, weder vermochte es der leichte, typische Abgas-Geruch, dies zu erreichen. Würden sie sie in ihre Gruppe aufnehmen, wenn sie ihnen bloß genügend Informationen lieferte? Dank ihrer Arbeit in der Bibliothek hatte sie Kontakte geknüpft, nützliche Kontakte. Seriös oder anerkannt, das nicht unbedingt, jedoch in jedem Fall verlässlich. Und das war es ja, was zählte, zumindest heutzutage.
Außer Shohei und seinen Freunden erblickte Itoe nicht sonderlich viele Leute auf den Straßen. Die Kleiderläden, die sich rund um den Bibliotheksvorplatz verteilten, wurden allmählich geschlossen, die Warenständer ins Innere der Geschäfte gerollt, damit zu später Stunde niemand mehr auf dumme Gedanken kam und etwas stahl. Natürlich glommen in den Schaufenstern nach wie vor einige Lampen zur Präsentation neuer Modekollektionen, sowie leuchteten die Namensschilder über den Eingangstüren oder an den Seiten der Bauten in grellen Farben. Für Itoe reine Routine.
„Tut mir leid“, erwiderte Shohei verlegen, lächelte und kratzte sich ratlos am Hinterkopf. Er wirkte auf Itoe eindeutig am sympathischsten. Der brünette Junge, scheinbar der Jüngste des Trios, schien ihr nicht ganz geheuer, und der Blondschopf schlichtweg unendlich arrogant und selbstverliebt, von der unausstehlichsten Sorte. Nichtsdestotrotz erinnerte er sie an jemanden, eine Person, die sie sehr mochte und ihr Herz schlug beim Gedanken an ihn gleich einen Takt schneller. Hoffentlich schaute er später noch bei ihr vorbei, denn sollte alles klappen, wäre das für lange Zeit ihre letzte gemeinsame Nacht. Sie seufzte unbewusst, sehnsüchtig, wehmütig. „Simon musste sich ausreichend Zeit für seine Haare nehmen.“
„Ja, weil ich ein perfektes Anti-Beispiel ständig vor meiner Nase laufen habe“, feixte Simon abfällig mit hochnäsigem Blick in Shoheis Richtung. Anschließend wandte er sich Itoe zu, nun zierte ein höfliches, ergebenes Lächeln seine schmalen Lippen. „Ach, ich habe mich ja gar nicht vorgestellt.“ Im selben Zug und ohne vorhersehbare Anzeichen kniete er vor ihr nieder, ergriff vorsichtig ihre rechte Hand und hauchte einen sanften Kuss auf ihre Haut. „Simon Ishiguro, sehr erfreut.“ Vollkommen sprachlos ließ Itoe ihn gewähren. Auf gewisse Art und Weise fühlte sie sich enorm geschmeichelt, mit solch einer Aufmerksamkeit beglückt zu werden, eines von wenigen Malen in ihrem Leben. Auf der anderen Seite allerdings befand sie es für recht peinlich, gar schlimm, dass ein Fremder sie glatt wie eine Prinzessin behandelte, schließlich war sie bereits liiert.
Simons smaragdgrüne Iriden musterten sie eindringlich, blitzten kurz auf, als sie auf die ihren trafen, und einen Sekundenbruchteil meinte Itoe, einen minimalen Schock in ihren Fingern zu verspüren. Egal, was es gewesen war, mit ihrer Hand in seiner fühlte sie sich merkwürdigerweise um einiges wohler unter den Jungs, auch, als er sich wieder zu seiner vollen Statur aufrichtete und sie weiterhin – diesen Eindruck erzeugte er bei ihr – bewunderte. Leider nur so lange, bis Shohei ihn an seinem hinteren Shirtkragen zu sich zerrte. Erst jetzt bemerkte sie die immense Wärme in ihren Wangen, rot gleich einer Tomate musste sie sein, weshalb Itoe noch tiefer in ihrer Scham versank. Simon schien mehr als zufrieden mit sich, wohl zu Recht, wagte sie es nicht im Entferntesten, erneut seinen Blick direkt, geschweige denn längerfristig zu erwidern.
„Okay, Simon, danke für die unnötige Demonstration deiner Schauspielkunst“, tadelte Shohei ihn genervt. Itoe wusste nicht, wie ihr geschah oder was sie von der aktuellen Szenerie halten sollte. In welche Dummheit hatte sie sich da nur manövriert? Prinzipiell war sie davon ausgegangen, jene Jungs wüssten, was sie taten. Wenigstens legte Shohei einigermaßen gereifte Vernunft an den Tag, zum Glück, sonst wäre sie wahrscheinlich vollends unter ihnen verloren. Letztlich verbeugte sich das verbleibende Mitglied der Truppe voller Höflichkeit vor Itoe.
„Benjamin Sotooka“, entgegnete er lediglich, danach verweilte er stumm. Erstaunt stellte Itoe fest, dass ihr der Verband an seinem linken Arm in der Hektik vom Nachmittag gar nicht aufgefallen war. Jedoch verbat sie es sich tunlichst zu fragen, war sie wohl in der Lage, sich auszumalen, welche Gründe und Motive dahinter steckten. Obwohl sie dies natürlich nicht mit Sicherheit sagen konnte, wissen, dass ihre Theorie stimmte, so weckte Benjamin unendliches Mitleid in ihr. Sie hatte falsch geraten. Er war nicht seltsam, bloß verzweifelt. Und innerlich scholt Itoe sich für ihre dümmliche Oberflächlichkeit.
„Was aber weitaus aufregender sein dürfte“, meldete Simon sich ein weiteres Mal zu Wort, „ist die Frage, wieso sie uns hier sehen wollte“, und deutete dabei auf Itoe. „Hast du endlich begriffen, dass ich eine bessere Partie als Shohei bin?“ Automatisch linste sie zu besagtem Jungen, welcher sich ebenso peinlich berührt mit den Fingern über die gerötete Stelle an seinem Hals strich, seine Augen schweiften in der Gegend umher, kreuzten jedoch keinen einzigen anderen Blick. Er hatte ihnen also die Wahrheit verschwiegen… vielleicht besser so. Innerhalb Saffronias liefen sie Gefahr, abgehört oder gar gefilmt zu werden, das durften sie nicht riskieren.
„Ich will mich euch anschließen“, forderte sie schließlich mit fester Stimme. In der Ferne kreischten wilde Noctuh, als wollten sie Itoe unterstützen. Einige Kramurx stimmten mit ein, zeigten ihre schwarzen Silhouetten am gelb-orangen Abendhimmel, verkörperten ihre eigenen bewegten Schatten. „Ich weiß zwar noch nicht, was genau ihr sucht, aber es klingt ziemlich spannend.“
„Warum sollten wir dir trauen?“, hinterfragte Simon ihre Bitte. Klar, früher oder später musste das kommen, langsam artete dieses Gespräch in einen schlechten Spionagefilm aus.
„Tun wir bereits“, merkte Shohei trocken an. „Würden wir sonst hier stehen?“
„Und alles nur wegen dir.“ Simons Hände verschwanden in seinen Hosentaschen, von den anderen abgewandt grummelte er schmollend vor sich hin. Im Licht des sich herabsenkenden Flammensterns schimmerte sein Haar golden.
„Aber ich kann euch helfen!“, warb Itoe für sich, ohne in ihren Äußerungen sonderlich auf Simon zu achten. Sie sah es keineswegs ein, dass sie abgewiesen werden sollte, bloß, weil sie nicht auf seine Annäherungsversuche reagiert und seinen Stolz verletzt hatte. Darin bestätigte sich für sie ihr schon vom ersten Moment an währender Verdacht seines einseitig ausgerichteten Verstandes. Nicht einmal sein Ego schien sich dort zu befinden, sondern in weiter unten angesiedelten Gefilden, die, sofern man nicht ihrem Drängen folgte, wohl die Blutversorgung zum geistigen Zentrum unterbrachen oder zumindest verlangsamten. „Ihr grabt in der Vergangenheit und ich habe Geschichte studiert. Also… naja, ich bin dabei, was aber nicht heißt, dass ich inkompetent wäre und keine Ahnung von gar nichts habe! Bitte, ich möchte unbedingt –“
„Eine geeignete Ausrede finden, um von hier fliehen zu können“, beendete Benjamin unerwarteterweise ihren Satz. Ein wissendes, vielsagendes Lächeln schlich über seine Lippen. Itoe stockte der Atem. Hatte sie ihre Absichten so offenherzig kundgetan, sie so schlecht verborgen? Zwar stimmte es, ja, sie gedachte seit langer Zeit, Saffronia und ihre angeblich so fürsorglichen Verwandten hinter sich zu lassen und ihr Studium von einer anderen Stadt aus fortzusetzen, jedoch war sie dazu bislang schlichtweg zu feige gewesen. Unter Garantie hätten sie ihr im Folgenden der finanziellen Unterstützung entsagt, ihr jegliche Hilfe verwehrt, und so viel zu arbeiten, ihr komplettes Studium allein zu zahlen, gehörte zu den Dingen der Unmöglichkeit. „Man schmeckt förmlich die Verzweiflung in deiner Stimme. Sie schreit nach Erlösung, sucht unaufhörlich eine Gelegenheit, die sie fesselnden Ketten zu brechen und Freiheit zu erlangen. Ist es nicht so?“ Zunächst sprachlos, starrte Itoe ihn eine Weile an, auch Shohei und Simon verloren vor Erstaunen kein Wort, hatten sie dergleichen wahrscheinlich niemals von Benjamin erwartet. Und dann verstand Itoe. Er verfügte über eine beachtenswerte Empathiefähigkeit, er las in ihr wie in einem aufgeschlagenen Buch, und versuchte tatsächlich, sie hinsichtlich dessen auszustechen. Clever. Und sicherlich nicht uneigennützig angewandt.
„Sowas weiß man eben aus Eigenerfahrung, hm?“, konterte Itoe. Ihr leicht gelocktes Haar wehte elegant im Streicheln der lauen Abendbrise, allmählich lösten Rosé, sowie mattes Blau das glühende Orange vom Himmelszelt ab, betteten sich hinter einzelne Wolken. Blätter rauschten, Motoren heulten auf, Rollläden fielen hinab. Auf ihrem eigenen Territorium besiegt, gar zur Kapitulation gezwungen zu werden, verbot Itoe sich strikt. Benjamin verlangte ein Gefecht, gut, sollte er es bekommen. „Anscheinend kennst du den Wunsch, an niemanden mehr gebunden zu sein, recht gut, wenn du das alles aus meinen Worten deutest. Schön, ich habe die Wahrheit etwas zu meinen Gunsten verdreht. Aber habe ich es getan, um euch meine wirklichen Beweggründe zu verheimlichen, oder weil ich sie selbst nicht anerkennen möchte? Das ist durchaus ein Unterschied, Benjamin. Denk darüber nach.“
„Trotzdem ist der Mensch für alles, was er tut, selbst verantwortlich“, tadelte er daraufhin Itoes Versucht, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. „Ob glatte Lüge oder schlechter Glaube, im Endeffekt liegt es doch bei dir.“
„Meine Herren, seid ihr dann auch endlich mal fertig mit eurem Philosophieren? Ich habe nicht vor, meinen gesamten Abend hier zu verbringen“, entgegnete Simon leicht genervt, trat einen Stein zur Seite. „Manche Leute amüsieren sich eben anders als mit dummem Geschwätz.“
„Heißt das, wir können dein Hotelzimmer stornieren?“ Itoe entging keineswegs der hoffnungsvolle Unterton in Shoheis Stimme, der seinen offensichtlichen Anflug von Freude verriet, Simon nicht zusätzlich am Abend ertragen zu müssen – sie konnte es nur zu gut verstehen, fragte sie sich bereits seit ihrer ersten Begegnung, wie man es so lange mit Blondi aushielt, noch dazu in ein und demselben Raum. „Oder gedenkst du, trotzdem im Hotel deine Nacht zu verbringen? Also ich meine, einen Teil der Nacht wenigstens?“ Er schmunzelte, amüsiert über seine eigene Aussage scheinbar. Dank ihres kleinen Wortgefechtes mit Benjamin hatte sich das Thema ihrer Unterhaltung grundlegend gewandelt. Es drehte sich nicht länger um die Frage ihres Aufgenommenwerdens in das bisherige Jungentrio, sondern inzwischen mehr um Simons Nachtaktivitäten. Und inmitten ihrer Gedanken leuchtete es Itoe plötzlich ein. Simon war mindestens genauso arrogant und auf die Künste der Verführung fokussiert wie Keido, dennoch um einiges freilebiger als ihr Schatz, ungebundener und… verletzender zu all seinen Verflossenen. Zudem trug diese Erkenntnis nicht unbedingt positiv zu ihrer Sympathie für ihn bei.
„Ich weiß es noch nicht…“, seufzte Simon künstlich erschöpft. „Aber keine Sorge, Shohei. Ich werde dir und deinem Liebessklaven“, dabei blickte er demonstrativ zu Benjamin, „genügend Zeit für eure Spielchen einräumen. Deshalb denke ich, dass ein Doppelzimmer so oder so reicht.“ Er lächelte triumphierend unter Benjamins peinlicher Berührung, sowie Shoheis brodelnder Wut, schaute ein letztes Mal voller Missbilligung zu der völlig perplexen Itoe, und schlenderte schließlich, die Hände nach wie vor in den Hosentaschen vergraben, schweigend von dannen. Nicht einmal die Nachrufe seiner Gefährten kümmerten ihn mehr, er wanderte in seiner höchst persönlichen Sphäre, zu der niemand außer ihm Zutritt erhielt. Verwundert registrierte Itoe, dass sein blondes Haar trotz fast gänzlich verschwundenem Sonnenlicht von sich aus in hellem Scheine erstrahlte, und sie war kaum in der Lage, ihre Augen von jenem unglaublichen Phänomen abzuwenden, bis Shohei sich erneut an sie richtete.
„Morgen, neun Uhr, vor dem Arrival Hotel. Falls wir dank Mister Ishiguro noch nicht dort sein sollten, klopf an Zimmer 219. Und wenn dann keiner öffnet… warte einfach. Ich nehme an, bei Simon würdest du lieber nicht…“
„Richtig“, presste Itoe hervor, flüchtete sich vor dem direkten Kontakt mit Shoheis roten Augen. Natürlich fielen ihr komplette Felsbrocken vom Herzen, Saffronia nach all den Jahren verlassen zu dürfen, bloß wie sollte sie das ihren lieben Großeltern erklären, die endgültige Erlaubnis für ihr Vorhaben erwirken? „Und… was soll ich mitnehmen?“
„Wie du schon sagst, man darf uns nicht auf die Schliche kommen…“, wiederholte Shohei nachdenklich, fuhr sich mit einer Hand durch sein pechschwarzes Haar. Benjamin schnaubte verächtlich in seiner Sprechpause, doch Shohei blieb davon unbeeindruckt. Lediglich Itoe wäre, sofern möglich, längst in Benjamins lebhafter Fantasie zerstückelt worden. „Ein Schlafsack wäre von Vorteil, Geld auf jeden Fall, und ansonsten… was ein Mädchen so braucht.“ Itoe nickte bedächtig, mit ihren Überlegungen bereits bei dem, was sie mitnähme, was sie hierließe… und nicht zuletzt schweifte sie zu Keido, ob bewusst oder unbewusst, das blieb ihr selbst unklar. Zweifelsohne schmerzte es, ihren Geliebten für eine Horde Jungs zurückzulassen, die sie nicht einmal zwangsläufig mögen würde, geschweige denn ihnen vertrauen, dennoch… es diente einzig und allein Keidos Zielfindung, seiner Zufriedenheit und letztlich somit ja ebenso ihrem gemeinsamen Glück, oder nicht? Wenn er lächelte, so tat sie es auch, und sie glaubte fest daran, dass jene Geste auf Gegenseitigkeit beruhte. Er liebte sie eben. Kleinere Opfer gehörten da der Notwendigkeit an, umso mehr durfte sie sich im Nachhinein auf ein Wiedersehen mit ihm freuen, zumal er dank der zahlreichen Kommunikationsmittel ja auch nicht komplett aus der Welt wäre.
„Ich werde da sein“, versprach Itoe schließlich, felsenfest entschlossen, ihr Wort zu halten, egal mit welchen Mitteln. Sie schenkte Shohei ein beherztes Lächeln – er erwiderte es beinahe intuitiv -, ehe sie sich umdrehte und sich auf ihren Weg nach Hause begab. Vielleicht stellte sich das Trio ja als nützlicher heraus als bisher angenommen.
Morgen würde sich ihr fades, eintöniges Leben endlich ändern.
Fasziniert und gleichsam aufgeregt betrachtete Itoe das erfüllte Sternenzelt über ihr, versuchte zu erfassen, auf welches Maß es sich oberhalb Saffronias ausdehnte und blieb im Endeffekt doch erfolglos. Zu mengenhaft hefteten sie an dem fast schwarzen Firmament, als dass man sie hätte zählen, geschweige denn allesamt erfassen können. In Teak City schienen die Sterne laut ihrer Einschätzung heller zu strahlen als hier in Kanto, vermutlich deshalb, weil Saffronia sich im Laufe der Jahre zu einer größeren Stadt entwickelt hatte und ihre Lichter selbst in der Nacht vermehrt am Himmel reflektierten.
Schmunzelnd erinnerte sich Itoe an ihre kindlichen Vorstellungen von früher. Die Toten wachten dort, das war ihre Theorie mit fünf oder sechs Jahren gewesen, behüteten die Lebenden, so hatte man es ihr stets berichtet, und trotzdem geschahen etliche morde, Betrügereien, herrschte Korruption. Erst im Nachhinein realisierte Itoe, wie naiv sie damals gedacht hatte, wie gutgläubig sie gewesen war. Und Jugend als Rechtfertigung zu Rate zu ziehen, das gefiel ihr nicht sonderlich gut. Man hatte sie belogen, darum handelte es sich bei dem Ausschlaggebenden, so wie man anderen Kindern Weihnachtsmann – eigentlich die Erfindung eines Getränkekonzerns – und Osterhase vorgaukelte. Klar, kleine Sprösslinge erfreuten sich an der von Geschenken belasteten Illusion, nichtsdestotrotz blieb man der Ehrlichkeit fern, als würde man einem Mörder Hoffnung auf eine Geldstrafe machen. Itoe schnaubte spöttisch. Sie hasste Lügen, dennoch zwang man sie, ihr gesamtes zukünftiges Leben auf Grundlage einer solchen zu gestalten, und ausnahmslos niemand durfte es bemerken. Ansonsten… sie würde sich bis zuletzt verteidigen, bis zum letzten Atemzug kämpfen, obwohl sie ihre Fähigkeiten so sehr verachtete. Aber zum Werkzeug der Regierung mutieren, nein, das stand für sie außer Frage. Eher stürbe sie in der Schlacht, die ohnehin verloren war.
Allmählich kehrte Ruhe in Saffronia City ein. Der fließende Verkehr ebbte nach und nach ab, bis auf die öffentlichen Transportmittel ratterte kaum noch eine Beförderungsmaschine durch die Straßen, und in den benachbarten Bauten, die Itoe von ihrem geöffneten Fenster aus sah, erstarben die Lampen und Lichter. Allerdings schliefen die Leute für sie noch längst nicht, sie wollten lediglich nicht, dass jemand sie bei ihren Spielchen beobachtete, gar filmte, so dachte es sich Itoe zumindest. Misstrauische, geheimniskrämerische Welt… Ehrlichkeit währte ja bekanntlich am längsten, auf der anderen Seite jedoch zerstörte sie Vieles mit ungeahnter Grausamkeit.
Fernab der leiser werdenden Stadtgeräusche ertönten die Schreie wilder Noctuh, im Einklang mit einer kühlen Brise zauberten sie Itoe eine Gänsehaut auf ihre bloßen Arme. Es fröstelte sie leicht, was die Höhe, in der sich ihr gläsernes Fenster befand, nicht gerade milderte. Aus dem zweiten Stock blickte sie hinab auf bei Tageshelle grünes Gebüsch und Gestrauch, entlang an der nun schwärzlichen Ziegelsteinwand und erkannte sogar, wenn sie sich jetzt etwas weiter vorbeugte, Teile ihrer Wohnstraße. Sie würde sich nie an den nimmer komplett erlischenden Lärm gewöhnen, die Gruppen Jugendlicher, die zu später Stunde umher streiften und ihr teilweise Angst einjagten.
„Für wen stellst du bitte deinen Ausschnitt so zur Schau?“, ertönte plötzlich eine gekünstelt empörte Jungenstimme neben ihr und sie schreckte hoch, entfloh ihren abschweifenden Gedankengängen und gleichsam schlug ihr Herz einen Takt schneller. Ihn würde sie unter tausenden Menschen erkennen. Auch wusste sie, dass er seine Entrüstung hervorragend vorzutäuschen vermochte. Trotzdem trat sie weiter in ihr Zimmer, um ihren Gast herein zu bitten, zupfte dabei an ihrem angehaucht rosafarbenen Negligé.
„Wie lange hockst du schon auf meinem Fenstersims?“, hakte Itoe sofort nach, sobald er gänzlich in die Düsternis ihres Zimmers eingetaucht war. Im einfallenden Schein der Stadtlichter bemerkte sie erschrocken sein zerfetztes Shirt. „Gott, Keido, was… hast du gekämpft?“ Unverzüglich huschte sie wieder zum Fenster, drehte den brünetten Jungen so zum Licht, dass sie seinen Nacken und alles darunter begutachten konnte, den Teil seines Oberkörpers, wo der Schaden sich anscheinend zentrierte. Vorsichtig strich sie mit ihren Fingerspitzen über seinen kräftigen Rücken, verwundert, weder Verletzung noch Narben vorzufinden, dafür allerdings einen länglichen blauen Streifen in Höhe seiner Schulterblätter. Keido zuckte zusammen, als sie ihn genauer inspizieren wollte. „Sind das deine –“
„Ja“, schnitt Keido Itoes Frage ab. „Unglücklicherweise…“, zur Untermalung seiner Worte und zu Itoes Gefallen bewegte und streckte er Rücken und Schultern, es gelang ihr kaum, ihre gespannten Augen davon abzuwenden, „zerreißt es jedes Mal ein Shirt. So ein hoher Verschleiß wird auf Dauer ziemlich teuer.“
„Stoff wird überbewertet“, säuselte Itoe verspielt, fuhr sich im selben Moment mit der Hand durch ihr schimmernd blaues Haar, dessen Spitzen just an ihren unteren Schultern kitzelten. „Ohne Shirt herum zu laufen wäre… speziell für dich keineswegs eine Schande.“ Aufmerksam verfolgte sie Keidos schlendernden Gang ins Innere ihres Zimmers, gezielt vorbei an der Silhouette ihres hölzernen Schreibtisches, der vom Fenster aus betrachtet von der rechten Wand in den annähernd quadratischen Raum ragte. Seine feuerroten Tiefen blitzten stechend auf, als er sich zu ihr umdrehte und sie prüfend musterte, sein bohrender Blick erzeugte ein wohliges Kribbeln in ihr. Am liebsten hätte sie sich ohne Umschweife in seine Arme gestürzt, doch eine gewisse Anspannung in Keidos Gesten schreckte sie vorerst ab. Unbewusst, dennoch verlangend schnupperte sie sein frisches, kühles Parfum, während sie nebenbei eine eventuelle Störung von Seiten ihrer Großeltern rechtzeitig zu erlauschen versuchte.
„Nein, danke“, winkte er beschwichtigend ab. „Ich habe es nicht nötig, mich anderen aufzudrängen, oder… an den Hals zu werfen.“ Itoes Augen weiteten sich vor Erschrockenheit, nervös zupften und zerrten ihre Finger am Saum ihres Négligées. Um Halt zu finden, lehnte sie sich leicht an die Fensterbank hinter ihr. Ein herzhaftes Grölen von draußen machte die Stille zwischen ihnen zunichte.
„Es musste sein, es sollte immerhin echt aussehen“, erklärte Itoe schuldbewusst, hoffte, dass Keido ihr das nicht allzu übel nahm in seiner Eifersucht samt seiner besitzergreifenden Art. Sie wollte ihn nicht aufgrund einer solchen Lappalie verlieren, empfand sie nicht einmal im Geringsten etwas für Shohei, welcher, so stellte sie erstaunt fest, zufälligerweise dieselbe Augenfarbe mit Keido teilte – den Hauptton zumindest. Keidos waren einen Funken heller, passionierter, flammender. „Außerdem stimmt mit dieser Gruppe irgendetwas nicht. Mitten in der Schulzeit tauchen sie hier auf, tragen obendrein keine Schuluniform, und wollen Bücher bezüglich der legendären Pokemon ausleihen. Sowas nimmt man im normalen Unterricht garantiert nicht durch, das ist verboten.“ Und damit gewann sie Keidos volles Interesse. Seine Züge lockerten sich wieder, neugierig horchte er auf, hielt kurz inne, sich seines schwarzen Shirts komplett zu entledigen. Um einiges erleichtert, ihn nicht aussichtslos verstimmt zu haben, fuhr Itoe fort. „Einer von ihnen muss es sein. Wäre das nicht die ideale Gelegenheit für dich? Ich habe mich bereits bei ihnen eingeklinkt, ich kann dir also regelmäßig neue Informationen schicken.“ Mehr und mehr redete sich Itoe eigens in ihre Vorfreude auf die anstehende Reise, weg von hier, von den Fesseln der Arbeit und des Studiums, denen ihrer Großeltern, die sie gegen ihren Willen aus Johto geordert hatten… bis Keido sich direkt vor ihr positionierte, rechts und links stützte er sich mit den Armen an der Fensterbank ab, versenkte sein Gesicht in der Wölbung an ihrer Schulter. Sein wohl trainierter, kräftiger Oberkörper drückte sich intuitiv an ihren, verhinderte erfolgreich eine Flucht ihrerseits. Er hatte sie eingekesselt, sofort verkrampften sich beinahe sämtliche Muskeln ihres Körpers, was sowieso bei jeder seiner Berührungen eintrat. Er schaffte es stets, sie sich gefügig zu machen, und auf gewisse Weise mochte Itoe dieses Vorspiel sehr. Sie spürte das Verlangen nach ihm in sich erwachen, fühlte, wie sich der Wunsch in ihr aufbaute, seinen Leib stärker an sich zu pressen, sich mit seinen fordernden Lippen zu beschäftigen, die augenblicklich an ihrem Hals hafteten und sie allein dadurch halb ihres Verstandes beraubten. Doch bevor ihrer Kehle ein genussvolles Stöhnen entweichen konnte, unterbrach er seine Spielchen.
„Ja, und du wirst lange Zeit für mich unzugänglich bleiben“, hauchte Keido ihr ins Ohr. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Sie müsste lange Zeit auf ihn verzichten, um keinen falschen Verdacht zu erzeugen, dürfte ihn wahrscheinlich nicht sehen, ihm lediglich kurze Sms schreiben oder mit ihm telefonieren… Ihre Euphorie verflog, an ihre Stelle gesellten sich Trauer und Wehmut. Geknickt sackten ihre Schultern nach unten, trostsuchend erhob sie ihre Arme und schlang sie um Keido, schmiegte sich eng an ihn, ohne Hintergedanken diesmal.
„Ich –“, setzte sie an, wurde jedoch von einem jähen Türklopfen abgewürgt. Hektisch drängte sie sich an Keido vorbei, eilte mit ihren unbekleideten Füßen über den flauschigen, wie sie wusste weißen Teppich zu ihrer Zimmertür und öffnete sie einen Spalt. „Was gibt’s?“
„Wir wollten dir nur ‘Gute Nacht‘ sagen, Liebes“, krächzte die Stimme ihrer Großmutter. „Und sei uns bitte nicht böse, dass wir –“
„Schon gut“, lächelte Itoe gekünstelt verständnisvoll. Sie wollte alles, aber kein Bedauern von ihren sogenannten Vormündern, und am liebsten hätte sie die Tür einfach zugeknallt. Davon ab hielt sie die Gewissheit, bei einer derartigen Reaktion ihrerseits ein längeres Gespräch mit ihren Großeltern führen zu müssen, anstatt ihre so oder so letzte Nacht in Saffronia mit Keido zu verbringen. Trotz allem eine weitere Lüge, die sie sich schweren Herzens aufbürdete. „Ich war einfältig, naiv und… ihr hattet Recht, eine anständige Bildung ist die wertvollere Alternative. Schlaft gut.“
Behutsam schloss sie die Tür, harrte eine Weile schweigend an Ort und Stelle. Es musste sein… man hatte ihr keine Wahl gelassen, ihr die Erlaubnis, auf Reisen zu gehen, vehement verweigert, versuchte Itoe ihr schlechtes Gewissen zu besänftigen. Sollte sie nicht mit den drei Jungs – wieso in aller Welt ausschließlich mit männlichen Wesen, so fragte sie sich inzwischen – reisen, wäre sie wesentlich schlechter in der Lage, Keido zu helfen und erst recht sähe sie nichts von der Welt. Ab einem bestimmten Alter erforderten es die Umstände, egoistischer zu denken, und jener Zeitpunkt bahnte sich in ihrem Leben nunmehr an. Außerdem wollte sie endlich eigenständig werden, eigenständige Entscheidungen treffen, eigenständig leben…
„War ich dir heute mal leise genug?“, wisperte Keido ihr unvermittelt von hinten zu, schlang seine Arme um ihren Bauch und verteilte unzählige kleine Küsse auf ihrem Nacken. Sie genoss die Wärme, die er ihr immer wieder vermittelte, den Halt, den er ihr verlorenem Wesen spendete, obwohl Keido im Prinzip die Schuld an ihrer Misere trug. Irgendwie hatte sie ihm wohl schon verziehen.
„Ausnahmsweise“, lachte sie auf, drehte sich achtsam in seiner Umarmung um und legte ihre Arme um seinen Hals, kuschelte sich an seine bloße Brust, hörte und spürte seinen Herzschlag. Sie vermisste ihn bereits jetzt. Gefühlvoll streichelte Keido ihren Kopf, über ihre leicht gewellten Haare, und Itoe konnte nicht anders, als ihn mit jeder Sekunde mehr zu begehren. „Ich liebe dich, Keido“. Schlussendlich war ihr jener Satz also doch entwichen, und egal, was er nun sagte, daran würde sich nichts ändern. Dazu war er ein zu wichtiger Bestandteil ihres Lebens geworden, denn sie verband ein hochgradiges und doch zu schreckliches Geheimnis, und trotzdem vermochte sie es schlichtweg nicht, ihn zu hassen. Es funktionierte einfach nicht. Und nachdem ihr das bewusst geworden war, hatte sie begonnen, seine guten Eigenschaften schätzen zu lernen. Keido spielte zwar die dominantere Rolle in ihrer Beziehung, allerdings hatte er sie bislang immer getröstet, sofern notwendig, sie nicht nur im sprichwörtlichen Sinne auf Händen getragen. Ihr Geheimnis mit ihm zu teilen, allein dadurch wurde die Angelegenheit so viel… erträglicher.
„Beweis es“, raunte Keido fordernd, verstärkte seinen Griff um sie, und das Letzte, was Itoe mittels ihres Verstandes und ihrer reinen Vernunft wahrnahm, war das Rauschen ihres Nachthemdes, als es unter Keidos Zutun endgültig zu Boden fiel.