Schwere schwarze Wolken wurden kurz erleuchtet, ehe ein tiefes Donnern den Regenschauer einleitete. Fluchend durchforschte sie ihre Handtasche nur um festzustellen, dass sie sowohl ihr Handy als auch ihren Regenschirm zu Hause vergessen hatte. Es blitze erneut. Seufzend musste sie resignieren und sich schutzlos auf den Heimweg begeben. Die kalten Tropfen durchdrangen ihre Kleidung und verwischten ihr Make-Up. Die Menschen eilten alle in Richtung eines Zieles, verdeckt durch große Regenschirme und beachteten sie nicht. Einige allerdings schienen dieses nasse Wetter durchaus zu genießen. Ein junges Pärchen schlenderte an ihr vorbei- einen Regenschirm teilend- lächelnd und eng umschlungen. Ihr zuvor finsterer Blick wurde nass. Jetzt achtete sie nicht mehr auf die Passanten um sie herum, sondern richtete ihren Blick starr auf den grauen Boden.
Völlig durchnässt erreichte sie schließlich die Wohnung. Sie wollte diesen Tag schnellstmöglich enden lassen, also begab sie sich erst unter die Dusche um sich dann gleich danach aufs Bett fallen zu lassen.
„Mutter, ich geh schlafen“, teilte sie der in der Küche stehenden Frau mit.
Dann vergrub sie ihr Gesicht im Kissen und seufzte. Das war ein herrliches Gefühl. Hier in ihrem Bett, weit weg von den ganzen Müll, aus dem sich momentan ihr Leben zusammensetzte. Noch im wachen Zustand begann sie zu träumen, in der Hoffnung ihre Tagträume würden im Schlaf dann fortgeführt werden, damit sie etwas Energie für den nächsten Morgen tanken konnte. Es dauerte nicht lange bis sie in die sanfte Welt ihrer Träume hinab glitt.
„Schatz? Schläfst du immer noch?“. Ihre Mutter schaute kurz ins Zimmer. Tatsächlich konnte sie ein gleichmäßiges Atmen hören und entschied sich die Tochter nicht für das Abendessen zu wecken. Leise lächelnd wünschte sie ihr eine gute Nacht und verließ das Zimmer.
Es war unglaublich. Die Sonne erhellte alles! Keine einzige Wolke verschmutzte den Himmel und kein Schatten verdunkelte die Pracht, die sich vor ihren Augen eröffnete. Eine wunderschöne Wiese lag vor ihr, bedeckt mit einer Blumendecke, die im Sonnenlicht funkelte. Da war sie. Kaum über einem Meter groß in einem roten Shirt und kurzen Jeans. Zwischen all den Blumen kaum auszumachen. Sie quiekte vergnügt, als sie sich unter dem Blumenmeer vor ihrem Vater versteckte. Natürlich fand er sie sofort und laut lachend setzte sie ihm den selbst gemachten Blumenkranz auf. Dann suchte sie weitere Blumen. Die Wiese war ja auch groß genug. Der Wind streichelte das grüne Gras während ihre einzige Sorge darin bestand, genug blaue Blüten zu finden.
Die Tür ging auf, als die ersten Sonnenstrahlen das Zimmer erhellten. „Schatz, Zeit zum aufstehen!“ Die Mutter sammelte die auf dem Boden liegende Kleidung auf und seufzte über den Ordnungssinn ihrer Tochter.“Schatz?“ Vorsichtig rüttelte sie ihre Schulter. „Aufstehen!“ Ein Lächeln schmückte das schlafende Gesicht und so beschloss ihre Mutter, dass sie heute die Schule einmal ausfallen lassen könnte. Es war so stressig in letzter Zeit gewesen.
Plötzlich wurden alle Blumen blau. Dann, in dem Moment in dem sie blinzelte, wurde aus der Wiese ein rauschendes Meer. Die Sonne verminderte ihre Leuchtkraft; alles versank in einem sanften Goldton. Als der Wind ihre Beine streichelte, merkte sie, dass sie ein weißen Kleid trug. Keine kurzen mit Grasflecken bedeckte jeans mehr. Nein, sie war kein Kind, sie war eine junge Frau. Zwei starke Arme drückten sie an einen vertrauten warmen Körper. Er war bei ihr. Etwas drückte er ihr in die Hand. Verwundert betrachtete sie die gewundene Figur in ihrer Hand. Es war eine Muschel. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine starke Brust, schloss die Augen und lauschte dem Klang der Muschel. Der Klang der Wellen ließ sie schweben, genauso wie seine Nähe. Mit ihm war sie glücklich, hier im Lichte des Sonnenuntergangs.
„Nein, seit gestern Abend schläft sie“, flüsterte ihre Mutter. Der Mann neben ihr nickte und betrachtete das schlafende Mädchen. „Herr Doktor ... was ist denn mit ihr? Ist sie krank?“ Der Arzt setzte sich neben dm Bett hin und holte einige Untersuchungsinstrumente aus dem schwarzen Koffer. „Das finden wir gleich heraus ... oh, sehen sie mal. Sie scheint einen schönen Traum zu haben!“ Sie lächelte im Schlaf.
Plötzlich erhob sich das Meer und bedeckte die Sonne. Das Licht verschwand und dort wo die letzten Sonnenstrahlen zuvor noch zu sehen waren, entstanden kleine leuchtende Punkte - Sterne. Es war Nacht. Als sie sich umblickte, merkte sie, dass sie nicht alleine waren. Ein Lagerfeuer brannte und hüllte die umstehenden Personen in ein warmes Licht ein. Ihre Eltern waren da und ihre Geschwister. Sie lachten. Warum, wusste sie nicht mehr. Doch das spielte auch keine Rolle. Sie waren alle zusammen hier. Weit weg von all den Sorgen zu Hause. Unter dem Himmelszelt erzählten sie sich Geschichten. Erinnerungen, Zukunftspläne oder einfach nur Dinge ohne Sinn. Doch je belangloser ihr Gespräch, desto mehr an Bedeutung gewann die Erinnerung daran.
Verlegen kratzte er sich am Kopf. Er konnte es sich nicht erklären. Das Mädchen war kerngesund. Sie lächelte wieder. Er schüttelte den Kopf als ihn der fragende Blick der Mutter traf. „Tut mir leid“. Besorgt betrachteten sie das schlafende Mädchen.
Die Sterne verschwanden. Das Feuer erlosch. Doch sie war glücklich, als sie in das tiefe Nichts ihrer Träume fiel. Es war so schön hier. Sie schloss die Augen und lächelte. So schön.
Er hatte alles versucht, doch er konnte ihr Herz nicht mehr zum Schlagen bringen. Die Mutter brach weinend zusammen als sie seine Worte vernahm: „Zeitpunkt des Todes ...“. Als er sich die Uhrzeit notierte verstand er die Welt nicht. Sie hatte bloß geschlafen ...
Und hat vergessen aufzuwachen.