Wasser. Wohin auch der Blick schweift. Tiefes endloses Türkis strahlt dem Himmel entgegen. Sanft, wie ein verlorenes Blatt im Wind, rauschen Klänge über die Wellen. Schon lange ist ihre Herkunft in Vergessenheit geraten und ziellos trägt der Wind sie hinaus, bis die endlosen Wellen sie verschlucken.
Doch etwas stört das ewige Spiel der Wellen. Etwas, was nicht an diesen Ort gehört, verloren, mitten im Ozean. Bewegungslos treibt es auf der Oberfläche, völlig durchnässt und zerstört von dem Kampf von Wind und Wellen. Nur noch schwach erkennt man die vergangene Schönheit dieses seelenlosen Gegenstandes. Eine Puppe. Gewöhnlich, nicht wie diese modernen High-Tech- Puppen. Die Haare verblasst durch den grausamen Glanz der Sonne, das Kleid zerfetzt durch Fische und den Zorn der Wellen. Die Augen glasig, sie spiegeln nicht einmal den blauen Himmel wider ...
Doch genau diese Augen erzählen eine Geschichte. Sie erzählen von der Vergangenheit einer Puppe. Einem seelenlosen Gegenstand, der keine Erinnerungen hat und doch existieren sie:
[ Kleine Lotte weine nicht, kleine Käthe weine nicht, kleine Anna weine nicht, weine nicht, bitte weine nicht.]
Sophie hatte rosa Bäckchen und eine süße Stupsnase. Nussbraune Locken umspielten das Gesicht. Sie hatte ein grünes Kleid an, verziert mit weißen Rüschen und Bändern. Sie saß gegenüber vom Fenster am Schrank und das Licht der Sonne reflektierte sich in ihren apfelgrünen Augen. Sophie, diesen Namen hatte sie von ihrer Besitzerin- damals einem 5- jährigen Mädchen. Marie war immer ein lebensfrohes Kind gewesen, offen für alles und etwas frech. Sie hatte genauso braune Haare wie Sophie, nur glatt und immer kurz geschnitten. An ihrem 5. Geburtstag bekam Marie Sophie geschenkt und seitdem waren sie unzertrennlich. Überall wurde Sophie mitgeschleppt. Zu Familienfeiern, am ersten Schultag, und einfach jedes Mal wenn Marie aus dem Haus ging. Nachts schlief sie mit ihr im Bett und damals, als Marie sich den Arm gebrochen hatte, hat ihr Sophie im Krankenhaus beigestanden und war immer da. Sophie war das, was jeder Erwachsene als Lieblingsspielzeug bezeichnen würde.
Doch dann, dann blieb Sophie zu Hause. Marie nahm sie nicht mehr mit und schlief auch nicht mehr mit ihr in einem Bett. Schön und säuberlich wurde sie auf dem Regal platziert, zwischen den anderen Puppen. Seitdem starrte Sophie mit ihren Glasaugen immer nur ins Fenster gegenüber.
Marie lag auf ihrem Bett und hörte Musik. Ihre braunen Haare lagen ausgebreitet auf dem Kissen und die dunkelgrauen Augen waren geschlossen. Plötzlich sprang sie auf und schaltete ihrem mp3-Player aus. „ Das war jetzt inspirierend. Jetzt weiß ich wie ich weitermache !“, schrie sie begeistert auf und sprang von ihrem Bett um gleich zu dem schwarzen Klavier zu laufen, das gegenüber in ihrem Zimmer stand. Schnell und geschickt bewegten sich ihre Hände über die Tasten des Klaviers und ließen eine Melodie erklingen. Eine ruhige, schöne Melodie, die doch auch etwas schwermütig war. Die Töne erzählten von der Welt, von dem Licht, der Freude und der Vergänglichkeit dieser Dinge. Von der Eigenschaft der Menschen alles zu vergessen.
Marie war sehr begabt. Schon als kleines Kind hat sie oft Klavier gespielt. Eine Menge Preise schmückten ihr Regal. Doch nie ist Marie abgehoben. Sie war noch immer fröhlich, lebensfroh und offen. Ein Mensch, den alle liebten und respektierten.
Doch noch hatte sie etwas der Musik zu verdanken. Bei einem Turnier vor einem Jahr traf sie ihn ...
„Mike! Mike ist da!“, erklang Maries stimme und das Klavierspiel wurde unterbrochen. Marie hatte ihren Freund vom Fenster aus gesehen wie er gerade angekommen war und lief schnell aus dem Haus. „Hey meine Süße!“ sagte er und nahm sie sogleich in die Arme.“ Ich hab dir doch versprochen, dass ich heute komme. Schließlich ist es dein 20. Geburtstag!“, flüsterte er und küsste sie. Marie freute sich und fast schon stiegen ihr Tränen in die Augen. Mike wohnte in der Stadt und sie außerhalb. Eine Stunde lang dauerte die Fahrt und deswegen sahen sie sich nicht so oft. Doch das sollte sich bald ändern ...
„Hast du mit deinen Eltern gesprochen“, fragte er nachdem sie sich sanft von seinen Lippen gelöst hatte.“ Ja“, lächelte sie,“ sie haben so verständnisvoll reagiert. Das hätte ich nie gedacht, aber Operation „ Umzug“ kann beginnen!“ Maries Gesicht strahlte bei dem Gedanken. Mike und sie zusammen, in einer Wohnung, keine langen Autofahrten mehr, nur sie zwei alleine.
Marie verabschiedete sich kurz von ihren Eltern bevor sie mit Mike feiern ging. Kaum waren die zwei weg, tröpfelten die ersten Regentropfen gegen die Fensterscheiben. “Die Regenzeit beginnt schon bald“, meinte Maries Mutter zu ihrem Mann während sie das Geschirr abtrocknete. “Ja, hoffentlich erwischen wir am Umzugstag schönes Wetter. Nicht das die ganzen Möbel nass werden“, murmelte ihr Vater und paffte weiter an seiner Pfeife.
[ Den ganzen Tag fallen schwere Regentropfen. Du sitzt hier und wartest auf sie, doch sie ist irgendwo draußen mit ihm. Die Regentropfen verdecken dir die Sicht, es ist schon dunkel und langsam gehen die Straßenlaternen an. Und sie? Sie ist noch immer nicht da und du wartest, wartest hier alleine ]
Sämtliche Möbel waren schon in der neuen Wohnung. Seit Maries Geburtstag waren 2 Monate vergangen und es blieben nur noch Kleinigkeiten übrig. Marie summte vor sich hin während sie ihre Sachen in Kartons verstaute. „Willst du Sophie nicht mitnehmen?“, fragte ihre Mutter, die gerade reingekommen war. “Ach Mum, Sophie war zwar meine Lieblingspuppe aber in der neuen Wohnung habe ich nun wirklich keinen Platz für sie“, schüttelte Marie etwas gereizt den Kopf. Ihre Mutter seufzte und nahm Sophie vom Regal runter. Sanft strich sie ihr die feine Stauboberfläche vom Gesicht und betrachtete die Puppe. Das Apfelgrün ihrer Augen war mittlerweile nur noch ein blassgrün. Zu lange war sie der Sonne ausgesetzt gewesen. Die Mutter betrachtete ihre Tochter. Wie schnell Marie doch erwachsen geworden war. Eine junge talentierte Frau und doch schien sie ihre Kindheit endgültig hinter sich gelassen zu haben.
[ Kleine Tanja, kleine Lola, kleine Hanna, die Kinder sind bloß größer geworden.
Kleine Lulu, kleine Emma, kleine Maya ... wir sind ganz einfach nur alle erwachsen- also weine nicht]
Nach 2 Stunden war alles erledigt. Marie verabschiedete sich von ihren Eltern. „Mama, jetzt wein doch nicht. Ich zieh nur um und gehe doch nicht für immer“, lachte Marie, doch auch sie hatte Tränen in den Augen. Ihr Vater konnte über so viel Gefühlsduselei nur den Kopf schütteln. „Schatz, bitte, nimm doch wenigstens Sophie mit“, bat ihre Mutter sie und drückte die Puppe in Maries Hände. Marie starrte ihre alte Freundin einen Augenblick lang an. “Na gut Mama, wenn es dich glücklich macht“, gab Marie nach. Sie gab ihren Eltern einen Kuss und ging- mit Sophie im Arm. „Nun Sophie, wollen wir ein letztes Mal noch durch die Wiesen spazieren gehen?“, schaute Marie fragend ihre Puppe an ... Sie schüttelte leicht den Kopf. “Jetzt red ich tatsächlich mit einer Puppe“, flüsterte sie und schaute etwas besorgt zum Himmel. Dicke schwarze Wolken bedeckten die Sonne und verwandelten den helllichten Tag zu einem trüben Grau.
[ Den ganzen Tag fallen Regentropfen. Hinter dem Fenster ächzen die nassen Äste. Unaufhörlich tropft der Regen und du wirst weggegeben. Ohne zu fragen geben sie dich weg, ohne zu fragen trenne sie euch mit den eigenen Händen]
Etwas ungestüm rauschte der Wind durch die Blätter und warnte die Waldbewohner vor dem sich nähernden Gewitter. Doch Marie fürchtete sich nicht. Langsam spazierte sie an dem Wald entlang in dem sie als Kind oft Verstecken gespielt hatte. Hier, nicht weit weg vom Waldrand, hatte ein kleiner Bach seinen Weg gefunden. Sanft zeichneten sich die ersten Regentropfen ab und bildeten kleine Wellen im fließenden Wasser. Marie ging auf die kleine Brücke, die ihr Vater dort mal gebaut hatte, damit sie nicht über den Bach springen musste. Gedankenverloren betrachtete sie ihr Spiegelbild als ein ihr bekanntes Gesicht neben ihrem auftauchte. “Mike? Nanu? Was machst du den hier? Ich dachte du arbeitest heute?“, fragte Marie verwundert, aber zugleich schmiegte sie sich an ihn. „Ich muss mit dir reden ... deswegen hab ich heut früher Schluss gemacht.“, sagte er nur. Marie fröstelte unwillkürlich und die plötzliche Kälte war nicht auf den immer stärker werdenden Regen zurückzuschließen. Mikes Stimme klang genauso düster wie der Himmel aussah. „Was ist den los? Mike, komm! Sag es mir! Ist irgendetwas passiert? „ Marie geriet in Panik und klammerte sich an Sophie, als Mike sie sanft aber beharrlich etwas von sich wegdrückte. „ Bitte Marie, hör mir zu. Ich.... ich wollte das nicht. Es ist kurz nach deinem Geburtstag passiert. Ich war nur im Baumarkt um die Tapete zu besorgen, die du wolltest. Bitte glaub mir, ich habe dagegen angekämpft, aber ... da war sie ... Emily ... eine Frau. Sie hat mir kurz geholfen die Tapete zu finden und wir kamen ins Gespräch. Glaub mir Marie, ich wollte nicht dass es passiert ... aber ich konnte meine Gefühle nicht aufhalten. Ich liebe sie ... ich liebe Emily. Marie es tut mir Leid, ich kann nicht mit dir zusammenziehen ... Verzeih mir ...“ Mike betrachtete das Mädchen vor ihm. Er war sich nicht sicher ob sie weinte, den der Regen war mittlerweile ein richtiger Wasserfall. “... eh ...“, flüsterte Marie etwas. “Was? Marie?“, fragte Mike vorsichtig nach und wollte Marie die nasse Strähne aus dem Gesicht wischen. Doch Marie klatschte seine Hand plötzlich weg und starrte ihn an: “GEH! Geh, geh geh!“ Sie fing an wild mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen. Wütend und blind schlug sie mit Sophie auf ihn ein. Mike wich zurück. Er flüsterte noch etwas und ging. Maries Augen waren so schwarz wie der Himmel selber und sie waren gefüllt mit heißen Tränen. Sie konnte kaum noch stehen und hielt sich an dem Brückengeländer fest. Sophie hing schlaff runter und genauso wie bei ihrer Besitzerin, tropfte überall Wasser von ihr.
[ Es regnet den ganzen Tag und du sitzt in der Ecke. Du warst ihre beste Freundin und jetzt sitzt du hier in der Ecke. Bitte, vergesst eure seelenlosen Kinderfreunde nicht! Und sie sitzt da und zwei Tränen glitzern in ihren Augen]
Marie zitterte am ganzen Körper. Ein Spinnennetz aus Blitzen erhellte den Himmel, gefolgt von einem lauten Donnergrollen. Doch das Gewitter kümmerte Marie nicht. Sie spürte die Nässe des Regens nicht. In Marie herrschte eine andere Kälte, sie hörte ihr Herz schnell schlagen, doch sie konnte nichts fühlen. Nur die Kälte ...
Zitternd brach sie zusammen. Jetzt wo sie alleine war, konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Laut schluchzend sank sie auf ihre Knie und stützte sich mit de Händen ab. „Warum!?“, schrie sie durch den Regen. Doch ihre Stimme brach und auch ihre Hände konnten sie nicht mehr stützen. Marie brach vollkommen auf der Brücke zusammen, dabei rutschte Sophie über den Rand der Brücke. Marie hatte nicht mehr genug Kraft um ihre Puppe fest zu halten. Sie dachte nicht daran Sophie fester mit der Hand zu umschließen. Es war ihr egal, sie lag weinend auf der Brücke und bemerkte nicht einmal wie die Puppe vom Bach weggetragen wurde. Weit weg von ihr ... weit weg von ihrem zu Hause. Und obwohl sich Marie in diesem Moment wünschte, wieder 5 Jahre alt zu sein und glücklich mit ihrer Puppe im warmen Bett zu liegen, trug das Wasser Sophie davon ... ohne Rücksicht und ohne Zögern.
[ Kleine Lena weine nicht, kleine Lisa weine nicht, kleine Alina weine nicht, weine nicht, bitte weine nicht.]
Langsam füllt sich ihr Körper mit Wasser und sie wird immer schwerer. Die seelenlose Puppe ohne Erinnerung, sie versinkt, versinkt in den Tiefen des Ozeans. Verschluckt von der Fülle des Lebens, genau wie die Melodie, die einst ihre Besitzerin verfasst hatte. Vergessen für immer.
[ Kleine Sophie weine nicht, bitte weine nicht]