Kapitel 15
Ich lag in einem großen Raum. Hunderte verschiedener Spiegel befanden sich an den hohen, rissigen Betonwänden. Eine stützenlose Treppe führte an ihnen entlang, vom niedrigsten bis zum höchsten Punkt und ein rostiges Metallgelände bot Sicherheit auf den kleinen Stufen. Ich stützte mich mit den Händen auf dem Boden ab und richtete mich auf. Mein Blick war unscharf und mir war schwindlig. Außer einer langen, roten Robe, wie ich sonst nur im Jenseits gekleidet war, trug ich nichts. Nach wenigem Blinzeln wurde die Umgebung deutlicher. Ein unerklärliches Gefühl der Leere überkam mich, ich war traurig und fühlte mich schuldig, wusste aber nicht wieso. Es war, als hätte ich ein Loch in der Brust, das sich zu füllen versuchte, aber nur Luft sog. Es roch in diesem Raum nach nichts; nicht einmal ich selbst schien einen Geruch zu besitzen. Ich wusste, dass ich meine dämonische Form besaß, also schloss ich die Augen um deutlicher Energien wahrzunehmen. Nichts. Der Versuch einen klaren Gedanken zu fassen scheiterte, ich war wie fremd gesteuert.
Etwas in mir beschloss, die Treppe hochzugehen. Meine Schritte waren schwer, als ich auf die erste Stufe zusteuerte. Ein großer Spiegel, oval mit einem goldenen Rahmen zierte dort die Wand. Ich trat näher um ihm genauer zu betrachten und erschrak: Er zeigte nur die Betonwand hinter mir. Ich versuchte, ihn zu berühren, aber wie von einem starken Magneten wurde meine Hand zurückgehalten. Obwohl ich es nicht wollte und vor hatte, die Situation weiter zu analysieren, bewegten sich meine Füße weiter und mein Geist verschluckte jeden Gedanken, bevor ich ihn wahrnehmen konnte.
Der nächste Spiegel war eher klein und schlicht, ein schwarzer Metallring umrahmte das Glas. Es war dasselbe, wie bei seinem Vorgänger: Ich konnte weder mich sehen noch ihn berühren.
Langsam folgte ich dem Verlauf der Treppe. Keiner der Spiegel zeigte ein Abbild von mir, aber ich hatte das Gefühl, ich sollte bis ganz nach oben gehen. Eine merkwürdige Kälte erfüllte mich, je höher ich kam und mein Tunnelblick wurde stärker und stärker.
Concalefacio, flüsterte ich um mich aufzuwärmen, aber nichts geschah. Ich wollte stehen bleiben und nachdenken, aber gegen meinen Willen schlang ich meine Arme um mich und trat auf die höchste Stufe. Ein Wandspiegel mit braunem Holzrahmen war an die Wand gelehnt und ich wollte ihn berühren. Dieser Spiegel war anders, das fühlte ich.
Auf einmal erschienen Personen darin. Ich erschrak und stolperte einen Schritt zurück: Tony, Amy und Alexia sahen mich mit komplett weißen Augen aus dem Holrahmen heraus an, der Kopf leicht gesenkt, die Haare strähnig und dreckig. Ihre Haut war ausgeblichen und schien an manchen Stellen zu verfaulen, die Klamotten zerrissen. Getrocknetes Blut befand sich über ihren ganzen Körper verteilt. Es war ein grausames Bild. Ich wollte anfangen nachzudenken, wegzulaufen, aber sowohl mein Kopf als auch mein Körper streikte.
Langsam hoben die Figuren im Spiegel den Finger.
„Du“, sagten sie im Chor mit einer schauderlichen Stimme. Obwohl es ihre eigenen waren, klangen sie fremd und so unangenehm wie das Kratzen eines Nagels an einer Tafel. Mein Schuldgefühl wurde größer, ich konnte aber nicht sagen wieso. „Du hast uns getötet!“
Mein Körper erstarrte gänzlich. Was verschlug meinen Geist an diesen Ort?
Hinter mir spürte ich eine starke, energetische Präsenz; die einzige Quelle von Energie in dem gesamten Raum, konnte mich aber nicht umdrehen. Die Leichen von Amy, Alexia und Tony hoben die Mundwinkel, was ihr Gesicht in eine grässliche Fratze verzog.
„Lafayette, mein Schöner“, erklang eine helle, aber gleichzeitig Unheil verkündende Stimme. Ich fühlte eine Hand meine Schulter entlang gleiten und schauderte.
„Lilith“, stellte ich fest, und war erstaunt, wie sicher und ruhig meine Stimme klang, während ich innerlich zu explodieren schien. „Wo bin ich hier?“
Die wunderschöne Dämonin begab sich vor mich und verdeckte die Sicht auf den Spiegel. Ein Teil von mir war erleichtert darüber, das grausige Bild darin nicht mehr sehen zu müssen.
Liliths Augen leuchteten in einem stechenden rot mit schwarzen Ziegenpupillen darin, umrandet von langen Wimpern. Ihre alabasterfarbene Haut und ihre roten Lippen schufen ein Gesicht, an dessen Schönheit keine diesseitige Frau herankam. Eine goldene Robe hing um ihre Schultern und bildete einen starken Kontrast zu ihren hüftlangen, schwarzen Haaren. Sie trug, wie ich, keine Schuhe, sodass man ihre kleinen, aber gepflegten Füße sehen konnte. Ihre Fingernägel waren spitz und lang und ähnelten so eher Krallen, was aber auch ihre Absicht war.
„Sag du es mir“, flüsterte sie warm und verführerisch, während sie mit ihrem Finger mein Gesicht nachzeichnete.
„Ich hätte nicht gefragt, wenn ich auch nur die geringste Ahnung hätte“, erklärte ich mit einem gleichgültigen Klang in der Stimme.
Auf einmal veränderten sich ihre Mimik sowie ihre Körperhaltung: Das Schwarz ihrer Ziegenpupillen breitete sich über die gesamte Augenhöhle aus und verschlang das vorherige Rot. Sie zog raubkatzenartig die Lippen hoch und zeigte so überdurchschnittlich lange Eckzähne. Ihre Hand, die mittlerweile an meinem Hals angekommen war, griff fest meinen Nacken und ihr anderer Arm spannte sich langsam an.
„Verräter!“, fauchte sie schließlich in einer für Menschen nicht hörbaren Frequenz. Ich wusste nicht wie mir geschah, alles war wie durcheinander gewirbelt. Ihre Hand schoss nach vorne und durchbohrte meinen Bauch. Ich wollte den Angriff abwehren, irgendeinen Zauber wirken, aber mein Körper streikte. Es war, als wäre ich ferngesteuert, sowohl in Handlungen als auch in Gedanken.
Ein schrecklicher Schmerz durchfuhr mich und ich konnte fühlen, wie das Leben aus mir wich. Es war wie ein Strudel, der einen in die Tiefe sog und meine Gedanken rasten in meinem Kopf an meinem inneren Auge vorbei, so schnell, dass es nur noch ein Flackern war. Die Umgebung verdunkelte sich, mein Inneres schien zu kollabieren. Lilith pumpte ihre Energie in mich, was mich töten würde. Ein brennender Schmerz fraß sich durch mein Fleisch, bis in jede Ader und jede Zelle. Ich konnte riechen, wie meine Haut von innen verbrannte, ich keuchte und spuckte Blut, doch die Dämonin legte nur ihren Kopf schief und starrte mich weiter mit rabenschwarzen Augen an. „Verräter an deiner Rasse!“, schrie sie fast hysterisch und ich fühlte, wie sie mehr Energie kanalisierte und in mich leitete. Meine Chakrapunkte verschoben sich von der Macht, die durch mich floss. Lilith war mächtiger als ich, was dafür sorgte, dass sie mich mit ihrer Energie grillen konnte. Es war, als wäre ich die Glühbirne in einem Stromkreis, denn man an den Hochspannungsgenerator angeschlossen hatte. Mein Geist wich langsam aus mir und von einem Moment sah ich das Geschehnis aus einer anderen Perspektive. Ich stand hinter Lilith und beobachtete das grausame Bild meines in Flammen aufgehenden Körpers. Verwirrt und in Panik wollte ich irgendetwas tun, wegrennen. Mein Geist schien sich bewegen zu können und ich wollte einfach weg von hier, doch etwas hielt mich fest. Eine modrige Hand lag auf meiner Schulter. Erschrocken drehte ich mich um und blickte in die toten Gesichter meiner diesseitigen Freunde. Ich war nun Teil des Spiegelbildes.
Schweißgebadet schreckte ich hoch. Tony stand besorgt neben mir, die Sonne fiel schon durch das Fenster. Es war morgens.
„Alles ok?“, wollte er wissen, die Stirn gerunzelt und ein schwarzes Handtuch über seinem Rücken hängend. Seine Haare standen nass in alle Richtungen ab und er trug schon sein Sportoutfit für den Unterricht heute. „Du hattest einen Albtraum, oder? Du hast geschrieen.“
Ich richtete meinen Oberkörper auf und stützte meinen Kopf auf meinem Arm ab. Was hatte dieser Traum zu bedeuten? Er war zu real, um nur Zufall zu sein. Ob Lilith damit zu tun gehabt hatte? Wenn sie mir vor Neumond etwas hätte mitteilen wollen, würde sie das über meine Träume tun, da war ich mir sicher. Die Botschaft wäre eindeutig, wenn der Traum von ihr verursacht worden war. Das würde heißen, sie hatte in meinem Unterbewusstsein nach Alexia, Tony und Amy gegraben. Sie konnte das, ihre Macht war beinahe unbegrenzt.
Dabei fiel mir der Geist ein, der vor zwei Tagen versucht hatte, meinen Körper zu übernehmen und das merkwürdige Gefühl der Fremdsteuerung in meinem Traum. Spielten diese beiden Dinge vielleicht zusammen? Und wenn ja, wieso wurde versucht, Alexia als Medium zu nutzen? Ich konnte nur hoffen, dass ich mich in allen Punkten irrte.
„Ja, hatte ich. Und mir geht es gut, danke“, antwortete ich dem Elfen etwas härter als gewollt. Ich wollte nicht darüber reden, also wechselte ich das Thema. „Heute ist… Mittwoch, richtig?“
Tony nickte. „Ja, Kampfsporttraining steht an. Zieh dich um, in dreißig Minuten geht’s los.“
Mit einem Klopfen auf meine Schulter begab er sich Richtung der kleinen Wendeltreppe in unser Wohnzimmer. Ich trat meine Bettdecke beiseite und schlüpfte ins Bad. Sorgfältig kontrollierte ich, ob ich im Spiegel auch nur das sah, was wirklich da war – einschließlich mir. Wenn heute Mittwoch war, bedeutete das, dass in einer Woche Neumond wäre. Vor wenigen Tagen hätte ich mich noch gefreut, mit Lilith zu sprechen, aber spätestens nach heute Nacht hatte ich Angst davor. Was würde ich tun, wenn sie verlangte, einen meiner neu gewonnenen Freunde zu töten?
Geistesabwesend griff ich zur Zahnbürste und drückte einen Klumpen aus der Zahnpastatube heraus. „Kampfsporttraining“, flüsterte ich leise und ließ mir das Wort auf der Zunge zergehen. Die Diesseitsbewohner verstanden darunter, bestimmte Techniken zu erlernen und diese zur Verteidigung zu benutzen. Bei uns Dämonen gab es so etwas nicht. Wir vertrauten unseren Instinkten im Kampf und taten automatisch das Richtige. Alles, was wir trainieren mussten, war unsere Geschwindigkeit und unsere Fähigkeit, Energie zu kanalisieren. Nach meinem Sturz als Engel hatte ich dieses neu erlernen müssen, wieso wusste ich nicht. Lilith wusste es, aber sie durfte nicht darüber reden. Sie war eine grausame Feindin, aber als Verbündete gleichzeitig Beschützerin, Lehrerin und gute Freundin.
Als Jungdämon – so nannte Lilith uns Gefallene, da wir nach ihr ins Jenseits kamen – war sie sozusagen mein Mentor gewesen. Ich erinnerte mich an ihre ersten Lektionen noch, als wäre es gestern gewesen. Sie hatte uns beigebracht, schwarze Zauber zu mischen. Das wäre für den Anfang das Leichteste, meinte sie. Ich war natürlich nicht der einzige Dämon in ihrer Obhut, wir waren insgesamt acht ehemalige Seraphim und so wurden wir auch zu acht gelehrt. Existent waren noch fünf davon. Wir waren eine Elite, die einzigen, die von Lilith ausgebildet worden waren. Sie war uns wichtig, fast wie unsere Mutter, man könnte fast sagen, wir liebten sie. Wir hatten wie in einer kleinen Familie gelebt, inniger, als es unter Engeln üblich war, mussten aber gleichzeitig schwören, mit niemandem über diese Zeit zu reden. Es war ein weit verbreiteter Irrglaube, dass Dämonen keine Emotionen empfanden – wir empfanden sie nur nicht im Bezug auf Diesseitsbewohner. Nun ja – eigentlich.
Ich zwang mich dazu, damit aufzuhören, über meine Vergangenheit nachzudenken. Obwohl es anfangs eine schöne Zeit als Dämon war, hatte mein Leben auch seine dunklen Kapitel. Und diese wieder überzuanalysieren würde mich trübsinnig stimmen. Das konnte ich nicht gebrauchen, ich hatte schon in der Gegenwart genug Probleme.
Ich überlegte, ob ich noch duschen sollte, beschloss dann aber, dass das nach dem Training eh notwendig sein dürfte. Unwillkürlich rieb ich mich an den Schläfen. Die Gefühle des Traumes klangen noch nach und sorgten immer noch für Verwirrung. Ich brauchte ein wenig Ablenkung.
Für die kommenden Stunden hatte ich mir eine stabile, schwarze Jogginghose und ein weißes T-Shirt ausgesucht, was ich für das richtige Outfit hielt. Ein Teil von mir freute sich darauf, jedoch war mir bewusst, dass unser Lehrer meine ausgebildeten Fähigkeiten bemerken würde. Es gab auch keinen echten Grund, diese zu verstecken: Ich war eben ein besonders talentierter Schüler von vielen, keiner würde davon auf eine jenseitige Herkunft schließen.
Tony tippte ungeduldig mit den Fingern auf die Sessellehne und schob sich ein Butterhörnchen in den Mund, das er offenbar aus dem Speisesaal geholt hatte. Es war keine Pflicht, dort zum Essen zu erscheinen, es war nur eine Alternative dazu, die Zeit im eigenen Zimmer zu verbringen. Da ich für das Frühstück zu spät aufgewacht war, war ich ganz dankbar, dass der Elf sich darum gekümmert hatte und ich vor dem Sport noch etwas zu mir nehmen konnte.
„Das Amulett willst du aber nicht anbehalten, oder?“, fragte Tony mit hochgezogener Augenbraue, während ich mir eines der Hörnchen schnappte.
Er hatte Recht – ich würde es wohl abnehmen müssen. „Oh, nein“, antwortete ich ihm schließlich und beeilte mich, mein Frühstück aufzuessen um den Anhänger in meine Hosentasche zu verfrachten. Dort war er noch in meiner ersten Auraschicht, das würde auf jeden Fall genügen, um die Wirkung aufrecht zu erhalten.
„Hast du Amy und Alexia getroffen?“, fragte ich ihn und fummelte an dem goldenen Schraubverschluss der Kette, an der mein Bernstein hing, herum. Er verzog schmerzlich das Gesicht.
„Alexia nicht. Dafür war Amy mit Leander unterwegs. Sie meinte jedenfalls, dass Alexia heute nicht beim Unterricht erscheinen würde – Lilian hatte sie erzählt, dass sie sich noch von dem Geisterangriff erholen wollte und Janina möchte heute mit ihr ein Reinigungsritual durchführen. Mit Weihrauch und so.“
„Lilian ist eine der Kampfsportlehrerinnen?“, fragte ich und ließ mir meine Enttäuschung darüber, Alexia während des Unterrichts nicht zu sehen, nicht anmerken. Ich zweifelte daran, dass der Exorzismus von Janina etwas nützen würde; schließlich kannte ich den wahren Grund für die Abwesenheit der Elfin. Glaubte ich.
Tony nickte. „Ja. ‚Sifu Lilian’ aber, wenn du sie ansprichst, nicht Meister. Das mag sie nicht besonders.“
„Interessant“, murmelte ich, nur noch halb zuhörend und riss an dem Reisverschluss meiner Jogginghose herum. Das Ding wollte nicht aufgehen, also versuchte ich es mit der linken Tasche, die sich leichter öffnen ließ. Als der Anhänger sicher verstaut war, zupfte ich an meinem T-Shirt herum und strich noch einmal durch meine Haare. Tony hatte grinsend die Augenbrauen gehoben.
„Lafayette versus Jogginghose, Runde eins“, scherzte er.
„Jaja“, entgegnete ich und rollte die Augen. „Können wir los gehen?“
„Jederzeit“, antwortete der Elf, in seiner rechten Hand noch ein letztes Butterhörnchen, und sprang auf.
Wir trainierten nicht im Innenhof, sondern auf der Grünfläche vor dem Wald, auf der sich Alexia gestern selbst verzaubert hatte. Ich verdrängte die Erinnerung daran noch bevor ein Gefühl aufkommen konnte, um zu verhindern, dass mich irgendjemand auf ein unglückliches Gesicht ansprach. Weswegen wir hier und nicht im Schulhof unterrichtet wurden, wurde uns nicht gesagt.
Es gab zwei verschiedene Lehrer, die eine, Sifu Lilian, für die Mädchen und der andere, Sifu Colin, für die Jungen. Ich wusste zwar, dass diese Geschlechtertrennung so ein Diesseitsding war, aber einen wirklich vernünftigen Grund fand ich nicht dafür. Schließlich waren die meisten Angriffe gegenüber Frauen sowieso von Männern ausgeführt, wieso also nicht miteinander trainieren. Im Jenseits gab es so einen Blödsinn nicht.
Sifu Lilian war etwa Mitte dreißig. Ihre Haare waren kurz geschnitten und ihre dunkelbraunen Augen hatten eine unglaubliche Ausstrahlung. Die kleine Nase und der stets freudige Ausdruck in ihrem Gesicht machten sie wirklich hübsch. Um ihre Hüfte wehte ein schwarzer Gurt mit vier goldenen Streifen daran, der einen deutlichen Kontrast zu dem weißen, ärmellosen Oberteil bildete unter dem man deutlich einen rosa Sport-BH erkennen konnte. Ihre schwarze Trainingshose lag eng an, ihr gesamtes Outfit betonte ihre Figur. Das einzige, was mich an ihr überraschte, war ihr Geruch. Sie roch nach Orangensaft, Toast und einem süßlichen Deo, dazu nur eine Note des personenspezifischen Geruchs, den jeder besaß und der wie ein Fingerabdruck einzigartig war - sie war ein Mensch und dazu noch einer, der keine Magie anwendete. Sehr interessant, aber wenn sie in ihrem Fach genug drauf hatte, würde es keinen Unterschied machen.
Sifu Colin war eine Hexe und etwa so alt wie Lilian. Er trug einen ausgeschnittenen Bart, der seinen Mund umrahmte und nach hinten gekämmte, etwas längere Haare. Seine Augen besaßen einen helleren Braunton als Lilians und sein hellblaues T-Shirt sah fast so aus, als wäre es in der Wäsche eingegangen, betonte aber dadurch seine ausgeprägte Arm-, Brust- und Bauchmuskulatur. Der Gürtel war identisch mit dem der Menschenfrau, aber anders gebunden. Seine Hose war mittelbraun und sehr weit geschnitten, sodass man eine große Beinfreiheit darin haben musste. Der Stoff ähnelte ein wenig dem einer Jeans und sein beißender Rotholzgeruch verriet mir, dass er viel zauberte.
Sie mussten ihren Sport schon längere Zeit praktizieren, da sie den vierten Meistergrad besaßen. Beibringen können würden sie mir wohl trotzdem nichts.
„Guten Morgen“, rief Colin der Jungsgruppe zu, in der nur manche wirklich zuhörten. Als es nach wenigen Momenten immer noch nicht still war, stieß er einen schrillen Pfiff aus. Die Murmeleien verstummten. „Also noch mal… Guten Morgen!“
Jeder murmelte für sich ein ‚Guten Morgen’ als Antwort, was den Kampfsportmeister aber zufrieden stellte.
„Wie ich sehe, haben wir einen Neuen“, verkündete er erfreut und ging mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Die meisten Lehrer hier waren wirklich nett, fiel mir auf.
„Ich bin Colin“, stellte er sich mit einem festen Händedruck vor. Er war gut einen Kopf größer als ich und benutzte ein wirklich merkwürdig riechendes Aftershave.
„Lafayette Morgan“, antwortete ich ihm und erwiderte seinen Blick.
„Hast du schon Kampfsporterfahrung?“, wollte er wissen und ich spürte jeden einzelnen Blick meiner Mitschüler auf mir. Ist das echt so spannend?
Aus dem Augenwinkel erkannte ich Cedric, wie er verächtlich das Gesicht verzog.
„Könnte man sagen, ja“, gab ich wahrheitsgemäß zur Antwort. „Seit ich fünf Jahre alt bin.“
Das war nun natürlich eine Lüge, aber das brauchte er ja nicht zu wissen. Er nickte mir anerkennend zu. „Dann hoffe ich, wirst du dem auch gerecht. Aber lasst uns nun beginnen.“ Er richtete seine Worte wieder an die ganze Klasse. Es schien, als wären die neunte und die zehnte Jahrgangsstufe hier zusammengemischt, da ich einige, deutlich älter als meine Klassenkameraden aussehende, Gesichter entdeckt hatte. Auch Leander war anwesend und stand nur wenige Meter von Cedric entfernt ein wenig für sich allein, strahlte aber Sicherheit und Selbstbewusstsein aus. Seinen Schmuck hatte er abgelegt – oder wie ich in seiner Hosentasche verstaut. Wir waren alle Barfuß, da die Lehrer der Meinung waren, so hätten wir einen besseren Halt. Ich war damit sehr zufrieden.
Nach einigen Aufwärmübungen begannen wir mit dem Partnertraining. Ich fand mich mit Tony zusammen, der es sichtbar nicht erwarten konnte, mich mit Fragen zu bombardieren.
Colin wartete kurz, bis Lilian mit ihrer Aufwärmung fertig war, um dann mit ihr eine Übung vorzuführen. Es war eine einfache Abwehr für gerade Schläge zusammen mit einem Wurf, nicht besonders schwierig oder spektakulär.
„Du machst seit zehn Jahren Kampfsport“, fragte der Elf schließlich ungläubig, als die Lehrer uns anwiesen, die Übung selbst zu üben.
„Ja“, log ich schließlich und bemühte mich, so auszusehen, als wäre es mir unangenehm, ihm noch nichts davon erzählt zu haben. „Du greifst zuerst an, Tony.“
Er schlug mit dem rechten Arm langsam und kontrolliert Richtung meines Gesichts. Ich ließ den Schlag mit meinem linken Arm an mir vorbei, glitt auf seinem Rücken und ging mit einem Arm zu seinem Hals. Der andere drückte gegen seine Wirbelsäule auf Höhe des Bauchnabels und brachte ihn so aus dem Gleichgewicht. Schwungvoll fiel er zu Boden und rollte sich ab. Er murmelte etwas Unverständliches und wir schritten mit der Übung fort. Colin hatte sich neben uns gestellt und beobachtete meine Ausführung; seinem anerkennenden Gesichtsausdruck nach konnte er keine technischen Unfeinheiten sehen.
„Gut, wirklich gut“, lobte er schließlich und ging weiter zu zwei sehr unbeholfenen Jungen, die die Übung nicht auf die Reihe bekamen. Er war ehrlich und aufrichtig, das gefiel mir an ihm.
Tony wollte weiterreden, aber ich bat ihn, doch bitte nach dem Unterricht zu fragen, da es denkbar unpraktisch war, während den Übungen zu sprechen.
Nach einer guten Stunde Trainings in der Morgensonne verkündete Colin, dass wir nach einer kurzen Pause Sparring machen würden. Ich war mir sicher, er wollte sehen wie ich mich schlug. Cedric oder Leander wären zwei Gegner, die ich sehr begrüßen würde. Davor wollte ich einen Schluck trinken, auch wenn ich – im Gegensatz zu den meisten anderen – nur wenig geschwitzt hatte.
Hinter mir konnte ich sanfte Schritte hören. Eine schwere Hand legte sich auf meine Schulter und wies mich damit an, mich umzudrehen. Es war Colin.
„Ich hätte gerne, dass du den ersten Sparringskampf machst. Du bist wirklich gut und die anderen können noch etwas von dir lernen“, teilte er mir ernst mit.
Natürlich, was sonst. Ich mimte den Überraschten und lächelte freundlich. „Oh. Sehr gerne, Sifu.“