Die Hitze lag erstickend in jedem Atemzug, den Benga machte, selbst die Luft die er sich beiläufig mit dem Flyer für irgendein College zufächelte war wesentlich wärmer, als er es brauchen könnte und war in keiner Weise besser als der trockene Fahrtwind, der ohnehin durch die aufgekurbelten Fenster des Wagens drang und neben einer lächerlichen Kühlung auch den lieblichen Duft vom schmelzendem Teer der Straße in die Nasen der beiden Insassen zauberte.
Lauro steckte die Temperatur zwar deutlich gekonnter weg, aber die Wasserperlen auf seiner Stirn und die Tatsache, dass er seinen geliebten Poncho doch wirklich abgelegt hatte, zeigte Benga deutlich, dass auch sein Großvater nicht von diesem bizarren letzten Aufbäumen des sterbenden Sommers verschont blieb. Benga fuhr sich erschöpft durch die schweißgetränkten roten Haare. Auch er hatte einmal die gleiche Haarpracht wie sein Großvater gehabt – inklusive dem Nachteil der zusätzlichen Hitze – , doch er sah darin absolut keinen Zweck mehr, denn die Öffentlichkeit interessierte es mittlerweile nur herzlich wenig, ob und inwiefern sich Benga Reardon nach den alten Traditionen der Hanitaibo richtete.
Lauro stöhnte erschöpft, behielt aber den müden Blick starr auf der Fahrbahn als er sich mit einer Hand das Wasser vom Gesicht wischte. Von Winter bis Sommer langweilte Benga die Strecke jedes Mal aufs Neue. Nichts als trockenes Gras im Wind zeugte von Bewegung und der Wall aus ordentlich angelegten Pinien dahinter schluckte jede mögliche Sicht auf den Wald und seine Bewohner.
»Benga…«, startete Lauro mit rauer, aber auf seltsame Weise sympathischer Stimme das Gespräch.
Ignorieren, einfach ignorieren.
»Ich hab eine Nachricht bekommen. – von Professor Esche.«
Der mitleidige Unterton verriet ihn schon wieder, doch er wich dem Blick des Beifahrers gekonnt, aber noch immer zu auffällig aus. Benga sortierte sich ein weiteres Mal die verschwitzten Haare nach hinten und setzte eine fragende Mimik auf, als wüsste er nicht schon längst, worauf sein Großvater hinauswollte. Dieser räusperte sich, atmete tief ein, als wäre es eine gefährliche Aufgabe, den Versuch eines Gespräches mit seinem Enkel zu wagen.
»Sie hat mich sprechen wollen, weil sie diesen Monat wieder ein paar Züchtungen übrig hat und ich sie ihr vielleicht abnehmen könnte.«
Nur mit Mühe unterdrückte Benga ein Gähnen.
»Hättest du vielleicht Interesse an einem neuen Pokémon?«
Ein tiefes, genervtes Ausatmen des Teenagers gab im Grunde schon die Antwort, doch Lauro ließ nicht locker, wie denn auch? In dem Punkt mit der Hartnäckigkeit waren sie sich beide erschreckend ähnlich und eigentlich war das genau das, was Benga an seinem Opa so sehr hasste. Er war weiß Gott nicht wie er, aber ausgerechnet seine eigene nervtötendsten Eigenschaft musste er teilen.
»Du könntest es bis Thanksgiving mal testen, wenn es nichts für dich ist, dann kannst du es ja auch zurückgeben!«
Da Lauros Hände am Lenkrad klebten, unterstrich nur sein aufgeregtes Wippen mit dem Kopf die ermutigenden Worte, doch auch das ebbte nach und nach ab, als er sich endgültig sicher war, dass er Bengas Aufmerksamkeit verloren hatte.
Die Straßenschilder änderten ihre Beschaffenheit: mattes Eisen wurde zu dunklem Holz und immer weniger Meter trennten sie von Dausing. Wald wurde zu Ackerland und in eingezäuntem Gebiet quäkten einige Mähikel, die in der Hitze noch nicht in den schützenden Stall gebracht worden waren. Safrangelbe Sonnenblumen säumten die Straße und wiegten sich im Fahrtwind von Lauros klapperndem Wagen. Aus der trockenen Luft entnahm man den Duft von Mist, Benzin und der frischen Farbe an den Häusern und man hörte in der Ferne Traktoren über die Weizenfelder rollen. Auf dem einladenden Marktplatz fanden sich Vorschüler, die stolz ihren Freunden zeigten, dass sie sich schon ein Eis selbst kaufen konnten, einige Jugendliche tobten mit Freunden oder ihren Pokémon herum, während die ältere Generation auf den Bänken harrte und schweigend die glitzernden Wasserbögen betrachtete, die der Brunnen in die Höhe warf, die Köpfe nachdenklich auf ihren Gehhilfen gestützt.
Schon zu oft hatte er versucht, sich das Dausing seiner Kindheit vor Augen zu führen, einfach wieder dasselbe für dieses Kaff zu empfinden, was er früher empfunden hatte. Manchmal hatte er sich sogar selbst klarmachen gewollt, dass der Weiße Wald nichts anderes ist, dass er sich hier genau wie im Weißen Wald fühlen muss, denn in mancherlei Hinsicht waren sich beide sogar ähnlich. So teilten Dausing und der Weiße Wald etwa denselben Wahn, die Wegesränder mit qietschbunten Blumenzüchtungen zuzupflastern. Es hat ihm nur zu kurz geholfen, als dass er sich an das Gefühl erinnern könnte. Hier ist nicht Zuhause und das merkte er an den Dorfbewohnern, das merkte er an den Behausungen, das merkte er an seiner Familie. Ihre Beziehung hatte sich verändert seitdem Benga wieder von der schwarzen Stadt hierher umgezogen ist; früher war er stolz, wenn er nur den „legendären Lauro“ stolz machen konnte, doch jetzt schien alles vergeblich und Benga merkte, dass er ohne seine Pokémon nur ein weiterer Dorfjunge geworden war, ein Niemand, wie all die anderen Langweiler, denen es reichte, Tag für Tag über den Jahrhunderte alten Steinboden dieses Städtchens zu rennen um glücklich zu sein.
Die ordentlich gepflasterte Straße wich wieder dem sandigen Weg und das zerbeulte Auto kämpfte sich durch unzählige Schlaglöcher, während trockener Sandstaub um die quietschenden Reifen wirbelte. Die Maisfelder drängten sich unmittelbar an die Grenzen der Stadt und schienen zusammen größer zu sein als Dausing an sich. Ganz eindeutig mochte Benga die Gegenwart der schweigenden Maissträucher um einiges mehr als nervige Landeier, die tragischerweise auch noch in seinem Alter waren, aber nicht einmal hier würde Benga behaupten, sich wohlzufühlen. Jeder Busch, der in diesem Moment im Weißen Wald seine mickrigen Wurzeln schlug, schien in diesem Moment interessanter als das das grünende Geäst, das seine dünnen Blätter in einer kaum merklichen Brise hin und her schwankten. Pralle Maiskolben hingen dazwischen, die schon teils golden aus der faserigen Hülle sprangen und mahnend an die bevorstehende Ernte erinnerten. Die „Straße“ war höher als die Felder, die sie umgaben und somit konnte man aus dem hohlen Fenster über das Meer aus zähen Halmen blicken, das erst kurz vor dem Horizont wieder in unkultivierte Ödnis überging. Zwischen den Reihen erhob sich gelegentlich ein einfacher Holzstock auf dem eine grüne Puppe aufgespießt wurde. Es ist noch heute ein beliebter Gag, die Vogelscheuchen wie grinsende Noktuska aussehen zu lassen und vielleicht wirkte es ja tatsächlich noch schreckhafter auf die heimliche Vogelarmada, die sich hier wie jedes Jahr einige Extrakörnchen Futter erhoffte.
Als erstes ragten die zwei gigantischen grauen Getreidesilos aus dem Grün, bald erkannte man auch den Rest des Anwesens. Eine typische, ländliche Farm, groß, aber nicht eindrucksvoll, erhob sich vor dem Horizont und dem Grün darunter. Unzählige weinrote Holzscheunen in allen Größen kuschelten sich um das größte Haus, welches immerhin Wohngebiet der Reardons geworden war. So sehr Benga das ganze Kaff, sein ganzer Lebensraum missfiehl, dieses Haus mochte er, denn es sagte wenigstens etwas über ihn aus. Seine Eltern waren es zwar letztendlich, die es eigentlich zu etwas gebracht hatten, aber Benga konnte und wollte sich nicht vorstellen, wie es ist, in einer dieser holzigen Miethütten in der Ortsmitte zu wohnen, mit den stickenden Filzteppichen und rostenden Sanitäranlagen. Gerade wenn er daran dachte, dass er früher die obersten Etagen des größten Gebäudes Unovas »Zuhause« nannte, lief ihm auch bei diesen Temperaturen ein Schauer über den Rücken. Einen letzten Rest Würde hatte er noch, und zwar genau in diesem Landhaus.
Der Schotter knirschte unter den Reifen als diese zum halten kamen und die Tür schwang unmittelbar danach quietschend auf. Kein Pokémon, das ihn überschwänglich begrüßte.
Als Benga, die Augen rollend, hörte, wie Lauro es ihm nachtat, spielte sich in Bengas Kopf bereits jetzt ab, wie dessen Besuch wohl ein weiteres Mal ablaufen würde: Nur noch einmal wird Lauro mit seinen Eltern reden und sie davon überzeugen versuchen, dass ihr Sohn unbedingt ein neues Pokémon an seiner Seite braucht, genauso werden seine rückgratlosen Eltern nur einmal mehr mit breitem Lächeln betonen, dass es seine eigene Entscheidung sei.
Ironie. Früher musste ihn Lauro vor dem Zorn seiner Eltern schützen, jetzt waren ausgerechnet diese seine letzte Zuflucht vor Lauros Wahn.
Irgendwie stand Bengas Welt Kopf. Oder vielleicht stand auch nur er Kopf in dieser Welt. Jedes Kind würde überall mit Stolz verkünden, dass der große Lauro Seaga sein Großvater ist. Allein Benga wollte sich davor nur verstecken, hat sich die Haare kürzen lassen und sich wie jeder normale Junge unter den Rest gemischt, hat sich bei einer High School angemeldet, ist dem Basketballteam beigetreten und das Wichtigste: er hat seine Trainerlizenz abgegeben, weil er weiß, dass kein Pokémon jemals seinen alten Partner ersetzen kann.
Die Haustür war aus massivem, dunkelgrün lackiertem Holz und auf Augenhöhe schmückten kitschige Spitzenvorhänge zwei blitzblank geputzte Glasfensterchen. Benga rammte den Hausschlüssel lustlos in den eisern beschlagenen Spalt und drehte ihn gelangweilt zur Seite, während er mit seiner linken Hand sich die nunmehr letzten Reste von Schweiß von der Stirn wischte. Die Tür wurde mit seinem Fuß beiläufig aufgestoßen und sofort setzte er seinen Weg in das Haus fort.
Auch die Inneneinrichtung sprach für den schwerwiegenden Ordentlichkeitsfimmel seiner Mutter und nicht der kleinste Makel war auf der Fläche der Möbel auszumachen, im Gegensatz zu dem rekordverdächtigen Aufgebot an Dekorationsartikeln. Auf jeder freien Oberfläche waren Steine, Körbe, Blumen und gelegentlich auch einfach mal ein getrockneter Maiskolben akkurat angerichtet, sodass es zwar natürlich aussah, aber nicht so natürlich, dass man die Einrichtung für lieblos halten könnte. Benga beruhigte es ein wenig zu wissen, dass er ganz sicher nicht der Kranke in diesem Haus war.
Andere Kinder hätten vielleicht Bescheid gegeben, dass sie zuhause sind, aber Benga war ohnehin klar, dass das keinen Unterschied machen würde und so machte er sich gleich auf, die hölzerne Treppe in den ersten Stock zu steigen und Lauro mit todernster Miene im Eingangsbereich stehen zu lassen. Er musste den Weg kennen, immerhin war es sein Ruhm, der den ganzen Schnickschnack hier erst ermöglicht hatte und vermutlich wusste sein Großvater auch, wo sich seine Eltern wohl aufhalten würden.
Das Landhaus hatte fünf Stockwerke und jedes davon war nochmals mit einer Unmenge von Räumen ausgestattet. In der Regel fand man in jedem Geschoss zwei Badezimmer und drei Schlafzimmer, vorbehalten für die seltenen Gäste, denen Eintritt in das Haus gewährt wurde, und trotz der schrecklich großen Auswahl war es Benga leicht gefallen, sich für ein Zimmer zu entscheiden.
Ganz am Ende des rustikal gezimmerten Korridors öffnete Benga die Tür. Sie war genau wie alle anderen auch aus einem durchwachsenen Holz und der familienübliche Stolz auf die Herkunft war an den ganzen symbolischen Einritzungen im Stil der Hanitaibo spürbar.
Rotgoldenes Abendlicht empfing ihn überschwänglich, als Benga die Tür unvorsichtig zur Seite stieß und seinen Rucksack zielgenau neben den perfekt aufgeräumten Schreibtisch schleuderte. Auch wenn er den Ordnungswahn seiner Mutter geradezu lächerlich fand, war auch Benga selbst ein Mensch der organisierteren Sorte, zumindest was sein Zimmer anging. Der Raum wirkte durch seine Größe karg und leer, nur die feurigen Strahlen des Sonnenuntergangs, welche durch die Westfront aus einer gigantischen Glasscheibe drangen, erfüllten harmonisch den Raum, genau wie Benga es haben wollte. Unter lautem Protest bog sich das Bett, das etwas einsam in einer Ecke schien, als Benga sich auf die Matratze schmiss.
Irgendwann hatte Benga einmal gelernt, sich einzig und allein auf das Abendrot zu konzentrieren, sich von ihm bei jedem einzelnen Einbruch der Nacht von ihm verzaubern zu lassen, um jeden Sonnenstrahl gierig mit den Augen aufzusaugen. Benga brauchte nichts als aus dem riesigen Fenster zu blicken und war allem, was ihm das Gefühl von Zuhause gegeben hatte, ein Stück näher. So viele Erinnerungen hafteten an der purpurnen Sonne, die zur Hälfte bereits hinter den Maisfeldern eingetaucht war. Die Feuerbrunst seines Pokémon, wann immer Benga es ihm befahl, oder die verwinkelten Korridore des Schwarzen Hochhauses, die Tag auf Tag zu seinem alltäglichen Weg gehörten. Vielleicht fiel es ihm auch gerade deshalb so leicht, seine Haare nach Art der Hanitaibo weiterhin in diesem Ton zu färben. Lauro war es jedenfalls nicht, der ihn überzeugt hatte.
Eigentlich hätte es Benga klar sein müssen, aber trotzdem hatte er die Hoffnung gehabt, sein Großvater müsste nicht unbedingt hierbleiben, schon gar nicht einen ganzen Abend lang. Weder einem ehemaligen Champ, noch einem Häuptling schlug man eine Bitte aus und wenn es der eigene Vater war schon gar nicht – Lauro blieb zum Essen.
Seit mehreren Jahrhunderten schon bestand die Blutslinie der Häuptlinge aus den stolzesten Ureinwohnern von ganz Unova. So wie andere Kleinkinder „Rotkäppchen“ oder „Der Froxykönig“ erzählt bekommen, wenn ihr Schrank wieder verdächtigt wurde, ein blutdrünstiges Monster zu beherbergen, so waren es für Benga die Geschichten gewesen, die von entführten Häuptlingstöchtern oder den Manitu, die gelegentlich das Nordlicht erzeugen, handelten. Nicht zu selten hatten seine Eltern spät in der Nacht die Geschichte, wie der Mais vom Himmel auf die Erde kam, erzählt. Benga hat diese Geschichten allesamt liebgewonnen, aber wie es sich für einen durchschnittlichen Jungen Unovas gehörte, war es die Geschichte der zwei Brüder, die gemeinsam das Land gegründet haben, die ihm am meisten davon im Gedächtnis blieb. Auch wenn er mittlerweile stark bezweifelte, dass es wirklich der Wahrheit entsprach, besteht die Blutlinie der Häuptlinge aus den Nachkommen jener Brüder und schon von Anbeginn der Geschichten der Hanitaibo, welche von Generation zu Generation weitererzählt wurden, waren es die Häuptlinge, die stolz hervortraten als die Tapfersten des gesamten Stammes dargestellt wurden.
Irgendetwas war inzwischen mächtig schief gelaufen und Stolz war auch nicht mehr das, was es früher bedeutet hatte – selbst für die ältesten Einwohner des Landes nicht mehr. Seine Mutter hätte er ohne groß nachzudenken durchaus als stolz bezeichnet. Sie repräsentierte das Volk, dem sie angehörte, so oft und so gut sie konnte und in ihren dunklen Augen lag dieses Etwas von den Frauen, die sich nicht in eine Schublade stecken lassen, sondern sich beweisen wollen. Sie schmiss nicht umsonst beinahe den gesamten Vertrieb der gelben Körner, hielt die geschäftlichen Kontakte aufrecht, die sich eröffnen wenn der Vater der ehemalige Champ von Unova ist, und auch sonst war es eindeutig sie, die im Hause Reardon das Sagen hatte. Wenn nicht gerade der strahlende Patriarch in ihren vier Wänden residierte.
Und ehrlich gesagt wunderte Benga nicht, dass auch sein eigener Vater diesem Puppenspiel der Extraklasse beiwohnte. Er war schon immer einer dieser harmonieversessenen Sympathiemagneten gewesen und hätte jeden Gast, der zum Essen blieb, mit dieser überschwänglichen Freude versorgt und Gespräche geführt. Es wirkte so, als wären Lauro und sein Schwiegersohn gute Freunde, auch wenn diese beiden schon rein optisch wohl am wenigsten zueinander gepasst hätten. Er wirkte im Vergleich zu Bengas Großvater schmächtig und unbedeutend, seine Haare, deren blonder Farbton, den er zu Lauros Missfallen an Benga vererbt hatte, trägt er knapp rasiert, während Lauro seine riesige Haarpracht immer wieder mit einer schnellen Handbewegung hinter den Stuhl schlagen musste. Auch sonst war es weitaus auffälliger, im mit Naturfarben verzierten Poncho herumzurennen, als mit dem grauen Hemd, welches sein Vater trug. Wahrscheinlich war das aber das Wirken seiner Ehefrau, von alleine hätte er sich nicht ein Hemd angezogen, für ihn war es ja auch nur ein kurzer Besuch des Schwiegervaters, kein »traditionelles Familienritual«. Nach all den Jahren hatte Bengas naiver Vater noch immer nicht verstanden, was es bedeutete, in Lauro Seagas Familie einzuheiraten.
Benga hatte sich bereits umgezogen und geduscht, die Haare neu gerichtet. Er trug ein ihm viel zu großes graues T-Shirt und dazu, wie schon den ganzen Sommer, Shorts, in deren Seitentaschen er seine Hände gelangweilt vergrub, selbst als er sich auf einen der hochmodernen Designerstühle neben seinem Großvater hinabsinken ließ, blieben seine Handgelenke ungerührt. Die Erwachsenen hatten sich bereits um drei dampfende Töpfe herum hingesetzt und aßen gemächlich, wechselten dazwischen immer wieder ein paar Worte über Dausing und die angeblich riesigen Schritte, die es auf den Titel als Weltkulturerbe zumachte. Auch ohne einen Blick in die bauchigen Tongefäße hineinzuwerfen, war Benga sich sicher, dass seine Mutter an diesem Tag erneut einen Maiseintopf zubereitet hatte, denn die ihm durchaus vertraute Verbindung aus süßem Mais und den herben Gewürzen war das erste Aroma, das ihm beim Runtersteigen der Treppe aufgefallen war. Benga griff nach der Schöpfkelle, und schaufelte sich einige Löffel voll auf seinen Teller. Obwohl seine Familie gerade noch so unorthodox war, dass sie nicht auf noch auf einfachen Lehmtellern aßen, konnte man nicht erwarten, dass gleich ihre gesamte Esskultur modern und angepasst war. Im Grunde war es nirgends besser zu beobachten als hier im Esszimmer. An den zartgelb gestrichenen Wänden hingen bunte Wandteppiche, nicht die Sorte, wie man sie in mittelalterlichen Burgen begutachtet, sondern bunte Webarbeiten mit einem kollektiven, sauber gezogenen Zackenmuster, dazwischen immer wieder einige winzige Bilderrahmen, die sich jeweils um die grimmig dreinschauenden Porträtaufnahmen einstiger Häuptlings schlossen.
»Ach, übrigens…«, begann Lauro, legte aber noch eine rhetorische Pause ein, in der er eilig das Gemüse in seinem Mund herunterschluckte.
Am unverkennbaren Klang seiner Stimme erkannte Benga gleich, dass zur Ausnahme auch er angesprochen war. Er schielte vorsichtig zu dem alten Mann hinüber, während er weiter auf dem zähen Gemüse kaute. Die eigentliche Erntezeit stand eben noch bevor.
»Ich wollte morgen Nacht nach Marea fliegen.«, verkündete Lauro laut, deutlich und stolz wie ein röhrendes Kronjuwild.
Die nervösen Blicke von Frau und Herr Reardon schweiften unsicher von einem Augenpaar zum nächsten. Beiden war durchaus klar, dass er sie nicht ohne einen Hintergedanken auf so eine Nebensächlichkeit angesprochen hätte. Als „Champ der Herzen“ war es schon ungewöhnlich, dass er Dausing noch seine Heimat nannte, denn die meiste Zeit war er irgendwo auf Unovas Routen wandern, Passanten Autogramme geben und kleinen Kindern Mut zusprechen, dass aus ihnen auch ohne Talent und Stärke etwas Großes werden könne. Seine Eltern hatten anderweitig ihre Sorgen, und davon nicht zu knapp. Die große Ernte war bald überfällig und sowohl im Landwirtschaftlichen, wofür Bengas Vater zuständig war, als auch im Finanziellen, die Stammarbeit seiner Mutter, herrschte wie jedes Jahr der größte Druck des ganzen Jahres. Der Mais musste gelagert, transportiert, kontrolliert und an die Richtigen verkauft werden. Benga hätte zu gerne behaupten können, seine Eltern hätten es besser als Lauro, aber das wäre eine Lüge. Lauro verdiente das Fünffache allein durch seine Funktion als Symbol, das sich gerne mal zum Dreh eines Werbespots überreden lässt.
Sein Vater weckte den Jungen aus seinen privaten Ärgernissen mit seiner tiefen Stimme, die sich so gar nicht in sein schüchternes Erscheinungsbild fügen wollte:
»Lauro, wir stehen kurz vor einer großartigen Ernte und können uns keine Verzögerung mit den Feldern erlauben. Wenn wir jetzt…«
Lauro hob die breite Handfläche – mit fataler Wirkung.
Der Satz seines Vaters nahm ein jähes Ende und der fehlende Rest war nur noch als ein notgedrungenes Schlucken zu hören. Wie ein geschlagener Hund, der um Vergebung bittet, senkte der Schwiegersohn seinen Kopf und ein Zucken war kurzzeitig durch sein Karohemd zu sehen. Das Grinsen auf den geschminkten Lippen von Bengas Mutter wurde noch gekünstelter und ihr High Heel entfernte sich wieder vom Schienbein ihres Mannes. Lauro schien es weder zu genießen noch sonst irgendwie zu bemerken. Er kämmte sich mit seinen Fingern die rotgelben Haare nach hinten und fuhr dann unverändert fort, als hätte er nur eine weitere willkürliche Künstlerpause zischen den Sätzen gelassen.
»Eigentlich dachte ich daran, dass Benga mich begleiten könnte.« Er richtete den Blick auf seinen Enkel, der gefasst weiterhin sein Abendessen hinunterschlang als hätte er es nicht gehört.
»War schon lange nicht mehr aus Dausing raus, der Junge.«
Aus seinen ohnehin schon blassen Fingern wich noch der letzte Rest Blut, als Benga seine Hand zornig enger um die Gabel drückte. Er presste seine Zahnreihen aus Wut aufeinander.
»Außerdem«, ergänzte das Oberhaupt, »könnt ihr euch dann eher auf die Ernte konzentrieren.«
Lächelnd wand sich Lauro wieder seiner Schüssel zu und stocherte in ihr vorsichtig herum. Das Ehepaar Reardon wirkte anfangs noch etwas überrumpelt, aber es bestand von Anfang an nicht der Hauch einer Chance, dass aus ihrem Mund ein »Nein« fallen würde.
»Wie lang?«, gab Benga mit gelangweilter Miene von sich, sich nach und nach fügend.
Er lies die Gabel geräuschvoll auf den noch halb gefüllte Porzellanteller fallen und verschränkte seine Arme mit eindeutiger Botschaft vor seiner Brust, doch Lauro schien das weniger zu stören als seine Eltern, die ihn mit völlig entgleisten Gesichtzügen anblickten, als hätte er gerade ein schwerwiegendes Verbrechen begangen.
Benga folgerte recht schnell aus ihrem Ausdruck, dass sein Großvater ihnen ihre stille Auseinandersetzung auf dem Heimweg vorenthalten hat und sie nicht den Grund kannten, warum Benga an diesem Abend ganz besonders angenervt von seinem Opa war.
»Lang genug um einer Woche Schule zu entfliehen.«, beantwortete Lauro schmunzelnd seine Frage und nippte an dem teuren Rotwein, der ihm gleich neben dem Teller angerichtet worden war.
Früher hatte kein Mensch Benga besser gekannt als Lauro. Gerade als er, dem Wunsch seines Opas folgend, mit dem Trainieren seines Pokémon angefangen hatte, hatte es in den Augen des jungen Knaben niemanden gegeben, der ihn besser verstand. Genauso wie er es schon immer für tausende Kinder weltweit war, war Lauro auch für Benga ein Vorbild und sein großes Idol gewesen. Er hatte genauso stark werden gewollt wie er, hatte all das können gewollt, was sein Großvater so meisterhaft beherrschte und nicht zuletzt war es sein Traum gewesen, dass Unova ihm eines Tages so zu Füßen liegen würde, wie es beim Anblick vom legendären Lauro Seaga der Fall war. Letzten Endes hatte ihn diese eine Dummheit sein einziges Pokémon und seinen Stolz gekostet.
Die Tatsache war: Benga hasste die Schule wirklich. Es war nicht der Hass, den jeder Teenager gegenüber der Schule an den Tag legt, nein. Für Benga war die High School die tägliche Erinnerung daran, dass er seine besten Zeiten schon im Alter von Fünfzehn hinter sich hatte und er nichts weiter als ein weiterer normaler Schüler war, der sich durch Fächer wie Chemie oder Kunst schlagen muss, nur um später eine Chance auf Jobs wie „Buchhalter“, oder „Versicherungsbeauftragter“ zu bekommen. Nicht einmal ernsthafte Freunde waren ihm vergönnt, nur wenige erkannten ihn oder erinnerten sich an seine Tätigkeit im Schwarzen Hochhaus, aber selbst dann war er in ihren Augen nur „Lauros Enkel“, nicht ehemaliger Cheftrainer. Auf der High School in Eventura City hatte er sowieso keine Möglichkeit, kampfinteressierte Pokémontrainer kennenzulernen, denn nur ein paar Straßen weiter hatte die „Eventura School Of Pokémon“ ihre Pforten für alle angehenden Ass-Trainer und Pokémon-Professoren geöffnet, aber es gehörte sowieso schon unlängst der Vergangenheit an, dass sich Benga selbst einen Trainer nennen darf, von einem Profi ganz zu schweigen.
Während der Jüngste in der Runde mit angespannten Gesichtszügen in Gedanken gewesen war, hatte sich keiner der drei Augenpaare von ihm abgewandt und in jedem einzelnen lag noch dieselbe Neugier auf seine kommende Entscheidung. Lauro mit seinem ruhigen, aber erwartungsvollem Blick, wusste, dass er Benga damit im Netz hatte und ihn doch tatsächlich zu einer gemeinsamen Zeit mit seinem Großvater überreden konnte. Seine Eltern zeigten sich nicht minder interessiert an Bengas Antwort und ihr Sohn konnte problemlos von ihnen ablesen, dass es ihnen nicht im Geringsten etwas ausmachen würde, wenn er die paar Tage Schule versäumen würde. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren sie sogar überglücklich dass Benga nach so langer Zeit wieder etwas mit Lauro unternahm und noch dazu könnten sie vielleicht ohne ihn im Haus konzentrierter arbeiten, obwohl Benga in Wirklichkeit sehr pflegeleicht war.
Mit einem leisen Stöhnen kündigte Benga an, dass ihm seine getroffene Wahl selbst nicht sonderlich gefiel, doch er ließ seine Familie nicht länger warten.
»Okay«, willigte Benga fast tonlos ein, vermied es aber, noch weiter Worte zu verlieren. Ganz besonders in Lauros Nähe war ihm nicht recht zum Plaudern zumute.
Seine Eltern entspannten ihre Körperhaltung wieder und voller sichtbarer Erleichterung wandten sie sich wieder der Mahlzeit zu. Lauro ließ sich zufrieden in seinen Stuhl sinken und augenscheinlich war es ihm egal, dass er seinen Enkelsohn soeben zum Familienglück gezwungen hatte.
Benga hatte sich entschlossen, sein Gepäck schon jetzt zu packen. Nicht nur, weil er der lustigen Familienfeier im unteren Stock nicht noch länger beiwohnen konnte, sondern weil er sich schon jetzt ein wenig in das wunderbare Gefühl einer Auszeit flüchten wollte. Die letzten Monate hatten ihm schwer zugesetzt, hatten ihm klargemacht, was er ohne seinen Großvater war, oder ohne sein Pokémon. Er hatte es ja selbst so gewollt – zu dem Zeitpunkt war Bengas Welt auseinandergebrochen und er war sich sicher gewesen, dass er ohne seinen einstigen Partner nie wieder in den Kampf treten wolle, denn es war allein ihm bestimmt, Seite an Seite mit Benga Reardon zu kämpfen. Wie naiv es damals gewesen war, sein ganzes Leben einem einzigen Pokémon zu verschreiben.
Schon mehr als genug Tränen hat Benga daran vergossen, als dass er über den Verlust noch immer weinen könnte. Ohne weiter in der Vergangenheit zu schwelgen, kramte der Junge einen unter unzähligen aufgehängten Hemden und Anzügen begrabenen Rucksack aus einer Ecke hervor und schleifte ihn aus seinem Kleiderschrank. Er warf die riesige Tasche auf sein Bett, dessen Matratze sofort stöhnend einsank und einen tiefen Krater um den Beutel herum formte. Etwas erschrocken von dem Gedanken, dass er diese Last plus das anfallende Gepäck wieder auf seinen Schultern tragen musste, blickte er noch eine Weile seinen alten Reiserucksack kritisch an, als warte er darauf, dass ihn der schwarze Beutel in die Zeit zurückbringen würde, aus der das verdammte Ding gekommen war.
Benga setzte sich etwas benommen von seiner Gefühlslage daneben, bedacht und langsam. Er ließ seinen Kopf in seine Hände fallen, massierte seine verkrampften Augenwinkel und atmete tief durch. Es war kaum möglich, das Alte zu verdrängen, wenn es das einzige ist, das einen gerade noch so bei Laune hält. Er war unschuldig in die Hölle gewandert und hatte niemanden, der dafür bezahlen könnte.
Benga hatte heute noch nichts gehört, das ihn wirklich interessierte. Die Schule war eintönig und etwas, das ihm wohl niemals gefallen könnte, nach allem, was er bereits ohne sie erreicht hatte. Lauro hatte ihm ein Übel gegen das andere angeboten, mit dem Ergebnis, dass er jetzt ausgerechnet mit seinem Großvater einen Miniurlaub genießen durfte. In der Hoffnung, endlich mal etwas für ihn Relevantes zu hören, pflückte er seine Fernbedienung von Nachttisch, erweckte den Flachbildfernseher an der Wand zum Leben und ging die verschiedenen Kanäle durch..
»Gewinnen sie Live-Karten für das Finale des Überregionalen Arenaleitertuniers – das Event für alle Fans des PWT! Beantworten sie uns nur…«
Uninteressant.
»Madame Morbitesse wird für sie aus den Sternen lesen! Rufen sie jetzt für nur…«
Lachhaft.
»…Wissenschaftler warnten, dass die Hitze dieses Sommers negative Folgen für die Gletscher in den Wendelbergen mit sich ziehen könnte und tatsächlich fanden Glaziologen auf einer Expedition nun weitere Indizien für das Schmelzen der Eisschneisen, welche zur Folge hätten, dass die Tiefländer um Nevaio zukünftig einem neuen Rekordanstieg des Wasserspiegels ausgesetzt wären. Außerdem kündigten Vertreter der Tourismusbranche bereits heute Vormittag an, dass die diesjährige Wintersportsaison wohl nicht ganz so uneingeschränkt verlaufen wird, wie die der letzten Jahre.«
Benga warf noch einen flüchtigen Blick auf das abgespielte Amateurvideo von brechenden Gletscherkanten sowie den kreischenden Augenzeugen und wand sich dann wieder der gewaltigen Tasche zu. Nacheinander zog er ein paar abgelaufene Top-Genesungen, die in ihren futuristischen Döschen traurig schimmelten, eine unsauber zusammengefaltete Karte Unovas und einige winzige Discs aus dem pechschwarzen Beutel, sogar seinen ungültigen Trainerpass fand er darin wieder. Angewidert fiel sein Blick auf das Passbild und den kleinen Jungen darin, ein mickriges Kerlchen mit riesiger, feuerroter Mähne und ebenjenem überragenden Rucksack auf dem Rücken, der in diesem Augenblick die Hälfte seines Bettes für sich beanspruchte. Benga stieß ein gekünsteltes, kehliges Lachen aus und mit einer Bewegung sauste das Stück Plastik quer durch das Zimmer, bis es rotierend im Papierkorb neben seinem Schreibtisch landete.
»Vergangene Nacht ist das ehemalige führende Mitglied des Team Plasma, Ric Wrightson an den Folgen eines Herzinfarkts im Alter von 73 Jahren verstorben. Wrightson, der während dem Putsch das Synonym »Aquilus« trug, lebte nach seiner Freiheitsstrafe im Gegensatz zu den anderen Weisen im Stillen und recht ungestört von Anfeindungen seitens der Bevölkerung.«
Der Rucksack füllte sich nach und nach erneut; bald musste Benga all seine Kräfte aufbringen um das, was er noch für den Urlaub zu brauchen glaubte, zusammen in die Tasche zu zwängen.
Er wusste nicht viel über Team Plasma, hatte aber genug von ihrem Tun erlebt und gespürt, um ihnen niemals auch nur das Geringste davon verzeihen zu können, was die Ritter getan hatten. Benga war zwölf gewesen, als Team Plasma sich der Welt zum ersten Mal offenbart hatte und daraufhin die ganze Liga in Unova zu Fall bringen wollte. Natürlich hatte er damals davon gehört, doch zu der Zeit wusste er noch nicht, was Team Plasma für einen fühlenden Trainer bedeutet. Traurig, dass der alte Mann seinen Lebensabend damit verschwenden musste.
»Vor wenigen Minuten überraschte die Ankunft der Spectra, allgemein bekannt als die »Plasma-Fregatte«, in Marea City die gesamte, versammelte Bevölkerung.«
Benga ließ seine Hände sinken und wand seinen Kopf eilig dem klaren Bildschirm zu, seine Ohren lauschten aufmerksam jedem Wort.
»Die Besatzung, bestehend aus wenigen Veteranen der einstigen Terrorzelle, betonte ihre guten Absichten: Sie seien nicht auf weitere Konfrontationen aus, sondern wollen Verhandlungen beginnen, die den entstandenen Schaden beider Angriffe in den letzten drei Jahren mindern sollten. Des Weiteren kündigten sie für die nächsten Wochen eine Friedensansprache ihrerseits an.«
Entgeistert sah Benga zu, wie ein Stolzes Schlachtschiff über die beleuchtete Glurakbrücke vor Marea langsam hinweg flog. Andächtig wie ein Zeppelin glitt der bizarre Gigant durch den mit Wolken getränkten Nachthimmel, mit duzenden Scheinwerferkegeln, die auf ihm hafteten und noch mehr Augenpaare der Einwohner, die sich darunter staunend versammelt hatten, als würde über ihren verkrampft nach oben gereckten Köpfen ein Ufo den Mond verdecken.
Die Züge auf Bengas Gesicht verhärteten sich erneut.
Friedensansprachen. Verhandlungen. Kein Wort hatten sie über die Hunderten von gestohlenen Pokémon verloren, kein Wort über die Trainer, die ihre Gefährten an dieses Schiff verloren haben.
»Seit Mitte Februar war der Polizei weltweit bislang unklar, wohin besagtes Transportmittel verschwunden ist. Viele der unzähligen Fragen sollen in den kommenden Tagen live geklärt und in Interviews besprochen werden.«
In Bengas Ohren wurden die riesigen Lautsprecher plötzlich ganz leise und ein unbehagliches Ziehen breitete sich in seinem Bauch aus. Er hörte nicht mehr, was der Nachrichtensprecher erzählte, doch seine bereits gesprochenen Worte spukten wie ein besitzergreifender Geist in seinem Kopf.
Mitte Februar.
Die Website war schnell geöffnet. Der Schweiß auf Bengas Stirn glänzte im fahlen Licht des Laptops während er das Zittern seiner Finger kaum unter Kontrolle bringen konnte und der Cursor einen wilden Tanz über den Bildschirm vollführte. Ihm war kalt geworden und sein Kopf schien ihm viel zu schwer für seinen schlanken Hals. Im Hintergrund kündigte der Wetterbericht einen nicht ganz so überraschenden Temperaturumbruch an. Fieberhaft wie es unter seiner verkrampften Stirn zuging, suchten Bengas Augen den Text ab. Ein ausführlicher Wikipedia-Artikel, der kein Detail der mysteriösen „Flucht der Spectra“ ausließ.
Benga bremste seine rasenden Augenpaare.
»zuletzt gesichtet am 17. Februar«
Noch bevor ihn ein weiterer Schauer überkommen konnte, riss Benga mit einem Ruck eine Schublade aus ihrem Fach und zog das Erstbeste, was er zu greifen bekam, heraus und ließ es ohne weitere Beachtung auf den Parkettboden fallen, bis seine Finger die raue Oberfläche eines ledernen Einbands spürten. Benga hob das handliche Notizbuch aus der Unordnung der Schublade und betrachtete die Frontseite. In einer verschnörkelten Schrift war »Trainertagebuch von Benga Reardon« eingebrannt.
Nicht genug damit, dass es sich dabei um ein überflüssiges Relikt aus seiner Blütezeit handelte, das er schon längst hätte entsorgen können, nein. Lauro selbst hatte es ihm damals überreicht, zusammen mit jenem kleinen, glänzenden Ball, den Benga heute so sehr verdammte.
Zwischen den Seiten schien die Zeit nicht so unerbittlich zu sein wie in der Realität. Obwohl er nur eilig nach hinten blätterte, fühlte sich der Teenager von seinem jüngeren Ich beobachtet, als würde ihn aus der krakeligen Handschrift der kleine Junge betrachten, der ein eindimensionales Leben in seinem funkelnden Trugbild führte, allein der Schatten seines Großvaters machte ihn unbedeutend.
Das Buch war noch lange nicht bis zur letzten Seite beschrieben, aber schließlich fand Benga, was er gesucht hatte: den letzten Tagebucheintrag, die letzte Notiz, die er als Trainer gemacht hatte als ihm sein bester Freund genommen wurde.
Siebzehnter Februar.