Kapitel 73: Crossfire
„Vorwärts!“, schrie Carlos in die Runde und warf einen Arm voraus. Es folgte eine Reihe von Befehlen, die Ryan in dem Durcheinander nicht verstehen konnte. Noch bevor einer davon erfolgen konnte, blitzte es jedoch über ihm auf. Latios und Latias waren auf einmal von pulsierenden Lichtpunkten umgeben. Weis, mit Schwaden aus Blau und Purpur, ähnlich wie er es von Guardevoirs Sondersensor kannte. Mythisch und wunderschön, ein bisschen wie Irrlichter, jedoch von einladender Helligkeit, anstatt der geisterhaften Tücke. Bis sie sich plötzlich in zerstörerische Geschosse verwandelten. Auf die Pokémon ging ein Sternenregen nieder, der allerdings mehr an ein Mörserfeuer erinnerte. Man vernahm kaum mehr als ein scharfes Zischen sowie das helle Aufblitzen beim Aufschlag. Mehrere innerhalb einer einzigen Sekunde hallten durch den Eingangsbereich, schlugen sie tiefe Löcher in den Boden, in welche man ein Voltoball versenken könnte. Aus jedem davon stieg eine schmale Rauchsäule empor, begleitet von einem verschmorten Geruch, vergleichbar mit Schießpulver. Eines der Geschosse schlug genau zu Füßen von Zobiris ein und hüllte es in schwarzen Rauch. Aus diesem trat es in hohem Bogen fliegend, hilflos und bereits ohnmächtig, gleich wieder aus. Der reglose Körper wurde bis hinauf zu seinem Trainer geschleudert, der einen Moment lang fassungslos, dann aber gleich rachsüchtig dreinblickte und nach einem anderen Ball fischte. Zobiris wurde achtlos liegengelassen. Um nicht zu sagen, aufgegeben. Der Streuschuss ließ leider keine echte Präzision zu, weswegen kaum Volltreffer dieser Art gelangen. Jedoch hielt das Sperrfeuer die Gruppe in Schach und zermürbe sie. Im Sekundentakt schoben und drängten die Druckwellen von allen Seiten und sowohl zerstörte Fliesen als auch herausgeschlagene Brocken des Fundaments darunter malträtierten besonders Tauros und Sarzenia. Die zwei Psychopokémon schützten sich mit Lichtschild, konnten den Angriff so weitestgehend schadlos überstehen. Anderen blieb nur die Flucht nach vorne. Staraptor und Ibitak kamen urplötzlich aus der Rauchwand hervorgeschossen und peilten Sumpex an. Beide zogen weiße Luftschlieren neben und hinter sich. Die Zwillingsdrachen direkt anzugreifen, wäre unter diesem Dauerbeschuss selbstmörderisch, weswegen sie sich erst um das leichtere Ziel kümmern würden.
Ryan senkte das Haupt ein wenig und beobachtete die Angreifer aus einem tiefen Blick heraus. Er war trotz des Lärmes und des auf einmal herrschenden Chaos voller Konzentration. Und Entschlossenheit.
„Hammerarm.“
Diesen Befehl hatte Sumpex bereits erahnt. Und er selbst genug Sparringkämpfe mit Andrews Schwalboss ausgetragen, um Aero-Ass sicher einschätzen zu können. Mit einer rudernden Bewegung wurden die schaufelartigen Pranken durch die Luft geschwungen. Dann verschwanden Staraptor und Ibitiak für die Dauer eines Wimpernschlagens – und traten erst wieder in Erscheinung, als Sumpex sie miteinander niederschmetterte. Er traf beide direkt auf den Schädel. Der Nacken bog sich böse, sodass man schlimmste Verletzungen befürchten musste.
Selbstredend waren auch sie sofort außer Gefecht und im selben Moment für ihre Trainer vergessen. Die wenigsten Flugpokémon vermochten einen Schlag von solcher Intensität wegzustecken. Die beiden Rockets warfen den entsprechenden Pokéball einfach weg und fischten nach einem anderen. Krebutak und Pinsir nahmen die Plätze ein. Das Käferpokémon hatte allerdings schon nach wenigen Sekunden einen Volltreffer durch Latios‘ anhaltendes Sperrfeuer zu beklagen und wurde gegen einen der Treppenaufgänge geschleudert. Ein paar Meter darüber in halbwegs sicherer Distanz erschuf Drifzepeli gerade einen Spukball zwischen den dünnen Vorderärmchen. Der wurde von einem hellen, aufblitzenden Eisstrahl jedoch zu einer schweren und somit nutzlosen Kugel gefroren und zerbrach gleich hiernach. Das ballonartige Geistwesen hatte sofort davon abgelassen und sich flüchtend in noch größere Höhen davongestohlen.
Ryan sah zu Mila, die nun neben ihm Stellung bezog und von ihrem Milotic namens Noah flankiert wurde. Das anmutige Geschöpf schickte sich sogleich an einem weiteren Eisstrahl, als auf einmal Tauros aus dem Getümmel herangerauscht kam. Jeder einzelne Schritt mit seinen Hufen ließ den Boden splittern und das Fundament erbeben. Noah riss den Kopf herum und zielte auf die kräftigen Beine. Er hatte zu weit vorgehalten. Ein mannhoher Eisklotz spross direkt vor dem wütenden Stier, den dieser jedoch mit einem lauten Grunzen durchbrach, zudem gar noch ein, zwei Querschläger von Latios kassierte und dennoch nicht aufhalten. Wie in Raserei verfallen stürmte er präzise auf Sumpex zu. Der überließ es nicht Milotic, diese lebendige Dampfwalze abzufangen. Er kam ihm einen energischen Schritt entgegen und griff sich beide Hörner. Mit ausgestreckten Armen stemmte er sich dagegen und hielt den Angreifer tatsächlich mit bloßen Händen auf. Der abrupte Halt sorgte gar dafür, dass Tauros‘ Hinterläufe vom Boden abhoben. Ryan befahl schnell Aquahaubitze, bevor dessen Trainer einen neuen Plan fassen konnte. Zunächst wuchtete Sumpex seinen Widersacher auf die Seite und schmetterte seine Schädeldecke auf den immer poröser werdenden Untergrund, ehe ein leuchtender Orb aus Wasser vor seinem Maul erschien. Aus nächster Nähe abgefeuert war die Wirkung fatal. Da Sumpex die mächtigen Pranken noch um Tauros‘ Hörner hielt, anstatt für sicheren Stand zu sorgen, forcierte der Rückstoß ihn in eine aufrechte Haltung und er landete fast selbst auf dem Rücken. Wie schon beim Turnier zu beobachten gewesen war, schob die ausgespuckte Wasserkugel den Gegner einige Meter vor sich her, als sei sie massiv. Erst als dieser auf ein schockstarres Groink traf, platzte sie schäumend auf, sodass jedes einzelne Pokémon davon durchnässt, die meisten sogar umgeworfen wurden, ähnlich wie durch den Beschuss von Latios. Lediglich der Schwarze Lotus war aufmerksam hinter ihr Metagross getreten, das die Wasserattacke aus der hinteren Reihe, ohne mit der Wimper zu zucken, wegstecken konnte.
Milas Blick ging nach oben zu den Rocket Agenten. Die Frau namens Lydia gab einigen von ihnen mit giftiger Stimme neue Anweisungen. Aus der Ferne wollte sie zurückschießen, und zwar gebündelt. Drifzepeli und ihr Omot hatten sich dazu bereits in Stellung gebracht. Noah unterband jedoch das Herbeirufen weiterer Pokémon mittels Hydropumpe. Der Hochdruckwasserstrahl fegte einmal quer über das Geländer des Obergeschosses. Man hörte das lackierte Aluminium ächzen und biegen. Die Mannen in Schwarz warfen sich auf die Knie, um dahinter Deckung zu suchen. Das Spritzwasser allein durchnässte sie fast völlig ihre Kleider. Lydia selbst war nicht so flink oder vielleicht auch nur zu stur gewesen, um dasselbe zu tun und von einem Streifschuss an der Schulter erwischt worden. Es war für einen Sekundenbruchteil so, als würde ein Machomei mit allen vier Fäusten gleichzeitig auf die Stelle einprügeln. Selbst das, was von der Schulter an ihre Wange abgeprallt war, fühlte sich noch an wie ein Peitschenhieb. Einer der Männer wollte ihr rasch zur Hilfe kommen, doch Lydia ließ nicht einmal zu, dass er sie anfasste und keifte ihn zurück an seine Position.
Ryan dankte Mila und Noah innerlich für diese Unterstützung. Sumpex hatte dadurch genug Zeit, sich von dem Einsatz von Aquahaubitze zu erholen. Außerdem sorgten die Wasserattacken dafür, dass sich mehrere riesige Lachen um den Treppenbereich ausbreiteten, die den meisten von Team Rockets Pokémon bereits bis zu den Knöcheln reichte. Eine viel bessere Vorlage könnte er sich nicht wünschen.
„Jetzt Eishieb!“
Sumpex schnaufte, holte tief Luft. Latios und Latias unterbanden indes sofort ihre eigenen Angriffe, um nicht versehentlich ihren Verbündeten zu treffen. Vielleicht befanden sie den direkten Angriff Ryans daher auch als unbedacht, doch im Nahkampf lagen nun mal Sumpex‘ größte Stärken. So preschte das Amphibium vorwärts, pflügte durch das flache Wasser, wie ein Tohaido durch die offene See. Auch das hatte er beim Summer Clash bereits gezeigt. Schon diese geringen Mengen an Wasser steigerten sein Bewegungstempo enorm. Als gleite er über den Nassen Untergrund.
Er nahm Hypno ins Visier, welches zusammen Groink die einzigen Gattungen mit defensiven Attacken verkörperte. Wenn Ryan sie ausschalten konnte, wäre die Schussbahn gänzlich frei für die Zwillingsdrachen. Das knallgelbe Psychogeschöpf vernahm in dem Wirrwarr aus Stimmen über seinem Kopf sogar noch den Befehl seines Trainers, ihn mit Psychokinese zu stoppen und streckte die Arme nach vorn. Ehe es die kinetische Energie hatte bündeln können, hakte Sumpex seinen Oberarm unter dem schmalen Kinn ein und schmetterte die Faust auf den nassen Boden. Noch in derselben Viertelsekunde schlug Hypnos Hinterkopf ebenfalls darauf. Der Anblick war brutal und wüst, doch den Schmerz würde es erst beim Erwachen in einigen Stunden spüren. Genau, wie den Frostbiss. Das Wasser gefror wie Blitzeis und spitze Eisdornen schossen höher empor, als Sumpex‘ Kopfflossen reichten. Ein eisiger Windhauch wehte selbst Ryan und Mila noch entgegen, sodass ihr Haar und ihr Mantel flatterten. Krebutak, sowie die noch am Boden jauchzenden Tauros und Groink wurden einfach festgefroren und waren als Statuen zum hilflosen Zusehen verdammt, während die Kälte in ihre Glieder kroch.
Das bullige Wasserpokémon wirbelte sogleich herum und verschaffte sich einen Überblick über die weiteren Gegner. Gleich mehrere, darunter auch Omot und Rasaff, das wild schnaubend einfach über das Geländer nach unten sprang, zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein inzwischen fest antrainierter Impuls veranlasste ihn, sich erneut mit Schutzschild zu verteidigen. Den Spukball von oben hatte er nicht mal kommen sehen. Doch der prallte ebenso wirkungslos ab, wie der Psystrahl und selbst Rasaffs Fäuste, obwohl deren Kraft diverse Risse sowie lautes Knacken und Splittern der Eisfläche unter ihnen bewirkte. Stattdessen fanden sie sich auf einmal selbst in der Rolle der Angegriffenen wieder. Eine blaue Aura hatte die Körper, von Carlos und Lydias Pokémon umhüllt und somit schwerelos gemacht. Schon im nächsten Moment warf die Psychokinese sie gegen die Seite der beiden Treppenaufgänge. Ryan sah nach oben und erkannte gerade noch, wie ein gleichfarbiger Lichtschein in Latios‘ Augen erlosch. Das aggressive Kampfpokémon hielt sich krampfhaft den Hinterkopf – und war bereits Auge in Auge mit einer Wasserkugel, die Sumpex vor seinem Maul erschuf.
Diese zerplatzte allerdings, begleitet von einem tiefen Gurgeln und Würgen.
„Sumpex!“
Selbst Ryan hatte in diesem Chaos nicht jedes Pokémon von Team Rocket im Blick behalten können und Sarzenias Angriff zu spät bemerkt. Eine Ranke hatte sich um seinen Hals geschlungen und schnürte ihm unerbittlich die Luft ab. Selbst das Blut konnte an seinem Hals nicht mehr fließen. Hektisch versuchte er, sie zu von sich zu reißen, aber sie war zu dünn für seine großen Hände und saß viel zu eng. Damit nicht genug, spuckte Sarzenia eine dunkelviolette, ätzende Flüssigkeit über seinen Rücken. Es zischte und dampfte. Das Zeug brannte furchtbar auf seiner Haut und lähmte ihn tatsächlich für einige Sekunden. Ryan wurden unweigerlich und unfreiwillig die Bilder aus Andrews Halbfinalkampf gegen Bella ins Gedächtnis gerufen.
Dann drang plötzlich das Gebrüll von Tauros an seine Ohren. Die Erschütterung von Rasaffs Angriff hatte Teile der Eisfläche tatsächlich so stark splittern lassen, dass sich das muskulöse Huftier mit wüsten Stampfern befreien konnte. Sogleich stürmte er abermals auf Sumpex zu, um den Rückschlag zu vergelten. Dabei räumte es sogar Krebutak rücksichtslos aus dem Weg. Nun war der Stier wirklich in Raserei verfallen. Und er nahm Sumpex buchstäblich auf die Hörner. Sie bohrten sich in seinen Unterbauch und trugen ihn vor sich her, als sein er von einem Zug erfasst. Sarzenia ließ sofort los, um da nicht mitgerissen zu werden. Der verantwortliche Rocket ballte eine Faust und peitschte Tauros weiter voran. Seine Kollegen jubelten fast schon für ihn und waren eindeutig voller Vorfreude, dieses verdammte Wasserpokémon endlich leiden zu sehen.
Sumpex‘ Höllenritt dauerte nur wenige Sekunden. Es war ein Ende mit Schrecken. Und Schmerzen. Er wurde gegen eine der hohen Säulen gerammt. Mit einer Wucht, die sämtliche Luft aus seinen Lungen presste und ihn röchelnd Speichel sowie erneut Blut spucken ließ. Der Rücken, noch heiß und empfindlich durch die Säure, schmerzte so fürchterlich, als bohrten sich rostige Nägel hinein. Tauros versuchte sogar weiter zu rennen und das Hindernis ganz zu durchbrechen. Seine Hufe schabten unablässig über den Boden, wollten erst Halt machen, wenn die Säule ganz zertrümmert war.
Ryans Kiefer spannte sich so stark, dass er glatt brechen könnte. Aus dieser Bredouille kam er aus eigener Kraft nicht heraus – wie auch Mila erkannte.
„Noah!“
Das Milotic holte bereits Luft und ein erneuter Eishauch kribbelte auf Ryans Haut. Doch in etwas größerem Abstand leuchtete noch etwas Anderes von vergleichbarer Farbe auf. Seine Augen wurden groß.
„Achtung!“
Die himmelblaue Energiekugel wäre sowohl Mila als auch Noah entgangen. Dank der rechtzeitigen Warnung konnte der Eisstrahl jedoch schnell genug herumgerissen und das Geschoss auf halbem Weg abgefangen werden. Die Druckwelle zerstob ihn zu feinem Schnee, der ihnen bissig entgegenschlug. Rasaff grunzte missmutig. Wieder war ihm kein Treffer gelungen. Und nachsetzen konnte es ebenfalls nicht. Eine erneute Salve von Latios und Latias zwang ihn zum Rückzug. Ein Dutzend Mal knallte und flimmerte es vor seinen Augen, bis ihm die Ohren dröhnten. Bis zum Fuße der beiden Treppen wurde er zurückgedrängt, entging aber einem direkten Treffer. Dann blitzte es dort einige weitere Male. Diesmal von Pokébällen. Die Rocket Agenten schickten die nächste Welle!
Ryan erspähte Quappo, Gastrodon, Rossana, Snibunna und Frosdedje – vorwiegend Eis-Typen also. Und selbst die anderen Beiden waren zu Eis-Attacken absolut fähig. Das konnte nur bedeuten, dass der Fokus jetzt auf die Zwillingsdrachen wechseln würde. Eben der Ältere von ihnen sah sich nun gezwungen, Sumpex zur Hilfe zu kommen. Tauros verlor plötzlich den Boden unter den Füßen, als eine Aura aus mythischem Blau seinen Körper umschloss und in die Luft hob, als wiege er so viel wie eine Feder. Er zappelte und trampelte, aber aus diesem Griff vermochte man sich nicht mit Körperkraft zu befreien. Gleich darauf wurde er mitten in die Masse aus Pokémon geschleudert, die noch am unteren Treppenende positioniert war. Das angeschlagene Krebutak sowie das noch immer festgefrorene Groink schafften es nicht mehr aus der Gefahrenzone. Bei so einem Anblick wollte man lieber wegsehen. Der wuchtige, muskulöse Körper Tauros' polterte über das Eis, brach neue Spalte auf und erschlug seine hilflosen Kameraden womöglich beim Aufprall. Von etwas ähnlich Schlimmen war jedenfalls auszugehen. Ryan schüttelte es bei dem Anblick. Das war Krieg. Kein einfacher Kampf. Das war, wozu er sich bereit erklärt hatte. Und wenn Sumpex nicht so enden sollte, wäre er gut beraten, endlich dieselbe Bereitschaft an den Tag zu legen!
Das Amphibium grunzte und nutzte den gewonnenen Moment zum Verschnaufen, doch da spürte er plötzlich einen heißen, zischenden Schlag direkt auf der Wange. Sarzenia hatte erneut mit Rankenhieb nachgesetzt und ihm einen blutenden Schnitt beigebracht. Der nächste Schlag jedoch wurde bereits von einer kräftigen Hand aufgefangen und hielt das schmale, verlängernde Glied fest, wie ein Schraubstock. Man konnte förmlich beobachten, wie Sarzenia ein Schauer über den Rücken lief, als Sumpex den Kopf langsam wieder zu ihr drehte. Und was sie in seinen Augen sah, weckte den Wunsch, lieber nicht zugeschlagen zu haben.
Ryan war beinahe nach Schmunzeln zumute. Man könnte meinen, sie beide teilten den gleichen Gedanken.
„Eishieb!“
Mit einem einzigen Ruck zog er sie zu sich. Sie hob regelrecht ab und flog in seine Richtung. Mit dem Mute der Verzweiflung richtete sie sich aus, um ihre Säure direkt über sein Gesicht zu ergießen, doch ehe das geschehen konnte, fand sich Sumpex' Faust – ach was, sein ganzer Arm in ihrem Maul wieder. Bis zur Schulter war er im Schlund versenkt. Bereits in der nächsten Sekunde sprossen Zapfen und Eiskristalle daraus hervor. Ein äußerst kurzer und schriller Aufschrei, dann war Sarzenia still. Wer wusste schon für wie lange.
Dessen nicht genug, festigte Sumpex mit der freien Hand erneut den Griff um ihre Ranke. Mit einer rücksichtslosen Befreiung des festsitzenden Armes, sodass beinahe sämtliches sichtbares Eis schon wieder zerbrach, ging er in eine Drehung über und schleuderte die Kannenpflanze herum. Zunächst gegen die Säule, die er selbst bereits unfreiwillig getroffen hatte. Sollte Sarzenia die ruhig auch mal spüren. Danach wechselte er die Richtung. Die Ranke dehnte und streckte sich so stark, dass sie fast riss. Diesmal landete sie an einer der beiden Treppen. Mit einem scheppernden Klong, das selbst die Organe aller Umstehenden vibrieren ließ und das Metall des Geländers verbog, ward sie aus diesem Kampf verabschiedet. Nur wenige Schritte daneben trafen Eisstrahlen und Spukbälle aufeinander. Die Zwillingsdrachen schafften es trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit und Typennachteils, die Brigade aus Eispokémon in Schach zu halten. Sofort wollte Sumpex dazu eilen, da durchstach ein widerlicher Schmerz seinen Arm. Der Blick daran hinab bestätigte die Befürchtung, dass es giftige Substanzen aus Sarzenias Innerem waren, die da auf seiner Haut ätzten. Das ätzende Zeug verursachte ihm Schüttelfrost, zwang ihn tatsächlich für einen Augenblick in die Knie und bereitete ihm Schwindel. Gleichzeitig war ihm, als würde sein Fleisch mit einer glühenden Klinge aufgeschnitten.
Mila und Noah hielten für ihn Rasaff und Omot in Schach. Das Milotic keuchte allerdings bedenklich. Das waren zu viele Angriffe in zu kurzen Abständen. Er kam gar nicht mehr zum Luftholen. Dadurch hatte Ryan jedoch freie Hand und könnte ungehindert zuschlagen! Tat er aber nicht. Er zögerte. Etwas stimmte hier gerade nicht. Da fehlte doch wer.
Sein alarmierter Blick schoss in die Höhe. Dort senkte sich gerade Drifzepeli herab und manövrierte sich in die Flanke von Latias. Die sah den Ballon-Geist zu spät. Wann war der aus ihren Sichtfeld geraten? Ryan und Mila erkannten die Gefahr im selben Augenblick – und waren beide zu spät, zu langsam. Da ward Drifzepeli bereits einen Spukball auf sie. Latias hatte gar keine Zeit, zu reagieren. Sie war kalt erwischt worden. Doch da schon sich aus ihrem toten Winkel plötzlich jemand vor sie. Machte sich selbst zu ihrem Schild. Für einen Winzigen Moment war sie noch überzeugt, ihre Augen täuschten sie. Spielten ihr einen geschmacklosen Streich. Auf der anderen Seite sähe ihm eine solch törichte Tollkühnheit durchaus ähnlich. Und ältere Brüder beschützten nun mal ihre jüngeren Geschwister.
„Latios!“
Milas entsetzter Aufschrei wurde vom schwarzen Lotus mit einem zufriedenen Schnauben beobachtet. Ihr überlegenes Lächeln wurde noch etwas weiter. Obwohl sie gestehen musste, dass selbst sie beeindruckt war. Latios hatte sich tatsächlich in die Schussbahn geworfen. Aufopferungsvoll und völlig unbedacht auf die eigene Unversehrtheit. Der Spukball hatte genau seine Schädeldecke getroffen und ihn mitsamt seiner Schwester in dunkelvioletten Rauch gehüllt, durch den noch ein paar nachwirkende Schattenblitze zuckten. Die Kampfhandlungen erlebten eine unübliche Atempause. Ein merkwürdiger Moment war dies. Keiner konnte so recht glauben, was man da gesehen hatte, wobei es im Fall von Team Rocket wohl zutreffender war, dass man kaum wagte, daran zu glauben. Daran, dass endlich ein wirksamer Schuss gelungen war. Dass die verdammten Zwillingsdrachen tatsächlich angreifbar waren.
Doch da beendete ein energisches Drachengeheul die kurzweilige Stille. Latios vertrieb den Rauch mit einer kinetischen Aura. Nicht nur sein Maul, sondern der ganze Körper leuchtete in himmelblauer Energie, die sich zu einer aberwitzigen Form von Drachenpuls formte. Sofort trat Drifzepeli den Rückzug an und suchte sein Heil erneut in der Höhe. Die Drachenenergie fegte haarscharf unter ihr hinweg, durchschlug, nein durchschnitt förmlich eine der dekorativen Säulen, welche erst eine geschlagene Sekunde später entzwei glitt. Sauber durchtrennt und fast ohne Risse oder Sprünge. Drachenpuls traf schließlich auf eine hohe Betonwand, bloß einige Meter über dem Loch, das Metagross vorhin mit Sumpex‘ hineingeschlagen hatte. Fast zeitgleich schlug die abgetrennte Säule auf und zertrümmerte in hunderte Stücke von Mannshöhe bis zur Größe seiner Faust. Fundament und Mauern krachten und bröckelten und tief in den Gewölben des Prime Stadiums hörte man ein empörtes Stöhnen und Ächzen. Das Geistwesen ward dieser Zerstörungskraft nur geradeso entkommen, musste jedoch gleich danach einem Eisstrahl ausweichen. Keiner anderen Gattung wäre das hier noch gelungen. Mila fluchte. Die Wendigkeit von Drifzepeli war unfassbar. Im Sinne von unfassbar problematisch. Seine Bewegungen waren unmöglich vorherzusehen. Vermutlich war es dieser wahnsinnigen Beweglichkeit gepaart mit der für Geister üblichen Tücke zu verdanken, dass der Angriff eben überhaupt gelungen war.
Und da hallte auf einmal Carlos' energische Stimme durch den Eingangsbereich.
„Jetzt! Alle Mann mit Eis angreifen!“
Latios wandte sich wieder der Rocket-Front zu und stieß seine Schwester sofort zur Seite. Kristallisiertes Blau in verschiedensten Formen und Größen leuchtete bereits mehrfach auf. Da schossen messerscharfe Eissplitter hauchzart an ihm vorbei. Ebenso an Latias. Nur einen winzigen Moment hatte seine Aufmerksamkeit abermals ihr gegolten, hoffend, dass er sie weit genug aus der Schussbahn gestoßen hatte. Eher würde er alle diese Angriffe mit offenem Visier und breiter Brust auf sich nehmen, anstatt sie auch nur einem davon auszusetzen.
Dieser Atemzug der Unachtsamkeit wurde ihm zum Verhängnis. Die Kälte war wie ein giftiger Stich. Beißend und in Windeseile in seinen Körper kriechend. Ein Eisstrahl hatte ihn am Rumpf getroffen und seine linke Flanke mit spitzen Kristallen überzogen. Gleich ging er in eine Schieflage, konnte sich nur mit der Hilfe seiner Schwester in der Schwebe halten. Deren Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie fühlte, wie radikal sein Körper unterkühlte. Dieser Idiot! Dieser verfluchte Idiot!
Mila musste ganz ähnliche Gedanken haben. Doch im Gegensatz zu Latias trieb das Entsetzen sie zu eiligem Handeln, anstatt Schockstarre.
„Deckung geben!“, befahl sie Noah und gleichermaßen auch Ryan. Als nichts Anderes als eben einen Befehl nahm er diese zwei Worte wahr. Obwohl die Drachenpriesterin es bislang gänzlich abgelehnt hatte, ihm Befehle zu erteilen. Er war schließlich keiner ihrer Untergebenen. Doch hier und jetzt – und das sah Ryan absolut ein – musste sie es sich herausnehmen, ihn zu befehligen.
Aus dem Augenwinkel sah der junge Trainer, wie das Milotic tief Luft holte und ein plötzlicher Kältehauch bereits seinen Atem sichtbar machte. Sofort ordnete er Aquawelle an. Und Mila verstand auch gleich die Intention dahinter. Sumpex wuchtete die Wasserkugel direkt vor sich auf dem Boden. Wie eine wütende Brandung rollte dies schäumende Welle auf die Gruppe zu, die noch immer am Fuße der Treppen die Stellung hielt. Snibunna und Frosdedje räumten allerdings sofort das Feld. Flink sprangen sie hinauf auf das Geländer oberhalb, wo Team Rockets Agenten verweilten. Rossana schützte sich mit einem Lichtschild, konnte aber Quappo und Gastrodon nicht zusätzlich abschirmen. Ohnehin zeigten die sich erwartet unbeeindruckt, waren sie doch selbst vom Typ Wasser. Dann heulte allerdings Noah auf. Wütend und voll der Kampfeslust. Die Luft knisterte vor seinem Maul und begleitet von seinem singenden Schrei schoss er seinerseits mit Eisstrahl zurück. Der würde, danke der Vorlage mit Aquawelle, die ganze Gruppe zu einem gewaltigen Block gefrieren!
„Psystrahl!“, erklang es schrill und giftig aus dem Obergeschoss. Ein schmaler, aber unfassbar greller Lichtstrahl, der von allen Farben des Regenbogens durchzogen war, kreuzte die Schussbahn des Eisstrahls und unterbrach ihn auf halbem Wege zum Ziel. Milas Blick folgt der Richtung und fand Lydia dort sadistisch grinsend an der Seite ihres Omot. Ihr Partner konzentrierte sich überwiegend darauf, die übrigen Agenten anzuweisen, anstatt seines eigenen Pokémons, und befahl die nächste Angriffswelle.
Erneut zielten Splitter und Strahlen nach den Zwillingsdrachen. Rossana griff sogar mit Blizzard an. Und schon wieder warf sich Latios vor seine Schwester – diesmal jedoch mit einer goldenen Schildwand geschützt. Einen Teil von dessen Kraft spürte er natürlich dennoch und der Frost in seiner Seite zerrte weiter an seinen Kräften, wurde langsam zu einem bitterbösem Gefrierbrand. Der Lichtschild flimmerte bereits nach wenigen Sekunden bedenklich unter dem Beschuss.
Mila verfiel mehr und mehr in Panik. Sie ließ Noah mit Hydropumpe antworten, doch die Ziele waren zu zahlreich. Er konnte sie nicht alle unter Sperrfeuer setzen. Milas Kiefer spannte sich. Ihre Hände begannen zu krampfen. Sollte sie Neyla dazuholen? Konnte die denn gegen diese gebündelten Eis-Attacken überhaupt was ausrichten?
Latios' Lichtschild fiel. Goldene Scherben wurden sofort von einem Hagelsturm aus Weiß und Blau verschluckt. Ein Eissplitter schnitt ihn direkt an der Wange und entlockte einen elenden Schmerzensschrei. Doch da leuchtete das Gold wieder auf. Mila staunte, was sie dort sah. Latios blinzelte gar beinahe ungläubig. Trübte der Kälteschock seine Sinne oder spielten ihm seine Augen einfach einen simplen Streich? Nein, es war tatsächlich seine Schwester, die nun wiederum ihn beschützte. Wann war dies das letzte Mal geschehen? Zumeist verabscheute Latias das Kämpfen, tat es selbst jetzt nur der Notwendigkeit wegen. Und er, der sich schon immer als den Beschützer gesehen hatte, war ohnehin seither der Stärkere von ihnen gewesen. Dies sah er, als großer Bruder, auch als nichts Geringeres als seine Pflicht an. Und hier war er nun und ließ sich von seiner geliebten Schwester verteidigen, obgleich sie größte Mühe damit hatte. Selbst jetzt durchschaute er sofort das Zittern ihres Körpers und die fest zusammengekniffenen Augen, während sie mit aller Kraft versuchte, dem Sturm aus Schnee und Eis standzuhalten. Ihr Umfeld nahm sie schon gar nicht mehr war. Alles in ihr fokussierte sich bloß auf die Aufgabe, ihren Lichtschild aufrecht zu halten. Sie zeigte eine Entschlossenheit, eine Verbissenheit, die Latios seit bestimmt hundert Jahren nicht mehr hatte beobachten können.
Der violetthaarige Mann rief etwas. Laut und energisch, aber die Konzentration und das stetige Prasseln von Eiskristallen auf ihrem Schild ließen die Worte nicht zu ihr durchdringen. Die Angriffsflut stoppte urplötzlich. Gerade als Latias ihre Kräfte zu schwinden befürchtete, ebbte der Druck ab und das Gold vor ihr erstrahlte wieder in kräftigem Glanz. Da kam aus heiterem Himmel Rasaff herangesprungen. Die muskulösen Beine hatten ihn mehrere Meter hoch katapultiert und ein Arm war bereits erhoben. Mit der Handkante ließ er die schützende Wand in tausend Stücke zersplittern. Durchbruch, ganz ohne Zweifel. Latias selbst erreichte Rasaff damit allerdings nicht. Ihr Bruder, bereits wieder in der aufopferungsvollen Beschützerrolle, stieß sie zur Seite und ließ seine Augen blau aufleuchten. Doch dieses Mal hatte er sich verschätzt. Und Rasaffs Tempo unterschätzt. Er traf ihn genau auf der Schädeldecke. Nicht nur der Kopf fühlte den Schlag, auch Hals und Genick knacksten lautstark, sodass es einen schüttelte, und tatsächlich strauchelte Latios wackelig in seiner Schwebe, als würde er gleich fallen. Kaum gelandet, sah das Kampfpokémon jedoch einen Hochdruckwasserstrahl auf sich zukommen, der selbst einen Kleinbus fortgefegt hätte. Von diesem erfasst, wurde er geradewegs in die Treppenstufen zu den Füßen seines Trainers geschossen. Einige rissen und bröckelten – ach was, das ganze Konstrukt wankte plötzlich. Ebenso wie Carlos am oberen Ende davon.
Latias rief sofort wieder nach ihrem Bruder, bemerkte aber aus dem Augenwinkel schon den nächsten Angriff. Jedoch zu spät, zu ihrem Leidwesen, da der Spukball just in diesem Augenblick schon ihren Rumpf traf. Mit einem elenden, hohen Heulen und eine dunkelviolette Rauchspur hinter sich herziehend stürzte die Drächin zu Boden. Mila rief ihr verzweifelt nach, fluchte entsetzt und wies Noah an, seine Hydropumpe auf Drifzepeli zu lenken, das da simultan zu Rasaff angegriffen hatte. Und diesmal gelang es endlich, das wendige Geisterwesen zu treffen. Es purzelte jaulend rückwärts, wie ein aus der Luft geschossenes Frisbee, konnte sich geradeso abfangen, bevor es nebst seines Trainers im oberen Rundlauf abgestürzt wäre.
Dort sah Mila die nächste Welle an Eis-Attacken, die nun über Latios hereinbrach, der sich gleichermaßen stur wie verzweifelt zu wehren versuchte. Er schoss mit Drachenpuls zurück, flüchtete außerdem immer weiter in die Höhe und versuchte dem Beschuss auszuweichen. Bei jeder Bewegung tat er sich schwer. Ihm war sehr dunkel, fast schwarz vor Augen. Sein Schädel hämmerte und ein piepender Ton lag in seinen Ohren, der alle anderen Laute sowie Stimmen verschluckte. So überhörte er auch Lydias Anweisungen an Omot, die sich schickte, seiner Schwester den Rest zu geben. Latias lag noch immer am Boden. Der Spukball hatte sie empfindlich getroffen und einige seiner Schattenblitze zuckten noch um ihren Leib. Und noch ehe sie sich aufraffen konnte, trat die tückische Giftmotte auf den Plan. Mit starren, emotionslosen Käferaugen spielte sie demonstrativ mit ihren Beißwerkzeugen, bereit, ihr das Blut abzusaugen.
Sie hatte Sumpex nicht kommen sehen. Ebenso wenig, wie ihre Trainerin. Zu sehr war sie auf Latias fixiert gewesen. Hatte sich zu arg danach gesehnt, einen der beiden Zwillingsdrachen endlich zu Fall zu bringen. Der Tunnelblick hatte ihre Umsicht vollständig getrübt. Wie sonst hätte sie dieses Vieh vergessen können, lediglich da es noch so weit abseits in der Flanke gestanden war?
Der Eishieb traf Omot genau an der Schläfe. In einer völlig waagerechten Linie flog sie an ihren Kameraden vorbei, die verdutzt und verschreckt tatsächlich den Beschuss für einen Moment einstellten. Schleudernd und wirbelnd durch die ausgebreiteten Flügel traf Omot schließlich die zertrümmerten Reste der jüngst gefällten Säule. Selbst dieser zierliche Körper ließ beim Aufprall neue Risse aufspringen. Lydia knirschte mit den Zähnen, fauchte gar, und belegte Ryan mit wutentbrannten Blicken, als versuche sie, ihn mit der Macht ihres boshaften Willens in Flammen aufgehen zu lassen. Dieser verdammte Scheißer trieb sie noch zur Weißglut.
Der Johtonese beachtete sie jedoch gar nicht. Wenn er es täte, würde er sie vermutlich mit Carlos‘ Rasaff verwechseln. Er drängte jetzt allerdings viel lieber darauf, den Beschuss der Eis-Attacken zu beenden, um Latios aus der Bredouille zu helfen.
„Wir zerstreuen die Gruppe. Noah soll sie nacheinander abschießen“, lautete sein Plan. Er sah Mila dabei nur äußerst kurz aus dem Augenwinkel an. Es fühlte sich seltsam, geradezu dreist an, der Drachenpriesterin seine Strategie aufzuzwingen. Eigentlich sah er sie als Autorität an, ja fast schon als Anführerin, obwohl er nicht zu ihrer Garde gehörte. Aber etwas musste er, mussten sie jetzt versuchen, sonst würden sie hier untergehen. Und wenn es mit dem Mut der Verzweiflung war. Ryan wartete nicht auf ein Einverständnis oder eine Zustimmung, sondern schickte seinen Partner bereits tollkühn voraus.
„Hol sie dir!“
Mit großen Schritten und einem beherzten Satz warf er sich auf Quappo, der seinen Eisstrahl nicht schnell genug herumreißen konnte, um Sumpex abzufangen. Das bloße Körpergewicht des Amphibiums reichte aus, um die muskelbepackte Kaulquappe zu Boden zu werfen. Ein einzelner Schlag mit dem Ellenbogen direkt auf die Schädeldecke und schon waren die Augen weiß und die Gegenwehr erloschen. Noch bevor er gefallen ward, nahm sich Sumpex den nächsten Gegner in Form von Gastrodon vor. Die unbewegliche Landschnecke bespuckte ihn noch mit einer matschigen Flüssigkeit, versuchte die Augen zu treffen und ihm das Sehvermögen zu nehmen. Eine breite, schaufelartige Hand blockte den Lehmschuss jedoch ab. Der zähe Matsch spritzte zu allen Seiten umher, doch stoppte er das energische Wasserpokémon nicht. Die andere Hand wurde bereits zur Faust geballt.
„Hammerarm!“
Er schmetterte eben jenen genau auf Gastrodons Wirbelsäule. Ein hoher Schrei ging zur Decke des Prime Stadiums hinauf. Selbst unter diesem elastischen Körper, der solche Direktangriffe so gut absorbieren konnte, schlugen Staub sowie einige Bruchstücke des darunterliegenden Betons auf. Bevor Sumpex sich sein nächstes Ziel suchen konnte, verrieten ihm seine feinen Sinne in den Kopfflossen Gefahr von oben und tatsächlich hörte er den Spukball bereits knistern. Drifzepeli schon wieder!
„Eisstrahl, Noah!“
Das Geistwesen hatte dem Milotic den Rücken gekehrt und war daher endlich außerstande, dem Angriff auszuweichen. Am Hinterkopf traf der Eisstrahl und hinterließ ellenlange, spitze Zapfen. Drifzepeli kreischte entsetzt und warf sich auf den Boden. Zappelnd und wimmernd versuchte sie, das Eis abzuschlagen, doch da richtete Noah seine Attacke erneut auf sie aus und fror sie zu einem gewaltigen Eisblock, in dem sie nun regungslos festsaß.
Eisstrahl hatte Sumpex für einen Augenblick von den übrigen Gegnern separiert, doch tauchte plötzlich Snibunna flink und leichtfüßig darunter hindurch und ließ seine Krallen aufblitzen. Der Tempounterschied dieser Gattungen war viel zu enorm. Sumpex konnte überhaupt nicht reagieren und fing sich einen tiefen Schlitz auf der Brust ein. Snibunna huschte dabei unter seinem Arm hinweg und begab sich in die ungeschützte rechte Flanke. Schon wieder wurde eine Klaue erhoben und zielte diesmal auf die Halsschlagader. Hier unterschätzte das Wiesel jedoch das antrainierte Kampfgespür seines Gegners, sowie die in Fleisch und Blut übergegangene Voraussicht, die von dessen Trainer abgefärbt war. Der erahnte das Manöver zeitig, winkelte den linken Arm vor dem Kinn an und nutzte die Pranke wie einen Schild. Nun sollte man meinen, dass die natürlichen Waffen eines Snibunna die ledrige Haut des Amphibiums spielend durchdringen würden. Taten sie auch. Allerdings nicht die angespannten Muskelstränge dahinter. Es war fast, als steche er auf Granit ein. Auf Granit, der sogar einen gezielten Gegendruck ausübte, sodass der eigene, ausgestreckte Arm einknickte, ja fast brach! Eben jenen Arm erfasste Sumpex nun mit einem eisernen Griff und zerrte seinen leichtgewichtigen Gegner zu sich heran, um seinen Hammerarm auf dessen Schädeldecke zu wuchten. Als das Kinn auf den Boden traf, wurde durch den Aufprall der ganze Körper in die Hohe geworfen. Sumpex spürte, wie der Arm des Snibunna hierbei aus dem Gelenk sprang. Dessen nicht genug, schleuderte er das Unlichtpokémon einmal herum, geradewegs in Noahs Richtung. Der hatte nur auf so eine Chance gewartet. Seine Hydropumpe erfasste Snibunna wie ein Zug und schoss ihn geradewegs wieder zurück. Er traf direkt auf Rossana, die gerade ihre Psychokräfte auf Sumpex konzentrieren wollte und daher völlig überrascht wurde. Sie fand sich mit dem Eis-Wiesel auf dem nassen Boden wieder und röchelte trocken. Der Schlag hatte ihr sämtliche Organe durchgeschüttelt.
Ryan schöpfte neuen Mut. Das Manöver war geglückt und die Angriffslinie Team Rockets auseinandergerissen. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte und seinen Körper mit Adrenalin durchströmte. Und würde er es denn realisieren, wäre das eine willkommene Ausrede dafür, dass eine Hand an seine Hosentasche wanderte und durch den Stoff hindurch den Drachensplitter umklammerte. Doch das geschah gänzlich außerhalb seiner Wahrnehmung.
Währenddessen nutzte Latios die gewonnene Zeit und die vorübergehende Feuerpause aus. Leider nicht besonders clever. Anstatt Ryan zu unterstützen oder ihm gemeinsam mit Noah Feuerschutz zu geben, sank er hinab zu seiner Schwester. Fürsorglich und liebevoll wie eh und je. Aber auch dumm. Hätte er doch dieses eine Mal seinen Rachedurst vorgeschoben.
Ryans Augen huschten hin und her, scannten und aktualisierten die Situation. Nur noch Quappo und Frosdedje blieben übrig. Falsch gedacht! Gerade als Sumpex sich jenen Beiden zuwandte, mischte sich Rasaff ein weiteres Mal ein und kam von hinten angesprungen.
„Schutzschild!“, schrie Ryan sofort, laut und hastig, aber nicht panisch. Nur eine gewisse Verbissenheit lag in seiner Stimme. Man konnte ihr förmlich anhören, wie sich jede Faser seines Körpers anspannte. Eigentlich völlig nachvollziehbar, im Anbetracht der Situation. Dennoch löste sie bei Mila ein Stirnrunzeln aus. Und einmal mehr wurde die Technik zu einem Rettungsanker für das Wasserpokémon. Nicht nur die Faust von Rasaff prallte in seinem Rücken an der Lichtkuppel ab, sondern auch die von Quappo, sowie Rossanas Psychokinese, die sogar noch am Boden liegend angriff, aber ebenfalls nicht durch Schutzschild hindurch wirken konnte. Gleich darauf preschte Sumpex nach vorn, bevor überhaupt die Chance entstehen konnte, einen neuen Befehl zu geben – so, wie es ihm von Ryan eingetrichtert worden war. Mit einem beherzten Satz stieß er seine wuchtigen Handballen an die Stirn der Kaulquappe, riss sie um und hämmerte den Hinterkopf auf den Boden. In der Bewegung erfasste Sumpex außerdem den Schopf Rossanas und tat mit ihr genau dasselbe. Wasser und splitternde Reste des Eises schlugen hoch auf und verrieten selbst von weitem noch die Kraft dahinter, als wäre die Erschütterung im Fundament nicht bereits genug gewesen. Blieb also nur noch einer. Und der griff ebenfalls schon wieder an.
„Rasaff, Kreuzhieb!“, schrie Carlos von oben herab. Jetzt musste die Attacke endlich sitzen. Ihm ging die Verstärkung aus!
„Umdrehen und mit Eishieb kontern!“
Sumpex hätte keiner Erinnerung bedurft, dass hinter ihm noch ein Gegner übrig war. Aus der Drehung heraus hielt er gar Rossana weiter am Schopf gepackt und schleuderte sie zur Seite in das Treppengeländer, das bereits durch Sarzenia verbogen worden war, sodass Lydia darüber ob der Erschütterung wankte. Es konnte nicht mehr viel fehlen, bis das Ding einkrachte.
Sumpex unternahm indessen erst gar keinen Ausweichversuch. Dafür war er ohnehin zu langsam und schwerfällig. Gar ging er Rasaff einen Schritt entgegen, drehte ihm die Seite zu und hakte unter seinem rechten Arm ein, auch wenn das bedeutete, dass er selbst einen Schlag in die Rippen wegstecken musste. Er zögerte jedoch keine Sekunde. Grunzte zwar vor Schmerz, aber widerstand kompromisslos und energisch wie eh und je. Ein oder zwei Knochen sicher angeknackst, wie er spürte und mit einem widerspenstigen Grollen quittierte. Das Aufblitzen in den knallorangenen Augen versprach jedoch eine noch viel schmerzvollere Vergeltung. Sumpex zog den eigehakten Arm an. Rasaff quiekte erschrocken, als sich der Seine beinahe aus der Schulter drehte. Er wurde leicht angehoben, sodass seine Füße den Boden nicht mehr erreichten und er wild zu zappeln begann, während auf der freien Hand des Amphibiums bereits Eiskristalle die Haut benetzten. Ein satter Schlag auf das Jochbein wurde mit einem desorientierten Stöhnen beantwortet, der keinen Zweifel an der Kraft und der Wirksamkeit hinterließ. Dann ein zweiter. Und noch einer. Sumpex schrie Rasaff seinen Siegeswillen ins Gesicht. Das Eis brach nach und nach von seiner Faust ab und verzerrte sich in dem buschigen Fell. Nach dem vierten Hieb korrigierte Sumpex seinen Stand und wuchtete das halb ohnmächtige Kampfpokémon hoch in die Luft, drehte sich mit und schmetterte es mit seinem Groll auf den Rücken. Ein hohles Keuchen. Dann nichts mehr. Das Zappeln endete. Rasaff war still und endgültig geschlagen. Sumpex, derweil mehr und mehr im Kampfrausch, zog beide Fäuste an und schrie wie ein wütender Berserker zur Stadiondach empor. Und selbst Ryan, der alles mit schweren, mitfibernden Atemstößen beobachtet hatte, entwischte beinahe der Anflug eines Lächelns. Geradeso konnte er dem Impuls widerstehen, eine Siegerfaust zu ballen. Die wäre allerdings gänzlich verfrüht, wessen er sogleich erinnert wurde, und er könnte sich bereits eine Sekunde später für diese Naivität selbst eine runterhauen.
Sumpex erahnte wieder eine Bewegung genau hinter sich, noch bevor Ryans lautstarke Warnung zu ihm durchdringen konnte. War Quappo schon wieder auf den Beinen? Völlig egal. Er ballte eine Faust und drehte sich mit der Wucht seines gesamten Körpers, den Hammerarm im Anschlag.
Der Aufprall erinnerte an zwei kollidierende Stahlträger. Es schüttelte Ryan und Mila noch tief im Brustkorb – ganz zu schweigen von dem ohrenbetäubenden Schlag, den das Trommelfell wegzustecken hatte. Alles im und um das Hörorgan vibrierte so fürchterlich, dass ihnen schwindelte. Der junge Trainer schwor, der Schall klang hoch bis unter seine Schädeldecke, verzerrte ihm sogar einen Moment lang die Sicht. Dennoch hafteten seine Augen eisern an Sumpex. Und dessen Arm ebenso fest an dem stumpfen Ende des riesigen Metallbolzens, der ihn da gestoppt hatte, und der mit einem schweren, stahlblauen Körper verbunden war. Zwei blutrote Augen saßen dort einer Vertiefung und starrten ihn böswillig an. Sumpex Miene verfinsterte sich. Energisch und widerspenstig grollte er den Koloss an. Der zog die aufgefangene Faust daraufhin mit einer fast schon mechanisch wirkenden Bewegung zum Boden herunter und entblößte damit die offene Seite des Wasserpokémons. Aus einer Drehung heraus schlug der zweite Vorderarm wie eine Keule gegen seine Schläfe und hämmerte ihn seitlich in die Treppe, direkt neben Rossana, die es durch den Einschlag nach vorne warf und benommen hustete. Diesmal bog und barst das stählerne Geländer so stark, dass das ganze Konstrukt in Schieflage geriet und Lydia einen alarmierten Schritt zurücktat, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Lange Risse sprangen fast bis zur obersten Stufe und aus diversen weiteren brachen Brocken heraus. Der eben noch so bohrende Blick des Amphibiums war für einen Moment leer und erschüttert, zeigte Andeutung des Bewusstseinsverlustes.
„Sumpex!“
Ryan machte einen Schritt nach vorn, wurde jedoch von Mila gestoppt, ehe er auf die Idee kommen konnte, sich weiter zu nähern. Nicht, dass sie kein Verständnis für diesen zugegebenermaßen dummen Impuls verspürte. Sumpex‘ Anblick war elend und mitleiderregend. Er lag dort zwischen Trümmern und Metallstreben und suchte benommen mit einer freien Hand nach einem Halt, nach einer Stützte. Ein dicker Film aus Rot lief seine Schläfe hinab und auch aus der Brust verlor er weiter Blut. Metagross setzte selbst nicht nach, sah lediglich geringschätzig und teilnahmslos auf seinen Gegner herab, während hinter ihm ein sehr zufriedenes und sadistisches Lächeln über dem Kampf zu thronen schien. Der Schwarze Lotus hatte sich sehr bewusst zurückgehalten und das Feld den untergeordneten Agenten überlassen, wissend, dass sich diese, trotz ihres hohen Ranges, kaum Chancen auf einen Sieg ausrechnen konnten. Die allerbesten aus dem Hoenn-Zweig hatte sie herausgesucht. Und selbst deren Pokémon waren nichts als Bauernopfer gewesen, die sie Welle für Welle vorausgeschickt hatte, bis die schiere Überzahl, sowie die natürliche Schwäche gegen Eis, die Zwillingsdrachen in de Knie oder zumindest in die Defensive gezwungen hatte. Nun besaßen sie und Metagross sehr viel Spielraum – und nach wie vor unheimlich viel Kraft.
Doch da leuchtete plötzlich etwas in Metagross‘ Augenwinkel auf. Ein grelles Weiß, begleitet von einem nach Gesang anmutenden Kampfschrei. Latios hatte seine Kräfte bündeln können und war bereit, diesen Kampf zu beenden. Sein Leib wurde erneut von weißen Lichtpunkten umtanzt, die blaue und purpurfarbene Reflexe absonderten. Gleich würde das Bombardement von neuem beginnen. Und es würde die kläglichen Überreste von Team Rockets Kampfkraft zersprengen wie Laub.
Da erschrak Latios jedoch durch einen plötzlichen, verräterischen Laut in seiner Flanke. Es war das Wispern eines Geistes, der buchstäblich eine fröstelnder Kältehauch mit sich trug. Als würde man in eine Eishöhle treten, durch deren Tunnel der Wind ein schauriges Echo sandte. Frosdedje hatte sich mit ähnlicher Hinterlist an Latias herangeschlichen, wie Drifzepeli es vorgemacht hatte. Die Geisterdame hatte bereits einen Arm ausgestreckt. Mehrere spitze und scharfkantige Eissplitter zielten auf den Schädel seiner Schwester. Die war zwar noch bei Bewusstsein, aber unfähig, aufzustehen. Realisierte nicht einmal, dass sich der Feind direkt neben ihr Befand. Fast wie der Scharfrichter mit dem Henkersbeil. Mila erspähte es aus dem Augenwinkel. Zu spät. Sie rief Latias‘ Namen, genau wie ihr Bruder.
Der Einschlag kam so plötzlich, dass Frosdedje später nicht einmal mehr wüsste, wer oder was sie da getroffen hatte. Latios hatte nicht sein ganzes Arsenal abgefeuert. Lediglich einen einzelnen Schuss. Dieser hatte bereits genügt, um ein tiefes Loch in den Boden zu sprengen und den hinterhältigen Angreifer die halbe Distanz zur Decke hinauf zu katapultieren. Die Arme ruderten schlaff und kraftlos in der Luft. Rein gar nichts regte sich mehr. Auch nicht bei der Landung, die erst eine gefühlte Minute später in der Ferne des Rundlaufes stattfand.
Der Schwarze Lotus schmunzelte und legte den Kopf verträumt auf die Seite. Ein hohes Maß an Zufriedenheit und Amüsement zierte die dezent geschminkten Lippen. Aber auch ein winziger Hauch des Mitleids. Rayquazas Kinder waren so leicht zu lesen. Und daher auch so leicht zu manipulieren. Latios vergaß einfach alles um sich herum, sobald seine Schwester in Gefahr geriet. Das war einerseits überaus ehrbar und vorbildlich in seiner Rolle als großer Bruder. Welch rührender Geschwisterliebe sie hier Zeugin wurde. Jedoch war sie in gleichem Maße töricht und kurzsichtig in Bezug auf diesen Kampf. Latios besaß alle Mittel, um ihre Agenten in alle Winde zu zerstreuen und selbst ihr Metagross zu schlagen. Es handelte sich schließlich nach wie vor um legendäre Drachenpokémon, wenn auch beileibe nicht um die Mächtigsten ihrer Familie. Er hätte Latias ganz einfach aufgeben sollen. Oder wenigstens auf ihre Zähigkeit vertrauen und sich auf den Angriff konzentrieren. Seine Fürsorge war seine Schwäche. Sowie sein Verhängnis.
Die Rocket Agenten benötigten keine konkrete Anweisung ihrerseits oder von Carlos. Dennoch schrie letzterer die Verbliebenen nochmals nach vorn. Er selbst hatte schließlich keine andere Möglichkeit, um weiter am Kampf teilzunehmen. Rasaff war nicht länger bei Bewusstsein, weswegen er bei nächster Gelegenheit in seinen Pokéball zurückgerufen wurde. Ganz im Gegensatz zu Lydia. Scheinbar zu frustriert über Omots erneute Niederlage ließ sie die Giftmotte fallen.
Quappo und Gastrodon hatten sich gerade noch einmal aufgerafft und feuerten mit Eisstrahl. Latios erkannte die Gefahr gerade noch rechtzeitig und ließ sich mit einer Rolle etwas tiefer fallen. Womit er einem direkten Treffer entgangen war, doch da kreuzte einer seiner Flügel die Schussbahn von Gastrodons Attacke. Sofort fror dort ein schwerer Klumpen, der ihn gen Boden zu reißen versuchte und mit beißender Kälte an seinen Reserven zerrte. Zum ersten Mal schrie er vor Schmerz und sackte auf die Seite. Die Kälte kroch nicht langsam und quälend in seinen Körper, sondern überwältigte ihn, wie eine Flutwelle. Nicht nur die Nerven, sondern auch die Wahrnehmung wurde zu Teilen betäubt, sodass er völlig vergaß, wer sich noch vor ihm befand. Rossana war die letzte Verbliebene, obgleich sie arg wankte und ein Auge stetig zusammengekniffen hielt. Ihr Schädel pochte, als sie ihr ein Amboss darauf gefallen. Aber sie stand. Mit schweren Atemstößen setzte in Form von Blizzard nach. Diesmal gab es kein Entrinnen für den Drachen. Ryan und Mila sahen mit Entsetzen und vollkommen hilflos zu, wie ein Sturm aus Schnee und Eis über Latios hereinfiel und er zum ersten Mal gequält zum Himmel hinauf schrie.
So wortgewandt und eloquent war er für sein junges Alter – und doch würde er den Menschen niemals nachvollziehbar erklären können, wie fürchterlich sich das Eis für ihn und seine Artgenossen anfühlte. Es biss, es stach, es brannte. Es krallte sich in Fleisch und Muskeln, fester and es jede Klaue der Pokémonwelt vermochte. Eiskristalle benetzten seine Haut, stachen giftig und erbarmungslos hinein, wie tausende rostige Nadeln. Was man zunächst für ein Zittern aufgrund der Kälte halten konnte, war in Wahrheit das Zucken geschädigter Nerven. Latios‘ Kraft versagte und das Bewusstsein verließ ihn mehr und mehr. Die Taubheit in den Gliedern setzte binnen weniger Sekunden ein und obwohl sein ach so zäher und willensstarker Geist noch arbeitete, entglitt ihm die Kontrolle über den eigenen Körper.
„Latios!“, schrie Mila laut und entsetzt. Noah versuchte eigens, mit Hydropumpe Hilfe zu leisten, woraufhin sich auf einmal Gastrodon in den Vordergrund schob. Flink und geschmeidig glitt es über Eis und Wasser, und schützte Rossana mit nichts als seinem Körper. Mehr war auch nicht nötig. Diese Gattung besaß trotz des Boden-Typs eine natürliche Immunität gegen Wasser Attacken. Quappos Eisstrahl wurde indessen umgelenkt und traf Latios nun direkt auf die Brust. Die sprießenden Zapfen brachen ob des Blizzards teilweise wieder ab, doch linderte dies keinesfalls den Schmerz. Seine Schreie röchelten und erstarben. Der Blick wurde leer und ziellos. Bald verschwanden die Pupillen und die Schwebe versagte.
„Nein! Aufhören!“
Es war erbärmlich und tragisch, worum Mila da flehte und natürlich würde die Bitte unerhört bleiben. Doch sie konnte das einfach nicht mit ansehen. Ob Noah, Neyla, oder eines der vielen Pokémon, die sie frei begleiteten – sie alle zusammen würde sie lieber auf diesem Schlachtfeld sehen, würde sie eher opfern, anstelle der Zwillingsdrachen. Nun war sie das Wagnis dennoch eingegangen, um Ryan zu retten und auf die Chance zu pokern, den Schwarzen Lotus schlagen zu können. Und sie hatte verloren.
Latios fiel. Seine Stimme versagte fast im selben Moment. Brust und Arme waren bereits unter einer schweren Eisschicht bedeckt, welche beim Aufprall mitsamt unzähliger Scherben aus Zapfen und Schollen sowie dem zerstörten Fußboden, fast vollständig wieder aufgeschlagen wurde, was einen so lauten Schlag auf dem Beton erzeugte, dass es Ryan und Mila in der Ohrmuschel schmerzte. Trotzdem zuckten sie kaum. Sahen stattdessen konsterniert auf die regungslosen Körper der Zwillingsdrachen. Der junge Trainer in seiner feinen, doch längst ruinierten Garderobe, war wie versteinert. Fassungslos und sich stur gegen das, was seine Augen ihm zeigten, sträubend, lenkte seinen Blick hilfesuchend zu Sumpex, der gerade nach vorn kippte, sich endlich aus den Trümmern aus Stahl und Beton zu befreien vermochte. Jedoch war dies kein Aufbäumen und kein letzter Akt des Willens. Sumpex ging in die Knie und sackte kraftlos nach vorn. Das Kinn schlug abermals Reste des Eises klein, das als Kampfspuren geblieben waren.
Ryans Knie wurden ebenfalls weich. Sein Kiefer spannte sich dafür so stark, dass ihn jetzt ein lautes Knacken von selbigem kaum überrascht hätte. Himmel, er hätte es vermutlich nicht einmal gespürt. Dagegen blieb Mila noch geistesgegenwärtig, wenn auch nicht weniger ratlos. Aber irgendwas musste sie tun. Egal wie aussichtslos, egal wie verzweifelt. Das war sie schließlich seit Wochen, wenn nicht Monaten.
„Noah!“
Das Milotic schlängelte sich ein Stück nach vorne und holte bereits Luft für Eisstrahl, da Hydropumpe keine Option mehr darstellte, solange Gastrodon auf dem Feld war. Mila griff außerdem unter ihren Mantel und langte nach Neylas Pokéball. Den hatte sie noch nicht einmal vergrößert, als die Stimme des Schwarzen Lotus souverän durch den Eingangsbereich hallte.
„Hyperstrahl.“
Direkt vor dem grauen Metallkreuz auf Metagross‘ Gesicht glimmte eine goldene Energiekugel auf. Einen winzigen Moment lang war alles still. Die Säulen, stehend und zerstört, welche diesen Kampf bezeugten, warfen lange Schatten. Das Licht wurde so intensiv, dass die Drachenpriesterin nicht einmal mehr fünf Meter weit sehen konnte. Ryan gab dem Reflex nach, seine Augen zu schützen und dennoch schmerzte das Licht. Als erstes spürte er die Hitze. Nicht unmittelbar auf seiner Haut, sondern eher, als würde man sich zu nahe an einen Brand wagen. Und für sein Empfinden war es bereits viel zu nah!