...ist eine Weile her. In letzter Zeit ging das Schreiben nicht besonders gut von der Hand, aber jetzt ist Kapitel 70 endlich da!
Ich kann´s so ganz nebenbei kaum fassen, jetzt diese Marke erreicht zu haben. Anfangs hätte ich niemals erwartet, dass sich diese Geschichte so strecken würde. Und das Ende ist noch nicht mal in Sicht! Ich sollte btw. unbedingt mal den Startpost überarbeiten und ihm eine bessere Charakter- sowie Kapitelübersicht spendieren. Diese Fanfiction ist einfach so viel größer geworden, als geplant.
Kapitel 70: Maskenball
Ryan
war einer der wenigen, die Bellas Auftritt nicht mit Applaus
quittierten, was zum Glück von keinem bemerkt wurde, da er und
Audrey etwas abseits der Masse stationiert waren. Und nicht einmal
die nahm Notiz davon. Dafür war sie zumindest für einen kurzen
Moment selbst zu eingenommen von Bellas erhabener Erscheinung. Es
frustrierte den Blonden zunehmend, dass sie nicht von ihrer wahren
Identität wusste und gleichzeitig war er froh, solange sie im
Unwissen verblieb. Er konnte nicht zulassen, dass sie in den Krieg
mit Team Rocket verwickelt wurde. Freilich war sie eine überaus
starke Trainerin und hasste diese genauso wie jede andere kriminelle
Organisation, die Pokémon nur als Waffen einsetzten, um irgendwelche
radikalen oder utopischen Interessen zu verfolgen. Aber das hier war
einfach zu gefährlich. Bella
war zu gefährlich. Und die war noch nicht einmal das größte
Problem.
Die
Agentin schüttelte dem Chief weiteres Mal die Hand. Sie streckte sie
gar aus, als erwarte sie einen Handkuss und so adrett, wie der Chef
der PTG bislang aufgetreten war, hätte es kaum jemanden schockiert,
wenn er das durchgezogen hätte.
Andrew
hatte lediglich einen Schulterblick Richtung Eingang gewagt. Ihm
verging schon durch ihre Anwesenheit der Appetit was vollständig.
Die Aufmerksamkeit, welche sie auf sich zog, war der bittere
Beigeschmack zu jedem Bissen. Sie hätte sich wenigstens noch Zeit
lassen können, bis er die Creme Brûlée probiert hatte. Jetzt
konnte er nur noch aus Frust weiteressen.
Wenig
überraschend war der Chief nicht der Einzige, der Bella noch einmal
persönlich gratulieren wollte. Mehrere Männer in Anzügen drängten
sich an sie heran und versuchten mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Vermutlich ebenfalls Geschäftsmänner, die sich eine Partnerschaft
erhofften. Taktloses Gesindel. Das war sicher nicht der Sinn dieses
Balls. Allerdings hatte sich Bella davor auch ziemlich schnell aus
dem Staub gemacht. Ein paar der anderen Trainer hatten sich ebenfalls
in ihre Richtung gewagt, hielten aber etwas mehr Abstand. Scheinbar
hatte sie auch unter jenen ein paar Bewunderer gewonnen. Madam
Genevieve war wohl die einzige Person außerhalb von Milas
Gefolgschaft, die so gar nicht von Bellas Anwesenheit erfreut war.
Die gesamte Aufmerksamkeit, die sie bis eben noch genossen hatte, war
zur Turniersiegerin gewechselt.
Eben
die ließ sich aber gar nicht groß auf irgendwelche Gespräche ein
und schlüpfte einfach durch die Leute hindurch, war urplötzlich auf
der Tanzfläche und flanierte schnurstracks darüber. Sie schien das
Buffet anzusteuern, was Andrew augenblicklich zum Rückzug bewegte.
Grantig goss er sich ein Glas Punsch ein und kehrte ihr den Rücken.
Er ahnte es nicht, aber sie fand es fast ein bisschen schade. Sie
hätte durchaus Lust gehabt, das Versäumnis vom Vorabend aus der Bar
nachzuholen.
Da
traf es sich gut, dass scheinbar noch jemand anders Durst hatte. Auf
halben Weg zurück an seinen Tisch, passierten Andrew und Ryan
einander. Der Blonde sondierte mit seinen marineblauen Augen jedoch
ausschließlich die Speisen und Getränke auf dem Tisch. Bella
schenkte er nicht die geringste Beachtung. Mila hatte ihm empfohlen,
kein Gespräch mit ihr zu suchen und er hatte vor, sich daran zu
halten. Aber er würde ihr auch nicht ununterbrochen ausweichen. Das
könnte nämlich denselben, negativen Effekt haben.
„Bist
du heute dran, mit mir zu plaudern?“
Völlig
unbeirrt schenkte er sich ein Glas Bowle ein, sah sie nicht einmal
an, sondern starrte für einen Moment geradeaus, als müsse er die
dumme Frage erstmal verarbeiten und schüttelte den Kopf über ihre
Gedankenlosigkeit.
„Was
genau stellst du dir vor? Dass wir Strohhalme ziehen?“
Er
blickte durch die verglaste Außenwand auf die mäßig beleuchteten
Straßen. Durch die inzwischen eingetretene Dunkelheit sowie das
helle Licht hier im Saal, sah er jedoch fast ausschließlich sein
Spiegelbild. Und das von Bella, die sich ihm mit einem süffisanten
Grinsen näherte. Er gab sich allergrößte Mühe, um nicht vor
Anspannung zu verkrampfen, beobachtete aber trotzdem ganz genau, was
ihre Hände anstellten. Stellte sich heraus, dass sie lediglich
ebenfalls nach einem Glas fischte und sich von der knallroten
Flüssigkeit nahm, in der diverse Beeren am Boden der Schale
schwammen.
„Jetzt
sei mal nicht so. Ich habe heute Abend nicht vor, jemanden
aufzufressen.“
Eine
Hand legte sich auf seinen Oberarm, wie von einer Person, die
trügerische Ehrlichkeit vorgaukeln und des Gegenübers Misstrauen
senken wollte.
„Du
bist angespannt“, stellte sie fest. Hatte sie das jetzt echt anhand
dieser sachten Berührung erkannt? Sie sagte dies lächelnd, aber
nicht belustigt. Die Aussage war eher nüchterner Natur. Ryan lugte
sie nur aus dem Augenwinkel an, ließ die Worte aber unkommentiert.
Die
Hand wurde jedoch zurückgezogen, nachdem Bella an der Bowle genippt
hatte. Gleichzeitig verzog sich ihr Gesicht zu einer enttäuschten
Visage.
„Ist
da überhaupt was drin?“
Sicher
sprach sie von Alkohol. Scheinbar hatte sie aber ihren Flachmann
nicht dabei, um da nachzubessern. So ließ sie das Glas einfach
stehen.
Mit
einem Stoßseufzer sah sie ebenfalls in ihrer beider Spiegelung in
der Glaswand. Ihr Bick verändert. Weniger feist und vergnügt,
sondern ernster.
„Und?
Bist du endlich überzeugt?“
Es
blieb noch lange still. Weder antwortete Ryan, noch wurde die Frage
wiederholt. Er überlegte sehr genau, wie er antworten sollte. Mit
einem scharfen Seitenblick in Bellas Richtung befeuchtete er die
Lippen.
„Von
deinen Trinklaunen? Schon seit gestern Abend.“
Sie
allein hatte Petes halbe Bar leer gesoffen. Jeder normale Mensch wäre
von diesem Gelage noch gar nicht wieder erwacht. Bella schmunzelte
hierüber nur. Was eine Ironie. Ausgerechnet dann, wenn sie mal ernst
mit ihm reden wollte, ließ er es wiederum sein, die Spaßbremse zu
geben. Um dem einen Riegel vorzuschieben und zu verhindern, dass Ryan
den Spieß hier umdrehte, zog sie ihn plötzlich mit einem strammen
Ruck an seinem Ärmel zu sich heran. Ihre Gesichter nur wenige
Zentimeter voneinander entfernt. Und nun funkelten ihre Augen wieder
wie die eines Snobilikat, das die Fassade der Schmusekatze fallen
ließ und sich als hungriges Raubtier zu erkennen gab.
„Dass
ihr chancenlos seid, meine ich.“
Ryans
Kiefer hatte sich arg angespannt. Diese Drohgebärde kam unerwartet.
Aber er schaffte es irgendwie, sich unbeeindruckt zu geben. Mehr oder
weniger. Und nach einem Moment des Sammelns konnte er sogar mit einem
souveränen Grinsen antworten.
„Na
wenn dieses Finale für dich ein Totschlagargument ist.“
Sie
legte den Kopf schief. Fragte somit, was denn falsch an dieser
Annahme wäre. Sein Grinsen wurde daraufhin breiter und er kam sogar
noch ein bisschen näher.
„Nur
so. Seine besten Trümpfe verspielt man nicht in so einem
unbedeutenden Kampf. Das sollte jemand wie du eigentlich wissen. Aber
vielleicht hab ich dich auch zu klug eingeschätzt.“
Er
hatte noch nie so schamlos und mit so viel Überzeugung gelogen. Ryan
hatte alle seine Register im Finale gezogen und wüsste auch jetzt im
Nachhinein nicht, was er hätte besser machen können. Zudem war
seine Schmähung absolut ungerechtfertigt, sollte sie lediglich vom
eigentlichen Thema ablenken, vielleicht auch ein bisschen
provozieren. Er schämte sich selbst ein bisschen dafür. Besser
aber, er gewöhnte sich dran. Ans schmutzig machen.
Dennoch
war er felsenfest überzeugt, dass er und seine Pokémon bei ihrem
nächsten Aufeinandertreffen noch stärker und letztlich auch
siegreich sein würden. Einen Rückhalt für diese Überzeugung hatte
er allerdings nicht. Außer die, dass er jetzt um Zoroarks Trick
Bescheid wusste.
Seine
Selbstsicherheit, auch wenn sie teilweise Scharade war, bröckelte
urplötzlich, als sich Bella unerwartet zu ihm hinauf streckte. Eine
Hand griff nach seiner Schulter und hielt ihn nahe bei ihr. Er spürte
ihrem Atem an seinem Ohr. Und vernahm ein schalkhaftes Geflüster.
„Wer
sagt denn, dass ich meine Trümpfe verspielt habe?“
Der
Johtonese schluckte und fühlte eine Schweißperle auf seiner Stirn.
Das wurde ihm hier alles schlagartig doch zu brenzlig. Aber er musste
sich zusammenreißen, durfte jetzt nicht Hals über Kopf die Flucht
antreten. Er hielt dem Drang, zurückzuweichen und sich aus Bellas
Reichweite zu entfernen stand.
Glücklicherweise
hielt sie diese Nähe nicht lange und trat nun wieder einen Schritt
von ihm zurück. Ihre Arme verspielt auf dem Rücken verschränkt und
mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. Ryan machte sich
nicht länger die Mühe, eine Maske aufzusetzen. Wie Mila es ihm
gesagt hatte – das waren ihre Spielchen. Nicht seine. Er würde
geduldig bleiben, bis er seinen Zug machen konnte. Bis er seine
Stärken ausspielen konnte. Er atmete einmal tief durch. Natürlich
wurde das mit einem schelmischen Heben der Augenbrauen quittiert und
Bellas Lächeln wurde noch ein wenig breiter. Sollte sie doch. Er
verschaffte sich mit einem Rundblick etwas Bedenkzeit, um zu
überlegen, was er als nächstes sagte. Irgendetwas musste er sagen.
Sie wartete regelrecht darauf. Und er musste irgendwie sein Gesicht
wahren. Mit einem Stoßseufzer schüttelte er die Anspannung ab. Aus
einer inzwischen ungewohnt gewordenen Gewohnheit hätte er beinahe in
seine Hosentasche gegriffen. Wo der Drachensplitter mit sich trug.
Fast musste er über den Impuls lachen, doch schämte er sich in
erster Linie für ihn. Darüber war er doch hinaus. Er brauchte ihn
nicht, um sich zur Ruhe zu zwingen. Er war stark genug, seine
Emotionen auch ohne das Ding zu kontrollieren.
„Wenn
du dich so in der Öffentlichkeit an mich schmeißt, werden noch
Gerüchte über uns entstehen.“
Ihre
Reaktion hierauf festigte nur Ryans Theorie, dass Bella wirklich an
allem, was er oder Andrew von sich gaben, etwas Amüsantes finden
konnte. Er konnte sich einfach nicht erklären, was genau sie jetzt
zum Schmunzeln brachte, hatte jedoch aufgehört darüber zu
spekulieren. Dennoch hielt sie es für angebracht, ihn etwas
zurechtzustutzen.
„Schmeichel
dir nicht zu sehr.“
„Dir
so nahe zu sein hat nun wirklich nichts Schmeichelhaftes an sich“,
konterte er überraschend schlagfertig, aber absolut wahrheitsgemäß.
Ryan befand, dass seine Antwort einen guten Schlussstrich unter
diesem Gespräch ziehen würde und drehte sich bereits auf dem
Absatz. Bella machte seinen Plan allerdings zunichte. Wieso um alles
in der Welt stoppte er eigentlich immer, wenn sie ihm hinterherrief?
„Ihr
seid euch wirklich ähnlich.“
Meinte
sie ihn und Andrew? Klar hatten sie Ähnlichkeiten. Da hatten beste
Freunde meist an sich...
„Mila
muss einen großen Einfluss auf dich haben.“
Die
Stirn des jungen Pokémontrainers runzelte sich nur sehr leicht.
Dafür wollte er sich glatt selbst auf die Schulter klopfen.
Eigentlich fühlte er nämlich einen Drang, sie in tausend Falten zu
legen. Er sah nun wirklich keine nennenswerten Gemeinsamkeiten
zwischen sich selbst und der Drachenpriesterin. Was die Frage
aufwarf, wessen Urteilsvermögen hier auf Abwegen war? Seines oder
Bellas? Die Agentin lehnte sich an den Tisch und sah sich weiter im
Saal um. Keine Spur von Mila oder ihrer Partnerin. Das war wenig
verwunderlich.
„Ist
sie nicht hier?“
Selbst
wenn Ryan wüsste, wo sie sich gerade herumtrieb – wie kam Bella
auf die Idee, er würde es ihr verraten? Sein trockenes Schnauben
verriet ihr seinen Gedanken haargenau. Ein wenig entrüstet über das
Misstrauen und die kalte Schulter sah sie dennoch ein, dass die Frage
gedankenlos gewesen und eine Antwort drauf eindeutig zu viel verlangt
war.
„Sie
hält sich beeindruckend lange über Wasser“, meinte sie und griff
sich einem Cocktailspieß.
„Aber
die See ist tief und dunkel. Sobald der Sturm losbricht, wird sie in
den Wellen verschwinden.“
Mit
dieser Prophezeiung machte sie ihren Abgang. Bestimmt gab es drüben
an der Bar bessere Getränke, um sich den Abend schön zu saufen.
Ryans
schöner Abgang war dahin. Das letzte Wort hatte Bella gehört. Mal
wieder. Definitiv aber zum letzten Mal. Das schwor sich der junge
Trainer an Ort und Stelle, allerdings ohne bissige Rachegelüste.
Auf
seinem Weg zurück an den gemeinsamen Stehtisch machte er einen
Schlenker zu einem der Kellner und erleichterte ihn um zwei
Sektgläser. Bella würde ihn vermutlich auslachen, aber ihm reichte
das vollkommen, um die Anspannung etwas zu lockern. Er atmete einmal
tief durch, als er in die Runde aus Andrew, Sandra und Audrey
zurückkehrte. Alle drei unterbrachen die Unterhaltung bei seiner
Ankunft und die Menge an Getränken, die er scheinbar nur für sich
mitgebracht hatte, besaß durchaus Anteil an ihrem Schweigen. Das
erste Glas trank Ryan sofort in einem großen Zug aus. Er merkte er
jetzt, wie heiß ihm war. Ein Glück war er vor Bella nicht in
Schweiß ausgebrochen.
„Die
Frau scheint dich echt fertig zu machen“, spekulierte Audrey mit
einem Blick über die Schulter, welcher der Turniersiegerin folgte.
Sie lachte jedoch nicht darüber. Eher begann sie zu hinterfragen,
was denn zwischen den Beiden passiert oder gesagt worden sein musste,
dass es Ryan Carparso derart schlauchte. Er war nicht gerade das, was
man ein Nervenbündel nannte. Die wenigsten Trainer gingen ihm unter
die Haut.
„Du
hast ja keine Ahnung“, antwortete er, ohne Audrey anzusehen und
nahm auch aus dem zweiten Glas den ersten Schluck. Eigentlich ein
unkluger Kommentar, aber leider der Wahrheit entsprechend. Er sollte
das Thema lieber schnell wechseln.
„Alles
okay mit Herrn Nowak?“, erkundigte er sich daher bei Sandra. Er
irrte doch nicht. Sie machte einen durchaus glücklichen Eindruck.
„Besser
als okay“, antwortete Andrew für sie und forderte mit einem Nicken
in ihre Richtung, dass sie auch Ryan die Neuigkeit mitteilte.
Ausnahmsweise ließ sie sich da nicht zweimal bitten.
„Das
Generalamt schenkt mir scheinbar uneingeschränktes Vertrauen. Herr
Nowak bietet an, meine Stelle als Arenaleiterin auf Lebenszeit zu
gewährleisten.“
Da
staunte der Blonde nicht schlecht. Er hätte jetzt nicht einmal
gewusst, dass sowas überhaupt möglich ist. Geschweige denn
tatsächlich angeboten wird.
„Im
Ernst jetzt? Dann sind wohl Glückwünsche angebracht?“
Mit
dem Versuch, hiermit die Stimmung wieder etwas zu lockern hob er sein
Glas und tatsächlich stießen Andrew und Audrey sofort mit an.
Schön, dass es heute noch eine erfreuliche Botschaft gab. Und freuen
taten sie sich alle drei für die Arenaleiterin. Sie besaß ihrer
aller Respekt und hatte diese Ehrung in ihren Augen völlig verdient.
Somit brauchte sie sich um die Zukunft nie wieder Gedanken machen.
Sie konnte Arenaleiterin bleiben, solange sie wollte. Audrey kam
dennoch nicht drum herum, sich über den Hintergrund dieses Angebots
zu wundern. Angeblich bot man solche unbefristeten Lizenzen in der
Regel an, um zu verhindern, dass ein Leiter oder eine Leiterin vom
Generalamt einer anderen Region abgeworben werden konnte. Das geschah
zwar nur selten und wer Sandra auch nur ein bisschen kannte, wusste
ganz genau, dass kein Job oder Geld auf dieser Erde sie aus Ebenholz
wegzulocken vermochte. Scheinbar war Herr Nowak wirklich ein
Anständiger, wenn er dieses Angebot unterbreitete, obwohl er
Kenntnis darüber haben und dieses Angebot daher gar nicht zwingend
unterbreiten musste. Eine strategische Entscheidung war dies somit
keineswegs, sondern ehrliche Anerkennung. Und das schon in so jungen
Jahren! Es gab durchaus Arenaleiter, die als Sandras Großeltern
durchgehen würden. Doch ihr Stolz und ihr Siegeswille würden auch
in zehn oder selbst zwanzig Jahren kein bisschen nachgelassen haben.
Dafür ehrte der Titel der stärksten Leiterin Johtos sie selbst und
ihre geliebte Stadt viel zu sehr. Und Jugend ließ außerdem immer
noch Spielraum für Wachstum.
Während
sie weitere Details erläuterte, bemerkte die Gruppe erst
nacheinander den Kellner, der plötzlich an ihrem Tisch gestoppt
hatte. Die Drachenmeisterin, in deren Rücken er stand, drehte sich
ihrer aller Blicke folgend und wurde von dem jungen Mann direkt
adressiert.
„Eine
Aufmerksamkeit für Sie, Miss.“
Er
hielt ein Tablett mit einem einzelnen Glas unter ihre Nase. Eine
leicht trübe Flüssigkeit mit starkem Geruch war eingeschenkt
worden. Definitiv kein Sekt, so viel stand fest. Das war was
Stärkeres.
„Ich
habe keine solche verlangt“, entgegnete Sandra mit hochgezogener
Braue. Sie war misstrauisch. Das konnte ja von jedem kommen.
Vielleicht hatte Bella ihn geschickt und das Getränk mit Gift
vermischt. Grenzte vielleicht ein bisschen an Paranoia, aber die
hatte sie in den letzten Wochen mehr als einmal am Leben gehalten.
„Ich
darf dies von einem gewissen Pete überbringen. Bitte, Miss“,
drängte der Mann weiter, blieb aber überaus höflich. Hätte er den
Namen mal gleich genannt. Audrey, die als einzige nichts mit diesem
anzufangen wusste, sah sich verwirrt in der Runde um. So entging ihr,
ganz im Gegensatz zu Ryan, wie Sandras Augen für einen winzigen
Moment groß wurden und ihre Brauen zuckten. Was hatte Pete ihnen
denn hier und jetzt so Dringendes mitzuteilen? War der Kellner ein
getarnter Kontakt von ihm? Sie nahm sich sodann nicht nur das Glas,
sondern auch gleich den Untersetzer vom Tablett und hielt ihn gegen
den Boden gedrückt. Sehr suspekt, befand der junge Pokémontrainer.
„Hast
du´n heimlichen Verehrer?“, fragte Audrey mit einem schelmischen,
neugierigen Blick. Die Arenaleiterin war um eine banale Miene und
Sorglosigkeit bemüht. Ryan und Andrew vermochte sie, nach all ihrer
Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten, nicht mehr zu täuschen.
Aber in ihrem Fall war das auch nicht nötig.
„Wäre
zumindest nicht der erste.“
Da
sprach sie sogar die Wahrheit.
„Angeberin“, stieß Andrew
hierauf zwischen den Zähnen hervor, worauf die Trainerin aus Rosalia
ihm eine spaßhafte Standpauke hielt. Nicht über Taktlosigkeit,
sondern wie sehr Sandra jeden möglichen Verehrer auf dieser Welt
verdient hätte. Fast schon, als würde sie sich selbst dazuzählen.
Und wäre die Stimmung unter den drei Eingeweihten nicht schlagartig
so ernst geworden, hätten sie nun alle darüber lachen müssen.
Dieser
Moment schuf zumindest eine Gelegenheit, die Botschaft von Pete zu
überprüfen. Ryan erkannte, wie Sandra das Glas vom Untersetzer
anhob und letzteren eingehend betrachtete. Stand etwas darauf
geschrieben?
Nicht
nur das. Es musste sich um eine sehr bedeutende Botschaft handeln.
Sonst hätte sich Pete sicher nicht die Mühe gemacht. Und sonst
würde Sandras Gesicht sicher nicht so bleich werden. Ryans Herz
begann schneller zu schlagen. Etwas war los. Etwas war passiert. Aber
mit Audrey am Tisch konnten sie nicht frei reden. Ein Glück hatte
sie sich erst so leicht von Andrew ablenken lassen. Jetzt aber musste
er sie zumindest für einen Moment hier wegschaffen.
„Hey
Audrey, hast du Lust zu tanzen?“
Etwas
verblüfft drehte sie sich zu Ryan um. Eine Augenbraue war
herausfordernd angehoben, genau wie die Mundwinkel. Diese Mimik legte
den Vorschlag definitiv als mutig aus.
„Willst
du das echt riskieren?“
Sie
wusste, dass er das draufhatte. Bei ein, zwei Gelegenheiten hatte sie
sich bereits davon überzeugen können. Aber ihre Zweifel betrafen
auch nicht ihn, sondern sich selbst. Tanzen – zumindest in diesem
Ambiente – war eigentlich nicht wirklich ihr Ding.
Mit
einem neckischen Zucken der Achseln forderte Ryan sie heraus. Er
wusste genau, wie man sie zu überreden hatte.
„Keine
Sorge. Ich führe“, meinte er selbstsicher und reichte ihr eine
Hand. Mit Eifer und Selbstvertrauen war Audrey immer leicht
beizukommen. Es half auch durchaus, wenn man keine Scheu zeigte, sich
ein wenig zu blamieren. Mit ihr als Partnerin auf dem Parkett war das
fast garantiert, so ihre eigene Meinung.
„Du
weißt, dass ich das noch nie gemacht hab?“, fragte sie, obwohl sie
sich bereits von Ryan mitziehen ließ.
„Wen
soll ich jetzt noch gleich wie Guardevoir behandeln?“
Da
hatte er sie erwischt. Und sie wusste nicht einmal eine schlagfertige
Antwort, wie er an ihren rollenden Augen erkannte. Ein Nein
akzeptierte er hier sowieso nicht und ließ daher auch nicht von
Audrey ab.
„Komm
schon, du probierst doch gern Neues aus.“
Der
Rest ihres winzigen Widerstandes erlosch und die junge Trainerin
winkte den anderen Beiden am Tisch einmal keck goodbye. Dass denen
das Lächeln irgendwie abhandengekommen war, merkte sie zum Glück
schon gar nicht mehr. Stattdessen ging sie nun an Ryan vorbei und
somit selbst voraus, was ihm Gelegenheit gab, sich noch einmal rasch
hinüberzulehnen die Nachricht zu lesen, die Sandra zugeschoben
worden war und welche eben jene ihm mit ernster Miene vorzeigte.
Der
nächste Moment schien mehrere Minuten anzudauern. Ein winziger
Augenblick, in dem Ryan Carparso zirka hundert Gedanken und
Möglichkeiten auf einmal verfolgte. Die ihn beinahe vergessen
ließen, wo er war und was er hier tat. So war es nun wiederrum
Audrey, die an seinem Handgelenk zupfte und ihn Richtung Tanzfläche
zerrte. Den kurzen Weg dahin fühlte sich der Blonde wie in Trance.
In Gedanken ging er die fünf Worte, die er dort gelesen hatte,
unzählige Male durch, stellte sich eine wispernde Stimme vor, die
sie stetig wiederholte. Und doch war sie so laut, dass sie ihn in
seinen Grundfesten erschütterte.
Der
Schwarze Lotus ist hier.
Nur
wenige Leute hatten sich bislang auf die Tanzfläche verirrt. Die
Mehrzahl davon machten noch junge Turnierteilnehmer aus, die
versuchten, etwas Schwung in den so ereignislosen Abend zu bringen
und nacheinander ihre Schritte verglichen. Ein bisschen Fremdscham
wurde dafür in Kauf genommen, da die Musik bislang nicht zum Party
Hit taugte. Für einen ersten Tanz war ein flotter Walzer allerdings
gar keine üble Wahl.
„Wie
fangen wir an?“, erkundigte sich Audrey plötzlich von der Neugier
gepackt. Ryan musste sich jedoch erstmal wieder fassen. Dieser Tanz
war in seinen Grundschritten sehr simpel und doch hatte er für ein
paar Sekunden jeden einzelnen davon vergessen. Himmel, er hätte
selbst seinen eigenen Namen nicht gewusst, wenn man ihn eben danach
gefragt hätte. Die Gewissheit, dass Team Rockets Drahtzieherin
anwesend war und ihn in diesem Augenblick wahrscheinlich beobachtete,
bereitete ihm tatsächlich Übelkeit. Er musste unbedingt rausfinden,
wer es war. Nur hatte er sich mit seiner Ablenkungsmethode gerade
selbst ins Aus geschossen. Könnte er einen Hinweis erhaschen, wenn
er Bella beobachtete? Wo war sie eigentlich gerade? Verdammt, er
wusste ja nicht mal, wo Sheila oder Mila sich aufhielten! So viele
Fragen und kein Weg, auch nur eine davon zu ergründen. Er hatte
großes Glück, dass Audrey viel mehr damit beschäftigt war, auf
ihre eigenen Füße zu starren und Acht zu geben, nicht jetzt schon
auf seine zu treten.
Schnell
und unauffällig wischte Ryan den Schweiß von seinen Händen und
griff nach der linken von Audrey. Hier lagen seine Chancen, die
Identität des Schwarzen Lotus aufzudecken, praktisch bei null. Aber
letztlich war das auch nicht seine Rolle, nicht seine Aufgabe. Es war
die des Pokémontrainers, der einen spannenden Turniertag mit Tanz
und Trank ausklingen ließ. Mehr brauchte er gar nicht sein. Und er
hatte schließlich mehr als einmal gelernt, dass er sich auf die
Drachenpriesterin sowie ihre Assassinen-Partnerin verlassen konnte –
verlassen musste.
„Ganz
locker greifen“, wies er mit flacher Stimme an und verflocht seine
Finger mit ihren. Er war so leise, dass sie ihn fast nicht hörte.
Was daran lag, dass es sich bei diesem Satz um ein kurzes
Selbstgespräch gehandelt hatte. Fortan konzentrierte sich Ryan aber
auf Audrey. Er musste seinen Kopf tatsächlich kurz schütteln, um
ihn zumindest ein wenig freizubekommen.
„Die
andere Hand kommt hierhin.“
Er
legte ihre Rechte an seinen Oberarm, mit den Fingerspitzen auf den
Schulterballen. Seine eigene schlang sich um ihre Taille und griff
sie fest am Rücken, was Audery ein anzügliches Schmunzeln
entlockte. Wollte sie ihn aufziehen?
„Jetzt
fühl ich mich nicht wie Guardevoir, sondern wie Melody.“
„Lenk
deine Gedanken in eine andere Richtung oder ich lass dich fallen“,
drohte er bestenfalls halb ernst und konnte sich ein nervöses
Auflachen kaum verkneifen. Einfach nur auf die Schritte
konzentrieren. Das sollte ihn ablenken und seine Anspannung lockern.
„Zuerst
die Grundschritte. Einfach folgen.“
Bestimmt
und mit dem höchsten Maß an Selbstvertrauen, das er in dieser
Situation aufbringen konnte, führte Ryan sie mit sich. Er hielt es
vorerst simpel, was in ihrer beider Interesse sein dürfte. Aus
unterschiedlichen Gründen verstand sich.
„Es
sind sechs Stück. Einfach den Rhythmus fühlen.“
Ein
langsamerer Stil wäre vermutlich einfacher zu lernen, aber ein
solcher hätte Audrey vermutlich eingeschläfert und gar nicht erst
dazu verleitet, es mal selbst zu probieren. Wie jeder Anfänger sah
sie oft nach unten, wofür sie mit einem scharfen Laut getadelt
wurde.
„Ich
bin hier oben. Nicht gucken, nur fühlen!“
Er
zog sie etwas näher, sodass gar nicht erst der Platz blieb, um den
Kopf zu senken. Daraufhin fühlte er eine wachsende Spannung in ihrem
Rücken. Machte er sie etwa nervös? Zugegeben, sie waren sehr dicht
beieinander und die ersten Leute begannen, ihnen zuzusehen. Manche
fühlten sich sogar ebenfalls zum Tanzen animiert. Aber Ryan hatte
keinerlei Hintergedanken. Er gehörte Melody. Sonst niemandem.
Audrey
schien langsam ein Gefühl für die Schrittfolge zu bekommen. Wenn
die erstmal in Fleisch und Blut übergegangen war, brauchte man
überhaupt nicht mehr denken. Die Muskeln übernahmen diesen Part.
Die Stimmung im Saal wurde bald heiterer. Nur an einem der Stehtische
herrschte eine eisige Atmosphäre. Andrew und Sandra hatten in den
letzten Minuten keinen Ton geredet. Lediglich Blicke hatte man
ausgetauscht, die immerzu dasselbe bedeutet hatten. Andrew sah sich
um, versuchte eine Frau im Saal zu finden, die irgendwie suspekt
erschien. Vielleicht mit Bella in Kontakt trat. Stumm teilte er
Sandra seinen Misserfolg mit und jene schüttelte ebenfalls
resignierend den Kopf. Ihnen fehlten Hinweise, Anhaltspunkte. Zu
viele Menschen und zu wenige Augen, um sie alle zu überblicken.
„Wir
hätten Mila längst fragen sollen, wie der Schwarze Lotus überhaupt
aussieht“, stellte die Arenaleiterin bitter fest. Wie in aller Welt
hatte sie es versäumen können, sich danach zu erkundigen?
„Die
wird hier sicher nicht ohne Tarnung reingeschnallt sein.“
Da
hatte Andrew ein Argument. Sonst hätte sie sich niemals in eine so
angreifbare Position manövriert. Allein schon auf dem Weg hierher
oder während der Vorbereitungen auf den Ball wäre sie für eine
Attentäterin wie Sheila ein perfektes Ziel gewesen. Es sei denn, sie
fürchtete Milas Partnerin nicht. Ob hier noch mehr getarnte Agenten
von Team Rocket waren? Oder sie Bella schon als ausreichend
einstufte? Keine wusste, wie diese Frau tickte, wie sie plante oder
welches konkrete Ziel sie überhaupt verfolgte.
„Hier
rumzustehen, bringt uns nicht weiter. Lass und ein paar Runden
drehen.“
Welchen
Erfolg sie sich davon versprachen, wussten sie selbst nicht. Aber es
war vermutlich besser, als an Ort und Stelle zu verzweifeln. Sandra
machte den Anfang, schlenderte um die Tanzfläche herum, passierte
den Eingangsbereich und ließ sich neuen Sekt servieren, um nicht zu
sehr aufzufallen. Dafür setzte sie außerdem ein makelloses
Pokerface auf, lächelte, nickte anderen Teilnehmern oder Offiziellen
grüßend zu und mimte die sorglose Arenaleiterin, die den Abend
völlig entspannt genießen konnte. Die Teilnehmer Morrow und Trevors
sprachen beiläufig ihre Bewunderung für die Drachenmeisterin aus,
die sie dankend annahm, ohne sich von den Beiden aufhalten und in ein
längeres Gespräch verwickeln zu lassen. Sobald sie an der Bar
angekommen und somit eine halbe Runde durch war, setzte sich auch
Andrew in Bewegung. Er folgte auf derselben Route, hielt sich aber
näher an der Tanzfläche und tat so, als würde er zusehen. Daher
kam er nur sehr langsam voran, wodurch er allerdings mehr Zeit hatte,
um alle möglichen Personen zu inspizieren. Keiner hier schenkte ihm
Beachtung. Alle sahen sie den Tanzenden zu. Primär Ryan und Audrey.
Letztere schien wirklich Gefallen daran zu finden.
Weder
sie noch Ryan merkten etwas von diesem Beobachtungsrundgang. Auch,
wie viele Augenpaare mittlerweile auf sie gerichtet waren, entging
ihnen vollkommen. Der Blonde hatte sich in seiner Rolle völlig
verloren und lächelte breit. Von der Anspannung und der Bedrohung,
die wie eine dunkle Wolke über ihm hing, war keine Spur. Dafür
amüsierte er sich viel zu sehr, woran Audrey einen maßgeblichen
Anteil hatte. Die kam mit jeder Minute mehr und mehr in Fahrt und
hielt immer besser mit ihm mit. Er begann, sie herumzuwirbeln und
einige Vierteldrehungen zu machen. Ihr Bewegungsradius hatte sich
seit dem Beginn mehr als verdoppelt. Man wurde mutiger,
ausgelassener. Sie hatten ganz einfach Spaß. Aus Zufall, gar aus der
Not heraus, wenn man so wollte. Das war etwas, das Ryan heute Abend
nicht für möglich gehalten hatte.
Als
das Musikstück einen spürbaren Höhepunkt erreichte, wollte er
Audrey sodann in eine letzte, schwungvolle Drehung führen. Gleich
mehrfach um die eigene Achse. Vielleicht hatte er ihr damit zu viel
zugemutet oder sie auch einfach bloß überrascht. Auf dem letzten
Schritt fand sie keinen festen Stand mehr. Sie rutschte auf dem
Absatz aus, wie auf einer Eisfläche. Ihre Hände krallen sich fest
in die seinen, im vergeblichen Versuch sich zu fangen. Ryan erwiderte
den Griff, spreizte die Beine und beugte sich mit ihr herunter, um
Schwung zu holen. Ihre Blicke trafen sich einen winzigen Augenblick.
Und doch reichte er aus, um mitzuteilen, was er vorhatte. Mit einem
beherzten, vielleicht etwas zu starkem Ruck zerrte er Audrey wieder
hinauf, sodass sie eine Sekunde in der Luft stand. Einige Zusehende
riefen erschrocken oder begeistert auf, während andere die Luft
anhielten. Mithilfe zweier Hände, die sie stützend an der Taille
fingen, landete Audrey schließlich fest auf beiden Füßen.
Bewundernswerterweise ohne sich die Knöchel zu brechen, angesichts
der Landung und ihrem Schuhwerk. Ein wenig überrumpelt von dem
Moment, ließ sie sich in Ryans Arme fallen, welcher sie weiter
vorsichtig hielt und in eine elegante Ausgangspose brachte, genau als
die Musik endete.
Vereinzelt
wurde applaudiert, sogar gejubelt. Audrey erholte sich noch von dem
Schreck, lachte aber herzlich auf.
„Gut
gerettet“, komplimentierte sie Ryan und sah zu ihm hoch, während
er sie in der Schräge hielt. Ein wenig lang, befand sie. Er sah
selbst recht verblüfft aus. Seine Arme waren arg angespannt, hielten
sie geradezu übervorsichtig fest, als würde sie loszulassen, eine
Katastrophe bedeuten. Als würde er sonst eine gute Freundin für
immer verlieren.
Später
würde er sich fragen, wie er zu dieser Annahme gekommen sein mochte.
Wie er plötzlich in solche Verlustängste geraten konnte. Und selbst
dann hätte er bestenfalls eine Theorie parat. Nämlich, dass er mit
dem Schwarzen Lotus im Nacken niemals eine ruhige, unbeschwerte
Sekunde haben würde. Mit einer Frau, die bereits einmal seine
Freunde sowie ihn selbst angegriffen und bedroht hatte. Wenn auch nur
durch ihre Untergebenen.
„Danke“,
hauchte er schließlich leicht abwesend und mit schwacher Stimme, als
habe er einen Sprint hingelegt. Er zog Audrey wieder auf ihre Füße,
die sich die Haare aus dem Gesicht warf. Sie wirkte etwas…
überrumpelt. Aber heiter und fröhlich. Ein bisschen so, als wäre
sie gerade aus einer Achterbahn gestiegen.
„Das
eben war ja fast wie einstudiert. Ich wusste ja, dass du tanzen
kannst, aber das...
Hut ab.“
Leider
hatte das wenig mit Können zu tun gehabt. Am meisten noch mit Glück.
Sekundär mit Angst, auch wenn sie in dieser Situation unbegründet
gewesen war. Andrew hatte das Ende des Tanzes beobachtet und konnte
sich ein kurzes Lächeln nur schwer verkneifen. Ihn selbst würden
gerade keine zehn Gallopa auf die Tanzfläche kriegen, obwohl er
zuvor noch mit dem Gedanken gespielt hatte. Dieser seichte Anflug von
Spaß, selbst wenn es nur durchs Zusehen war, verflog nämlich sofort
wieder, wurde geradezu hinweggefegt, als er eine andere Person an
Ryan herantreten sah.
„Du
warst auch verdammt gut für´s erste Mal“, beteuerte er gerade und
lachte ein wenig über Audreys Keuchen.
„Anstrengender
als gedacht, oder?“
Sie
verkniff sich einen Kommentar und kam lieber erst einmal zu Atem.
Noch davor erklang eine verspielte, süffisante Stimme hinter Ryan,
aus welcher man das Lächeln förmlich heraushören konnte.
„Ich
hoffe doch, du hast noch Energie für eine zweite Runde?“
Er
hatte Bella nicht kommen sehen. Überhaupt niemanden hatte er in
seinem Rücken bemerkt. Dabei war Ryan davon ausgegangen, dass dieser
Instinkt zur Vorsicht und Umsicht mittlerweile ganz natürlich für
ihn geworden war. Aber vielleicht überschätzte er diesen auch ganz
einfach. Schließlich war Bella nicht irgendwer.
Die
Agentin hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt und sah ihn
erwartungsvoll an. Gerne hätte er das abgelehnt. Am liebsten mit
Spott oder gar Abscheu. Oder Audrey hätte ihn weiter als Partner
beansprucht. Nichts davon stand länger zur Debatte, als der Chief,
der sich extra hierfür ebenfalls auf die Tanzfläche begab, durch
den Saal rief.
„Déreaux
und Carparso wagen einen weiteren Tanz! Diesmal buchstäblich!“
Damit
erregte er fast ungeteilte Aufmerksamkeit. Und die Idee wurde sofort
mit Jubel befeuert. Eine Neuauflage des eben erst beendeten Finals.
Diesmal nicht auf dem Sand, sondern auf dem Parkett. Wie könnte man
dazu nein sagen?
Als
einer der beiden Protagonisten schon mal gar nicht. So viele Gäste
starrten ihn auf einmal an. Sogar noch erwartungsvoller als Bella.
Klatschten im Rhythmus, skandierten ihre Namen, um beide zu
motivieren. Audrey flüsterte ihm obendrein zu, dass ihr das ganz gut
in den Kram passe und sie lieber erstmal pausierte, um etwas zu
trinken und zu verschnaufen. Es gab hieraus also keinen Ausweg für
ihn. Das wusste Bella ebenso und hielt ihm eine Hand hin, forderte
somit auf, dass er sie ergriff.
„Darf
ich um diesen Tanz bitten?“
Ryans
Kiefer spannten sich erneut an. Mit einem Stoßseufzer ergab er sich
seinem Schicksal. Dann setzte er die Maske eben doch nochmal auf und
bot allen, wonach sie verlangten. Er dehnte die Finger in seinen
Handschuhen und fasste schließlich ihre Hand. Er führte sie zur
Mitte der Tanzfläche, wo sie den meisten Platz hatten, doch als
einzige würden sie zum Glück nicht tanzen. Der Kreis, der sich um
sie gebildet hatte, löste sich weitestgehend auf und man begann
selbst wieder die Beine zu schwingen. Wenigstens vor Publikum musste
Ryan sich das nicht antun.
Die
Musik setzte wieder ein. Innerlich wollte er schreien vor Frust. Ein
Tango, wirklich? Ausgerechnet jetzt? Bella schien die Wahl dagegen
sehr zu gefallen, wie ihr Schmunzeln erahnen ließ. Sie zeigte sich
auch nicht gerade geduldig, sondern griff sich gleich Ryans linke
Hand. Ihre eigene schob sie unter seinen rechten Arm bis hin zum
Schulterblatt. Seine Arme waren etwas länger, mussten daher ein
wenig angewinkelt werden, selbst wenn sie sich ganz streckte. Ein
unerwartet fester Griff war das. Und dabei hatte er so einiges von
ihr erwartet. Scheinbar war sie sehr eifrig auf diesen Tanz. Oder
aber versuchte, ihn in Verlegenheit zu bringen. Diese Genugtuung
wollte er ihr jedoch keinesfalls geben, weswegen er sie sehr
bestimmend an der Wirbelsäule fasste. Dadurch wurde ihr Schmunzeln
nur breiter. Doch etwas schien ihr dann doch zu missfallen.
„Warum
schaust du weg?“
Dass
Ryan den Kopf sehr bewusst von ihr abwandte und in eine Linie mit der
Führungshand lenkte, hatte tatsächlich keinen persönlichen
Hintergrund.
„Hast
du schon mal Tango getanzt?“, fragt er abfällig und eindeutig
nicht erpicht darauf, ihr großartig was zu erklären. Scheinbar fiel
der Groschen aber schon von selbst.
„Richtig,
bei dem sieht man sich in der Regel nicht an“, wisperte sie auf
einmal heißblütig und anzüglich, woraufhin sie sich eng an Ryans
rechte Körperhälfte drückte. Schlagartig spannte sich alles in ihm
und er scheiterte daran, ein verdutztes Jauchzen zu unterdrücken.
Nun suchte er doch den Augenkontakt, wirkte empört, fast entsetzt,
dass sie es mit ihren Späßen so weit trieb. Beinahe wäre er
zurückgewichen. Der Tango war zwar ein Tanz mit viel Körpernähe,
aber das war ihm definitiv zu viel davon mit der Agentin.
„Die
Kommunikation findet über den Körper statt, stimmt´s?“
Dieses
vulgäre Stück. Die legte es echt drauf an. Schön, dann eben auf
Bellas Tour. Ryan hatte seine Maske schließlich schon wieder
aufgesetzt und Melody war – Arceus sei Dank! – nicht anwesend.
Mit einer knappen Neigung seines Kopfes und einem herausfordernden
Funkeln in den Augen machte er den ersten Schritt. Das leichte
Zusammenpressen seiner Lippen konnte Ryan leider nicht unterdrücken.
Er sparte sich diesmal die Grundlagen und legte gleich voll los. Wenn
er Glück hatte, würde er sie überrumpeln können. Wäre zu schön,
sie mal umknicken zu sehen. Wen juckte es, falls er sich mit ihr
zusammen blamierte? Hauptsache, er verpasste ihr mal einen Dämpfer.
Andrews
Unterkiefer hing so weit offen, dass er beinahe ausgerenkt war. Da
musste doch was in seinem Sekt gewesen sein, weswegen er jetzt Bella
mit Ryan zusammen das Tanzbein schwingen sah. Dass letzterer hier
nicht wirklich hatte ablehnen können, leuchtete ihm durchaus ein,
weswegen er es ihm nicht vorhalten würde. Dennoch war der Anblick
einfach absurd. Aber was sollte er schon groß machen? Das Ganze
unterbinden sicher nicht. Tatsächlich sollte seine eigene sowie
Sandras Aufgabe durch dieses Duett bloß vereinfacht werden. So
brauchte er die Agentin nicht noch zusätzlich beobachten, während
er den Raum nach potentiellen Verdächtigen scannte.
Jedoch
war Andrew, nachdem er ebenfalls an der Bar angekommen war und somit
eine halbe Runde vollzogen hatte, noch genauso ahnungslos, wie beim
ersten Schritt. Ein vorausschauender Blick zeigte ihm, wie Sandra am
Buffet gestoppt hatte und ebenfalls unschlüssig den Kopf abwechselnd
nach links und rechts schwenkte. Wenn sie doch wenigstens wüssten,
wonach sie Ausschau zu halten hatten.
Derweil
ging es auf dem Parkett feurig zu. Glücklicherweise waren Ryan und
Bella körperlich fast auf Augenhöhe, weshalb der Johtonese ganz
aufrecht stehen konnte und seine Größe nicht anzupassen brauchte.
Er durfte sich frei bewegen. Im Rahmen der beengenden Umstände. Der
Tango war ein schneller Tanz, bei dem viele Bewegungen sehr zackig
und ruckartig vonstattengingen. Anstatt sich mit dem Partner zu heben
und zu senken, war es hier eher ein hin und her, wobei mehr mit dem
Oberkörper als der Hüfte gearbeitet wurde. Die Arme verharrten
meist in derselben Position.
„Du
hast mich vorhin mit Mila verglichen“, setzte Ryan plötzlich an,
ohne Bella dabei anzusehen. Er musste den Frust in seiner Stimme ein
wenig verbergen. Jedes Mal, wenn er die Richtung änderte oder ein
eine Drehung über ging, legte sich Bella ausgiebig hinein, wog sich
in seinem Arm, streckte auch gern mal ein Bein in die Höhe. Und nie
brachte er sie aus dem Schritt oder in irgendeine andere
Verlegenheit.
„Das
habe ich“, erinnerte sie sich ihrer Worte mit einem weit geneigten
Kopf, sowie einem Seitenblick, der nach dem Seinen suchte.
„Worin
ähneln wir uns in deinen Augen?“
Es
wäre so viel cleverer, diese Frage an Andrew oder Sandra zu richten,
anstatt an seine Feindin. Aber vielleicht befand er, dass gerade
diese eine bessere, da unbefangene Antwort darauf haben könnte.
Außerdem war Ryan zuvor noch von niemandem mit der Drachenpriesterin
verglichen worden.
Bella
ließ sich weit zurückfallen, machte ein Hohlkreuz und ließ sich
von Ryans Führungsarm tragen. Arceus, war die Verlockung groß, sie
einfach fallen zu lassen. Welch Ironie, schien ihn doch fast jeder
andere Angehörige des männlichen Geschlechts gerade um seine
Position zu beneiden. Er hätte glatt bezahlt für diesen Tausch.
„Gestern
nannte sie sich selbst verzweifelt.“
Durch
ihre ausschweifende Körperhaltung entging ihr glücklicherweise sein
neugieriger und auch ein wenig entrüsteter Seitenblick. Mit so einer
knappen Antwort wollte er sich nicht abspeisen lassen, doch es war
nicht nötig, weiter nachzuhaken und ehrlich gesagt hätte er sich
wohl auch nicht dazu herabgelassen.
„Und
genau wie sie klammerst du dich an jeden noch so dünnen, rettenden
Faden.“
Sie
straffte ihren Körper wieder und nahm die Standardhaltung ein,
woraufhin sie erneut Anspannung in Ryans Brustkorb fühlte. Es war
offensichtlich, dass ihm die körperliche Nähe nervös machte. Umso
mehr fand sie Gefallen daran. Ihre Gesichter waren nahe beieinander,
allerdings voneinander abgewandt, folgten stattdessen der Richtung
ihrer Schritte.
„Diese
Widerspenstigkeit, ist irgendwo bemerkenswert“, flüsterte sie an
sein Ohr.
„Es
liegt einfach kein Vergnügen darin, ein Karpador zu angeln, das
nicht einmal zappelt, wenn es am Haken hängt, verstehst du?“
Tat
er. Und er verachtete sie für diese sadistische Verspieltheit. Man
spürte sofort, dass ein Aber
folgen würde, weshalb er das Ende ihres Satzes abwartete, anstatt
selbst weiterzureden.
„Aber
auch töricht.“
Ryan
wusste nicht, was ihn mehr zum Lachen anmutete. Dass er Recht
behalten hatte oder die Wortwahl der Agentin, da sie eines von
Sheilas meist verwendeten Wörtern zitierte. Letztlich unterdrückte
er es jedoch, ließ lediglich einen Mundwinkel nach oben zucken. Und
natürlich blieb ihr das nicht verborgen. Er tat ihr den Gefallen
nicht, den Hintergrund dessen zu erklären.
Dass
Bella seiner Führung so spielend zu folgen vermochte, dabei gar noch
eine Unterhaltung führte, ging ihm langsam gegen den Strich. Egal wo
lang oder wie schnell Ryan die Agentin führte, sie hielt Schritt.
Scheinbar sogar mühelos. Beinahe würde er sogar sagen, sie genoss
es und war ganz in ihrem Element. Sie tat das, was er Audrey eben
noch eingebläut hatte – sie fühlte, anstatt zu beobachten. Und
zwar viel zu gut. Die war noch geübter als er selbst. Immerhin den
engen Körperkontakt schaffte Ryan bald weitestgehend, wenn auch
nicht vollständig, auszublenden. In erster Linie deswegen, weil er
sich auf seine Schritte konzentrierte und sich allmählich von Bella
herausgefordert fühlte.
„Erklär
mir wieso“, forderte sie dann plötzlich. Er verstand nicht gleich,
was sie meinte.
„Ihr
habt doch mit alldem überhaupt nichts zu tun. Die Ziele meiner
Klientin betreffen euch nicht.“
Hier
stoppten das Tanzpaar abrupt in einer tiefen, breitbeinigen Pose. Der
junge Trainer drehte völlig unerwartet den Kopf in Bellas Richtung
und sah ihr fest in die weit geöffneten öffnenden Augen. Mit einem
Blick, der sich vor Anmaßung kaum beherrschen konnte. Mit
gerunzelter Stirn und leicht geöffnetem Mund. Ihre markante Iris
stach eingehend in seine und versuchte ein letztes Mal, an seinem
Entschluss zu rütteln. Wer war hier jetzt töricht?
„Ist
das dein Ernst?“
Einen
schlechteren Witz hätte Bella nicht erzählen können. Wieder drehte
sich Ryan und zog seine ungewollte Tanzpartnerin diesmal sehr
schwungvoll mit sich, ehe er mit einem weiten Ausfallschritt stoppte.
Zum ersten Mal hatte er dabei das Gefühl, dass ihr die Kontrolle
zumindest ein wenig entglitt. Gleichermaßen musste er achtgeben,
dass er selbst nicht die Beherrschung verlor und die Stimme zu weit
erhob. Die meisten ihrer beider Worte waren arg unterdrückt gewesen,
doch die folgenden waren gefährlich nahe an der Grenze und ganz
sicher für niemandes Ohren hier bestimmt.
„Deine
Leute haben Sheila angeschossen. Haben mich und meine Freunde
bedroht. Die Agenten, die mir zeitweise aufgelauert haben, habe ich
vermutlich noch nicht mal alle bemerkt. In Team Rockets Versteck habe
ich überhaupt erst den Drachensplitter gefunden, noch bevor ich
wusste, was er wirklich ist. Und du meinst allen Ernstes, mich ginge
das hier nichts an?“
Ganz
zu schweigen von der Frage, ob Rayquaza seinen Rachefeldzug nur gegen
einige bestimmte Menschen richten würde. Spätestens wenn es so weit
kommen sollte – Arceus bewahre –, würde Team Rockets Plan nicht
nur ihn, sondern jeden Menschen etwas angehen.
Er
begann, Richtung und Schrittfolge spontan, willkürlich zu wechseln.
Versuchte sie aus dem Takt und vielleicht sogar mal zum Stolpern zu
bringen. Aber nichts. Kein Straucheln, kein Zaudern, kein Nachziehen.
Die eben geglaubte Unsicherheit war schon wieder vollends verflogen.
War vielleicht von vornherein nur Einbildung gewesen. Es war, als
wüsste sie bereits im Voraus, welche Bewegung er gleich vorgeben
würde. Lag das an der Nähe? Fühlte sie seine Führung wirklich so
präzise?
Bella
seufzte sachte, fast als habe sie diese Argumentation bereits erahnt.
Und ausnahmsweise konnte sie jene nur schwer kontern. Wäre die Zeit
für Höflichkeiten nicht längst vorbei, würde sie sich gern bei
ihm entschuldigen. Das Carlos und Lydia die Sache so weit treiben
würde, hatte sie weder erwartet noch vorgesehen. Am liebsten wäre
ihr gewesen, die armen Trottel hätten sich niemals in diese
Geschichte eingemischt. Aber sie hatten es schließlich nicht ganz
unfreiwillig getan.
„Du
hast lediglich zugelassen, dass dich Mila in ihre Pflichten
einschleust. Ich gebe zu, ich weiß nicht, ob sie dich gedrängt hat,
oder du nur aus übertriebener Hilfsbereitschaft mitziehst. Aber es
spielt keine Rolle.“
„Und
wie es das tut!“, unterbrach Ryan mit gesenkter, dafür aber sehr
fester und bissiger Stimme. Wenn sie glaubte, dass er allen Ernstes
den Drachensplitter einfach an sie abtreten und sich aus der Affäre
ziehen könne, schätzte sie ihn wahrlich schlecht ein. Das hatte
schon mit seiner Ankunft in Graphitport nicht mehr zur Debatte
gestanden. Spätestens nach Milas großspuriger Enthüllung. Dies
Bella klarzumachen, oder es zumindest zu versuchen, lehnte Ryan
jedoch ab. Er brauchte seine Feinde nicht über seinem Charakter zu
informieren. Und die Zeit der Worte war ohnehin vorüber. Vor ein
paar Wochen hätte dieses Gespräch vielleicht noch irgendetwas
bewirken können. Jetzt nicht mehr. Jetzt war es zu spät,
umzukehren. Und dass Mila ihn zu keiner Zeit zu etwas gezwungen
hatte, sparte er sich ebenfalls, vor ihr auszubreiten. Vermutlich
würde sie es eh nicht glauben wollen.
Er
wich von seiner eigenen anfänglichen Anweisung ab und beobachtete
die Agentin jetzt stetig mit einem Seitenblick. Zumindest die meiste
Zeit über. Ihre Augen waren doch wirklich geschlossen, die Mimik
wirkte entspannt und unbekümmert, obwohl jede Faser ihre Körpers
gespannt wirkte. In Rahmen des feurigen Tanzes, verstand sich. Seine
Worte schienen belanglos für sie und konnten ihre Überzeugung kein
wenig ins Wanken bringen. Stattdessen schürzte Bella die Lippen,
schien es wenigstens allmählich einzusehen, dass sie sich nicht
einig werden würden. Noch, dass er seine Position abermals
überdenken würde. Ryan meinte den Drang nach einem Kopfschütteln
zu erkennen, den sie aber unterdrückte. Stattdessen folgte sie mit
zackigen Nackenbewegungen dem Rhythmus der Musik und machte lange
Schritte auf dem Parkett, drehte sich in Ryans Arm, bis sie erneut
Wange an Wange lagen.
„Trägst
du ihn gerade bei dir?“
Beinahe
hätte er gezuckt, sich von ihr losgerissen und instinktiv seine Hand
zu seiner Hosentasche, in welcher der Drachensplitter ruhte, wandern
lassen. Er konnte von Glück sagen, dass es nicht die rechte war,
sonst hätte Bella ihn durch die Nähe bereits gespürt.
Er
entspannte sich jedoch rasch wieder. Bella hatte schließlich selbst
miterlebt, was geschah, wenn er oder Rayquazas Herz in Gefahr
gerieten.
„Legst
du es auf ein Wiedersehen mit den Zwillingen an?“
Die
Agentin rümpfte trocken die Nase und wiegte sich ein weiteres Mal in
Ryans Führung.
„Die
Zwillingsdrachen, Mila, der Drachensplitter…“
Sie
zählte auf, als sei sie all dieser Dinge überdrüssig. Und allzu
bereit, sich ihnen zu entledigen. Bejahte sie seine Frage damit?
„Alles
nur wankende Säulen in einem alten Haus, das mit Rayquazas
zornerfülltem Gebrüll einstürzen wird“, führte sie schließlich
weiter aus. Und leider musste Ryan gestehen, dass diese Metapher sehr
zutreffend war. Sie alle waren eine tragende Säule, mit deren
Verschwinden einfach alles in sich zusammenbrechen würde. Somit gab
es sehr viel zu beschützen. Und sehr viel zu verlieren.
Nun
suchte Bella den Augenkontakt. Ihre bernsteinfarbene Iris war fast
gleichermaßen überwältigend, wie die tödlichen Rubine von Sheila.
Einerseits verspielt und wunderschön, aber auch tückisch und
gnadenlos. Diese Beiden verdienten dafür wahrlich den Begriff
Seelenspiegel.
„Wenn
der Sturm losbricht, gib acht, dass du dich nicht unter den Trümmern
wiederfindest.“
Wie
um sie zum Schweigen zu bringen, nutzte Ryan die sich bietende
musikalische Vorgabe, um Bella herumzuwirbeln. Etwas untypisch ließ
sein rechter Arm sie frei und er drehte sich nur noch durch die
Führungshand mit ihr verbunden, ehe er sie wieder in die
Grundhaltung zurückzog. Selbst als sich ihre Körperkonturen wieder
an ihn schmiegten, zeigte er diesmal keine Reaktion, als ließe ihn
dies inzwischen völlig kalt. Und nun waren es seine Augen, die tief
in die ihren blickten. Seine Hände umfassten sie weit stärker als
zuvor. Seine Stimme war ungleich ruhig, dafür aber auf eine andere
Weise gleichermaßen souverän, fast sogar einschüchternd.
„Kennst
du den Knofensa-Turm in Viola City? Seine Säule wankt
ununterbrochen. Trotzdem steht der Turm seit Jahrhunderten.“
Er
hatte nicht erwartet, Bella hierauf lächeln zu sehen. Noch wusste er
es zu interpretieren. Vielleicht gefiel ihr diese Widerspenstigkeit
doch ein bisschen und ließ sie auf einen weiteren, feurigen Kampf
hoffen. Darauf, dass das Karpador an ihrer Angel noch ein wenig
weiter zappelte, sich wehrte. Möglicherweise amüsierte sie sich
auch bloß über den Vergleich. Wer wusste schon, was in ihr vorging?
Der Johtonese hatte das Raten schon aufgegeben.
Sandra
beobachtete nun selbst sehr genau, was Ryan und Bella dort trieben
und ließ die Augen nur noch sporadisch schweifen. Sie war eben viel
zu auffällig gewesen und wenn sich der Schwarze Lotus hier in der
Menge versteckte, wusste sie inzwischen bestimmt, dass nach ihr
Ausschau gehalten wurde. Trotzdem sollte die Drachenmeisterin es
nicht so offensichtlich tun. Andrew erreichte ihre Position und tat
so, als würde er sich unbekümmert am Buffet gütig tun, während er
ohne Blickkontakt nach dem Offensichtlichen fragte.
„Auch
nichts, hm?“
Dass
es so einfach sein würde, hatten sie auch nicht wirklich erwartet.
Änderte aber nichts an dem Druck, unter dem sie hier standen. Der
Plan war schließlich gewesen, hier selbst zuzuschlagen und Bella aus
dem Verkehr zu ziehen. Endgültig!
Nun
aber, mussten sie fürchten, dass der Gegner mal wieder den ersten
Zug machen und den Abend in eine Katastrophe lenken könnte.
„Wenn
du hier untertauchen wollen würdest, wie würdest du vorgehen?“,
fragte sie mit einem abwesenden Blick in den Saal. Mittlerweile waren
mehr Leute auf als neben der Tanzfläche und die Hälfte davon schien
bloß die beiden Finalisten zu beobachten, gar zu beklatschen. Auch
Audrey hatte sich zu jenen gesellt.
„Gute
Frage“, murmelte Andrew nachdenklich und gesellte sich mit einem
Glas Bowle an Sandras Seite. Man sah es ihm nicht an, aber in seinem
Oberstübchen ratterte gerade jedes einzelne Zahnrad auf Hochtouren.
Selbst da, wo es dunkel wurde, in seinen grauen Zellen.
„Ich
schätze ich würde versuchen den Mittelweg zwischen auffällig und
unauffällig zu finden.“
Er
hatte wenig über die genauen Worte nachgedacht. Er sprach einfach
aus, was ihm als erstes hierzu durch den Kopf ging. Völlig
gedankenlos waren sie allerdings nicht.
„Wer
versucht, jeglicher Aufmerksamkeit zu entgehen, müsste erst recht
welche auf sich ziehen. Zumindest, wenn man nach so jemandem sucht.“
Da
war was dran. Wenn die Frau vorhatte, sich sämtlichen Blicken
vollkommen zu entziehen, würde sie gar nicht erst hier aufschlagen.
Stattdessen würde sie versuchen, immer sichtbar zu sein, ohne einen
Verdacht auf sich zu lenken. Wer käme dafür wohl am besten in
Frage?
Die
Position hinter dem Bartresen wäre vermutlich eine gute Wahl, da man
dort stets den ganzen Raum im Blick hatte. Doch dort war seit ihrem
Eintreten ein junger Mann stationiert und sofern sie das hatten
beobachten können, war er nicht einmal mit einer Frau nennenswert in
Kontakt getreten. Dann vielleicht eine Kellnerin? Davon erspähte
Sandra noch immer drei Stück, zuzüglich einiger männlicher
Kollegen. Zu viele also, um eine direkte Konfrontation zu wagen. Und
sie konnte ja noch immer einen Gast imitieren. Es gab hier
haufenweise Gesichter, die Sandra und Andrew unbekannt waren und mit
einer halbwegs ausgeklügelten falschen Identität, wäre es auch
sicher nicht schwer, in Gespräche mit anderen Gästen zu treten, um
unscheinbar zu wirken.
„Drei
Kellnerinnen und mindestens zehn Frauen im Ballkleid“, fasste
Sandra zusammen. Wie ihre Chancen standen, musste sie nicht
erläutern.
„Man
müsste sie irgendwie hervorlocken. Sie aus dem Konzept bringen.“
Wie
Andrew das zu bewerkstelligen gedachte, wusste er selbst nicht. Sein
Blick schweifte ein weiteres Mal über die Tanzfläche. Wann war es
dort so laut geworden? Mehr und mehr Menschen wandten ihre
Aufmerksamkeit Ryan und Bella zu, deren Tanz immer gewagter, immer
schneller und schwungvoller wurde. Die Agentin suchte nun öfter
Augenkontakt. Ganz kokett und niemals um ein schalkhaftes Lächeln
verlegen. Er blieb bei seinem Seitenblick und versuchte sie mehr zu
fordern. Sie hatte mehr Mühe als am Anfang, das spürte er. Das
erhöhte Tempo sorgte für einen festeren Griff auf beiden Seiten,
der ihn eigentlich anwiderte. Und doch wagte er nicht, ihn zu
lockern. Wagte nicht, vor etwas zurückzuschrecken, das sie nicht
scheute.
„Meinst
du, sie beobachtet uns gerade?“, fragte Sandra nachdenklich und
beanspruchte Andrews Aufmerksamkeit. Der bemerkte einen scharfen
Blick ihrerseits. Formte sich da etwa eine Idee? Nach einem weiteren
Rundblick schüttelte er jedoch den Kopf.
„Glaube
nicht, dass sie dieses Risiko eingehen würde.“
Auch
da hatte er nicht Unrecht. Wenn sie das auffällige Verhalten von
Andrew und Sandra registriert hatte, würde sie keinen zufälligen,
verräterischen Blickkontakt riskieren. Schon gar nicht jetzt.
In
Ryans Blickfeld begann der Saal mitsamt den Menschen zu verschwimmen.
Um ihn und Bella herum drehte sich die Welt fast ununterbrochen. Der
Wirbel zerrte sie in den Hintergrund. Selbst mit seinen längsten
Schritten hielt sie trotz kürzerer Beine und hohen Absätzen mit.
Aber auch ihr glänzte der Schweiß auf der Stirn. Das war kein Tanz
mehr, das war ein Duell.
„Sie
versteckt sich nicht einfach bloß“, murmelte Sandra auf einmal
nachdenklich. Die Augen nach wie vor verengt, nun aber, ebenso wie
der Kopf, still und immer geradeaus gerichtet, als würde sie die
Tanzenden beobachten. Tatsächlich sah sie an allem und jedem vorbei.
„Sie
ist hier offen vor uns, doch können wir sie nicht sehen.“
Im
Gegensatz zur ihr sah Andrew immer hektischer nach links, nach
rechts, dann wieder nach links. Auch ihm rann ein erster
Schweißtropfen die Stirn hinab und er biss unter wachsender
Anspannung die Zähne zusammen.
„Weil
sie sich nicht versteckt, sondern eine Rolle angenommen hat.“
Da
blickte er wieder zu Sandra. Seine Stirn lag in Falten und sein Atem
war angehalten.
„Eine
Fassade“, konkretisierte sie. Auch Andrews Augen begannen sich zu
verengen.
„Eine
Maske.“
So
wie auch sie beide es taten. Und Ryan natürlich ebenfalls. Der sogar
allen voran, wenn man ihn so beobachtete. Der musste mittlerweile
sein Keuchen unterdrücken und nahm dafür ein Stechen in der Lunge
in Kauf. Er war wie im Rausch. Focht einen Kampf unter den Augen
dutzender Beistehender, ohne sie einen solchen erkennen zu lassen.
Und obwohl seine Gegnerin ihm noch immer mit diesem süffisanten
Lächeln begegnete, stieß auch sie an ihre Grenzen. Das sah er und
spürte er. Die Musik wurde schneller und pompöser, spielte auf den
Höhepunkt zu. Und die Tanzenden taten es ihr gleich.
„Und
wenn man darin versunken ist…“, fuhr Sandra fort.
„Ist
jeder Schritt, jedes Wort fest eingeplant, sodass das Gespür für
den Moment verloren geht. Und man zu keiner spontanen, natürlichen
Reaktion auf etwas Unerwartetes mehr fähig ist.“
Andrew
neigte den Kopf ein wenig und suchte den Augenkontakt, als würde
sich die Antwort hinter ihrer Iris genauer erklären.
„Etwas
Unerwartetes?“
Ihr
fiel es selbst wie Schuppen vor den Augen. Mit einem eindringlichen
Blick sah sie Andrew an, der Lösung für ihre Rätsel so nahe, und
doch noch nicht in Reichweite.
Der
junge Trainer blinzelte hektisch und sah sich erneut um. Etwas
Unerwartetes sollten sie tun? Was denn bitte? Lärm veranstalten? Die
Aufmerksamkeit auf sich lenken?
Wieder
ein Blinzeln. Wieso eigentlich nicht?
Eine
blonde Kellnerin kam gerade mit einem vollen Tablett an ihnen vorbei
stolziert. Andrew dachte gar nicht mehr über die Folgen dessen, was
er im Begriff zu tun war, nach. Er vergewisserte sich nicht einmal,
dass ihn keiner dabei beobachtete, wie er einen Fuß bei der Frau
einhakte und ihr gleichzeitig einen Schubser verpasste, sodass sie
unweigerlich zu Boden ging.
Die
Musik endete, Ryan fasste Bella ein letztes Mal fest an ihrem
muskulösen Rücken und neigte sie nach hinten. Sie streckte ein Bein
in die Luft, das er beherzt fasste und in Position hielt, während er
über ihr gebeugt stand. Es erklang Applaus, sowie einige heitere
Pfiffe. Sie sahen einander erneut tief in die Augen. Keuchend und
schwitzend. Sie mit einem zufriedenen Lächeln, während er fast wie
in Trance starrte, als wüsste er nicht, was ihn geritten hatte, so
weit zu gehen.
Das
Tablett schepperte laut. Glas klirrte und zersprang, unterbrach den
Jubel und zog die Aufmerksamkeit des gesamten Saals auf sich. Andrew
beachtete die Kellnerin schon längst nicht mehr. Stattdessen ging
sein Blick durch die Menge. An der Bar, auf der Tanzfläche, an den
Stehtischen – überall hatte man sich in seine Richtung gedreht.
Selbst Ryan und Bella drehten sich nach der Quelle des plötzlichen
Krachs, verharrten sogar in ihrer engen Pose. Ausnahmslos alle
Augenpaare ruhten auf ihm oder der Kellnerin.
Bis
auf eines.