Beiträge von Shimoto

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    Kapitel 69: Dress up


    Mit dem Verlassen des Konferenzsaals waren die drei noch nicht gänzlich der medialen Aufmerksamkeit befreit. Schon am Ende des Flures, den sie auf dem Hinweg schon entlanggekommen waren, sah man weitere Männer in Anzügen oder mit Notizblöcken, sowie laminierten Ausweisen um den Hals. Einige wenige unter ihnen sprachen bereits mit anderen Turnierteilnehmern, doch die meisten warteten auf die großen, auf das Spitzentrio. Kaum hatte man die Presse vom Hals, schon kamen die Sponsoren an. Die genossen zugegebenermaßen einen weniger befleckten Ruf, da in der Regel beide Parteien von einer Zusammenarbeit profitierten. Es gab nur wenige bekannte Fälle von schlechten Sponsorings, in denen manche Firmen versucht hatten, das Gesicht bekannter Trainer und Trainerinnen schamlos für die eigene Publizität auszunutzen und ausschließlich sich selbst zu bereichern. Da man es sich in so einem Fall aber rasch mit der gesamten Trainerszene verscherzte, scheuten die Firmen, beziehungsweise deren Vertreter, kaum eine Mühe für ein korrektes und seriöses Auftreten sowie eine faire Behandlung der jeweiligen Partner.

    Ryan verließ den Flur als erstes, wurde von einem breiten Ein- und Ausgangsbereich empfangen, ähnlich dem, den die Zuschauer nutzten. Doch war diese Halle weit abgelegener und daher völlig frei von Zuschauern, von denen der Großteil das Stadion mittlerweile eh verlassen haben sollte. Sofort erspähte er Sandra, Audrey und Melody, die geduldig auf ihn und Andrew warteten. Sein süßer, Rotschopf hielt noch den Blumenstrauß, den er ihr vorhin zugeworfen hatte. Doch bevor er nur eine Chance hatte, sich seinen Freunden zuzuwenden, wurde er von einer Handvoll Menschen belagert, die um seine Aufmerksamkeit buhlten. Immerhin noch respektvoll und mit einem Höflichkeitsabstand, um ihn nicht zu bedrängen.

    „Wenn sie mir einen Augenblick ihrer Zeit schenken würden, Mister Carparso“, begann ein Mann um die vierzig und reichte ihm eine Visitenkarte. Er nahm sie entgegen, sah sie aber nicht an, sondern ihm stattdessen in die Augen. Das tat er immer, wenn er mit Sponsoren sprach, um sich einen äußerst raschen Ersteindruck zu verschaffen. Die glücklicherweise nicht allzu weit verbreiteten schwarzen Voltilamm, die sich bloß an ihn ranwanzen und ausnutzen wollten, erkannte man für gewöhnlich schnell. Gleichzeitig bewirkte diese Geste, dass sich die Person gegenüber trotz Karte anständig vorstellte, wie es sich gehörte.

    „Theodore Ross mein Name. Das ist meine Assistentin Miss Gwen.“

    Beide gaben ihm anständig die Hand, während die restlichen Männer geduldig warteten. Andrew erging es nicht anders. Auch er wurde gleich von einem Sponsoren-Trio empfangen und um die Erlaubnis gebeten, ihm ein Angebot zu unterbreiten. Mit einem halben Ohr lauschte Ryan aus deren Konversation heraus, dass Andrew sie schon nach wenigen Sätzen gehörig auf´s Korn zu nehmen begann.

    Es war nicht so, dass die beiden Johtonesen diese Werbung um ihre Person grundsätzlich ablehnten. Im Gegenteil. Nicht nur ließ sich das Trainerleben mit solchen Verträgen sehr gut finanzieren, sondern erlaubte gar einen gewissen Luxus. Wenn man sich den denn leisten wollte. Das taten vorausschauende Trainer jedoch tunlichst nicht, da man schließlich nie ahnen konnte, wie lange man den Erfolg am Leben erhalten und mit weiteren Sponsorings rechnen konnte. Mit etwas Pech wäre in zwei, drei Jahren die Karriere im Sinkflug und dann saß man da. Hart auf den kalten Boden der Realität zurückgeholt. Und selbst wenn man sich länger so weit oben in der Szene behaupten konnte, war es ja immer noch nicht so, dass man mit Ende zwanzig ausgesorgt hatte. So viel Geld lag dann doch nicht im Trainerdasein vergraben.

    Während Ryan und Andrew sich die Angebote anhörten, schaffte es Bella irgendwie, dem Trubel fast vollkommen zu entgehen. Sie hatten es selbst nicht einmal bemerkt, wie sie überhaupt an ihnen sowie ihren Verhandlungspartnern vorbeigekommen war. Ganz zu schweigen von dem vollen Dutzend Menschen, die es scheinbar nur auf sie abgesehen hatten. Es war wenig verwunderlich, dass die Turniersiegerin auch die begehrteste Imageträgerin war und die Mehrzahl es eben auf jene abgesehen hatte. Aber irgendwie war sie denen entwischt. Geschickt und unauffällig, wie ein schleichendes Raubtier. Da kamen ihre arbeitsbedingten Fähigkeiten zum Vorschein.

    Erst als doch noch ein Team aus zwei Männern sie geradeso abfangen konnte, bemerkten Ryan und Andrew sie, aber da befand sie sich schon außer Hörweite. Sie hatten Bella seit dem Verlassen den Konferenzsaals nicht wirklich beachtet. Was eigentlich töricht, geradezu dämlich war, wenn man bedachte, was sie ihnen auf diesen paar Metern hätte antun können. Vielleicht hatte sie es mit ihrer Offenheit und der simplen Art, wie sie die letzten zwei Tage über aufgetreten war, die beiden zur Nachlässigkeit verleitet. Aber vielleicht hatten sie auch ganz einfach verstanden, dass selbst sie noch Prinzipien besaß. Ein eigenes Kredo, sozusagen. Und dass es Dinge gab, die sich unter ihrem Niveau befanden. Erst wenn sie in den kommenden Stunden darüber nachdenken würden, sollten die beiden Trainer erkennen, dass Bella in diesem Moment nicht einmal erwogen hätte, sie anzugreifen – und sie dies bereits zu jeder Sekunde gewusst hatten. Doch anstatt zu grübeln, was man mit der Gewissheit anfing, dass Bella nicht ganz und gar durchtrieben und kein völliger Unmensch war, beschwor sich Ryan stattdessen, nicht nachlässig oder sorglos zu werden. Sheila hätte ihm so einiges zu erzählen, wenn sie davon wüsste.

    Während er und Andrew also einige Fragen zu ihren jeweiligen Angeboten abklärten und verhandelten, konnten nur Audrey, Melody und Sandra verfolgen, was denn der Turniersiegerin für ein Anliegen unterbreitet wurde. Wobei lediglich letztere das Interesse aufbrachte, auch wirklich zuzuhören. Die Arenaleiterin ließ Bella nicht eine Sekunde aus den Augen. Die vielen Stimmen in diesem weiten Raum machten es nicht leicht, eine einzelne herauszufiltern und dem Gespräch zu folgen. Die Agentin lächelte die beiden Männer fast an, wie kleine Kinder. Sie sah förmlich auf sie herab, was entweder nicht bemerkt oder nicht beachtet wurde. Von ihrem Anliegen ließen sie sich jedenfalls nicht abbringen. Der lange, schmale Typ in Hintergrund schien sogar schon seine Kamera vorzubereiten.

    „Perry Quint vom Hoenn Trainermagazin. Ich darf ihnen zunächst gratulieren, Miss Déreaux. Sie haben mich und meine Kollegen heute wirklich begeistert. Das sage ich ganz offen“, beteuerte der Mann und legte eine Hand auf seine Brust, neigte sich obendrein leicht nach vorne, als wolle er sich bedanken. Keine dieser Gesten wurde jedoch als Anlass genommen, etwas zu erwidern. Bella wartete einfach ab, dass der Mann zum Punkt kam und lächelte verträumt vor sich hin.

    „Wir würden uns freuen, wenn sie einem ausführlichen Interview zustimmen könnten. Es soll eine kleine Reportage werden über den neuen, aufstrebenden Star der Trainer-Szene werden, wenn sie verstehen. Dafür…“

    „Das meint ihr doch nicht ernst“, unterbrach sie lachend und mit einem fassungslosen Griff gegen ihre Stirn. Sie musste geklungen haben, als sei sie geschmeichelt und fasse ihr Glück kaum. Anders konnte sie sich das eifrige Lächeln und Kopfnicken Quints nicht erklären. Sandra hatte jedoch den Spott herausgehört. Der arme Trottel wäre besser dran, wenn er sich einfach umdrehen und gehen würde, aber er missverstand ihre Worte als willkommen.

    „Glauben sie es ruhig, Miss Déreaux. Mit Sicherheit wird das für sie bald zur Gewohnheit und wenn sie uns gestatten, die ersten zu sein…“

    Bella schüttelte bereits den Kopf und schnitt ihm das Wort erneut ab.

    „Nein, nein, ich meine das wörtlich. Das kann nicht euer Ernst sein! Wie kommt ihr auf die Idee, dass ich bei so einem Zirkus mitmachen würde?“

    Dem Mann blieb im wahrsten Sinne der Mund offenstehen. Auch der Lulatsch an der Kamera hinter ihm mach ein perplexes Gesicht. So hatte wirklich noch niemand auf eine Anfrage für ein Interview reagiert. Nicht einmal, wenn sie – sehr bewusst! – zu aufdringlich um eines gebeten hatten. Bella sah zwischen den beiden hin und her und machte ein Gesicht, als wäre diese Schnapsidee, ausgerechnet sie interviewen zu wollen, für sie absolut unnachvollziehbar. Beinahe als müssten die Typen um ihre wahre Identität wissen, obwohl das natürlich Schwachsinn war. Sie schüttelte fassungslos den Kopf und machte einen ersten Schritt fort von den beiden, Richtung Ausgang.

    „Fragt einen der anderen Teilnehmer. Jeder ist dafür besser geeignet als ich“, winkte Bella ab und wandte sich völlig desinteressiert zum Gehen. Die Männer sahen einander nur planlos und irritiert an. Andere, die in angemessener Distanz auf das Ende der sogenannten Verhandlungen gewartet hatten, versuchten sie noch vor der Tür abzufangen oder riefen ihr nach. Natürlich machte sie keine Anstalten, zu warten oder umzudrehen. Und mit der schweren Tür, die hinter ihr zufiel, war die sonst so berüchtigte Hartnäckigkeit der Sponsoren gebrochen, sodass sie enttäuscht oder verärgert nur noch ihren Rücken durch das Glas anstarrten. Allerdings nur für wenige Momente. Es gab schließlich noch andere Trainer, die man anwerben konnte.

    Sandra schnaubte verdächtigend und sah der abgewanderten Turniersiegerin aus verengten Augen noch lange hinterher. Die Siegerehrung hatte sie offenbar noch ehrlich genossen, wie es Sandras Beobachtung verraten hatte. Auf die Aufmerksamkeit einzelner Personen schien sie jedoch völlig zu pfeifen. Vielleicht hatte sie aber auch nur Vorbereitungen zu treffen. Die Warnung durch den Informationshändler Pete, schwirrte ununterbrochen durch ihr Unterbewusstsein. Und egal, was sie geplant hatten, Bella würde garantiert eine Rolle dabei spielen. Vermutlich sogar eine tragende.

    Neben ihr machte Melody plötzlich einige eilige Schritte nach vorn und fiel Ryan hemmungslos um den Hals. Endlich hatte sie ihn wieder. Nach den Kämpfen und der Siegerehrung fühlte es sich an, als sei es ewig her. Und dabei hatte sie ihm etwas Dringendes zu sagen.

    „Mir egal, wer Gold hat. In meinen Augen bist du Nummer eins“, wisperte sie ihm ins Ohr. Ein bisschen schön geredet für seinen Geschmack und außerdem etwas kitschiger, als er von ihr erwartet hätte. Dennoch rang es ihm ein Lachen ab und er drückte sie herzallerliebst, hob sie sogar kurz vom Boden hoch. Dann sah sich das Pärchen einen Moment lang verträumt in die Augen. Sandra und Audrey war es offensichtlich, dass sie hier gerade eigentlich störten. Andererseits hatten sie hier eh keine Zeit für Techtelmechtel. Sie alle – Melody ausgeschlossen – mussten sich für den Sommerball fertig machen. Milas Plan – von dem Audrey natürlich als einzige nichts ahnte – sah nämlich vor, im Rahmen jenes die Agentin von Team Rocket endgültig auszuschalten.

    Wie es danach weitergehen sollte, wusste allerdings auch nur die Drachenpriesterin selbst. Vielleicht nicht einmal die. Aber Bellas Auftreten hier beim Summer Clash sowie der Tatsache, dass sie die Öffentlichkeit keineswegs scheute, hatte ihnen klar gemacht, dass nichts vorwärtsgehen konnte, solange sie da war. Und es war dieses Umstandes geschuldet, dass Ryan nicht wirklich ausgelassen sein konnte. Obwohl das Turnier nun hinter ihnen lag. Obwohl er Melody im Arm hatte. Er konnte mit seinen Gedanken nirgendwo anders sein als beim Ball. Wie schön würde der doch werden, wenn Melody dort sein könnte und weder Team Rocket noch Krieg wie das berüchtigte Damoklesschwert über ihnen hängen würde? Ja, noch lagen solche Wünsche in der Zukunft. Aber die erfüllten sich nicht von selbst.

    Audrey löste den angespannten Moment zufällig, indem sie Andrew heranwinkte, dessen Gespräche mit den Sponsoren ebenfalls beendet waren. Er wirkte wenig zufrieden.

    „Und, wie lief´s?“

    Wie er die Lippen schürzte, verriet eigentlich schon alles.

    „Nichts zu machen. Die wollten mich für einen Werbedreh, hier vor Ort. Aber Drehtag wäre erst in vier Wochen.“

    Fast alle ahmten seinen Gesichtsausdruck nach. Das war in der Tat unmöglich. Nicht, dass man den Planern einen Vorwurf machen konnte. Ein Termin dieser Sorte musste normalerweise noch weiter im Voraus festgelegt werden. Aber so lange würden sie auf keinen Fall mehr in der Stadt bleiben. Und, dass sie rechtzeitig – oder überhaupt – zurückkehrten, war ebenso unwahrscheinlich. Dennoch hatte er die Visitenkarte behalten sowie Kontaktdaten für künftige Anfragen hinterlassen. Damit die aber nicht in irgendeiner Schublade in Vergessenheit geriet, würde Andrew auch als bald mal ein Turnier gewinnen müssen.

    „Und bei dir?“

    Ryan redete wenig über solche Geschäfte. Aber es kam ja auch selten vor, dass er bei Anfragen von so vielen Freunden umringt war. Er wäre an ihrer Stelle nicht weniger neugierig.

    „Könnte was werden. Einer will mit seinem Unternehmen nach Johto expandieren und sucht ein Gesicht für seine Plakate. Und dann kam noch ein Ausstatter für Outdoor Kleidung.“

    Angeblich speziell angefertigt für Reisende, wie eben auch Trainer. Ryan kannte die Marke sogar und war von dem Angebot durchaus angetan.

    „Ich soll mich in ihren Klamotten zeigen. Die schicken mir was zur Anprobe nach Hause. Von beiden hab ich die Nummer.“

    Im Gegensatz zu Andrews Angebot, unterlagen diese keinen zeitlichen Einschränkungen. Beide planten weit voraus, sodass das Thema nicht in ein paar Monaten wieder vom Tisch sein würde. So zumindest das Versprechen der Herren. Die Zeit würde zeigen, wie viel Wahrheit darin steckte.

    „Boah, die hätte ich auch gern als Sponsor, ganz ehrlich. Die greifen tief in die Tasche für ihre Werbung“, gestand Audrey mit etwas Neid, als sie die Karte des Ausstatters begutachtete. Verlockender als die Höhe der Summe wäre die Tatsache, dass sich die Aussicht auf einen langfristigen Deal bot und Ryan ein regelmäßiges Einkommen winken könnte. Sowas konnte man sich als Trainer nur wünschen. Solange man solche Verträge am Laufen hatte, brauchte man sich um Geld echt keine Sorgen machen. Audrey selbst konnte allerdings höchstens davon träumen. Da man eben noch die meiste Aufmerksamkeit in den regionalen Ligen erregte und sie in selbigen nicht antrat, war ihr Name bei weitem nicht so bekannt. Und auch heute war sie recht früh ausgeschieden, weshalb auch keiner der Sponsoren an sie herangetreten war. Aber das war schon okay so. Sie liebte die Leichtigkeit und Einfachheit in ihren Reisen und würde diese für kein Geld der Welt eintauschen. Weder dieses noch der Ruhm einer großen Trophäe waren der Grund gewesen, warum sie ihre Heimat einst verlassen hatte. Primär wäre es ihr in diesem konkreten Fall sowieso mehr um die Klamotten gegangen. Die machten nämlich echt was her.

    „Was ist mit dir, Sandra? Irgendwelche Angebote?“

    Die Drachenmeisterin hatte sich völlig im Hintergrund aufgehalten und gerade erst ihre Gedanken von Bella losreißen können, sodass sie ein wenig überrascht war und einen Moment verdächtig still blieb. Sie bemühte sich sofort um Lockerheit und Banalität, doch befürchtete sie, dass dieser winzige Ausrutscher bereits genügte, damit Ryan sie durchschaute. Er war sehr sensibel für sowas geworden.

    „Ich habe mit der Arena mehr als genug zu tun. Das haben diese Leute schon lange begriffen.“

    Sie log, ohne rot zu werden. Nicht, was ihre Beschäftigung anging. Mit ihrer Arena sowie ihren bestehenden, langjährigen Werbedeals und Partnerschaften hatte sie ausreichend um die Ohren. Und auch auf dem Konto. Dennoch waren zwei Firmen an sie herangetreten, aber sie hatte deren Anliegen sofort im Keim erstickt. Hier und jetzt konnte und wollte sie sich nicht mit Geschäften auseinandersetzen. Und wenn sie ganz ehrlich war, wünschte sie sich auch, dass Ryan und Andrew ebenfalls mit den Gedanken bei ihren Hauptproblemen bleiben würden.

    Sie behielt das allerdings für sich und konnte sie auch nicht so wirklich für ihre Offenheit gegenüber der Sponsoren verurteilen. Die Beiden leiteten schließlich keine Arena und mussten immer ein offenes Ohr für mögliche Geldquellen haben. Und ein wenig freute es sie für Ryan, weshalb sie sogar ein leichtes Lächeln beibehielt. Sie tolerierte das Gesprächsthema also weiterhin, während die Gruppe gemeinsam die breite Glastür ins Freie durchschritt. Besonders Melody war sehr wissbegierig, wie das mit solchen Deals und Verträgen grundsätzlich so ablief. Bei ihr daheim gab es eigentlich nur eine Möglichkeit, mit dem Training von Pokémon wirklich Geld zu verdienen. Als Arenaleiter nämlich. Und selbst davon hatten sie sowohl in der Anzahl als auch im Ansehen weniger als jede große Region mit einer Liga. Auf dem Festland aber waren die erfolgreichen Trainer echte Stars. Das kam ihr wie ein irrer Traum vor.

    Als sie sich dann aber den Pforten des Pokémoncenters näherten, nahm Andrey dies zum Anlass, das Thema zu wechseln.

    „Ich schätze, du gehst noch nach ihnen sehen?“, fragte sie mit einem Kopfnicken in Richtung des Centers an Ryans Adresse. Er bejahte das mit Selbstverständlichkeit. Sie bemerkte glücklicherweise nicht, wie er kurz an ihr vorbei sah. Ein schlanker Mann in Barista Uniform erregte seine Aufmerksamkeit. War immer noch komisch, ihn in diesem Fummel zu sehen, wo er doch keinen Kaffee in seiner Bar anbot.

    Audrey fuhr unbeirrt fort und ging gar schon einige Schritte voraus, redete im Rückwärtsgehen. Rasch sah sie an ihr Handgelenk und checkte die Uhrzeit.

    „Dann treffen wir uns hier wieder für den Ball. Sagen wir in 'ner Stunde?“

    „Schaffst du das?“, entfuhr es dem Blonden augenblicklich und er musste schuldbewusst lachen. Melody hatte den Wink durchaus kapiert und sah ihn ein klein wenig entsetzt an, konnte ein Grinsen aber ebenfalls kaum verstecken. Audrey war in vielen, ach was, den allermeisten Dingen einfach und locker gestrickt. Aber wenn sie sich mal aufbrezelte, war sie dann doch manchmal das verschriene Frauenklischee. Ryan wäre in der Vergangenheit echt froh gewesen, hätte er mal bloß eine Stunde warten müssen, bis ihr Styling und ihr Makeup saßen.

    Sie lachte ein wenig schuldbewusst, mimte aber die entrüstete Zicke.

    „Abwarten. Am Ende geh ich ohne euch los“, scherzte sie, woraufhin sie ihre Sonnenbrille hochschob, um ihnen allen zuzuzwinkern. Selbst Sandra und Andrew hatten längst begriffen, dass es verschwendete Zeit war, sie auf die Tageszeit hinzuweisen. Mittlerweise musste sie mit dem Ding auf der Nase fast blind sein.

    Letztlich ließ sich die Gruppe sogar ein wenig fallen, sodass die Trainerin aus Rosalia City gar nicht mehr bemerkte, wie der schwarzhaarige Mann am Eingang auf sie zuging. Pete wirkte angespannt. Ein wenig zumindest. Und ihm das anzusehen, erinnerte auch die zwei Jungen daran, welche Stunde es geschlagen hatte. Andrew war inzwischen selbstverständlich ebenfalls über den Plan in Kenntnis gesetzt worden. Er hatte ihn mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen. Zögern würde er nicht, so viel war gewiss. Der Eifer, den er beim Erhalt des Langdolches von Mila gezeigt hatte, war keineswegs verschwunden oder abgeflaut. Er hatte Bella schließlich im Stillen schon Schlimmeres gewünscht, als den Tod – in emotionalen Momenten, in denen die Wut einfach hochgekocht war, musste man anmerken, da Andrew Warrener eigentlich ein sehr friedlicher Mensch war. Zweifel und Hemmungen waren durchaus noch in ihm vorhanden, doch war er absolut überzeugt, diese zu überwinden, wenn die Situation es verlangte. Er war fest entschlossen dazu. Selbst wenn es bedeutete, den Mord an einer jungen Frau zu billigen und zu unterstützen. Allein, er fühlte sich furchtbar dabei. Doch auf seine Gefühle konnte weder die Gruppe im Allgemeinen noch er im Speziellen Rücksicht nehmen. Es stand zu viel auf dem Spiel.

    „Beim nächsten Mal verlang ich für solche Botengänge Geld“, versprach Pete etwas schnippisch. Wenn es bedeutete, dass er eine Bitte ohne Nörgelei erfüllte, hätte keiner von ihnen gezögert, ihn schon diesmal zu bezahlen.

    „Hast du alles?“, umging Ryan die zynische „Begrüßung“ und wurde nun wieder ernst. Jetzt war Schluss mit lustig. Und Nachsicht. Und Anstand. Ab jetzt würden sie sich schmutzig machen.

    „Liegt auf euren Zimmern.“

    Sandra und Melody neigten sich beide etwas nach vorn, um die beiden Trainer anzusehen. Letztere hielt trotzdem noch immer Ryans Hand fest.

    „Um was geht´s?“

    Ryan hatte Pete mit einer kurzen Nachricht per Handy kontaktiert, weshalb niemand sonst davon Wind bekommen hatte. Genaugenommen hatte er Mila kontaktiert, da er bloß ihre Nummer besaß. Weil er und Andrew bis über beide Ohren in wichtigeren Dingen steckten als einem Sommerball, hatten sie es völlig verschwitzt, angemessene Kleidung dafür zu besorgen. So hatte er sich erinnert, dass Pete ja angebliche so viele Kontakte besaß.

    „Neue Garderobe.“


    Andrew betrachtete sich in der Spiegelung derselben Eingangstür, durch die sie das Prime Stadium zuvor verlassen hatten. Austragungsort des Balls war ein Anbau auf der Nordseite, den man nur von innen erreichen konnte. Er strich sich ein letztes Mal die Haare zurecht und prüfte den Sitz seines Hemdes.

    „Eins muss ich Pete lassen. Den Zwirn hat er gut ausgesucht.“

    Ryan hatte dem Barbesitzer lediglich ihre Kleidergrößen mitteilen können, da keiner von beiden die genauen, eigenen Maße kannte. Auch das Outfit selbst hatten sie sich nicht aussuchen können. Pete hatte einfach was Passendes zum Dresscode, aber nichts Schwerfälliges organisieren sollen. Und trotz der Widrigkeiten hatte er in beiden Punkten zwei absolute Volltreffer gelandet. Dies befand auch Melody, die ihre Arme seit Minuten um Ryans Nacken geschlungen hatte und ihn anscheinend gar nicht mehr hergeben wollte. Wieso auch? Sie hatte ihn zwei Tage lang fast ausschließlich aus der Ferne beobachtet und musste ihn nun zu diesem verfluchten Ball ziehen lassen, dem die Agentin Team Rockets beiwohnen würde. Zuzüglich weiterer, getarnter Mitglieder, von denen sie nichts wussten. Davon sollten sie zumindest ausgehen. Es wäre naiv, zu glauben, Bella würde alleine dort aufschlagen.

    „Ich überlege noch immer, wie ich mich da rein schleichen kann.“

    Sie scherzte nur zur Hälfte. Ryan dagegen zu hundert Prozent.

    „Wenn ich eine Möglichkeit finde, geb ich dir ein Zeichen.“

    Leider war es den geladenen Teilnehmern – jenen, die es in die K.O. Phase geschafft hatten – nicht gestattet, in Begleitung zu erscheinen. Aber selbst wenn, würde er nicht tun. Nicht, wenn Sheila ein Attentat zu begehen plante. Und wer wusste schon, was Team Rocket auf der anderen Seite im Schilde führte?

    „Es ist einfach unfair, dass ich heute Abend nichts von dir habe, wo du doch so schick aussiehst“, nörgelte sie und zupfte an seinem Kragen. Sie hätte ihn nicht besser einkleiden können. Er empfand genauso. Aber ihre Sicherheit stand weit vor ihren persönlichen Wünschen nach gemeinsamer Zeit.

    „Sobald alles vorbei ist, kannst du mich damit so oft haben, wie du willst“, flüsterte er in ihr Ohr, unternahm einen Versuch, sie aufzuheitern und von der verpassten Gelegenheit abzulenken. Zumindest brachte der Gedanke daran sie zum Schmunzeln. Mit einer verschmitzten Note, so erkannte Ryan und wurde daher nur wenig von dem Kuss überrascht, den sie keck von seinen Lippen stahl.

    Hinter ihm erklang gerade der Klang gleichmäßiger Schritte, die von hohen Absätzen in seine Richtung getragen wurden. Sandra hatte etwas länger gebraucht, weshalb auch Audrey, wie angekündigt, bereits vorgegangen war. Selbst Melody fand jedoch, dass das Ergebnis die extra Zeit wert gewesen war. Eigentlich schade um den heutigen Anlass, welcher die Bühne für dieses Outfit darstellte. Sie war fast schon zu perfekt für diesen Abend.

    „Dass gerade du jetzt am meisten starrst“, neckte die Arenaleiterin sie und lachte trocken auf. Es lag jedoch nicht daran, dass Ryan und Andrew gar nicht staunten. Aber ihre Münder blieben wenigstens geschlossen, was man von Melody nicht behaupten konnte. Wenn sie nicht so viel Vertrauen in Ryan besäße, würde sie sich nun glatt sorgen, dass er der Drachenmeisterin verfallen und sie links liegen lassen könnte. Und Audrey gab es ja auch noch. Sie schüttelte sich kurz. Sie sollte rasch zu Pete und sich ablenken. Ryan war nicht so oberflächlich. Ein Funken Neid blieb dennoch bei ihr zurück.

    Andrew stieß schließlich in die Runde dazu und klatschte einmal die Hände zusammen.

    „Wollen wir?“

    Er versuchte gar nicht, was vorzumachen. Auch er war nervös. Fühlte sich bei solchen Veranstaltungen oft fehl am Platz, obwohl ihm die Klamotten sogar gefielen. Ihm waren Bälle zu steif, zu fein, boten ihm einfach keine Unterhaltung. Die stand heute aber ohnehin nicht im Vordergrund.


    Die Gänge und Flure des Prime Stadiums waren nicht wiederzuerkennen. Vor nicht einmal zwei Stunden waren hier noch Menschenmassen hindurchgeströmt, hatte Lärm und Tumult geherrscht. Nun war fast alles leer und dunkel. Lediglich der Weg zur Nordseite war beschildert und ausgeleuchtet. Andere Trainer traf das Trio aus Ryan, Andrew und Sandra auf dem Weg nicht. Draußen hatte es noch ein paar Fans gegeben, die sie aus der Ferne beobachtet und gestaunt, sich zum Glück jedoch nicht nah an sie herangetraut hatten. Zum jetzigen Zeitpunkt hatte echt keiner mehr irgendwelche Nerven für Fans übrig. Vielleicht waren die auch einfach nur anständig gewesen und hatten ihnen an diesem Abend nicht auf die Pelle rücken wollen. Sie hatten mehr als genug von ihnen sehen und bestaunen dürfen. Der Rest dieses Tages gehörte den Trainern unter sich.

    Nach einer Minute kam eine große Flügeltür aus poliertem Holz in Sicht. Der Teppichboden verschluckte den Klang ihrer Schritte fast vollkommen und führte sie auf einem nachtblauen Weg heran. Davor wartete eine adrette junge Frau, scheinbar ungeduldig. Die Hände waren in die Seiten gestemmt und die Hüfte rausgestreckt. Und als Audrey sie alle kommen sah, verschränkte sie gar entrüstet die Arme. Wirklich schade, ruinierte diese Haltung doch völlig ihr umwerfendes Outfit.

    „Wieso hab ich gewusst, dass ihr mich warten lasst?“

    Die Entrüstung war vorgegaukelt. Sie strahlte über beide Ohren, in freudiger Erwartung dieses Abends. Wie gerne sich der Rest dem doch anschließen würde.

    „Daran bin aber allein ich schuld“, bekannte sich Sandra rasch, um jedem Vorwurf an die beiden entgegenzuwirken. Und obwohl sie nicht am Wahrheitsgehalt dieser Worte zweifelte, wollte Audrey sie nicht akzeptieren, sondern ihr Spielchen weitertreiben.

    „Kein Grund, sie in Schutz zu nehmen, Sandra.“

    Andrew warf Ryan einen Blick zu, der still danach fragte, ob das immer so mit ihr lief. Der ignorierte die Faxen jedoch völlig und sah einmal an der Trainerin herunter. Nicht dieselbe elegante Note wie Sandra, aber definitiv ein Hingucker. Das hatte er von ihr auch nicht anders erwartet.

    „Gut siehst du aus.“

    „Schmeicheleien sind ein armer Ersatz für eine Entschuldigung.“

    Hier lachten sie beide nur noch und schüttelten den Kopf, verkniffen sich den Hinweis, dass sie auch keine Entschuldigung aussprechen wollten. Wenn sie mal wen veralbern wollte, ließ sie sich echt von niemandem den Wind aus den Segeln nehmen. Die Reaktion stellte sie glücklicherweise bereits zufrieden und sie lächelte noch ein wenig breiter. Ab hier wollte sie den Moment genießen.

    „Na jetzt seid ihr ja da“, winkte sie auf einmal ganz die alte, lässige Audrey ab und reckte Ryan sodann eine Hand entgegen. Die Finger waren gestreckt und nur ein klein wenig voneinander gespreizt. Diese Geste wusste er jedoch nicht sofort einzuordnen. Er hob bloß eine Braue, als es ihm dämmerte und fragte somit, ob es Audreys Ernst sei.

    „Stell dich nicht so an. Tu einfach, als wäre ich Guardevoir.“

    Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben. Audrey war trotz ihrer kumpelhaften Art eine sehr feminine und aufreizende Person. Die Eleganz und Sanftheit von Guardevoirs Bewegungen und Berührungen würde jedoch keine Frau jemals erreichen. Aber ihm gefiel die Anspielung, sodass er ihre Hand so ergriff, wie die der Psychodame. Er merkte gleich, dass sie etwas rauer und deutlich kräftiger war. Dennoch führte er sie genauso mit sich und schließlich vor die Tür. Nun hakte sie sich ganz bei ihm ein. Andrew wollte bei dem Anblick erst lachen, doch wurde er von einem behandschuhten Arm überrascht, der sich mit einem unerwartet kräftigen Griff um seinen eigenen legte.

    „Komm schon, rein mit uns.“

    Sandra führte eher ihn, als dass er sie führte. Gemeinsam stießen die vier die beiden Türhälften auf.

    Sie wurden von weißem und goldenem Licht empfangen. Für eine Sekunde grell und fast ein wenig ausladend. Doch überstrahlten sie die Raumbeleuchtung rasch mit ihrem Auftreten. Zumindest ließen die Blicke der Leute darauf schließen. Jeder in der Nähe der Pforte staunte ähnlich begeistert, wie Melody es bei Sandra getan hatte. Die strich sich gerade ihr himmelblaues Haar zurück, dass sie zu einem weiten Zopf geflochten hatte und über ihrer linken Schulter lag. Ihr Kleid war eine elegante Hommage an ihre alltägliche Kleidung. Sicherlich eine Sonderanfertigung, nur für sie. Gehalten in denselben Blautönen und gar fast demselben Muster spannte es sich wie eine zweite Haut an ihren Körper. Erst am Schienbein erlaubten Schlitze an den Seiten etwas Bewegungsfreiheit. Die Träger waren hauchdünn und es wurde viel Dekolletee enthüllt. Am Rücken war das Kleid gar völlig offen, doch verhüllte sie ihn dennoch zumindest teilweise durch eine Stola. Eine Seite Schwarz, die andere blutrot, genau wie ihr Umhang, den sie sonst trug. Silberne Ohrringe blitzen im Licht auf, welche an das Design des Ordens ihrer Arena erinnerten. Um ihren Hals lag eine Kette aus makellos rundgeschliffenen Steinen, deren Farbe fast im Einklang mit dem Teppichboden war. Zudem deckte sie sich perfekt mit den eleganten Lackschuhen, durch deren Absätze sie Andrew sogar um ein winziges Stück überragte.

    Der ging trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, stramm und stolz, um ja nicht von ihrer Ausstrahlung in den Schatten gestellt zu werden. Er selbst war in ein schwarzes Hemd mit braunem Saum und Kragen gekleidet. Das sonst so wilde Haar war mit Gel nah hinten gekämmt worden und nur ein paar der Blonden Strähnen hingen ihm charmant ins Gesicht. Breite Lederriemen spannten sich über seinen Oberkörper und über die Schultern. Ihm war egal, ob Hosenträger out waren oder nicht. Er fand sie schick und sie verliehen seinem Outfit etwas Rustikales. Ein bisschen zumindest. Pete hatte ein Sakko dazu gepackt, auf welches er wegen der – selbst am Abend herrschenden – sommerlichen Temperaturen verzichtet hatte. Sollte er sich auf die Tanzfläche verirren, würde er darin eh nur eingehen. Dass dies geschehen würde, stufte er gar nicht mal als unwahrscheinlich ein. Nur weil er ein leichtlebiger Spaßvogel voller Flausen im Kopf war, bedeutete das nicht, dass er nicht auch einige feinere Seiten besaß. Sein Aufzug war der Beweis dafür.

    Ryan kam im weißen Hemd, allerdings ohne Hosenträger. Dafür spannte sich eine enge, schwarze Stoffweste über seinen Körper und betonte die sportliche Figur. Seine Hände steckten in gleichfarbigen Halbhandschuhen – dünner und leichter als das abgenutzt Leder, das er gewohnt war, aber durchaus passend. Die Ärmel waren ordentlich bis zum Ellenbogen hochgekrempelt und er trug seine Halskette mit dem Silberflügel offen statt unter der Kleidung, wie er es sonst die meiste Zeit tat. Auch er hatte seine Frisur mit Gel zurechtgemacht und alles was ging auf die rechte Seite geworfen, sodass eine Gesichtshälfte etwas verdeckt wurde.

    So entging ihm das süffisante Lächeln Audreys, die seinen Unterarm überraschend fest umklammert hielt. Sie genoss den Moment wohl sehr, strich sich mit einem unbemerkten Seitenblick eine Strähne aus dem Gesicht. Ihr Kleid war farblich ihrer Frisur angepasst. Matter Stoff in Nachtschwarz, allerdings mit roten Rüschen am Saum und an den Trägern. Auch an ihren Handgelenken trug sie Rüschen bestückte Bänder und synergierten perfekt mit den schwarz lackierten Nägeln. Sowie mit dem Outfit insegesamt. Eine Corsage aus schwarzem, allerdings weniger mattem Stoff war in das Kleid eingenäht und mit roten Bändern eng zu gezurrt worden, was ihr eine beeindruckende Taille verpasste. Nicht, dass die nötig gewesen wäre, da ihr der Reifrock schon einen beachtlichen Bonus an Hüftumfang bescherte. Der reichte etwas über die Knie und präsentierte ein Paar wunderschöner Beine, die in schwarzen Absatzschuhen mit gebundenen Schlaufen um die Knöchel endeten. Allerdings nicht so hoch, wie bei Sandra und sicher weniger unangenehm beim Tanzen. In ihrer üblichen Kluft hätte man diese makellosen Konturen wohl kaum vermutet.

    Für einen Moment blieb die Vierergruppe stehen und observierte den Raum. Vor ihnen lag die Tanzfläche. Der Boden blitzte im Licht des Kronleuchters darüber makellos auf, war aus demselben Holz wie die Eingangspforte. Weiße Säulen flankierten ihn links und rechts, bildeten sozusagen eine Begrenzung. Dahinter war eine breite Glasfront, welche fast die gesamte Außenwand einnahm. Lange Tische mit Speisen und Getränken, Bowle und Cocktails eingeschlossen, waren darauf ausgebreitet. Definitiv die feine, pompöse Küche, die Show und Präsentation über allem anderen priorisierte.

    „Hier braucht´s einen anderen DJ“, scherzte Audrey völlig unerwartet und erntete dafür ein, zwei Lacher. Ja, die Atmosphäre war eine gehobenere. Verklemmt und spießig, wie sie es bezeichnen würde. Aber nichts, was sie nicht zum Besseren wenden könnte. Immerhin war die Begleitung exzellent.

    Eine Frau in perlweißer Bluse und schwarzer Stoffweste kam mit einem Tablett an sie herangetreten und bot Sektgläser an. Hinter ihr bemerkte Ryan die Blicke einiger Gäste. Trainer, Sponsoren und Verantwortliche aus der gesamten Szene waren hier vertreten. Auch den Chief erspähte er an der Bar weiter rechts im Saal. Auf der linken Seite waren Stehtische mit feinen Decken darüber verteilt, an denen sich Menschengruppen bildeten und sich in geschlossener Runde niederlassen konnten. In dieselbe Richtung marschierten auch sie und ignorierten dabei die Blicke der anderen Gäste. Bella schien noch nicht eingetroffen zu sein.

    „Also,“, verschaffte sich Audrey die Aufmerksamkeit aller drei, als sie an einem freien Tisch angekommen waren und hob ihre Glas.

    „Auf uns. Die schneidigsten Verlierer im Raum.“

    Sie hatte schon immer gut über sich selbst lachen können. Allerdings war ihre Niederlage auch weit weniger bitter gewesen, als die von Ryan, Andrew und Sandra. Allein, da sie alle drei gegen denselben Gegner verloren hatten. Dennoch stieß die Arenaleiterin sofort mit an. Die jüngeren Trainer tauschten untereinander erst einen prüfenden Blick, stimmten aber mit ein.

    „Hoch die Gläser.“

    „Zum Wohl.“

    Der Sekt schmeckte sehr fruchtig und enthielt wohl nur einen geringen Anteil an Alkohol. Wenn überhaupt welchen. War ohnehin besser so. Dennoch überraschte es, dass Audrey ihres schon nach einem großen Zug geleert hatte.

    „Dann erklärt mal...“, setzte sie an und ihr Glas auf dem Tisch ab.

    „Wie laufen solche Abende in der Regel ab? Auf so einer Bonzen Veranstaltung bin ich zum ersten Mal.“

    Dessen erinnerte sich Ryan. Leider fiel ihm wenig ein, was ihre Hoffnungen für die nächsten Stunden hochschrauben würde.

    „Man redet, man tanzt, isst, trinkt. Manche machen auch nur ein oder zwei dieser Sachen.“

    „Ich kann euch jedenfalls sagen, was davon ich machen werde“, warf Andrew direkt ein und stahl sich davon. Direkt in Richtung Buffet. Wohl etwas Frust in sich hineinfressen. Nebst einiger viel zu teurer Delikatessen. Derweil wirkte Audrey, wie zu erwarten, etwas ernüchtert.

    „Ist das alles? Drei dieser Dinge können wir jederzeit machen.“

    Es war Sandra, deren Augenbrauen sich hier zusammenzogen und fragend in Richtung der Trainerin aus Rosalia starrte.

    „Was hast du beim Begriff 'Sommerball' erwartet?“

    Hierauf hatte sie ausnahmsweise mal keine Antwort parat. Ohne die Teilnahme von neuen sowie alten Freunden, wäre sie hier vermutlich gar nicht erst aufgekreuzt. Bekanntlich war die Party ja nur so gut, wie die Gesellschaft. Trotzdem – enttäuscht zu werden, obwohl man ohne Erwartungen hergekommen war...

    „Dafür, dass du mit solchen Festen keine Erfahrung hast, passt dein Dresscode aber überraschend gut.“

    Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, noch ehe ihr Blick zu Ryan gewandert war. Auf dem kurzen Weg blieb er jedoch an einem Mann mit dünnem Haar und Spitzbart um die fünfzig hängen, der gerade an die Gruppe herantrat. Hinter ihm verweilte eine Dame im Anzug mit einem Schritt Abstand. Scheinbar seine Assistentin, vielleicht Sekretärin. Sein Blick war müde, wirkte offen gesagt ein wenig schmierig. Aber er grüßte höflich, vorsichtig, verschaffte sich mit einer unerwartet hohen Stimme die Aufmerksamkeit des gesamten Tisches.

    „Verzeihung, wenn ich kurz stören dürfte?“

    Sandra, welcher die Anrede offenbar gegolten hatte, neigte verblüfft den Kopf zur Seite. Sie erkannte den Mann sofort.

    „Herr Nowak. Wie klein die Welt doch ist.“

    Sie stellte sogleich ihr Glas ab und reichte ihm die Hand.

    „Ich habe Sie hier nicht erwartet. Ruhen die Pflichten in Johto?“

    „Genau wie Ihre, so scheint es.“

    Dahinter könnte man eine fiese Spitze vermuten, doch der Mann hob gleich beschwichtigend eine Hand, bevor Missverständnisse aufzukommen drohten.

    „Keine Sorge, ich weiß, dass die temporäre Schließung ihrer Arena konform und genehmigt ist.“

    Wenn es einer wusste, dann er. Von all den Anzugträgern, mit denen eine so zentrale Figur wie eine Arenaleiterin verkehren musste, sprach Sandra mit keinem so oft, wie mit ihm. Aber sie tat es selten ungern. Der Mann war so angenehm umgänglich, wie eine geschäftlich bedingte Bekanntschaft nur sein konnte.

    „Darf ich vorstellen?“, wandte sie sich um und trat einen Schritt beiseite.

    „Herr Nowak vom Generalamt für Johtos Arenen. Vereinfacht ausgedrückt könnte man ihn meinen Boss nennen, sowie den jedes anderen Arenaleiters der Region.“

    Soweit Ryan wusste, arbeiteten Arenaleiter völlig selbstständig, mussten aber in regelmäßigen Abständen Berichte und Statistiken ihrer Kämpfe dem Generalamt vorlegen und sich ein bis zwei Mal im Jahr deren Routineprüfung unterziehen. Das Amt legte fest, wer die Lizenz für eine Arena erhielt, auf welchem Niveau sie offiziell eingestuft wurde, aber auch, welcher Leiter den Ansprüchen nicht länger genügte. So eine Lizenz konnte auch mal wieder eingezogen werden. Ein Wunder, dass dies bei der Pfeife in Faustauhafen noch nicht passiert war.

    „Herr Nowak – Ryan Carparso ist ihnen sicher bekannt“, führte Sandra die Vorstellung weiter.

    „Sehr bekannt sogar. Es freut mich sehr, Sie einmal persönlich zu treffen, Mr. Caraprso. Zwar haben Sie bestimmt mit einer gewissen Enttäuschung zu kämpfen, aber ich darf Ihnen hoffentlich dennoch zu Ihrem beeindruckenden Turnier gratulieren?“

    Man schüttelte einander mit viel Anstand die Hände. Ryan musste gestehen, es erfüllte ihn mit Stolz, von einem Menschen in so hoher Position so viel Respekt zu empfangen. Nicht so viel, wie von Trainern oder anderweitig Gleichgesinnten, aber dennoch. Daher begrüßte er Herrn Nowak mit derselben Ehrerbietung.

    „Danke vielmals. Ich weiß Komplimente jederzeit zu schätzen. Und meine Bemühungen werden von hier an nur größer.“

    „Sicher werden sie sehr bald entlohnt.“

    Ryan glaubte, ehrliche Glückwünsche für all seine künftigen Matches in diesen Worten zu erkennen.

    „Und das ist Audrey Miller. Ebenfalls eine herausragende junge Trainerin aus unserer Heimat.“

    Sie sollte trotz früheren Ausscheidens keinesfalls vergessen werden, aber Herr Nowak schüttelte auch ihre Hand sehr eifrig.

    „Aber natürlich. Auch Ihre Kämpfe habe ich mit großem Interesse verfolgt.“

    Na, das konnte was geben. Auf diese steifen Floskeln konnte Audrey sicher bestens verzichten. Hoffentlich würde er dieses Gespräch nicht allzu weit in die Länge ziehen. Wer wusste schon, zu welchen Späßen sich Audrey hinreißen lassen mochte, wenn es ihr mit irgendeinem Anzugträger mal zu bunt würde?

    „Sie können sicher sein, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite“, antwortete sie mit einem breiten, charmanten Lächeln. Ryan musste alle Mühe aufbringen, sich nicht verdutzt nach ihr umzudrehen. War das wirklich Audrey, die da geantwortet hatte? Sie klang wie ein anderer Mensch. Glücklicherweise hatte Herr Nowak keine Ahnung, wie sie üblicherweise auftrat und war daher keineswegs irritiert, bemerkte auch nicht die Verwunderung des Blondschopfes daneben.

    „Sie haben meiner besten Arenaleiterin wirklich einen spektakulären Kampf geboten. Meine Hochachtung.“

    Sie spielte die Bescheidene. Der Anblick war noch ungewohnter als der gehobene Jargon.

    „Sie schmeicheln mir. Aber es ist offensichtlich, wie viel Arbeit noch vor mir liegt.“

    Nowak ballte eine Faust und redete motivierend auf Audrey ein. Er wirkte trotz fortgeschrittenen Alters sehr schwungvoll und positiv.

    „Nur nicht verzagen. Die Leiter ganz nach oben ist lang und beschwerlich, aber nach dem, was ich gesehen habe, bin ich sicher, Sie sind dem Anstieg gewachsen.“

    „Und ich werde jede Sprosse mit Zuversicht nehmen.“

    Boah, war das schwierig hier die Kontenance beizubehalten. Hatte Audrey einen Schalter in ihrem Kopf umgelegt?

    Mit dieser Antwort schien der Mann sehr zufrieden. Sandra hatte daneben lediglich eine Braue sowie einen Mundwinkel verschmitzt angehoben. Im Gegensatz zu Ryan wirkte dies aber natürlich und keineswegs unter zwanghafter Beherrschung. Obendrein vermochte die Arenaleiterin, beides sofort abzustellen, als sich Nowak wieder an sie wandte.

    „Sandra, dürfte ich Sie für einen Augenblick entführen? Es gibt da ein Anliegen, über das ich gerne mit Ihnen sprechen würde.“

    Eine ungewöhnliche Art, jemanden zu siezen und gleichzeitig mit dem Vornamen anzusprechen, wie Ryan bemerkte. Die Drachenmeisterin war verwundert, was es denn ausgerechnet hier und heute zu diskutieren gäbe, willigte jedoch ein und entschuldigte sich für einen Moment.

    In dem Moment, als die Beiden sich samt der Sekretärin entfernten, drehte Ryan langsam, geradezu mechanisch den Kopf in Audreys Richtung. Sein Blick sprach Bände. Nein, schrie sie regelrecht. Er brauchte nicht das Geringste zu sagen.

    „Was ist?“, meinte sie allerdings bloß schulterzuckend. Sie war bereits wieder ganz sie selbst.

    „Noch nie 'ne scheinheilige Schleimerin gesehen?“

    Völlig unbehelligt griff sie beim vorbeigehenden Kellner nach einem neuen Glas Sekt und nippte daran. Richtig! Audrey hatte vor, irgendwann einmal selbst Arenaleiterin in Johto zu werden. Da war es alles andere als dumm, sich mit jemandem wie Herr Nowak gut zu stellen. Ganz egal, wie weit dieser Plan noch in der Zukunft lag. Diese Art war Ryan an Audrey allerdings neu und brachte ihn zum Lachen.

    „Ihr Frauen und euer verfluchter Charm“, meinte er mit einem fassungslosen Kopfschütteln und leerte sein Sektglas. Dies wurde von der letzten übrigen Person nebst ihm an diesem Tisch nur mit einem Zwinkern quittiert.

    „Würde gerne wissen, was er von Sandra will“, wechselte sie das Thema und lugte zu jener hinüber. Es war nicht leicht, in diesem großen Saal mit so vielen Menschen, eine einzelne Stimme herauszufiltern. Es klappte auch nur Bruchstückhaft, doch konnten sie beide sich den Satzbau anhand einiger Fetzen zusammenreimen.

    „Ich wollte mit dieser Nachricht eigentlich warten, bis Sie wieder in Johto sind, doch ich würde diesen glücklichen Zufall gerne als Anlass nutzen.“

    Schien also um die Arbeit zu gehen. Und das Anliegen war scheinbar ein positives. Das erleichterte die Beiden und genügte ihnen, damit sie nicht weiter zu lauschen versuchten. Sandras Geschäft ging sie nichts an und sie waren nicht so ungeduldig, dass die nicht warten konnten, bis sie es ihnen persönlich erläuterte – sollte sie dazu bereit sein.

    „Was ist mit den anderen Gästen? Du kennst doch sicher ein paar Leute wie den da?“, erkundigte sich Audrey stattdessen. Der erste sporadische Rundblick hatte Ryan nicht viel Übersicht verschafft, weshalb er seine Position am Tisch änderte, sodass er nun in den Großteil des Saals sah. Es war nicht so, dass er sich besonders gut auskannte. Zumindest behauptete er das nicht von sich. Aber die ein oder andere Visage sollte er sicher erkennen.

    „Mal sehen. Den Chief hast du bei der Siegerehrung schon gesehen.“

    Und er sah noch haargenau so aus, wie bei dieser. Das dünne, schwarze Haar mit Gel nach hinten gerichtet und immer schön eine Hand auf dem Rücken. Das Kinn trug hoch, wirkte aber nicht arrogant, sondern aufmerksam und aufgeschlossen. Sein Auftreten war dem eines Gentleman würdig.

    „Na den kenn' sogar ich“, beteuerte Audrey.

    „Spricht für den Namen des Turniers, wenn der Chef der PTG persönlich die Medaillen verleiht. Ich dachte der macht das nur bei den Ligen.“

    Was in der Tat wieder mal bewies, welchen Stellenwert der Summer Clash hatte. Nicht nur für Hoenn, sondern für die Szene im Allgemeinen.

    „Die Blondine da hinten kennt man als Madam Genevieve.“

    Wasserstoffblondine, wollte man konkretisieren. Die aufgetorkelte Frau um die Dreißig hatte so viele Farben im Gesicht wie ein Clown. Trug obendrein ein pfirsichfarbenes Kleid, das von oben bis unten mit Rüschen überzogen war. Sie sah aus wie ein wandelnder Blumenstrauß. Wieso sie dennoch so aufdrängend von zahlreichen Leuten – und dann noch ausschließlich Männern – umgeben war, entzog sich Audreys Verständnis. Mit so einer Erscheinung konnte man doch nicht gesehen werden wollen.

    „Die hat es sich zur Mission gemacht, nicht die Trainer, sondern deren Pokémon groß rauszubringen“, erklärte Ryan weiter. Das meinte er jedoch keineswegs im positiven Sinne.

    „Und glaub mir, wenn deine Pokémon einmal in ihrem Salon landen, erkennst du sie selbst nicht wieder.“

    Auch das konnte man im falschen, da positiven Sinne verstehen. Also musste er es klipp und klar aussprechen.

    „Die sehen dann genau so verkorkst aus, wie die Frau selbst.“

    Die Medien schienen die Dinge gern anders zu sehen, als Trainer wie Ryan es taten. Aber die Frau verstand es eben, sich zu vermarkten und die Verlage fraßen ihr aus der Hand. Eine Berühmtheit ohne Talent, nannte Ryan sie gern. Denn die wenigsten ließen sich auf mehr als ein Treffen mit Madam Genevieve ein. Man konnte froh sein, wenn man sein eigenes Pokémon wiedererkannte, wenn es einmal in ihrer Maske gesessen war.

    Das wollte sich Audrey lieber nicht bildlich vorstellen. Am besten gar nicht lange mit solchen Menschen aufhalten. Ryan observierte den Raum weiter.

    „Der Greis und der nervöse Stift daneben...“, fuhr er mit einem Deut Richtung Bar fort, wo ein schlaksiger Mann Anfang zwanzig seine Krawatte richtete und sich wohl wegen seines unsauberen Auftretens eine Predigt des alten Herrn daneben einbrockte.

    „Sind Fletcher Borrs und Neffe. Zwei verschiedene Generationen aus der größten Firma für Pokémon Medizin der Welt. Vom einfachen Supermarkt bis zum Pokémoncenter wird absolut alles mit ihren Waren beliefert.“

    Die jüngere Generation schien sich wirklich zu bemühen, dem Anspruch der älteren zu genügen. Dem kritischen Blick nach zu urteilen, scheiterte er aber samt und sonders.

    „Alle Achtung. Kennst dich ja doch ein bisschen aus.“

    Ryan spürte einen neckischen Ellenbogen in seiner Seite und schob ihn mit einem schuldbewussten Schmunzeln weg.

    „Ein paar sind schon irgendwie hängen geblieben. Ist aber nicht so, dass ich mir das merke.“

    So ganz kaufte sie ihm das nicht ab.

    „Sonst noch jemand?“

    Das ständige Weiterfragen wurde nun mit einem durchschauenden Seitenblick quittiert.

    „Du bist richtig scharf drauf, dir etwas Vitamin B zur Seite zu legen, oder?“

    Diese Anschuldigung entlockte der Trainerin einen bestürzten Gesichtsausdruck, doch das Lächeln verriet sofort, dass sie nur wieder spaßte.

    „Ryan Carparso, ich muss doch bitten. Solche Vorwürfe in Richtung einer unschuldigen Dame?“

    Sie erntete darauf nur eine Grimasse, als wollte er antworte, sie könne sich das Getue sparen.

    Ein oder zwei weitere Gesichter erkannte Ryan noch, fand aber keine Hintergründe zu ihnen in seinem Gedächtnis. So schwieg er lieber, anstatt Audreys Vorwurf weiter zu bestätigen. Stattdessen gingen sie die Trainer durch, die sie im Laufe des Tages beobachtet hatten. Nicht alle aus den besten sechzehn waren anwesend. Da fehlte zum Beispiel Jamie Gregory, der Märtyrer, den Andrew im Viertelfinale ausgeschaltet hatte. Ryans eigene Gegnerin, Ann Trevors, war dagegen erschienen. Erneut in einer Kombination aus weiß und schwarz. Und ebenfalls erneut trug sie etwas extrem Figurbetontes. Die Frau musste an ihrem Körper noch mehr gearbeitet haben als mit ihren Pokémon. Mitch Morrow, Tina Fergison und Chester Rome standen gar in derselben Runde und wechselten locker einige Worte. Auch Amy Valentine, eine Freundin Audreys, war anwesend und tat sich gerade am Buffet gütig. Direkt neben Andrew. Für beide waren die Speisen offenbar interessanter als die Person daneben. Ryan stellte fest, dass ansonsten wohl nur Terry Fuller zu fehlen schien. Naja, eine Person wäre da noch.


    Als hätte er es heraufbeschworen, öffnete sich die Saaltür und zog mit ihrem Knarzen die Aufmerksamkeit der halben Besucherschaft auf sich. Der Anblick der eintretenden Person erregte gar noch weitere Aufmerksamkeit. Ein paar bernsteinfarbener Katzenaugen sah seelenruhig einmal von links nach rechts, von rechts nach links. Das wellige, schwarze Haar hing ihr ein wenig ins Gesicht und verhüllte sie beinahe. Sie warf es mit einer eleganten Handbewegung zurück und man könnte meinen, ein Dutzend Männerherzen zerflossen dabei gerade. Vielleicht auch noch das ein oder andere Frauenherz. Ein Träger ihres Kleides rutschte dabei herunter, doch sie ließ ihn dort am Oberarm hängen, als sei es beabsichtigt gewesen. Das Oberteil ihres nachtschwarzen Kleides saß so eng, dass es ohnehin wohl kaum verrutschen konnte. Es war zweigeteilt, offenbarte eine Schneise nackter Haut vom großzugigen Ausschnitt bis zum Bauch. Ein paar Kreuznähte hielten sie beisammen, ähnlich wie bei Audreys Corsage. Überzogen wurde es von einem Muster, das an gefallenes Herbstlaub erinnerte und um den Hals trug sie einen Choker im selben Stil. Der voluminöse Rock mit Einschnitt bestand ebenfalls aus zwei Teilen. Die untere Hälfte war, bis auf drei abgestufte Reihen aus mit Rüschen besetzen Satin, ein halb durchsichtiger Schleier, unter dem sich ein grazilen Beinpaar mit festen, strammen Schritten bewegte. Die unterste Reihe bildete den Saum, unter welchem nur gerade so noch ihre eleganten und selbstverständlich ebenfalls schwarzen Schuhe bei jedem Schritt hervorlugten. Ein überlegenes Lächeln mit dunklem Lippenstift lag breit auf dem ansonsten nur dezent geschminkten Gesicht.

    Mit zielstrebigen Schritten war der Chief sogleich bei ihr und rief hemmungslos in die weite Runde.

    „Unsere große Turniersiegerin ist eingetroffen. Miss Bella Déreaux, meine Damen und Herren!“

    Er brauchte nicht um Applaus zu bitten. Der kam ganz von selbst. Manche verhalten und lediglich aus Höflichkeit. Einige aber auch sehr frenetisch und begeistert. Selbst unter den anderen Trainern war sich kaum einer für diese Geste der Bewunderung zu schade.

    „Tja, das war´s wohl mit dem entspannten Teil des Abends“, murmelte Ryan nüchtern zwischen seinen angespannten Kiefern hervor.

    Kapitel 68: Aftermath


    Ryan hatte sich gar nicht erst zu Audrey und Melody begeben können. Lediglich für einen äußerst kurzen Austausch über das Finale mit Andrew und Sandra hatte es gereicht. Und selbst mit denen hatte er kaum ein paar Sätze wechseln können, eh bereits das Aufbauteam für die Siegerehrung mit tüchtigen Händen an ihnen vorbeigekommen war. Über aller Eingänge hatten sie den Innenraum geflutet, um dort das repräsentative Siegerpodest, sowie Scheinwerfer und Pyrotechnik aufzubauen. Keine halbe Stunde hatte dies gedauert. Und bereits vor dem Abschluss des Aufbaus, war ein Organisator mit Klemmbrett und Headset an die jungen Trainer herangetreten und hatte sie wieder durch den Tunnel geschleift. Ryan hatte die Pokébälle von Hundemon, Sumpex und Guardevoir vertrauensvoll an Sandra übergeben, damit sie möglichst schnell ins Pokémoncenter kamen. Sie sollten nicht länger als unbedingt nötig darauf warten müssen. Er war zwar sicher, dass niemand schwerere Verletzungen davongetragen hatte, doch sie hatten die beste und schnellstmögliche Behandlung verdient.

    Nun befanden sich er und Andrew, genauso wie die sich noch immer feiern lassende Bella, im Innenraum des Prime Stadiums. Unterhalb der Haupttribüne mit der VIP Loge hatte man das Journalisten Geschwader hereingelassen, welche nur noch von einer schmucken Abgrenzung in Gold und Rot, gleich der Fassade des Stadions, zurückgehalten wurden. Mit etwas Nachhilfe seitens Ryan und Andrew hatte man nebst Sandra und Audrey auch Melody bis hierhin vorgelassen, die kompromisslos mit den Fotografen um einen Platz ganz vorne rang. Ryan hatte sich stur der Obhut des Headset-Typen entzogen und ging zu ihr rüber. Das Dutzend Kameras, das nach ihm zielte, ignorierte er vollkommen, bedeutete aber den beiden zu Melodys Flanken, ihr Platz zu lassen. Sie lehnte sich ihm weit entgegen, riss dabei fast die Absperrung um. Sie fielen einander in die Arme. Über seinen Köpfen drangen erheiterte Rufe zu ihnen herunter. Gerührtes Kreischen von jungen Frauen. Anerkennender Applaus und respektvolle Pfiffe von Männern. Niemand von ihnen konnte jedoch erkennen, wie sie ihre Lippen miteinander versiegelten. Das konnten höchstens die Kameras direkt neben ihnen, doch die einzige davon, die unsensibler Weise auf sie gerichtet wurde, schob Melody beiläufig beiseite, als entferne sie ein bettelndes Yorkleff.

    Der Kuss dauerte nicht lange. Ryan wollte nicht noch mehr Aufsehen auf Melody lenken, als er bereits hatte. Seine Stirn ruhte aber noch sanft auf ihrer, während sie eine Hand zärtlich auf seine Wange legte.

    „Danke“, hauchte er ihr noch ins Ohr, bevor er sich zaghaft wieder von ihr löste. Ein letztes Funkeln seiner immer heller werdenden, silbernen Augen schenkte er ihr noch, doch erhielt sie gar keine Gelegenheit zu fragen, wofür er sich genau bedankte. Tatsache war, selbst wenn sie die Frage aussprach, würde er sie nicht beantworten können. Nicht hier. Nicht auf die Schnelle. Denn sein Dank bezog sich auf so viel mehr als nur ihre Unterstützungen während des Turniers. Und eigentlich hätte er, allein um diese zu würdigen, den Sieg einfahren müssen.

    Nun verlangte man bereits wieder nach dem Johtonesen. Der Aufbau war so gut wie beendet und die Zeremonie würde jeden Augenblick beginnen. Das Podium war recht simpler Natur. Drei Stufen, die höchste in der Mitte, ganz nach dem allseits bekannten Schema. Cay war in der Aufbauzeit abgemeldet gewesen und ruhmreiche Schlachtenmusik mit Fanfahren und Orchester erfüllte den Innenraum. Scheinwerfer schwenkten in Bahnen umher und bestimmt eintausend Handykameras zielten präzise auf den Lieblingstrainer oder aber nahmen die Feierlichkeiten in breiter Runde auf. Allein deren Lichter gaben ein fantastisches Bild auf den Tribünen ab. Sie glichen arg den ersten Sternen, die bereits am Himmel glänzten, obwohl das letzte Licht des Tages noch nicht ganz fort war.

    Normalerweise war dies so ein Moment, in dem sich die Trainer miteinander unterhielten. Über den gesamten Tag und ihre Erfahrungen sowie Gedanken übereinander. Vielleicht mit einem spaßigen Seitenhieb, um dem Rest Frust der Niederlage etwas Luft zu machen oder aber man sprach über Ideen und Taktiken, Kniffe und Erfahrungen, die man während des Turniers gesammelt hatte. Gerne wurden in solchen Augenblicken aus Rivalen Freunde. Aber diese drei hatten sich rein gar nichts zu sagen. Allein neben Bella stehen zu müssen, widerte Andrew an. Selbst jetzt, da sie noch auf demselben Boden standen. Bei dem Gedanken, dass sie gleich auf die höchste Stufe des Podiums über ihn hinaus klettern würde, so war ihm glatt nach Brechen zumute.


    Dann war es soweit. Die Scheinwerfer erloschen. Es wurde düsterer. Nur das Lichtermeer auf den Rängen blieb. Die Musik verstummte und Cay tat seinen letzten Job für den heutigen Tag.

    „Meine lieben Freunde. Trainer, Züchter und Fans des Pokémonwettkampfes.“

    Bereits hier begannen einzelne Gruppen wieder aufzujubeln oder den Namen ihres Lieblingstrainers zu skandieren. Die allermeisten riefen den Namen Bella.

    „Ich kann nur sagen: Was – für – ein – Tag. Der diesjährige Summer Clash hat echt noch mehr geboten, als er ohnehin schon versprochen hatte. Was haben wir an geilen Kämpfen gesehen…“

    Ryan schaltete auf Durchzug. Von diesen Schwärmereien hatte er wahrlich genug gehört und dabei hatte er höchstens die Hälfte mitbekommen, da seine eigenen Matches seien Aufmerksamkeit beansprucht hatten. Aber da Cay schon so viel gelobt und gepriesen hatte, hielt er seine Ansprach hier glücklicherweise kurz. Vielleicht schonte er aber auch nur seine Stimme. Noch etwas mehr und man würde ihn über die Lautsprecher gar nicht mehr verstehen.

    „… und nun, ohne große Umschweife…“

    Das war ja wirklich was ganz Neues bei ihm.

    „… sind hier die drei Trainer, die es bis auf´s Podest geschafft haben!“

    Nun wurden seine Worte von der Musik begleitet. Die Stimmen der Zuschauer waren nun ebenfalls erschöpft, wie es schien, da diese jetzt völlig untergingen. Andererseits gab es zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch nicht mehr viel so frenetisch zu bejubeln. Außer einer Sache.

    „Einen respektablen dritten Platz hat dieser Junge erkämpft. Mit einem Feuerwerk an Offensivspektakeln und obendrein einem Sieg über den Gewinner der letzten Silberkonferenz.“

    Ein Scheinwerfer erhellte den noch leeren Platz am Podium, hinter dem sich die Trainer mit dem Organisator versammelt hatten. Eben der winkte nun Andrew nach vorn. Der hatte aber wenig Eile. War unter den gegebenen Umständen grundsätzlich alles andere als heiß auf diese Zeremonie und wäre am liebsten gar nicht erschienen. Etwas Derartiges schloss er jedoch kategorisch aus. Einen mieseren Verlierer konnte man kaum abgeben als einen solchen, der nicht zur Siegerehrung erschien. Das wäre eine bodenlose Respektlosigkeit gegenüber den anderen Teilnehmern und war weit unter seinem Niveau.

    „Andrew Warrener!“, rief Cay noch mit einer Spur Zurückhaltung. Von den Fans spürte man keine. Der Applaus war unbeschreiblich. Und das, obwohl er „nur“ dritter war. Das Licht blendete ihn und erlaubte nicht einmal einen guten Rundblick in die Menge. Den liebte er sonst so sehr. Es gab keinen besseren Moment, um sich selbst den Fans zu präsentieren und sich gleichzeitig von ihnen überwältigen zu lassen. Oder sich zu bedanken. Für alles davon fehlte ihm weitestgehend die Lust. Doch er rang sich zumindest zu etwas Ähnlichem wie einem Lächeln durch. Eine adrette Dame sowie ein Mann mittleren Alters in feinem Anzug näherten sich ihm. Letzteren erkannte er als den Chef der Pokémon Trainer Gesellschaft, der in den Medien immer nur „Chief“ genannt wurde. Sein echter Name war zwar kein Geheimnis, aber Andrew hatte ihn sich nie gemerkt. Er hatte es nicht so mit Bürohengsten. Außerdem nutzten die allermeisten Leute diesen Spitznamen. Aber er musste zugeben, dass Chief einen sehr sympathischen Eindruck machte. Sein Händedruck war fest, seine Körpersprache lässig und die Augen strahlten hell. Er schien sich wirklich, wahrhaftig zu freuen, heute diese Medaillen überreichen zu dürfen. Wohl war er noch nicht ganz so an seinem Schreibtisch versumpft.

    Es waren nicht wirklich Medaillen, die sie hier erhielten. Die Dame hinter ihm reichte Chief zunächst einen Strauß aus Sommerblumen – eine für seinen Geschmack überflüssige Floskel – und anschließend eine verzierte und blitzblank polierte Metallplakette. Feine, edle Lettern waren eingraviert und verrieten seine Platzierung bei diesem Turnier, obwohl das Bronze das selbst für Analphabeten bereits erklärte. Andrew beugte sich nur sehr leicht nach vorn und erlaubte, dass man sie ihm um den Hals hing. Es war bestenfalls so groß wie das kleinste seiner Familienbilder zu Hause auf dem Kaminsims. Die Farbe gefiel ihm aber definitiv nicht gut genug, um das Ding daneben zu platzieren. Obwohl er gestehen musste, dass die Gravuren echt schick waren. Die Ränder wurden von edlen, antik anmutenden Säulen geziert und an der Spitze thronte ein Siegeskranz. Dennoch würde er auf dieses Metall nicht übermäßig stolz sein können.

    Allem Unmut zum Trotz winkte er einmal quer über die gesamte Tribüne vor ihm und bedankte sich ein letztes Mal für den Applaus, ehe es wieder ruhig wurde. Cay fuhr mit etwas stärker erhobener Stimme fort.

    „Es gibt so viele Schmähungen zweite Plätze und natürlich hast du dir den Sieg gewünscht, mein Freund. Aber bitte tritt mit 'nem großen Batzen Stolz auf dieses Podium.“

    Wann hatte er mit dem Stadionsprecher denn Freundschaft geschlossen?

    „Lasst was hören für den ehrenvollen Finalisten und sensationellen Silbermedaillen Gewinner. Ryan Carparso!“

    Seinen Namen rief Cay schon lauter. Und tatsächlich war er bereits auf das Podium gestiegen, noch ehe seine Stimme verklungen war. Er wunderte sich fast ein wenig über sich selbst. Sein letzter zweiter Platz war noch nicht lange her und hatte für ihn einen Tiefpunkt, ja fast einen Genickschlag in seiner Karriere dargestellt. Heute würde er sein vergangenes Ich am liebsten schütteln und aus seiner Traumblase herauszerren. Selbst jetzt, da er das Finale gegen eine Person verloren hatte, die er noch mehr verachtete als Terry, empfand er keine Schande. Die Aussicht von diesem Platz des Treppchens war nicht überragend, aber die Luft war durchaus angenehm. Er applaudierte den Fans zurück, die ihn allemal spüren ließen, dass er sie begeistert hatte. Er schüttelte die Hand von Chief deutlich dankbarer und nahm das Silber mit viel Anstand entgegen. Sogar den Blumenstrauß reckte er in den Abendhimmel, deutete dann rasch auf Melody und kündigte bereits an, dass er ihr gehören würde, sobald er hier runterkam. Eben die schmückte sich den Moment noch ein wenig aus, redete ihn sich noch etwas schöner, als er ohnehin war, indem sie entschied, dass Silber eh besser zu Ryan passte. Selbstverständlich aus Gründen persönlicher Natur, die weniger kompetitiv und wettkampforientiert waren.

    Nachdem Ryans Applaus geendet hatte, ließ Cay die eingetretene Stille für einige Sekunden walten. Unter den Massen machte sich aber bereits eine gewisse Anspannung breit. Alles wussten, was jetzt kam. Wer jetzt kam!

    „Eine Story wie ihre gehört eigentlich verfilmt. Aus dem Nichts kam sie. Und sie hat sich alles genommen. Hat alle anderen übertrumpft.“

    Seine Stimme wurde mit jedem Satz lauter. Neben Audrey wurden die Leute bereits hibbelig.

    „Als wir hier gestern anfingen, war sie eine völlig Unbekannte. Aber jetzt hat ihr Name in Hoenn tiefe Spuren hinterlassen. Die große Siegerin den Summer Clash, Ladies and Gentlemen: Bella Déreaux!“

    Nun saß wirklich keiner mehr. Jede Seele auf den Rängen hatte sich erhoben und bekundete voller Respekt seinen Beifall. Sprechchöre formierten sich, die ihren Namen skandierten. Und da trat sie auf das Podium. Von Funkenfontainen und Feuerwerksraketen begleitet. Elegant und souverän, aber mit einer kecken Note. Eine Lady, die eine freche Seite an sich zeigte. Sie verbeugte sich wie eine Akrobatin nach einer tadellosen Darbietung, winkte die Zuschauer nochmals zu sich und forderte mehr Lärm. Und den bekam sie. Als habe der ein oder andere Fan doch noch nicht alle Reserven aus den Lungen geschrien, hallten ihr tausende Stimmen entgegen, sodass es sicher nicht überrascht hätte, wäre ihr schwarzes Haar zurückgeflogen. Es entlockte ihr tatsächlich ein Schmunzeln.

    Andrew würde in diesem Moment gar nicht zu ihr hochschauen können, selbst wenn er es versuchte. Davon hielt ihn ein unerschütterlicher, sturer Instinkt ab. Er behielt den Blick stur geradeaus, schwankte gar nochmal zur Seite entgegen von Bellas Richtung und versuchte sich auf die Menschen zu konzentrieren. Obgleich es eben sie war, der sie hier zujubelten.

    Ryan konnte dagegen einfach nicht anders, als sie zumindest aus dem Augenwinkel zu beobachten, obwohl er das eigentlich nicht wollte. Wie sie sich die Goldmedaille sowie einen prächtigen Siegeskranz umhängen ließ…, kaum zu glauben, dass er hierbei nicht den Verstand verlor. Dafür hatte er sich bei Melody zu bedanken. Denn, so er auch stets unauffällig zu der Agentin schielte, lag sein Hauptfokus doch auf seinem süßen Rotschopf. Die verzichtete zum allerersten Mal – und damit nicht zu früh – darauf, in den Jubel einzustimmen. Stattdessen sah sie Ryan verträumt an, als sei sie sein größter Fan und er habe gerade die Hoenn Liga gewonnen. Und dass sie ihn so bewunderte, machte ihn wiederum unsagbar glücklich. Weckte aber auch den Wunsch, hier doch als Turniersieger stehen zu können. Aber das war abgehakt. Diese Schlacht war geschlagen. Es war vorbei. Dafür fing ein anderer Kampf an.

    Nun ja, vielleicht noch nicht sofort. Denn noch stand eine weitere Art Zeremonie an.


    Direkt nach der Siegerehrung waren alle drei Trainer vom Hauptorganisator zusammengerufen und in den Tunnel gedrängt worden. Der, sowie die zahlreichen Gänge, die sie entlang geschleift wurden, war mittlerweile rappelvoll mit Menschen. Fast alle in Uniformen oder Signalwesten. Der ein oder andere Anzugträger war noch dabei. Eigentlich konnte man nur das Headset auf dem Kopf des hektischen Mannes als Orientierungspunkt nutzen.

    Die Menschen wurden bald weniger. Man erklomm eine Treppe in den ersten Stock. Die Flure veränderten sich. Weiß schlug von alles Seiten entgegen und die eigenen Schritte wurden von einem groben Teppich gedämpft. Schließlich kam das Headset zum Stillstand. Ein letztes Mal wurde über jenes eine Erlaubnis zum Eintreten erfragt. Scheinbar gab man am anderen Ende das Okay und das Trio wurde hindurch gebeten. Der Organisator folgte ab hier nicht mehr.

    Sie wurden von einem wuchtigen, glatzköpfigen Mann im braunen Anzug empfangen, der sie nur beiläufig grüßte und sofort zu einem Tisch vor der Wand lotste. Zu jenem gerichtet waren bestimmt dreißig Journalisten auf Stühlen aufgereiht worden, die eifrig einige Bilder schossen. Ganz hinten im Raum war eine große Fernsehkamera aufgestellt worden, welche direkt auf die Tischmitte zielte.

    Ryan hatte bereits die ein oder andere Pressekonferenz abgehalten. Auf der letzten hatte er ein eher mieses Bild abgegeben, aber da waren die meisten Fragen glücklicher- und logischerweise an Terry Fuller gerichtet worden. Für Andrew war es erst das zweite Mal. Seine Premiere hatte er bei einem Reihkampfturnier in Vertania City erlebt. Als Sieger dieses Turniers hatte er aber alleine am Tisch gesessen, was ihm schon prinzipiell besser gefiel, als ihn mit anderen zu teilen. Aber wenn er Glück hatte, würde er als uninteressanter Drittplatzierter weitestgehend außen vorgelassen.

    Ihre Sitzplätze waren bereits beschildert. An jedem war ein Mikrofon angebracht, um nicht durch den Raum brüllen zu müssen und einige Getränke standen ebenfalls bereit. Der Mann im Anzug bezog stehend mit etwas Abstand Stellung, überließ den von den Kameras belagerten Bereich ganz den Trainern. Bella nahm als erste Platz und saß standesgemäß in der Mitte. Ryan nahm ordentlich zu ihrer Rechten Platz, während Andrew sich etwas prüde auf seinen Stuhl schmiss und sich lässig gab.

    Der Anzugträger prüfte ein eigenes Mikrofon, dass er in den Händen hielt.

    „So, alles scheint bereit. Somit darf ich alle Journalisten zur diesjährigen Summer Clash Pressekonferenz begrüßen. Ein besonderer Gruß gilt natürlich den drei Trainern, die heute bei uns sind. Bella Déreaux, Ryan Carparso und Andrew Warrener, herzlich willkommen.“

    Ein weiteres Mal wurde der zweite Turniertag im Groben zusammengefasst, als hätte ein gewisser Stadionsprecher das noch nicht ausreichend getan. Ohnehin wurde dieser Vortrag mehr steif als begeistert vorgetragen, geradezu runtergeleiert, sodass es Team Rockets Agentin glatt ein wenig unerwartet am Wasser nippend erwischte, als sie, dem Sieger traditionell gebührend, um ein erstes Statement zum Endresultat gebeten wurde. Sie atmete tief ein und sah einmal in die Runde. Wie all die Augen an ihr klebten. Ein wenig hatte sie durchaus Lust, sie alle auf´s Korn zu nehmen und die unangenehmste Pressekonferenz aller Zeiten zu kreieren.

    „Ich werd mal ehrlich sein. Ich bin mit niedrigen Erwartungen hergekommen. Dass es keine leistungsbezogenen Voraussetzungen gibt, um am Summer Clash teilzunehmen, bedeutet eine weite Kluft zwischen dem Niveau der Trainer und sorgt besonders am ersten Tag für eine chaotische Zusammensetzung der Kämpfe. Und gerade am ersten Tag sah ich mich in meiner Vorahnung nur bestätigt.“

    Wow, was ein abgehobener Einstieg. Es verlangte viel Mühe, hier nicht die Augen zu verdrehen oder eine Hand vor die Stirn zu schlagen.

    „Aber der Antritt hat sich letztlich doch sehr für mich gelohnt. Ich habe heute viele interessante Matches und Pokémon gesehen und außerdem eine Menge über so manchen Teilnehmer erfahren. Zum Ende hin habe ich sogar einen Nervenkitzel empfunden, den ich so lange nicht mehr gespürt habe.“

    Bei den letzten Worten wurde sie langsamer und warf beiden Trainern aus Johto einen Seitenblick zu. An Ryan blieben ihre bernsteinfarbenen Augen noch etwas länger haften. Generell fühlten sie sich beide von jedem ihrer Worte direkt angesprochen. Was vermutlich genau ihre Absicht war.

    „Durch die letzten Kämpfe darf ich gar behaupten Stolz auf diesen Turniersieg sein zu können und bin daher sehr froh, doch hier angetreten zu sein.“

    Wenigstens der letzte Satz stellte keinen stichelnden Seitenhieb für Ryan und Andrew dar. Und er reichte sogar aus, um die Männer und Frauen von der Presse zu weiteren Fragen zu motivieren.

    „Sie sind bislang völlig unter dem Radar der Medien und der gesamten Trainerwelt gewesen. Ihre Pokémon und ihr Können sprechen jedoch für eine erfahrene Veteranin. Wie lange sind sie also wirklich schon auf Reisen? Wo und wie haben sie zu solch einer Stärke gefunden?“, wollte einer junge Frau sehr eifrig und wissbegierig erfahren. Worauf die Agentin allerdings süffisant schmunzelte.

    „Das bleibt geheim.“

    Ein paar Sekunden blieb es still. Vielleicht rechnete man mit einer Begründung für das Schweigen oder wenigstens einem kurzen, vertröstenden Statement. Irgendetwas, womit man als Schreiber wenigstens halbwegs arbeiten konnte. Aber nichts. Ein freches Lächeln, das nicht ansatzweise die Intention zeigte, noch ausführlicher zu werden und stattdessen die nächste Frage erwartete. Allerdings hielt sich Bella auch mit weiteren Antworten sehr bedeckt und möglichst kurz. Fragen zu ihrer Herkunft und Heimat überging sie völlig oder gab auch mal „kein Kommentar“. Ein bisschen ließ sie die Journalisten also doch auflaufen und amüsierte sich an deren Unzufriedenheit. Und man merkte deutlich, dass weniger und weniger Arme nach oben gingen. Eine weitere Hand erhob sich dann doch noch und der Mann im braunen Anzug erteilte das Wort.

    „Miss Déreaux, wann werden wir sie und ihre Pokémon das nächste Mal beobachten können? Beabsichtigen sie eventuell, an der Hoenn Liga teilzunehmen?“

    Die Frage war durchaus naheliegend, wenn man ihre Einstiegsworte bedachte. Wer vom Niveau des Summer Clash wenig hielt, konnte nur noch Prachtpolis ansteuern, um bessere Gegner zu finden. Oder man musste den Kontinent verlassen.

    „Die Liga ist für mich kein Thema, so viel kann ich verraten.“

    Sichtlich kam diese Antwort unerwartet. Was Bella aber hinzufügte, sorgte gar für noch mehr Stirnrunzeln. Vor allem aber, wie sie es sagte. Sie richtete ihren durchdringenden Blick zielgenau Richtung Kamera.

    „Dennoch wird man schon sehr bald wieder von mir hören. Ihr da draußen könnt euch auf ein echtes Spektakel freuen.“

    Ryan ahnte gleich, dass diese Worte, mehr noch als alle vorherigen, an ihn und Andrew gerichtet waren. Deutete sie damit auf den Angriff von Team Rocket hin? Oder spielte sie bloß Spielchen mit ihnen und erhoffte sich eine unüberlegte Reaktion? Er war sich nicht sicher, hatte aber auch keine Gelegenheit, länger zu spekulieren, da nun die erste Frage an ihn gerichtet wurde. Scheinbar waren die interessantesten Fragen an Bella nun gestellt worden. Oder aber sie hatten die Nase voll von ihrer Blockade.

    „Mister Carparso, wie tief sitzt der Frust, nach der Silberkonferenz nun wieder so knapp vor dem Ziel gescheitert zu sein?“

    Es bedurfte all seiner Selbstbeherrschung und Professionalität, um hier nicht mindestens einen Stoßseufzer vorauszuschicken. Wie lange hatte der Typ jetzt Zeit gehabt, sich vernünftige Fragen auszudenken? Und dann kam er als allererstes mit so einer provokanten um die Ecke? Selbst Andrew hätte hier jetzt einiges zu sagen. Aber leider schädigte es bloß das Image, wenn man seinen Unmut den Medien so offen zeigte, weshalb Ryan sich am Riemen riss.

    „Wenn man im Finale steht, will man es auch gewinnen, das ist klar. Aber ich empfinde keinen Frust und keine Scham über den zweiten Platz. Bella hat verdammt gut gekämpft und den Sieg völlig verdient. Meinen Glückwunsch an der Stelle“, fügte er noch rasch hinzu und machte eine kurze Pause, die der Reporter dreist ausnutzt, um eine weitere Frage hinterher zu werfen, ohne dass ihm das Wort erneut erteilt worden war. Die feine Art war das sicher nicht und ihm wurde von dem Herrn im braunen Anzug dafür ein mahnender Blick zugeworfen. Ryan hatte somit nicht einmal Gelegenheit, sich über sich selbst zu wundern, warum er so aus freien Stücken Bella dieses ehrliche Kompliment aussprach. Wobei er spontan nichts Unwahres oder Ungerechtfertigtes an seinen Worten finden konnte.

    „Was hat Miss Déraux denn besser gemacht, oder was hätten Sie besser machen müssen? Was war der entscheidende Unterschied zwischen ihnen?“

    Der Kerl hatte echt eine Mission. Und zwar Ryan auf die Palme zu bringen. Aber was machte das schon? Er war weder der Erste, noch würde er der Letzte sein, weshalb der Blonde seine Worte in aller Ruhe zurechtlegte. Nicht über die Antwort auf seine Frage dachte er nach, sondern wie er dem Quälgeist jetzt am besten eins auswischte, ohne vulgär zu werden. Mit einem Räuspern lehnte er sich vor ans Mikro.

    „Sieg, Niederlage – manchmal liegt es an Kleinigkeiten, manchmal liegt es an nichts.“

    Er machte eine erneute Pause, in der er einen sehr verdutzten jungen Mann vor sich sah, der mit dieser Aussage offensichtlich wenig anfangen konnte. Und das stimmte den Trainer zufrieden. Um aber nicht das gesamte Reporter-Kollektiv zu strafen, brachte er die Aussage zu einem anständigen Ende.

    „Es war zwar ein Stück weit ein echtes Spiel mit dem Feuer und das Match hätte an vielen Stellen kippen können. Aber vorbei ist vorbei, es ist wie es ist und ich für meinen Teil kann aus dem Endresultat viel für die Zukunft mitnehmen.“

    Noch immer unbefriedigt setzte sich der Mann endlich und Ryan ergötzte sich ein wenig an seinem perplexen Gesichtsausdruck. Wohl hatte er gehofft, mehr aus ihm herauskitzeln zu können. Schon kam die nächste Frage in seine Richtung. Diesmal aber mit anständigem Melden und Aufrufen. Ein bisschen lief das ab, wie in der Schule.

    „Noch eine Frage an Herrn Carparso. Hätte Despotar das Ruder für Sie im Finale vielleicht noch rumreißen können? Oder eines ihrer anderen Pokémon, die heute nicht zum Einsatz gekommen sind?“

    Mensch, die hatten ihn ja echt auf dem Kieker. Vermutlich war das eine unnötig umständlich formulierte Frage nach dem Grund, warum Ryan kein anderes von seinen weit erfahreneren Pokémon eingesetzt hatte. Aber in diesem Fall kam er gar nicht dazu, sich großartig aufzuregen. Nicht einmal im Stillen, in sich hinein. Stattdessen musste er hier eiligst etwas klarstellen.

    Ich habe das Finale verloren. Und das habe ich ganz sicher nicht, weil Sumpex und Guardevoir zu schwach waren“, beteuerte er mit energischem Kopfschütteln, sprach eindringlich und überzeugt. Gleichzeitig schaffte er es, seine äußerliche Ruhe zu bewahren, obwohl er innerlich zumindest ein wenig aufbrauste. Keiner der taktlosen Schreiber da unten sollte es wagen, nur eine Sekunde in diese Richtung zu denken.

    „So ist das ganz sicher nicht. All meine Pokémon haben heute einen klasse Job gemacht. Klar fehlt es einigen noch an Erfahrung und Routine. Trotzdem haben sie sich mit überragenden Gegnern auf Augenhöhe gemessen, waren nahe dran am Turniersieg und ich habe enorme Fortschritte bei ihnen beobachtet.“

    Er sprach hier nicht zur Zufriedenstellung der Medien – obwohl die regelrecht an seinen Lippen hingen –, sondern tat offen und ehrlich kund, wie er die Leistung seiner Schützlinge bewertete. Er sah auch gar keinen Grund, daraus ein Geheimnis zu machen.

    „Ich sehe die Entscheidung, Sumpex und Guardevoir heute kämpfen zu lassen als Investition in die Zukunft. Sie haben noch lange nicht ihr Limit erreicht, sind aber auf einem hervorragenden Weg und könnten schon bald das Niveau von Hundemon und Despotar erreichen. Vielleicht sogar übertreffen.“

    Dieses Statement sorgte für weit geöffnete Ohren und ein ehrfürchtiges Staunen unter den Journalisten. So eine Prophezeiung wollte schnell notiert und gleichzeitig ein Plan geschmiedet werden, um die so gepriesenen Pokémon zu beobachten. Auch wenn die Paparazzi bislang wenig von Carparso hatten liefern können, wollte man jedes Mittel nutzen, um über ihren weiteren Werdegang stets als erster berichten zu können. Zum Beispiel die umliegenden Arenen im Augen behalten, für den Fall, dass er dort aufschlug. Ryan wusste schon, wie das bei denen lief.

    Derweil waren alle so mit ihren Notizen beschäftigt, dass keiner den herausfordernden Seitenblick des jungen Trainers in Richtung der Turniersiegerin bemerkte. Er hatte seine Worte sehr bewusst gewählt und hiermit sollte Bella auch verstanden haben, dass sie sich angesprochen fühlen durfte. Er hatte heute alles gegeben – aber das bedeutete nicht, dass er sich bei ihrem nächsten Kampf nicht steigern konnte. Demzufolge würde sie sich in Acht nehmen müssen. Besonders, da er den Trick ihres Zoroark durchschaut hatte wäre sie damit zumindest gut beraten. Die Agentin fing diese Geste selbstverständlich auf. Weder überraschte noch frustrierte Ryan ihr süffisantes Lächeln. Natürlich freute sie sich auf die Revanche und vor allem auf diese verbalen Sticheleien. Die machten ihr wirklich immer Spaß.

    Nach einigen Momenten der Stille, in denen man bereits vermuten konnte, dass der Wissensdurst der Reporter gestillt war, wandte sich der Anzugträger an der Seite in die breite Runde.

    „Gibt es weitere Fragen?“

    Es meldete sich doch noch eine Dame weiter hinten. Sie musste die Stimme deutlich mehr erheben, um vorne am Pult verstanden zu werden.

    „Die Frage geht an Herrn Warrener“, setzte sie an, woraufhin eben jener die Ohren spitzte. Er hatte nicht unbedingt mehr damit gerechnet, von der Presse adressiert zu werden.

    „Ihre enge Freundschaft mit Ryan Carparso ist allgemeint bekannt. Wie stehen sie zu ihm von Wettkampfseite aus? Ist er dennoch Freund, oder eher Rivale, vielleicht sogar Vorbild für Sie?“

    Nun war es Ryan, der eine Reaktion unterdrücken musste. Vermutlich hatte es die Reporterin gar nicht böse gemeint, aber ihm die Rolle des Vorbilds zu unterstellen, suggerierte wiederum, dass Andrew seinem Kindheitsfreund und Reisegefährten unterlegen war. Und ja, auch dieses Turnier untermauerte diese Analyse. Zumindest auf dem Papier. Aber darauf legte er keinen Pfifferling Wert.

    „Ja, ja und nein, wäre die Antwort“, entgegnete Andrew wenig eloquent und ohne groß zu überlegen. Für ein paar verhaltene Lacher sorgte er immerhin damit, verzichtete aber darauf, hier jemanden unnötig zu verarschen. So sensibel war er nun auch wieder nicht.

    „Freund und Rivale ist er immer und zu jeder Zeit. Was davon überwiegt, das wechselt sich stetig ab, je nachdem, ob wir gerade kämpfen. Als Vorbild sehe ich ihn allerdings nicht und das weiß er selbst auch ganz genau. Ich bin nicht der Typ, der anderen nacheifert. Ich hab meinen eigenen Kopf und den will ich auch immer durchsetzen.“

    Grundsätzlich klang das absolut nach Andrew, aber Ryans unmaßgeblicher Meinung nach orientierte er sich doch mehr an anderen Menschen, als er durchblicken ließ, vielleicht gar selbst realisierte. Man konnte somit sagen, er ließ sich unbewusst beeinflussen. Vorwiegend aber in positiven Eigenschaften, da er Menschen mit schlechten Manieren, Angewohnheiten oder Charakterzügen grundsätzlich einfach hinter sich ließ. Da das jedoch noch immer etwas Anderes war, als einem Idol nachzueifern, hatte Ryan nie einen Grund gesehen, Andrew dies mal offen vor Augen zu führen und tat es auch jetzt nicht. Stattdessen nickte er lediglich, um zu signalisieren, dass es von seiner Seite aus nichts zu korrigieren gab. Andersrum galt schließlich genau dasselbe.

    „Wir teilen viel Grundsätze und Werte als Trainer sowie als Menschen und kommen daher auch einfach prima miteinander aus. Aber jeder von uns besitzt auch ein Ego und Ambitionen. Da steht man sich zwangsläufig auch mal gegenseitig im Weg. Aber von uns ist auch keiner so egozentrisch, dem anderen seinen Erfolg nicht zu gönnen.“

    Jetzt begann Andrew aber echt tief zu graben, jedoch lehnte er sich dabei entspannt auf die Seite, als würde er aus dem Nähkästchen plaudern. Damit war nicht unbedingt zu rechnen gewesen, hatte er doch zunächst sehr mangelndes Interesse an dieser PK ausgestrahlt.

    „Generell muss jeder lernen, mit Niederlagen klarzukommen. Egal, ob´s gegen Freunde, Rivalen oder Unbekannte geht. Gewinnen ist verdammt schwer, wie man heute mal wieder gesehen hat. Die Konkurrenz wird ständig besser und ständig größer.“

    Womit auch er der Leistung von Bella Déreaux zumindest einen winzigen Funken Respekt gezollt hatte. Dabei war Andrew dem Punkt, an dem er diesen tugendhaften Grundsätzen zumindest gerne mal temporär entsagt und ihr ihre Trophäe auf den Kopf geschlagen hätte, ungewohnt nahe. So viel Missgunst seinerseits hatte sich vorher noch kein Trainer verdient. Aber sie war ja auch nicht wie jene, gegen die er sonst kämpfte. Überhaupt gab es kaum jemanden wie sie.

    Eine weitere Hand ging in die Höhe. Scheinbar waren die Hemmungen, die Bella gesät hatte, allmählich verschwunden und ohne Zweifel waren aus den Johtonesen deutlich mehr brauchbare Antworten rauszuholen als aus der schweigsamen Newcomerin. Und tatsächlich richtete sich die nächste Frage an sie beide.

    „Gerüchten zufolge sind sie gemeinsam auf der Reise durch Hoenn und sicher beabsichtigen sie auch, an der hiesigen Liga teilzunehmen. Können sie uns verraten, warum sie dann bislang in keiner von Hoenn´s Arenen angetreten sind?“

    Es war nicht unüblich, dass die Medien die Daten der regionalen Arenen im Auge behielten. Die standen ja auch nicht unter Verschluss oder so. Man konnte die Orden von so ziemlich jedem Trainer in Erfahrung bringen, wenn Name oder Trainer-ID aus dem entsprechenden Pass vorlagen. Und beides konnte man über jeden in Erfahrung bringen, der schon einmal in einer regionalen Liga gekämpft hatte. Doch nur in diesem Berufszweig machte man sich tatsächlich die Mühe dazu.

    Beide sahen sich kurz an, blickten geringschätzig an Bella vorbei, ohne sie zu beachten. Es gab wohl zwei Wege, hierauf zu antworten und das Schmunzeln auf Andrews Mundwinkeln legte den Kurs sehr deutlich fest.

    „Wollten wir ja, aber in Faustauhafen standen wir vor verschlossener Tür“, eröffnete er und musste

    Ein wenig lachen. Die Mehrheit ließ sich davon anstecken und sogar der Anzugträger an der Seite kicherte. Das Kopfschütteln einiger ließ vermuten, dass der dortige Leiter nicht zum ersten Mal ungenehmigt Urlaub genommen hatte. Ryan entschied unterdessen, dass es bei dieser plumpen Aussage nicht belassen werden sollte. Schließlich gab es zuhauf andere Arenen, die sie in der Zwischenzeit hätten herausfordern können. Die Zeit dazu hätten sie allemal gehabt.

    „Man muss hinzufügen, die Abreise Richtung Hoenn war eher spontaner Natur gewesen“, holte er aus, wobei Andrew die Lippen zusammenpresste und deutlich befürwortend nickte. Und wie spontan die gewesen war. Obendrein erst durch Ryan eigenmächtig so gestaltet.

    „Wir brauchten ein wenig Zeit, um uns bezüglich der neuen Pokémon und unseres Trainings zu orientieren und einen ersten Plan zu fassen. Und dann wurde der auch nochmal umgeworfen und die Richtung geändert.“

    Ryan fing den Blick Andrews ein weiteres Mal auf. Das fasste es ziemlich gut zusammen und ein wenig wurden sie beide dabei sehnsüchtig nach dieser Zeit. In dieser war Ryan zwar ein mentales Pulverfass gewesen und hatte so einige Dinge mit sich selbst zu klären gehabt, aber sie hatten sich wenigstens nicht mit Gangstern und Kriegen auseinandersetzen müssen.

    „Wir haben´s uns selbst ein bisschen chaotisch gestaltet, schätze ich“, schloss er die Erklärung ab, die jedoch von Andrew noch um etwas ergänzt wurde.

    „Ein wenig wird´s bestimmt auch noch dauern, bis wir voll loslegen können. Der Summer Clash war für uns einfach eine gute Gelegenheit, um viele Trainer und Pokémon aus der Region kennenzulernen und unsere eigenen auf die nächste Stufe zu bringen. Aber das Vorhaben steht nach wie vor.“

    Diese Entscheidung fällte er hiermit über Ryans Kopf hinweg. Aber wie sie schon einmal festgestellt hatten, war es gar nicht verkehrt, sich einige Pläne für die Zukunft zurechtzulegen. Die halfen nämlich, nach vorne zu schauen und zuversichtlich zu bleiben, dass ihr großes Ziel wirklich erreicht werden konnte. Nein, dass sie es sicher erreichen würden!

    Hierauf wurde sich von einem Mann in der ersten Reihe erkundigt, ob denn die Zeit noch ausreiche, wenn man erst in den nächsten Tagen oder gar Wochen mit der Jagd nach Orden beginne. Schließlich waren es nur einige Monate hin bis zu Hoenn Liga. Erneut musste darauf hingewiesen werden, dass Fragen nicht einfach hereingerufen werden sollten. Nicht ganz die anständigsten Journalisten hier. Andrew beantwortete sie dennoch in gespielter Arroganz, charmant und unwiderstehlich mit einem Zwinkern direkt in eine der Kameras.

    „Es braucht niemand glauben, dass irgendjemand das Tempo des Rastlosen drosseln könnte.“

    Erneut gab es vereinzelte Lacher und man schien mit dieser Antwort nicht unzufrieden zu sein.

    Schließlich wurde das Wort für eine letzte Frage erteilt. Sie kam von einem Herrn im fortgeschrittenen Alter und richtete sich nochmals an Bella. Zuvor hatte er ihr bereits Fragen gestellt, jedoch nur unbefriedigende Antworten erhalten – wenn überhaupt. Aber vielleicht war sie bei ihrem Pokémon ja etwas redseliger. Vor allem, da die anderen Beiden das Eis längst gebrochen hatten.

    „Miss Déreaux, sie haben uns heute vor allem mit Kryppuk und Zoroark einige extrem seltene Pokémon gezeigt. Wo und wie haben sie es geschafft, diese Exemplare zu fangen?“

    Dem Gesichtsausdruck seiner diversen Sitznachbarn war zu entnehmen, dass wohl alle die Antwort auf diese Frage gerne wüssten. Und auch die zwei Johtonesen würden lügen, wenn sie behaupteten, dass es sie nicht wenigstens ein bisschen interessierte.

    Bella hatte sich etwas zurückgelehnt und zog ihr Mikrofon ein Stück zu sich. Ihr Blick ging etwas verträumt zur Decke. Sie spielte den Moment noch einmal vor ihrem inneren Auge ab. Und musste lächeln. Es war jedoch kein schönes Lächeln. Es war eines, das sich an eigene Fehler, eventuell gar Dummheit erinnerte.

    „Ich war eine Ruine in Sinnoh erkunden. Anwohner eines nahegelegenen Dorfes hatten mich gebeten, das Gengar zu vertreiben, dass dort gelebt und ständig Schabernack mit ihnen getrieben hat.“

    Man spürte, dass dies länger dauern würde. Dass sie eine Geschichte begann, die normalerweise den Rahmen einer üblichen PK sprengen würde. Es lag vermutlich an der Verblüffung, da Bella Déreaux auf einmal so offen und detailliert erzählte, dass sie keiner um eine Kurzfassung bat oder gar unterbrach. Weil sie einen Teil ihrer eigenen Vergangenheit enthüllte und von einem Ereignis berichtete, das sie bis heute prägte. Hierauf ließ jedenfalls ihre gesenkte Stimme und der abwesende Blick deuten.

    „Als Absol und ich dort ankamen, fanden wir besagtes Gengar jedoch verletzt und verängstigt. Fast schon verstört. Es ist gradewegs an uns vorbei und hinaus geflohen. In die Berge, so hörte ich später, und wurde nie wieder in der Nähe des Dorfes gesehen.“

    Diese Nachricht sorgte für einige große Augen oder zumindest gehobene Brauen. Geistpokémon meinten es selten wirklich böse, wenn sie menschliche Siedlungen aufsuchten und dort die Bewohner triezten. Es lag einfach in ihrer Natur und diente lediglich dem Amüsement oder einfach bloß dem Zeitvertreib. Unabhängig davon gehörte schon einiges dazu, ein Gengar in eine solch panische Flucht zu schlagen. Selbst mit den harmloseren Exemplaren legte man sich nicht leichtfertig an.

    „Tja, es dauerte nicht lange, bis wir den Grund gefunden hatten.“

    Bellas Mimik veränderte sich. Ryan lehnte sich etwas vor und stützte sich auf die Unterarme, sah unentwegt in ihre bernsteinfarbenen Augen. Sie schien das gar nicht zu bemerken. Dabei entging ihr sonst nie etwas. Ein verlegenes Kratzen am Hals verriet ihm, dass sie nicht nur gute Erinnerungen mit diesem Tag verband, von dem sie hier erzählte. Vielleicht nicht einmal in erster Linie gute.

    „Es war Kryppuk. Und ich kann ohne Scham gestehen, dieses Pokémon hat mir damals wirklich Angst gemacht.“

    Die Journalisten fassten sich hier betroffen ans Kinn oder an die Stirn, lauschten gespannt und mucksmäuschenstill. Vom Zusehen heute hatte man ja schon Angst bekommen können. Da wollte man sich lieber nicht vorstellen, was dieses Kryppuk zu tun imstande war, wenn es frei und im wahrsten Sinne zu jeder Schandtat bereit war. Da vergaß man sogar, während der Erzählung Notizen zu machen.

    Währenddessen konnten Ryan und Andrew neben ihr Mimik und Worte der Agentin nicht auf einen Nenner bringen. Sie sprach von Angst, doch ihr verträumter Blick und die gekräuselten Lippen mit angehobenen Mundwinkeln ließen eher Staunen und Entzücken vermuten. Trotz der Gefahr, die sie sich in Erinnerung rief, hatte sie sich völlig in dieses Pokémon verguckt.

    „Aber ich konnte dem Versuch nicht widerstehen, es zu fangen. Ich war verhext worden. Ich konnte mich nicht umdrehen. Ich musste es haben.“

    Es lag eine Spur von Besessenheit in ihrer Stimme. Einer, der sie sich vermutlich bewusst war. Ebenso, dass sie Besessenheit selbst außerhalb der Arbeit unbedingt zu vermeiden hatte. Doch empfand sie keine Reue, sich ihr hingegeben zu haben. Und da änderte sich das Lächeln. Wechselte von Verzückung zu Resignation. Das Bekenntnis zum eigenen Übermut. Und es gingen zahlreiche Vorwürfe damit einher, welche sie sich selbst heute noch machte, wenn sie auf diesen Tag zurückblickte.

    „Und für diese Sturheit hätten Absol und ich beinahe mit dem Leben bezahlt.“

    Ein betretenes Schweigen erfüllte den Raum. Dass der Fang eines so seltenen Pokémons kein einfacher gewesen sein konnte, verstand sich von selbst, aber niemand hier hatte mit einer Story von solch dramatischer Tragweite gerechnet. Und ab hier änderte sich auch ihre Stimme. Aus Faszination wurde Melancholie. Das Adrenalin, dessen Rausches sie sich erinnerte, zerfiel zu Bedauern. Zu Schuld. Und schlussendlich zu Reue.

    „Sie hat üble Verletzungen davongetragen. Selbst mit der Unterstützung von Amfira wurden wir in die Ecke gedrängt. Irgendwann wurde mir dann klar, dass wir mittlerweile um unser Leben kämpften.“

    Andrew zog die Brauen zusammen und versuchte, ihre Geschichte zu hinterfragen. Zu zweifeln und zu verurteilen. Er konnte, er wollte sich nicht vorstellen, dass dies die Bella Déreaux war, die er bisher gekannt hatte. Die musste ihnen doch grade was vorlügen. Doch hatte sie denn jemals in seiner Gegenwart gelogen? Jedenfalls nicht, dass er wüsste.

    „Es sind damals Blut, Schweiß und Tränen geflossen, kann ich versprechen. Und am Ende war es reines Glück gewesen. Der letzte Pokéball war ein Verzweiflungsversuch, von dem ich mir eigentlich keinen Erfolg mehr erhofft habe. Ich konnte es kaum fassen, als er still liegen blieb. Hätte sich Kryppuk aus dem noch einmal befreien können...“

    Fast brach sie ab. Sie zwang sich gerade dazu, den Gedanken an das, was hätte passieren können, nicht weiter zu verfolgen. Und Ryan wollte es kaum glauben, aber das fiel ihr sichtlich schwer.

    „Absol lag dann tagelang auf der Intensiv. Sie hätte es fast nicht geschafft.“

    Bella schluckte gar einmal. Das war die mit Abstand emotionalste Geste ihrerseits, die Ryan und Andrew je beobachtet hatten. Es war wenig, bedachte man, was ihr damals beinahe Schlimmes widerfahren war. Was sie und vor allem ihr Absol durchgemacht hatten. Auch Andrew und er selbst hatten um ein Haar schon Partner und Freunde oder gar ihr eigenen Leben verloren und jedes Mal musste man mit den Erinnerungen kämpfen, wenn sie hochkamen. Verglichen damit war das Schlucken der Agentin fast schon kalt. Und dennoch mehr, als sie ihr zugetraut hätten.

    „Und wie haben sie Zoroark gefangen?“, wagte der Reporter tatsächlich weiter zu fragen und damit die Stille zu unterbrechen. Kaum zu glauben, dass sich das nach der Story jemand traute. Oder, dass Bella darauf wirklich antwortete.

    „Hab ich nicht.“

    In der Reportermenge wurde massenhaft geblinzelt. Verwirrt und ungläubig. Doch glücklicherweise ließ die Turniersiegerin sie hier kein weiteres Mal auflaufen und erzählte von selbst weiter.

    „Ich war Einall unterwegs. Weit im Norden, irgendwo am Arsch der Welt. Bin vermutlich in sein Territorium eingedrungen.“

    Also eine zufällige Begegnung. Damit hätte Ryan jetzt weniger gerechnet, aber er glaubte zu wissen, dass Zoroark durchaus sehr scheu waren und sich möglichst weit entfernt der Zivilisation aufhielten.

    „Ninjask und Amfira waren keine Gegner für ihn. Dann hat er aber Absol geschlagen, womit die Sache plötzlich richtig ernst wurde.“

    Wieder bemerkte man eine steigende Faszination in Bellas Stimme. Gleichzeitig aber auch Fassungslosigkeit.

    „Und schließlich hat er sogar noch Kryppuk besiegt.“

    Die Menge an Journalisten reagierte genauso, wie man auch so eine unerwartete Information eben reagierte. Große Augen, offene Münder, das ein oder andere, schlecht unterdrückte „Wow“ oder „Boah“. Ryan und Andrew versuchten eine sichtbare Reaktion ihrerseits zu vermeiden oder zu verstecken. Doch mit Sicherheit waren sie Bella nicht entgangen, die dennoch einfach weitererzählte. Und erst jetzt die wahre Bombe zu Platzen brachte.

    „Und damit hatte er noch immer nicht genug. Am Ende hat er selbst mich angegriffen“, offenbarte sie und zog ihr schwarzes Haar an der rechten Schläfe zurück, während sie den Kopf drehte. Zum Teufel mit der erzwungenen Zurückhaltung, die zwei Johtonesen mussten sich einfach nach vorne lehnen und genauer hinsehen. Die Narbe zog eine schmale, kahle Spur durch den Ansatz ihres Schopfes. Dem Ohr schien am oberen Ende ein winziges Stück zu fehlen. Glück im Unglück, wenn man der Narbe weiter folgte, die erst knapp oberhalb des Schlüsselbeines endete. Es hätte auch ganz abgetrennt sein können. Oder die Halsschlagader durchschnitten. Es gab so viele verwundbare Stellen rund um diese Narbe herum. So viele Möglichkeiten, wie diese Begegnung weit schlimmer hätte enden können. Ryan versuchte sich zu entsinnen, ob er eine solche Narbe nicht hätte bemerken müssen. Aber diese Zonen waren wohl immer von ihrem Haar sowie dem Fell an ihrem Kragen verdeckt worden. Außerdem war sie sehr schmal und würde wohl selbst ohne diese Verhüllung nicht sofort ins Auge springen.

    „Ich konnte mich nur noch selbst verteidigen. Oder zumindest wehren.“

    Ein ungleicher Kampf. Man konnte genauso gut ein Machomei zu Armdrücken herausfordern.

    „Scheinbar hat ihm das imponiert. Anders kann ich´s mir zumindest nicht erklären. Er ließ die Aggression plötzlich fallen und zeigte Neugierde. Einen ganzen Tag lang ist er mir dann nachgelaufen. Meistens außer Sichtweite, aber er ließ mich ständig wissen, dass er noch da war. In der darauffolgenden Nacht wollte ich wach bleiben, weil ich Angst hatte, er könnte es sich anders überlegen und mir im Schlaf die Kehle durchbeißen.“

    Bella ließ das Haar fallen und lehnte sich wieder zurück. Sie war eigentlich viel zu locker für so eine beängstigende Geschichte. Es hatte was von einer Horror Story – nachts, allein, mitten im Nirgendwo ein Raubtier in der Nähe wissend, dessen Intentionen man nicht kannte und das einem jederzeit den Garaus machen könnte. Es gab nur wenige Vorstellungen die furchteinflößender waren. Erst recht, wenn dieses Raubtier zuvor ihr komplettes Team ausgeschaltet hatte.

    „Bin dann aber doch eingepennt und als ich irgendwann wach wurde..., sah ich...“

    Sie vergrub den Mund in einer Handfläche. Lachte sie?

    „...ihn neben mir schlafen.“

    Sie versuchte es zu unterdrücken, aber sie lachte.

    „Er lag da eingerollt, schnarchend und völlig unbekümmert. Ich dachte, ich träume.“

    Einige schlossen sich ihrem Lachen an. Ab hier zweifelte keiner mehr am Wahrheitsgehalt ihrer Worte – falls es nebst Andrew überhaupt jemand getan hatte. Aber auch der warf seine Zweifel über Bord. Sowas konnte man sich nicht ausdenken. Das war zu absurd und zu unerwartet. Passte ironischerweise aber durchaus zu den Launen so mancher Pokémon da draußen. Gerade so wilde und seltene Geschöpfe wie zum Beispiel Zoroark waren absolut unberechenbar.

    „Tja, seitdem sind wir Partner. Aber fragt mich jetzt nicht, was ihn dazu gebracht hat oder was er sich davon verspricht. Ich hab es bislang nicht herausgefunden.“

    Da hatte Bella die Männer und Frauen von der Presse am Anfang so verarscht und abgeblockt und nun hatte sie doch von allen dreien am meisten geredet. Tatsächlich hatten Ryan und Andrew aber nicht minder interessiert zugehört als diese. Es waren zumindest stellenweise keine schönen Geschichten. Aber es waren tolle. Welche, die sie, unter anderen Umständen und mit einer anderen Protagonistin, sicher noch oft im Gedächtnis abspielen würden. Auch wenn sie Bella nicht um jede Erfahrung darin beneideten. Auf so eine Narbe konnten sie verzichten. Ebenso auf einen weiteren Moment, in dem sie um das Leben eines geliebten Pokémon oder gar ihr eigenes bangen mussten. Aber könnte ihnen genau das nicht in Bälde bevorstehen?

    Das Ende dieser Erzählung hatte sich gleichwohl auch nach dem Ende der Pressekonferenz angefühlt. Zumal es hiernach länger still gewesen war. Ein Arm schoss dann doch nochmal in die Höhe und ein junger Mann erhob sich.

    „Wie haben sie sich gegen ein Zoroark gewehrt?“, lautete die Frage. Die Jungen, zwischen denen sie saß, konnten sich das denken, hatten mindestens eine Ahnung. Für den Rest musste es sich selbstmörderisch anhören, sich alleine einem solchen Pokémon zu stellen. Sie selbst währen wohl eher gerannt oder hätten sich totgestellt, wissend, dass die Erfolgschancen in beiden Fällen gegen Null ging.

    Bella lehnte sich noch einmal nach vorne und legte grinsend eine gewisse Zweideutigkeit in ihre Stimme.

    „Mit allen Mitteln.“

    Sicher war geschärfter Stahl das Hauptmittel gewesen. Vorausgesetzt, sie war mit solchen ähnlich tödlich, wie Sheila. Dennoch vermochte sich keiner vorzustellen, dass sie mit ein paar Messern dieses Zoroark hatte verletzen können.

    „Wenn du mehr Details willst, musst du mit mir einen trinken gehen, Schätzchen. Aber an den Abend wirst du dich morgen nicht mehr erinnern können, das kannst du glauben.“

    Sie formulierte es als Scherz und als solcher wurde es auch von der breiten Masse aufgenommen. Die meisten lachten sogar mit. Konnte ja keiner ahnen, wie viel Wahrheit in dieser Prophezeiung steckte. Die würde noch den halben Raum hier unter den Tisch trinken, bevor sie überhaupt anfing, zu wanken.


    Der Mann im braunen Anzug überging im Anschluss selbst ein höfliches Abwarten nach weiteren Fragen und zog eigenmächtig einen Schlussstrich. Vielleicht tat er das als eine Art Lektion, damit nächstes Mal keiner unerlaubt das Wort ergriff. Aber Menschen in Positionen wie dieser hatten nicht selten einen vollen Termin- sowie einen engen Zeitplan. Es war durchaus möglich, dass er diese Pressekonferenz gar nicht länger gestalten konnte oder durfte. Während die Herren und Damen von den Medien noch Notizen machten oder einige letzte Bilder knipsten, erhoben sich die Trainer bereits. Unterdessen wurde von der Seite eine müde Verabschiedung heruntergerasselt.

    „Ich bedanke mich bei der Presse für das zahlreiche Erscheinen und natürlich den Trainern für ihre Zeit. Letzteren darf ich außerdem eine schöne Zeit auf unserem Sommerball wünschen. Ansonsten ist der offizielle Teil des Summer Clash hiermit beendet und ich hoffe auf ein ähnlich spannendes Turnier im nächsten Jahr.“

    Der Sommerball. Da würde es ernst werden. Mit diesem war das Geplänkel rund um dieses Turnier, das doch für das große Ganze keinerlei Wert besaß, endgültig vorbei und der Kampf gegen Bella sowie Team Rocket ging in die nächste Runde. Wobei man es eher so formulieren musste, dass sie ihn von sich aus endlich begannen, anstatt nur den Zug der Gegenseite abzuwarten. Die Agentin hatte beim Summer Clash versucht, ihren Kampfgeist zu brechen. Doch der Tatendrang der beiden jungen Trainer, war größer denn je.

    Kapitel 67: Licht und Dunkel


    „Dann los. Spukball, eine ganze Salve“, befahl Bella hochmotiviert und warf einen Arm nach vorn. Zoroark streckte den Oberkörper gerade durch und öffnete beide Pranken. In jeder davon materialisierte sich eine dunkelviolette Energiekugel. Nicht besonders groß, wie es Kryppuk einmal vorgemacht hatte, doch schlugen die Blitze in einem irrwitzigen Radius aus. Noch einen Meter von seiner Position entfernt zuckten sie in den Boden und hinterließen feine Schneisen. Ohne viel Federlesen wurde der erste in Richtung Guardevoir geschleudert. Der zweite folgte augenblicklich und noch in genau dieser Bewegung wurde schon wieder ein neuer zwischen den freien Klauen erschaffen.

    „Lichtschild und in Bewegung bleiben!“

    Inzwischen hob sie bereits instinktiv beide Arme, um die Energiewand zu stärken. Einerseits waren ihr die vorangegangenen Angriffe eine ernste Warnung gewesen, andererseits kostete zum jetzigen Zeitpunkt jede Bewegung und jede Attacke so unsagbar viel Kraft, dass ihre Muskeln bei jeder davon empört protestierten. Dennoch ward sie gerade rechtzeitig hinter goldenem Glas verhüllt. Die ersten beiden Spukbälle schlugen ein und legten sofort einen dicken Schleier aus dunkelviolettem Rauch um ihre schmale Gestalt. Selbst der aufleuchtende Lichtschild war nicht mehr zu sehen. Dennoch feuerte Zoroark bereits die nächsten ab. Da brach Guardevoir jedoch völlig unverhofft aus dem Rauch hervor und glitt förmlich über den verwüsteten Boden, als schwebe sie nur Millimeter darüber. Ein flotter und strammer Tanzstil hatte den anmutigen abgelöst. Mit straffer Körperhaltung, Feuer und Leidenschaft. Sie bewegte sich im Halbkreis um Zoroark und hielt den Abstand aufrecht. Je größer er war, desto besser standen ihre Chancen, weiteren Spukbällen entgehen zu können. Und tatsächlich verfehlten die nächsten. Was das Unlichtwesen jedoch nicht zu entmutigen schien – geschweige denn zum Aufhören bewegte. Dieses Sperrfeuer stellte das von Kryppuk allemal in den Schatten. Mit weit aufgerissenen Augen und heraushängender Zunge hechelte es aufgeregt, angestachelt und fast schon benebelt. Doch Bellas zufriedenes Schmunzeln ließ nicht vermuten, dass Zoroark außer Kontrolle war. Es war ein kalkulierter Zustand.

    Und die beharrlichen Angriffswellen zahlten sich aus. Erneut gelang ein Treffer, der glücklicherweise den Lichtschild bloß streifte. Dennoch ging eine Druckwelle durch ihn hindurch, stark genug, um Guardevoir einen Stoß zu versetzen und ins Wanken zu bringen. Ryan grunzte verbissen. So wurde das nichts. So kamen sie in keine vernünftigen Angriffsposition und einem Dauerbeschuss von solcher Gewalt konnte sie auch nicht lange entgehen. Nicht mehr zu diesem Zeitpunkt. Außerdem schien Zoroark keinerlei Ermüdung zu verspüren, selbst nachdem er bereits zehn Energiekugeln nach ihr geworfen hatte. Seine Verteidigung würde so nicht lange genug standhalten, um zum Gegenschlag auszuholen.

    „Boah, das ist ja ein echtes Sperrfeuer. Zoroark hat ganz schön was im Ärmel“, beobachtete Cay, wurde dabei ab und an von den Zuschauern beinahe übertönt, die immer mal wieder hoch und nervös raunten, wenn es besonders knapp wurde.

    „Antworte mit Donnerblitz!“

    Hinter der goldenen Wand waren die knisternden Blitze für das bloße Auge kaum auszumachen. So sah es beinahe aus als hätte der Schild ein Bewusstsein und wäre des stetigen Abwehrens überdrüssig. Stattdessen formte seine Energie Stromschläge und begann nun, zurückzuschießen. Zirka jeder zweite Spukball wurde davon durchschlagen und detonierte sofort mit einem zerfetzenden Knall, während die eigenen Schattenblitze für eine weitere Sekunde wild durch die Luft flackerten und den schwarzen Rauch beleuchteten. Es donnerte im Sekundentakt und gleichzeitig blieb Guardevoir agil und geschmeidig auf ihren schmalen Beinen. Mit überkreuzenden Schritten zog sie weiter ihre Bahn, wechselte nun aber alle paar davon die Richtung, um nicht zu berechenbar zu sein. Und jedem Spukball, der seinen Weg an ihrem Donnerblitz vorbei fand, entkam sie mit einer geschickten Drehung mindestens so weit, dass Lichtschild die Streifschüsse absorbieren konnte.

    Zwei Augen genügten kaum noch, um den Sturm auf dem Kampffeld überblicken zu können. Es sei denn man vermochte sie unabhängig voneinander zu bewegen, wie ein Kecleon. Cays Augen waren mittlerweile so groß, dass man befürchten musste, sie würden gleich herausfallen.

    „Alter, was fackeln die da unten ab? Ich werd nie wieder den Begriff Feuerwerk leichtfertig in den Mund nehmen. Das ist doch absurd!“

    Doch der Rauch dieses sogenannten absurden Feuerwerkes begann bald die Sicht zu beeinträchtigen. Zoroark beendete endlich das Dauerfeuer, als sie zu trüb wurde und er selbst mit seinem gestochen scharfen Blick Guardevoir nicht mehr ausmachen konnte. Selbst der Lichtschild war unsichtbar. Doch er war es mit seinem dunkeln Fell umso mehr. Bella befahl ihm, die Distanz nun mit Agilität zu überbrücken. Noch ein einziges Mal in den Nahkampf zu kommen, würde reichen, um ihr den Garaus zu machen.

    Von den Tribünen aus konnte man beobachten, wie eine unsichtbare Kraft den Mantel aus schwarzem Dunst spaltete, als würde ein gespanntes Tuch eingeschnitten und reißen. Zoroark selbst war allein durch sein Tempo so gut wie unsichtbar. Er hatte sich die Position seines Opfers natürlich eingeprägt und rannte nun nahe der Betonmauer auf jenen Punkt zu.

    Da! Feine, gelbe Blitze. Lediglich faustgroß. Ein keuchender Rest Elektrizität, der nach dem Angriff vor seinem Auflösen noch kurz zuckte. Zoroark sprintete glatt zwei, drei Schritte die senkrechte Wand hinauf und stieß sich kampfeswütig in den Zielbereich. Die roten Klauen wurden von Dunkelheit ummantelt und wuchsen um das Doppelte an. Von solcher Kraft war der Schlag, dass der Rauch hier im Radius mehrerer Meter auseinanderging. Doch er traf nichts als Luft. Nun erst, als er selbst die Sicht geklärt hatte, fand er Guardevoir genau über sich. Kopfüber, die Beine noch gestreckt und gespreizt vom Sprung. Kaum noch wie eine Tänzerin, sondern wie eine Akrobatin. Weniger als eine Armlänge trennte ihre Blicke. Ihrer scharfsinnig und beherrscht, während der Seine noch immer im Rausch gefangen war und hungrig grinste. Er sah direkt in den Donnerblitz.

    Noch vor der Landung roch Guardevoir verschmortes Fleisch und verbranntes Fell. Der Blitzschlag hatte den hellen Mittag für eine Sekunde ins Stadion zurückgebracht und einen Krater in den Boden gerissen, in dem man ein Lektroball verschwinden lassen könnte. Zoroarks Muskeln wurden von dem stechenden Schmerz gelähmt, sodass sein Körper steif und bewegungsunfähig über die grobe Erde schlidderte und böse Schrammen davontrug.

    Ryan würde am liebsten auf der Stelle auf Feld rennen und Guardevoir umarmen. Diese Locktaktik war alleine ihre Idee gewesen und dieser Sprung erst – und das in diesem Zustand. Mit neu gewonnener Zuversicht reckte er eine Faust nach vorn.

    „Ja, und Zauberschein hinterher!“

    Gerade sah das Unlicht Raubtier wieder auf und gedachte sich zu erheben, da blendete plötzlich ein helles, weißes Licht. Die schmale Silhouette der Psychodame mit ihren ausgebreiteten Armen war darin nur noch grob zu erahnen. Dann spürte er die spitzen Sternengeschosse in seiner Seite, seiner Schulter, seinem linken Arm. Außerdem eine drückende Energie, die seinen Körper aus dem Dreck hob und hinfort schleuderte. Völlig unkontrolliert polterte Zoroark über den Boden, warf Staub und Dreck auf und kam erst an der Mauer zum Stillstand.

    Während Cay die Frage in den weiten Innenraum des Prime Stadiums warf, ob da nicht zumindest ein paar Knochen zu Bruch gegangen waren, hatte selbst Bella sich verdutzt umgewandt und sah ihrem Partner hinterher. Sogleich wechselten ihr Blick wieder auf Ryan und zeigte eine Mischung aus Verachtung und drohendem Vergeltungsdrang. Den Typen durfte man echt nie abschreiben. Der vermochte den Kopf selbst dann noch aus der Schlinge zu ziehen, wenn er den Boden unter seinen Füßen bereits verloren hatte. Doch wenn kein Strick ihn erwischen konnte, stach sie ihm einfach ein Messer in den Bauch. Oder lieber vier, um ganz sicher zu gehen.

    „Zoroark.“

    Dort am Beton, der rissig und bröcklig geworden war, erkannte man dessen Körper nur schemenhaft. Niemand hätte erwartet, dass er sich so schnell erheben könnte. Erheben? Nein, der schoss geradewegs wie ein Pfeil steil in die Höhe. Selbst ein Lohgock würde bei diesem Sprung vor Neid erblassen. Noch in der Luft strafften Ryan und Guardevoir sich wieder und bereiteten sich auf die nächste Attacke vor. Doch die sorgte nun wirklich dafür, dass er den Boden unter den Füßen verlor.

    „Nachtflut!“

    Es ließ sich früh erahnen, dass Zoroark etwa in der Mitte des Kampffeldes landen würde. An den Kreidelinien im Sand war das längst nicht mehr zu erkennen. Die Verwüstung hatte alle Kennzeichnungen mit Ausnahme der äußersten Linien verschwinden lassen und selbst die waren kaum noch zu identifizieren. Das Raubtier kreuzte die Pranken über dem Kopf und schlug schließlich genau abgestimmt mit seiner Landung auf das Erdreich. Ein Farbmix aus Nachtblau, Purpur, Schwarz und Violett türmte sich über ihre Köpfe. Wie ein Flammensturm fegte diese Welle über ihre gesamte Hälfte des Kampffeldes, sowie einen Großteil von Bellas eigener. Bereits einen Meter vor ihr wurde Lehm und Gestein aus den oberen Schichten des Erdreichs gelockert und emporgeworfen. Und es war dem jungen Trainer, als würde sie von einem bis ins Mark dringenden, kratzenden Fauchen begleitet. Das scharfe Gebrüll Zoroarks, dessen Echo aus der Höllenschlucht hallte. Ihm wurde ganz anders in diesem Moment. Nie hatte er während eines Kampfes den Drang verspürt, wegzulaufen, Zuflucht zu suchen – und auch hier tat er es nicht. Aber er war verdammt nahe dran. Viel näher als jemals zuvor.

    Dieser Attacke hatte er nichts entgegenzusetzen. Noch gab es ein Entkommen vor ihr. Er zog seine einzig verbleibende Option.

    „Schutzschild!“

    Angesichts der Zerstörungswut, die auf Guardevoir zurollte, wirkte dieser fast mickrig. Wie ein Rettungsring vor einem Tsunami. Das sanfte Naturgrün wurde völlig von den finsteren Farben der Nachtflut überrollt. Fast reichte sie sogar bis an Ryans Position, sowie an die des Schiedsrichters. Beide taten sie einen alarmierten Schritt zurück und hoben mindestens einen Arm vor das Gesicht. Ein Sog riss an den Ärmeln, sowie an sämtlicher Kleidung. Die sich auftürmende Welle zog das Wasser zu sich, bevor sie alles, was mitgerissen wurde, unter sich begrub. Besonders der unparteiische passte nun sehr genau auf. Wenn er oder der gegnerische Trainer durch übereifrige und ungezügelte Angriffe in Gefahr gerieten oder anderweitig beeinflusst wurden, war er dazu angehalten, das Match zu unterbrechen, um eine Verwarnung auszusprechen. Im Wiederholungsfall würde das gar sofortige Disqualifikation bedeuten.

    Doch sie beide erkannten rechtzeitig, dass an ihren jeweiligen Positionen keine Gefahr drohte, weswegen der Johtonese rasch wieder eine nach vorne trat – beinahe sogar die Linie zum Kampffeld überschritt, was ebenfalls mit Disqualifikation geahndet wurde – und in der Finsternis angestrengt nach Guardevoir suchte. Er rief ihren Namen. Knirschte mit den Zähnen. Hatte sie sich rechtzeitig schützen können? Die Farbschlieren der Nachtflut wirbelten noch in der Luft, wie die Funken eines schwachen Lagerfeuers. Sie durchzogen schwarz-violette Nebelschwaden, zwischen welchen, so meinte Ryan, gespenstisches Geflüster ausgetauscht wurde. Es lief ihm dabei eiskalt den Rücken herunter, doch wich er nicht einen Zentimeter zurück. Guardevoir hatte es schließlich auch nicht getan.

    Dort sah er sie. Noch an genau derselben Stelle, wie gerade eben. Schutzschild war bereits zusammengebrochen und er hörte sie heftig keuchen. Präzise auf der Linie zwischen Trainer und Pokémon war der Boden nahezu unverändert, doch links und rechts davon hatte Nachtflut bis an die Grenzen des Feldes einen Aschehaufen hinterlassen.

    Das war nicht ganz richtig, da diese Unlicht-Attacke nicht wirklich brannte. Tatsache war jedoch, dass um Guardevoir herum alles schwarz gefärbt und zu feinem Pulver zermahlen worden war. Selbst leichte Brisen wirbelten Teile davon auf und erschwerten die Sicht. Einige größere Klumpen zerfielen erst nun, da der Wind sie auffing, gänzlich zu staub, wie ein abgebrannter Ast. Guardevoir hatte kaum noch festen Boden unter den Füßen. Jedoch sollte sie das nicht scheren. Sie war bereit, selbst in dieser Einöde zu tanzen. So nahm sie wieder ihre Haltung ein und fixierte Zoroark. Das schattenhafte Raubtier durchstach mit seinen leuchtenden Augen den schwarzen Nebel. Bis zu Bella konnte Ryan längst nicht mehr sehen.

    „Jetzt haben sie´s endlich geschafft – unser Kampffeld ist nur noch Wüste. Da ist nichts mehr zu retten. Aber die beiden haben noch immer nicht genug!“

    Schwer zu sagen, ob Cay sich darüber nun freute oder selbst er langsam am Verzweifeln war.

    Bella schüttelte ihre Handgelenke. Sie merkte, dass sie verkrampften. Ertappte sich immer wieder mit geballten Fäusten und angespanntem Kiefer. Ihr gingen die Ideen aus. Und jetzt hatte sie noch den Fehler begangen, Nachtflut zu zeigen, ohne vorher den Schutzschild zu ziehen. Dieser erwies sich wahrlich als Rettungsanker für den Burschen. Die Agentin besah sich ihres Partners. Es würde wohl ein Ausdauerkampf werden, der dadurch entschieden werden sollte, wer mehr Reserven besaß. Ihr gelang es einfach nicht, die Verteidigung ihres Gegners einzureißen und mittlerweile traute sie sich auch nicht mehr, ihn mit Angriffswellen unter Druck zu setzten. Noch so einen Turnaround wie vorhin konnte sie sich nicht leisten. Es wäre Zoroarks Ende. Aber mit Passivität würde dieses Match nicht zu gewinnen sein. Wer ans Ziel wollte, musste bereit sein, den Weg nach vorn zu gehen!

    „Mach noch einmal Tempo. Dunkelklaue!“

    Die azurblauen Lichtpunkte seiner Iris waren alles, was die Psychodame durch den Dunst hindurch von ihrem Gegner sah. Sie verschwammen durch das Tempo, als Zoroark im Halbkreis um Guardevoir herum hetzte. Schwarzer Staub wurde bei jedem Schritt aufgewirbelt, doch vermochten die Zuschauer nur Schemenhaft zu verfolgen, was dort unten passierte. In der Masse herrschte zu keinem Zeitpunkt mehr Stille. Die getrübte Sicht sorgte für nervöses und angespanntes raunen. Jederzeit konnte der entscheidende Schlag fallen und nun drohte tatsächlich die Gefahr, ihn zu verpassen.

    Audrey zog misstrauisch die Brauen zusammen. Ihre Augen trugen einen Verdacht in sich und wurden zu schmalen Schlitzen. Déreaux hatte vorhin in einem ähnlichen Angriff bereits eine harte Retourkutsche kassiert, als sich Zoroark noch für Lucario ausgegeben hatte. Ein Schnellangriff aus der Flanke bei unklaren Sichtverhältnissen, während des Gegner Position höchstens zu erahnen war. Doch Bella war nicht dumm. Natürlich erkannte sie die Muster in ihren eigenen Aktionen. Doch nun stand Ryan der Schutzschild kurzzeitig nicht mehr zu Verfügung. Lichtschild würde gegen Dunkelklaue wirkungslos sein und ein Ausweichmanöver würde sie höchstens noch ihrem Ninjask zutrauen.

    Zoroark sprintete auf allen Vieren. Machte große und dennoch unglaublich schnelle Sätze. Dann ein Haken. Ryans Augen schnellten nach links. Dort peitschte die blutrote Mähne im angesetzten Sprung. Eine Klaue bereits im Anschlag. Endlich! Er konnte seine Bewegungen einschätzen!

    „Von links!“, brüllte er bloß noch. Sie hatte ihn bereits bemerkt. Guardevoirs Arme waren über den Kopf gehoben. Orangefarbene Augen blitzten unter ihrem blauen Pony auf. Sie ging in eine Drehung, entgegen der Richtung des Angreifers. Unerwartet elegant tanzte sie über das Aschefeld und setzte ein Bein weit nach hinten. Das andere wurde eingeknickt, sowie auch ihr langer, schmaler Oberkörper. Er ging in die Horizontale. Eine Haltung, die jeden Schlangenmenschen an seine Grenzen getrieben hätte. Die Dunkelklaue sauste mitsamt ihres Besitzers binnen eines Wimpernschlages über sie hinweg, trennte ihr einige Haarspitzen und zog eine dunkelviolette Schneise gemeiner Geisterenergie nach sich. Doch diese vermochte Guardevoir nicht mehr zu beeindrucken. Noch ehe sich Zoroark umgekehrt hatte, um ihr seinen ungläubigen, fassungslosen Blick zu zeigen, hatte sie sich herumgewirbelt und zu ihrem Gegner ausgerichtet, stützte sich nun auf dem anderen Bein. Eine Hand langte an ihr Kinn. Ein bisschen sah es aus, als wolle sie eine Kusshand werfen. Doch sie entpuppte sich als Feuerspuckerin.

    „Magieflamme!“

    Zoroark sah nur noch den farbenfrohen Funken. Dann brannte sein Rücken bereits. Ein empörter, aber kurzer, da atemloser Schrei ging zum Abendhimmel hinauf. Das Publikum erhob ebenfalls die Stimme. Melody sicher am lautesten. Auch Audrey, Andres, Sandra jubelten oder ballten eine Faust. Der Schlussakkord hatte begonnen. Und Ryan gab den Ton an!

    „Super Bewegung von Guardevoir! Wie macht die das denn jetzt noch?“

    Bella schloss sich Cays Frage an. Wie konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch so reagieren? Hatte Ryan den Angriff wirklich wieder durchschaut? Kam er inzwischen mit dem Tempo mit? Oder wurde Zoroark einfach zu müde und daher langsam?

    Das Unlichtwesen war wohl als einziger hier völlig desinteressiert an der Antwort. Wütend wirbelte er herum und zerschlug die Feuerbrunst mit seiner Dunkelklaue. Auf Anweisung seiner Trainerin griff er in einer fließenden Bewegung mit Fokusstoß an, welcher jedoch an Lichtschild abprallte. Man erkannte, dass die Attacken an Kraft verloren. Guardevoir konnte die Restwirkung der Energiekugel dennoch nur mit Mühe wegstecken. Ihre anmutige Haltung wankte erneut und sie stöhnte hohl, wie bei einem Schlag in die Magengrube. Und wie bei einem solchen wollte ihr Körper zusammenklappen und sich zu Boden werfen. Sie widerstand dem Impuls nur mit allergrößter Mühe. Zoroark röchelte ebenfalls erschöpft und stützte sich mit einer Klaue. Beide gingen auf dem Zahnfleisch. Und dennoch preschte er nochmals mit wahnsinniger Geschwindigkeit vorwärts. Beide Klauen wurden auf Anweisung Bellas in dunkle Geisterenergie gehüllt. Die Flankierung hatte sie aufgegeben. Zum ersten Mal stürmte Zoroark frontal auf Guardevoir zu. Auf den direkten und schnellsten Weg, sozusagen. Erneut wusste sie sich nur noch mit Schutzschild zu retten. Dunkelklaue schmetterte erneut gegen die undurchdringbare Kuppel und schlug Asche auf. Das sanfte naturgrüne Farbenspiel flimmerte und erzitterte.

    Mit wütendem, gar rasendem Fauchen forderte Zoroark seine Gegnerin auf, sich ihm endlich zu stellen. Er hatte längst genug von den Versteckspielchen. Zwei, drei wütende Schläge hämmerten auf den Schutzschild, doch der gab selbstverständlich nicht nach. Ryan erkannte die erloschene Geduld und den Frust seitens den Unlichtpokémon. Hier tat sich eine Chance auf!

    „Den Schild öffnen!“

    Guardevoir zögerte nicht eine Sekunde. Sie hatte sich über die letzten Wochen, vor allem aber über den heutigen Tag hinweg, die Tugenden ihres Trainers sehr zu Herzen genommen. Und sie erkannte dasselbe, wie er. Sie beobachtete, kalkulierte. Folgte nicht bloß Befehlen, sondern benutzte ihren eigenen Grips. Sie sah präzise in Zoroarks Pupillen. Sie zitterten. Der Blick verlor sich, hatte sie gar nicht länger fixiert, sondern starrt kampftrunken durch sie hindurch.

    Er war rasend. Und einen solchen Gegner vermochte sie spielend zu überlisten.

    Sein Nächster Schlag sauste unverhofft ins Leere. Da sich der erwartete Widerstand in Form einer unnachgiebigen Wand so plötzlich auflöste, verlor er sein Gleichgewicht und stolperte beinahe in Guardevoir hinein. Die ekelhafte Geisterenergie, die ihr durch Dunkelkaue entgegenschlug, wurde erduldet und der Schmerz bissig ignoriert. Eine winzige, kaum wahrnehmbare Berührung des Oberarms genügte, um jeglichen Ausweichversuch zum Scheitern zu verurteilen. Dann surrte und knisterte bereits die Luft in ihrem Umfeld.

    „Und Donnerblitz!“

    Sie entlud den allerstärksten ihres Lebens, auf dass sich Zoroark hernach nicht mehr rühren sollte. Wieder wurde es grell im Innenraum. Das laute, gemeine Knistern ließ die Leute aufschrecken und aufspringen, nachdem manch einer durch die vorherigen Erschütterungen kauernd in den Sitz zurückgesunken war. Sofort war jeder wieder auf den Beinen. Dort unten sah man, erhellt durch den Stromschlag, Zoroarks Silhouette. Fast völlig regungslos und paralysiert durch den Angriff, lediglich zuckend und zitternd durch die malträtierten Nerven. Seine Muskeln wurden gelähmt, während sein Fleisch und sein Fell verschmorten. Das Maul weit offen, wollte doch kein Schmerzensschrei entrinnen. Auch die Lungen gaben nichts mehr her. Die Pupillen waren winzig klein geworden – saßen aber wieder genau im Zentrum der wilden Augen. Und die formten sich zu Schlitzen.

    Bella schnaubte angespannt. Nur einen einzigen Moment der Nachlässigkeit hatte sie Ryan gegeben. Er bestrafte ihn bitterböse. Doch sie würde sich von ihm nicht geschlagen geben. Zur Hölle mit Team Rocket, dem Schwarzen Lotus, den Drachen und Rayquaza. In diesem Augenblick wollte sie nichts sehnlicher, als ihn schlagen!

    „Wir beugen uns nicht, Zoroark!“

    Beugen? Was zur Hölle glaubte sie, mit wem sie redete? Kaum merklich zuckten die Lefzen hoch und entblößten seine Fangzähne.

    „Nachtflut!“

    Die Unterarme wurden erneut in Schleier aus verschiedenen, zumeist dunklen Farben getüncht. Und nun entkam ihm doch noch ein Laut. Ein energisches, entfesselndes Kampfgebrüll, als würde es sich gerade auf seine Beute stürzen. Der zweite klauenbesetzte Arm griff in den anderen. Beide wurden über den Kopf gereckt. Zittrig und langsam, als würden schwere Gewichte daran hängen. Guardevoir erkannte die Intention und legte alles in den Donnerblitz, was sie noch hatte. Sie pfiff auf Eleganz und Anmut. Hier und jetzt schrie sie ihren Siegeswillen heraus. Ein letztes Mal blitzten die azurblauen Augen auf. Ein animalisches Schnauben. Dann schlugen die Unterarme Zoroarks auf den Boden und entfesselten einen weiteren Sturm aus Dunkelheit. Er verschlang sie beide innerhalb eines Atemzuges. Ein Sog ging der sich ausbreitenden Aura voran, den man in den vorderen Reihen noch spürte und tatsächlich an einigen Haaren und Kleidern zerrte. Dann überlud jedoch die Elektrizität, die Guardevoir diesem verheerenden, schwarzen Schlund beifügte, mischte sich mit den Unlicht Energien und resultierte in einem ohrenzerfetzenden Knall. Die Blitze schlugen wild in alle Richtungen aus. Einige sogar bis in die Betonwand, wo sie faustgroße Stücke heraussprengten. Obendrein verwandelte sich Nachtflut in einen Sturm, der Kryppuks Finsteraura von vorhin wie eine Sommerbrise aussehen ließ. Im Auge war er absolut undurchsichtig, doch selbst an seinen Schwellen riss er das lockere Gestein und den porösen Lehm aus dem Boden, so wie ein Hurrikan Bäume entwurzelte. Die Erdmassen wurden in diesen zerstörerischen Mahlstrom gesogen und drohten die kämpfenden Pokémon zu erschlagen. Zumindest musste man dies befürchten, doch sah sie nach wie vor keiner inmitten des Sturms.

    „Das ist doch nicht zu fassen! Die beiden wachsen hier völlig über sich hinaus. Was für ein Zusammenschlag!“, brüllte Cay in sein Mikrofon und ward doch noch von kaum jemandem gehört. Der Spuk hielt allerdings nicht besonders lange an. Der Höhepunkt hielt nur wenige Sekunden, ehe Nachtlfut abzuflauen begann. Die Winde und Druckwellen schwächten ab. Das Wirbeln im Inneren verlangsamte sich. Bald schon war es nur noch violetter Rauch, der den Mittelkreis – oder eher die Stelle, an der jener mal gewesen war – umwanderte und sich bis an die äußersten Grenzen ausbreitete. Einzelne Blitze, manche gelb, manche schwarz, durchzuckten ihn noch, als sei er statisch geladen.

    Und dann erkannte man endlich zwei Silhouetten. Eine lang, schmal und aufrecht. Die andere wild und gekrümmt. Sie standen wahrhaftig beide noch.

    „Mir fehlen jetzt echt die Worte. Was ist das für eine Willenskraft. Keiner will sich hier geschlagen geben, aber irgendwann muss doch mal ein Sieger feststehen!“

    Sowie ein Verlierer. Und keiner wollte als solcher dieses Feld verlassen. Um jeden Preis der Welt wollten sie gewinnen. Dieses Gefühl teilten sie mit ihren Trainern. Diese sahen sich aus der Ferne an. Beide vermochten sie einander nicht genau zu erkennen. Zu trüb war die Sicht. Dennoch stachen ihre unverkennbaren Augenfarben hindurch. In der Dämmerung zeigte sich bereits der Mond am Abendhimmel, welcher Ryans silbrige Iris enthüllte. Bereits jetzt, wo sie dem Zenit ihrer Intensität noch fern war, durchstach sie die abklingende Nachtflut. Bella brauchte jedoch nicht die Essenz eines legendären Pokémon, um es ihm gleich zu tun. Ihre Bernsteine funkelten heißblütig und zugleich heimtückisch, wie eh und je, in der Dunkelheit. Wie das Licht eines Leuchtturms an einer verwunschenen Küste, vor der bereits etliche Schiffe gekentert waren. Und in diesem beidseitigen Aufblitzen erkannte sie auf der jeweils anderen Seite denselben Gedanken, den sie selbst dachten und fühlten.

    Es war genug. Alle Kniffe und Taktiken waren ausgespielt. Alle Tricks und Strategien aufgebraucht. Einige Angriffsmuster hatten sich bereits zu wiederholen begonnen. Ihre Pokémon waren stehend K.O., der völligen Erschöpfung so unglaublich nahe - hatten vermutlich lediglich noch nicht akzeptiert, dass die Grenzen ihrer Körper längst überschritten worden waren. Zoroarks Fell war verschmort und verkohlt. Einige Stellen rauchten noch und gaben einen stechenden, verbrannten Geruch ab. Guardevoirs sonst perlweißer Leib war von schwarzen und dunkelvioletten Schrammen geziert. Spuren von Geist und Unlicht Energie zeichneten ihr Antlitz und brannten noch jetzt höllisch auf der Haut, wo sie giftigen Rauch absonderten. Dennoch zuckte sie nicht.

    Ein letztes Mal festigten die Trainer ihre Haltung. Ein Ass hatte Ryan noch im Ärmel. Er hatte seine stärkste Attacke lange genug in der Hinterhand behalten. Jetzt war sie seine letzte Hoffnung, dieses Zoroark und damit Bella endlich zu schlagen. Doch nur weil Bella bereits alles gezeigt hatte, war sie nicht weniger sicher, als Siegerin vom Felde zu gehen. Sie war es auch, die zuerst zum Angriff blies. Ryan hielt jedoch gleich stimmgewaltig dagegen, obgleich sie beide heißer und kratzig klangen.

    „Spukball!“

    „Mondgewalt!“

    Jetzt kam es zum direkten Kräftemessen. Während in den blutroten Krallen des Schattenwesens finstere Blitze um einer pulsierende Energiesphäre zuckten, ging von jener, die Guardevoir erschuf, ein sanfter, silberner Schein aus. Das Mondlicht hatte sich in ihre zarten Hände gebettet, sonderte aber wärmendes purpurfarbenes Licht anstelle des kalten einer Vollmondnacht ab. Es ließ die Luft vibrieren. So stark, dass die Asche zu ihren Füßen zitterte und in einem breiten Radius um die Psychodame herum davonstob. Die Blitze des Spukballs zogen darin ebenfalls feine Linien im Zick Zack. Darunter kam wieder die sandige Farbe des ursprünglichen Untergrunds zum Vorschein. Aus der Entfernung heraus ein bizarrer Anblick, wie ihre Attacken helle Formen in den geschwärzten Boden zeichneten.

    Zoroark setzte zu einem gewagten Hechtsprung an und wuchtete den Spukball über den eigenen Kopf. Guardevoir drehte sich dagegen auf dem Absatz, stand lediglich auf einem Bein und streckte den bislang angewinkelten Arm aus. Da trafen sich die zwei Sphären in der Luft. Noch immer in der Hand ihrer Schöpfer. Ein kurzer, aber greller Lichtblitz erhellte das gesamte Stadion. Selbst Latios‘ und Latias‘ Erscheinen hatte nicht so ein intensives Licht mit sich gebracht. Für einige Sekunden war jede einzelne Person im Innenraum so stark geblendet, dass die Augen schmerzten. Der ein oder andere wurde gar völlig desorientiert. Hohes Zischen und Knistern erfüllte die Luft. Unter den Füßen beider Kontrahenten wurde das Erdreich so stark durchgeschüttelt, dass sie spürten, wie sie unter ihren Füßen nachgab. Die Schattenblitze durchschlugen das weiß-silberne Mondgebilde, während jenes den Spukball zu erlöschen suchte, so wie das Licht die Finsternis vertrieb. Keine der beiden Kräfte wollte nachgeben. Natürlich nicht, denn schließlich tat es auch keines der Pokémon, die ihre Gewalt führten.

    Letztlich konnte aber keiner die Oberhand gewinnen. Und in ihrem Kampfeswahn türmten sich die Feen- und Schattenkräfte hoch auf, sodass eine grelle Lichtsäule sich gen Himmel reckte. Sie blies die Überreste von Nachtflut fort, wie einen trüben Nebel. Das menschliche Auge vermochte das Ende nicht zu erkennen. Selbst Ruby musste noch emporsehen. Und das Gebilde weitete sich so großflächig, dass beide Pokémon darin verschwanden. Umschlungen und durchzogen wurde das Licht von pechschwarzen und dunkelvioletten Schlieren und Blitzen, als hafteten sie ihm an, wie eine sichtbare Seuche.

    Diese Kräfte. Diese Energien. Sie waren so ungleich, so verschieden in ihrer Natur, teilten höchstens das Zerstörungspotenzial. Lange hielten sie nicht miteinander aus. Es resultierte jedoch kein Knall, kein Krach, keine Explosion. In einem alles unterdrückendem Rauschen ward die einst ebene Fläche, auf der hier seit gestern gefochten wurde, ein letztes Mal umgekrempelt. Alles, was nicht fest und schwer genug war, wurde zu Staub. Was bereits Staub war, wurde ohne mess- und erkennbare Spur vernichtet. Aufgelöst, als sei es nie gewesen. Die Sicht verschwamm und verzerrte sich. Manch einer mochte vermuten, gerade zu erblinden. Ein mahnender Wind zog an den Kleidern, ließ erahnen, welch ein Stoß gleich folgen sollte. Er blies sie alle zurück in ihre Sitze. Den ein oder anderen gar fast davon herunter. Der Gegenwind zwang selbst den letzten noch, die Augen zu schützen.

    Ryan und Bella waren die ersten, die wieder hinzusehen wagten, die wieder hinsehen mussten, als der Chaossturm nachzulassen begann. Die Augen noch schmerzend und pochend, gleich dem rasenden Herzschlag und den zittrigen Beinen, die das Adrenalin kaum noch im Zaum zu halten vermochten. Die Anspannung war so unerträglich. Und wenn er hinterher einen Arzt bräuchte, Ryan musste wissen, was geschehen war. Wer stand noch? Und wo.

    Ihre Kämpfer sahen sie nur sehr trüb durch einen weißen Schleier, als stünden sie in einem dichten Nebel oder hinter Milchglas. Guardevoir und Zoroark blickten einander in die Augen. Nur wenige Schritte trennten sie voneinander. Abflauende Winde und Druckwellen zerrten an ihren Leibern, warfen Haar und Fell umher. Beide kampftrunken und der Ohnmacht nahe. Der Schwindel machte das Stehen beinahe unmöglich. Der eigene Körper wog das Fünffache. Jeder Atemzug löste Krämpfe und Stiche in den Organen aus. In den Ohren lag ein schriller Ton, der sie fast taub machte und alles vor ihren Augen war verschwommen.

    Da knirschte das schwarze Raubtier mit den Zähnen und knickte mit dem rechten Bein weg. Der ganze Körper zuckte plötzlich durch protestierende Nerven und erschöpfte Muskeln. Die, so fühlte Zoroak, mussten kurz vor dem Zerreißen stehen. Der Kiefer hing auf einmal offen und die Pupillen wurden winzig klein. Er sank auf ein Knie. Die Arme leicht vom Körper gespreizt, versuchte er, diesen auszubalancieren, doch es fühlte sich an, als sei er an einen fallenden Baum gefesselt. Das Publikum raunte auf. Cay schwieg angespannt, ehrfürchtig und von der Dramatik so ergriffen, dass er nicht einmal zu atmen wagte. Ein erbärmlicher, trauriger Versuch, sich noch einmal zu erheben, wurde unternommen. Doch das Unlichtwesen musste sich mit einer Klaue stützen, um nicht gänzlich zu Boden zu gehen. Ryan setzte einen Fuß vor. Heißer Schweiß rann seine Schläfe hinab. Fall endlich! Bei Arceus, fall!

    Guardevoirs Blick ging scheinbar geradewegs durch Zoroark hindurch. Sie nahm ihn und seinen Kampf mit dem eigenen Körper gar nicht wahr, stand er doch direkt vor ihr. Ihre schmale Gestalt wankte, wog sachte hin und her, wie ein Blatt in einer Brise. Dann fiel ihr Kopf in den Nacken, als sei er nur noch ein loses Anhängsel und ein hohles Stöhnen entwich ihrer Kehle. Sie zog die Blicke auf sich. Ryan erstarrte, wie von Eiseskälte umklammert. Ihre Augen waren verdeckt durch das verschwitzte Haar, das ihr im Gesicht klebte. Er sah, wie seine Partnerin fiel. Kerzengerade, wie ein Stock, doch landete sie sanft, wie eine Blüte auf eine Wasseroberfläche sank und dabei keinen Laut erzeugte. Nur einen winzigen Schwall Staub warf sie auf, gleich einer einzelnen, sanften Welle in einem makellos ruhigem Teich. Doch fand sie sich stattdessen zwischen Trümmern und Asche, Chaos und Verwüstung wieder. Auf dem Schlachtfeld, das sie sowie ihre Freunde und Kameraden, ihre Familie, ehrenvoll betreten hatten. Und als Unterlegene verließen.

    „Guardevoir ist kampfunfähig!“

    Alle Augen und Münder standen weit offen. Tausende holten Luft, um ihren Emotionen unterschiedlichster Art freien Lauf zu lassen.

    „Der Sieg geht somit an Bella Déreaux!“

    Und da wurden all die Stimmen entfesselt. All die angestaute Kraft in zehntausenden Kehlen. Von jenen Menschen, die diesen Moment, so sehr herbeigesehnt hatten, in dem die ganzen Emotionen und das Spektakel dieses Tages ihren Höhepunkt erreichten und sie ihre Begeisterung hinausschreien konnten und auf der anderen Seite wünschten, sie hätten sich dem noch stundenlang hingeben können. Nun war es doch vorüber. Das letzte Wort war gesprochen, alle Fragen geklärt und der Schlussstrich gezogen. Bella Déreaux, eine unbekannte Newcomerin, die gleich eine Reihe hochklassiger Trainer in die Tasche gesteckt hatte. Sie war die große Gewinnerin des vermutlich spektakulärsten Summer Clashs aller Zeiten. So eine Geschichte konnte man sich kaum ausdenken. Noch würde man sie glauben, wenn man sie nicht mit eigenen Augen beobachtet hatte. Geschweige denn, wie dramatisch der Schlussakt gewesen war und welche Hürden sie auf diesem Weg überwunden hatte. Und so souverän sie die meiste Zeit auch aufgetreten war, sah man ihr die abfallende Anspannung mit jeder Zelle an. Sie machte Platz für Stolz und Glückseligkeit. Sie ließ den Kopf in den Nacken fallen und breitete die Arme aus, badete für einige Sekunden im Jubel. Selbst die überschwänglichen Lobeshymnen von Stadionsprecher Cay empfing sie mit offenen Armen. Die Augen sanft geschlossen sog sie alles auf. Ihr Zoroark dagegen kämpfte sich wacker auf das zweite Bein zurück und heulte triumphierend zum Himmel auf. Selbst mit seinen feinen Sinnen ahnte er nichts von den herausfordernden Blicken der Drachendame weit über ihrer aller Köpfe. Die schnaubte. Sie war enttäuscht. Enttäuscht von Ryan und seinem Pokémon Gefolge, sowie auch dem menschlichen. Sie alle waren von ihr geschlagen worden. Welch Demütigung. Ruby würde sich in einer Höhle verkriechen, wenn sie an seiner Stelle stünde. Andererseits kam sie nicht umher, die Stärke und Gerissenheit der schwarzhaarigen Trainerin anzuerkennen. Dass ihr Feind so mächtig war, besserte aber weder die Gesamtsituation, noch linderte es die Schmach. Lediglich ihren Zorn auf die unterlegene Gemeinschaft Milas. Man pflegte bei Gegnern dieses Schlages zu sagen, dass das Verlieren keine Schande sei. Von solchen Schönredereien hielt die Drächin allerdings rein gar nichts. Die Schande bestand in der Niederlage selbst und nicht im Gegner. Dennoch genügte das, was dieser Ryan ihr heute gezeigt hatte, wohl zumindest, um einer Einäscherung des Brutalanda Weibchens zu entgehen. Von einigen Manövern seiner Pokémon war sie immerhin fast beeindruckt gewesen und Zoroarks Illusion hatte auch sie zugegebenermaßen nicht durchschauen können. Das Wiederum kränkte sie ein wenig im eigenen Stolz. Vielleicht war es gerade jene Tatsache, die vom Zorn auf Ryan ablenkte und Ruby sich eher mit sich selbst befassen ließ.

    Bella hatte wahrlich raffiniert gekämpft. Niemand hatte sie auf der Rechnung gehabt, bis auf Ryan und dessen Freunde. Doch ob wissend oder unwissend, waren sie alle an ihr gescheitert. Was für eine Geschichte war dies doch für die Unwissenden. Sie würde sich so ganz anders anhören, wäre man sich hier nur ihrer Identität gewahr. Aber die hatte seit geraumer Zeit keine Rolle mehr in diesem Finale gespielt. Längst war sie nicht mehr die Agentin von Team Rocket gewesen, sondern einfach eine überragende Trainerin, die alles für den Sieg gegeben hatte. Erst in fernerer Zukunft, wenn Ryan an diesen Tag und diesen Kampf zurückdenken würde, sollte es ihm gewahr werden, dass sie beide hier, obwohl sie verfeindet waren, sich kurzzeitig auf Augenhöhe befunden hatten. Sie hatte einfach mit Herz gekämpft. Genau wie er. Genau wie Guardevoir und die anderen. Doch endete dieses Kapitel ohne Triumph. Und egal mit welchen Gefühlen er hierauf zurückblicken mochte, so würde immer eine schmerzliche Erinnerung anhaften. Für seine Pokémon, die so viel hergegeben hatten, gar mehrere. Was sie geleistet und erduldet hatten, würde er höchstens über Jahre wieder zurückzahlen können. Jahre, in denen sie ihn stetig und weiter stolz machen und seine Schuld ihnen gegenüber noch vermehren würden.

    Melody sah konsterniert zu, wie Ryan auf das Kampffeld marschierte. Es sah aus, wie nach einem Krieg. Und Guardevoir wie die gefallene Soldatin, die er vom Feld holte. Ihre Hände waren vor den Mund geschlagen und Audrey erkannte in ihren Augenwinkeln eine Spur Nässe. Sie hielt eine Träne zurück. Wie sehr hatte sie sich den Sieg für Ryan und seine Pokémon gewünscht? Wie viele Gebete hatte sie in der letzten Stunde gesprochen und an wie viele Götter sich gewandt, dass sie ihm Glück und Kraft schenken sollten. War sie nicht erhört worden? Oder war diese Bella wirklich so stark? Die Trainerin aus Rosalia strich ihr tröstend über den Rücken. Auch sie hatte hart an diesem Ergebnis zu nagen. Als Trainer-Freundin wusste sie zu gut, um den Schmerz der Niederlage. Erst recht so knapp vor dem großen Ziel. Aber ebenso war ihr gewahr, dass genau so das Leben der allermeisten Trainer regelmäßig aussah. Die Konkurrenz wurde stetig größer und stärker. Bei einem so prestigeträchtigen Turnier mal ganz oben zu stehen, war linde gesagt eine Mamutel Aufgabe. Ganzbzu schweigen von den regionalen Ligen. Die Allermeisten erreichten solche Höhen in ihrem ganzen Leben nicht. Und selbst jene, die ewig vergebens dem Sieg hinterherrannten, fanden immer wieder die Kraft, um aufzustehen. Um weiterzumachen. Und zu lächeln. Ryan hatte dies selbst bereits durchgemacht und würde es wieder tun. Spätestens morgen würde sein Blick schon wieder nach vorne gerichtet sein.

    Jetzt gerade ging er allerdings nach unten. Er stand bei Guardevoir, die zitternd mit dem Schwindel kämpfte und unter größten Mühen die Augen öffnete. Ihr Trainer stand über ihr. Im Licht der untergehenden Sonne. Sie wusste seinen Gesichtsausdruck gar nicht zu deuten. Sie sah ihn nicht einmal klar. Alles war noch verschwommen und düster. Doch allein ihn zu sehen, versetzte ihr einen schweren Kloß im Hals. Sie hatte versagt. Sie hatte verloren. Hatte ihn enttäuscht. So gern, so, so, so gern hätte sie ihm den Sieg gebracht. Was musste er nun von ihr halten? Von ihr, die er als verzogene Göre aufgenommen und zu jemandem geformt hatte. Die er stark gemacht und auf Stufen gehievt hatte, von denen sie davor höchstens hatte träumen können. Die Psychodame mühte sich, einen Arm zu heben. Sie wollte ihre Augen verhüllen. Sich verstecken. Es vermeiden, ihm ihr Gesicht zu zeigen. Zittrig und schwach war er. Kaum fand sie die Kraft, ihn anzuheben. Doch dann spürte sie dort etwas Warmes. Einen kräftigen und noch behutsamen Griff, der ihre kleine Hand einbettete. Guardevoir sog scharf Luft ein. Mit einem Mal waren ihre Augen weit geöffnet. Sie fanden ein Paar von silbriger Farbe. Noch schwach und nicht im vollen Glanz, doch bereits jetzt schöner als alle anderen menschlichen Augen. Und auf den Lippen lag ein sanftes Lächeln. Eines, das seine Trauer nicht gänzlich zu verstecken vermochte. Aber keine Spur von Enttäuschung. Nicht ein Hauch.

    Sachte und vorsichtig zog er an ihrem Arm. Sie versuchte ihm entgegenzukommen, ließ sich letztendlich aber hochziehen. Ein gequältes Stöhnen konnte sie nicht unterdrücken, als beißender Schmerz durch ihre Muskeln schoss. Dann wurde ihr leichter. Und wärmer. Ryan hatte seinen zweiten Arm unter sie geschoben, hielt nun ihren schmalen Rücken und drückte sie an sich.

    War Guardevoir jemals in ihrem Leben umarmt worden? Wieso dann gerade jetzt? Sie hatte nichts für ihn vollbracht. Hatte ihm nichts geschenkt und nichts erreicht. Und doch flüsterte er ihr genau die Worte ins Ohr, die sie sich noch sehnlicher als den Sieg gewünscht hatte.

    „Ich könnte nicht stolzer auf dich sein.“

    Ihr Blick ging starr, geradezu fassungslos zum Abendhimmel hinauf. Ihre Arme und der Kopf hingen kraftlos, weshalb er ihn mit einer Hand stützte und sie tief in seine Schulter zog. Ryan erkannte genau, wie sie sich grämte. Ein bisschen fand er sich selbst in ihr wieder. Nach der Johto Liga musste er ein ähnlich jämmerliches Bild abgegeben haben. Über solche Nachweinerlichkeiten war er allerdings hinaus und Guardevoir ohnehin die allerletzte, die in solchen Gedanken versinken sollte. Es war aber kein Trost, den seine Worte ihr spenden sollten, sondern einfach seine offene und unbeschönigte Meinung.

    „Dein Kampf war hinreißend. Du hast hier alle Erwartungen erfüllt.“

    Damit meinte er nicht bloß seine. Niemand hier im Stadion oder zu Hause vor dem Fernseher hatte hier mehr von ihr erwartet, als sie gezeigt hatte. Die meisten hatte sie wohl gar übertroffen. Sie hatte sich für nichts zu schämen. Dagegen durfte sie auf eine ganze Menge stolz sein.

    „Du warst einfach nur famos.“

    Es gab kein anderes Wort, mit dem Ryan sie treffender beschreiben konnte. Schon in den vorherigen Runden hatte sie zahlreiche Fans gewonnen und deren Herzen erobert. Während des Finals war er selbst zu ihrem größten geworden.

    Was ihre Sicht der Dinge anging, so war er bereits ihre ganze Welt. Ihr Freund, ihr Mentor und ihre Vaterfigur. Für jeden einzelnen dieser drei wollte sie beim nächsten Mal noch weiter gehen, noch mehr geben und noch mehr erreichen. Sie konnte ihm dies hier und jetzt nicht versprechen. Nicht so, dass er es verstehen würde. Aber sie konnte sich für das ihr entgegengebrachte Vertrauen bedanken. Nicht nur für das. Für alles, was er für sie getan hatte.

    Auf einmal war die Taubheit in ihrem Körper weitestgehend fort. Verflogen, wie beißender Winterforst von einem wärmenden Feuer. So schlang sie beide Arme um ihn und erwiderte die Umarmung. Keiner der Beiden bemerkte, wie der Jubel der Massen abklang, als sie dies beobachteten. Für einen Moment könnte Guardevoir glatt vergessen, dass überhaupt noch jemand anwesend war. Oder, dass sie ihnen zusehen könnten. Nicht alle schenkten ihnen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, doch ein beträchtlicher Teil des Publikums unterbrach tatsächlich den Applaus. Ein jeder, allen voran Melody, war gerührt von dieser Szene. Andrew und Sandra hatten seit dem Schlusspunkt kein Wort gesprochen. Sich nicht von der Stelle bewegt. Man könnte glatt vermuten, sie würden einem noch immer laufenden Kampf mitfiebern. Nun aber blinzelte die Arenaleiterin einige Male und erahnte den Seitenblick des jungen Trainers zu ihrer Rechten. Die Ernüchterung stand auch ihm noch ins Gesicht geschrieben, doch erkannte sie den Anflug eines Lächelns. Und ließ sich davon anstecken.


    Cay hatte zu einem großspurigen Resümee des soeben beendeten Tages und des gesamten Turniers angesetzt. Die Wege beider Finalisten und besonders von Bella Déreaux nochmals aufgerollt und alles einfach einmal Revue passieren lassen. Nun aber stockte seine mittlerweile schwache, kratzige und doch unermüdliche Stimme. Auch unter den Zuschauern wurde es immer leiser. So leise, dass Ryan die Schritte in seinem Rücken hörte. Sie zu ignorieren, so hatte er für diesen Fall bereits im Voraus entschieden, stand für ihn nicht zur Debatte. Er ließ sich jedoch nicht zur Eile drängen. In aller Ruhe und mit höchster Vorsicht, um sie nicht zu verletzen, ließ er von Guardevoir ab und begann sich aufzurichten. Er half ihr hoch, wie ein Ehrenmann einer gestürzten Edeldame. Und bereits jetzt hatte sie auch wieder die Attitüde einer solchen angenommen. Gelassen und erhaben, mit eleganten und bedachten Bewegungen – sowie einen zarten Rotschimmer auf ihren Wangen. So geschunden und malträtiert ihr Körper war, so stolz und anmutig vermochte sie bereits wieder zu stehen.

    Sie vermied es jedoch, ihren herangetretenen Gegnern in die Augen zu sehen. Lieber hielt sie diese friedlich geschlossen und gab sich glücklich der erneuten Erkenntnis hin, welch fabelhaften Menschen sie ihren Trainer nannte.

    Selbiger wandte sich erst um, als er sicher war, dass Guardevoir von selbst stehen konnte. Ein letztes Mal strich er ihr behutsam über den Kopf. Dann drehte er sich und machte noch in der Bewegung einen Schritt auf die Agentin zu, sodass er direkt vor ihr stand. Ihr Haar war zerzaust, als habe sie selbst gekämpft. Und auf ihrem Gesicht glänzten noch Überreste von nicht ganz trockenen Schweißperlen. Er war also nicht der Einzige, der die Hitze des Gefechts so intensiv gespürt hatte. Zoroark war nur einen Schritt hinter ihr. Der wirkte beileibe nicht schon wieder so erhaben wie Guardevoir und es verschaffte ihnen beiden durchaus einen winzigen Hauch Genugtuung, dass sie ihm wenigstens dies voraus hatte. Auch, wenn er am Ende nun mal als Sieger vor ihr stand.

    Bellas Ausdruck vermochte Ryan allerdings nicht sicher einzuordnen. Gewiss war sie glücklich, wie das Lächeln verriet. Aber keineswegs verlor sie sich in diesen Gefühlen, sondern stand bereits jetzt wieder als die rechte Hand des Schwarzen Lotus vor ihm. Und vielleicht mutete er sich da zu viel Menschenkenntnis zu, aber er meinte zu verstehen, dass sie selbst als solche ihm noch mit Respekt entgegentreten konnte. Wenn er an die wenigen Worte zurückdachte, die er mit ihr gewechselt hatte, war es aber wohl wahrscheinlicher, dass sie jene soeben bestätigt sah und ihn bloß daran erinnern wollte. Daran, dass er zu schwach war, um sich ihr und dem Schwarzen Lotus zu widersetzen.

    Ryan sah jedoch in diesem Kampf keinerlei Beleg für diese Aussage. Doch es wäre sinnlos, das mit ihr auszudiskutieren. Ebenso war Bella klar geworden, dass alle Versuche, ihm dies einzutrichtern, damit er endlich mit seinen Freunden das Weite suchte, zum Scheitern verdammt waren. Es gab also nichts zu sagen. Auf keiner Seite. Dennoch besaß selbst diese käufliche Agentin, die kaum irgendwelche Skrupel kannte, ein gewisses Maß an Anstand. So reckte sie Ryan eine offene Hand entgegen. Zumindest versuchte sie dies. Auf halbem Weg spürte sie jedoch plötzlich und völlig unerwartet einen festen, alarmierten Griff um ihr Gelenk. Beide Pokémon beugten sich aufmerksam vor und beobachteten das Handgemenge. Bereit, sofort für ihre Trainer einzuschreiten.

    Es war ein reiner Reflex gewesen. Sein über die letzten Wochen angeeigneter Schutzinstinkt, der unverhofft eingesetzt hatte. Der einen Angriffsversuch Bellas erahnt hatte. Doch dem Johtonesen war noch in der eignen Bewegung klar geworden, dass sie ihm hier wirklich nur die Hand hatte reichen wollen, um sich fair und würdevoll zu zeigen. Und er bereute diesen Handgriff im selben Moment. Unter den Zuschauern war es auf einmal verdächtig still.

    Bella legte den Kopf leicht schief und sah Ryan tief in die Augen. Dass dies nicht seine wahre Absicht gewesen war, erkannte sie sofort. Gemessen an allem, was bisher geschehen war, konnte sie das nicht einmal verurteilen. Und er war auch sicher nicht so lebensmüde, sie tatsächlich anzugreifen. Dennoch war sie gespannt, wie er diese Situation jetzt lösen wollte. Währenddessen gab sie Zoroark ein unauffälliges Handzeichen, nicht einzuschreiten.

    Ryan schluckte knapp und erwiderte den Augenkontakt. Sein ganzer Körper war locker, bis auf seine Hand, die den Arm von Bella noch immer festhielt. Und er löste den Griff auch nicht. Stattdessen drehte er sich zum Publikum und reckte ihn vor allen Anwesenden in den Himmel. Sofort erklang der Beifall wieder. Diesmal gleichermaßen für beide Trainer. Für deren Leistung und sowohl für Bella als stolze, verdiente Gewinnerin als auch für Ryan als ehrenvollen Zweiten. Keiner verlor gerne, aber noch weniger mochten die Leute einen schlechten Verlierer. Hier und jetzt entschied sich Ryan, kein solcher zu sein.

    Länger bleiben wollte er dennoch nicht. Er überließ Bella ihren Jubel. Wandte sich stattdessen, nun wieder völlig entspannt, direkt an Guardevoir.

    „Lass uns gehen“, schlug er schon wieder mit einem Lächeln vor und bot ihr seiner Hand. Nicht als stützte für eine verletzte Kämpferin. Die benötigte sie nicht. Als Partner, als ehrenvolles Gespann verließen sie diese Bühne. Ein stiller Abgang, aber mit erhobenem Haupt. Das wäre ein schöner gewesen. Doch Cay befand, dass die Menge ihnen noch etwas schuldig war.

    „Leute, Leute, so geht das nicht. Ist mir egal, dass nur einer gewinnen kann, aber da unten darf niemand wie ein Verlierer verabschiedet werden!“

    Und mehr brauchte es auch nicht, um ein letztes Mal aufbrausenden Jubel in Ryans und Guardevoirs Richtung zu entfachen. Ryan schnaubte einmal, konnte sich aber ein Grinsen mit einem leicht spöttischen Ansatz nicht verkneifen. Ein Seitenblick ging zur Psychodame an seiner Seite. Sie lächelte ihn bloß an. Hand in Hand drehten sie sich zur Tribüne zu ihrer Linken und verbeugten sich. Dankend, bescheiden. Dann zur Tribüne rechts. Eine weitere Verbeugung. Dort sah er Audrey und Melody sitzen. Naja, letztere saß nicht mehr wirklich. Genaugenommen musste sie von den Ordnern besänftigt werden, da sie mit einem Bein auf der Mauer stand und mit beiden Armen winkte, damit er sie ja nicht übersehen konnte. Er winkte zunächst in die Masse zurück und deutete dann direkt auf sie. Zeigte, dass seine Augen auf ihr allein lagen. Der Anblick brachte ihn zum Lachen. Sie hatte niemals zuvor ein großes Turnier miterlebt und nun war sie vielleicht der größte Fan unter zehntausenden.

    Es folgte eine finale Verbeugung in den weiten Rundlauf des Prime Stadiums, welche ihm ein letztes Mal die ungeteilte Aufmerksamkeit bescherte und selbst die triumphale Bella für einen Moment links liegen ließ. Dann wandten er und Guardevoir sich endgültig und verschwanden im Tunnel. Hinter ihm jubelten Massen und Stadionsprecher nun wieder allein Bella zu. Wie diese zusammen mit ihrem Zoroark ihre Ehrenrunde drehte, ließ er unbeobachtet. Einige Schritte später war er dann ganz allein, nachdem er Guardevoir in ihren Pokéball verfrachtet hatte. Den Weg zum Center sollte sie nicht zu Fuß auf sich nehmen müssen.

    Nun endlich in Einsamkeit atmete der junge Trainer tief ein, ließ den Kopf in den Nacken fallen und stieß die angestaute Luft fest aus. Für einige Sekunden sah er an die Decke und rührte sich nicht. Sprach nicht. Machte keinen Ton. Dafür waren seine Gedanken so laut, dass sie im Tunnel widerhallen könnten.

    So. Ein. Mist.

    Kapitel 66: Down to one last duel


    Ein Aufschrei ging durch das Prime Stadium. Es war so weit. Die endgültige Entscheidung stand bevor. Wer hatte den längsten Atem? Wer hatte wie viele Asse im Ärmel, die er noch nicht verspielt hatte? Tatsache war, Lucario hatte man das gesamte Turnier über noch nicht gesehen. Ganz im Gegensatz zu Guardevoir. Dennoch sollte hier niemand glauben, Ryan hätte ihnen schon alles gezeigt. Allerdings war keiner der beiden daran interessiert, die Initiative zu ergreifen. Beide Pokémon starrten einander bloß tief und konzentriert in die Augen. Erhabene Gelassenheit auf der einen und eiserne Zielstrebigkeit auf der anderen Seite. Was von beidem war wohl stärker? Wer war von den beiden stärker?

    Ein letztes Mal stieß Ryan Luft aus und straffte seine Schultern. Jetzt ging es also um alles.

    „Guardevoir, Seher.“

    In diesem alles entscheidenden Kampf wollte er umso mehr wieder seine bevorzugte Strategie verfolgen. Die Wende gegen Kryppuk hatte ihm gezeigt, dass er das auch gegen Bella durchaus konnte. Gegen ein Pokémon, dem er zum allerersten Mal gegenüberstand, wollte er auf seine größten Stärken setzen. Jetzt musste er überhaupt keinen Druck erzeugen, sondern nur mit seinen defensiven Optionen arbeiten, biss Seher einsetzte. Das würde der Startschuss für seine Angriffswelle sein. Und die musste sitzen.

    „Oho, die Newcomerin sitzt direkt mal auf ´nem Timer. Guardevoirs Seher kann einiges anrichten, fragt mal Ann Trevors“, erinnerte Cay an das Viertelfinale zurück. Bella schmunzelte bei dieser Eröffnung jedoch bloß und sah gelassen dabei zu, wie die Augen der Psychodame in mythisches, hellblaues Licht getaucht wurden. Eine sachte Windböe umspielte sie dabei. Die Agentin befahl daraufhin ganz nüchtern Ränkeschmied, was Ryan dazu veranlasste, die Lippen zusammen zu pressen. Er hätte sich zwar denken können, dass sich mit Seher allein wohl keinen überhasteten Angriff provozieren ließ, aber mit Ränkeschmied hatte er nicht gerechnet. Wäre jetzt von alleine vielleicht gar nicht darauf gekommen, dass Lucario diese Technik überhaupt erlernen konnte. Bella war sicher selbstbewusst genug, um ihre Strategie nicht vom Seher abhängig zu machen, aber so konnte sie Lucario gar die Kraft geben, das Match schon vor dessen Einsetzen zu entscheiden.

    „Und jetzt drehen wir auf. Fokusstoß!“, ordnete sie daraufhin an und formte eine Hand, als würde sie selbst die hellblaue Energiekugel formen, die zwischen Lucarios Pfoten erschien. Kupferne Lichtpunkte tanzten darin, wild und kaum zu bändigen. Sie brachten das Gebilde zum Pulsieren. Lucario setzte einen Fuß großzügig zurück, um Schwung zu nehmen. Mit einer weit ausholenden Bewegung schleuderte er den Fokusstoß Richtung Guardevoir.

    „Lichtschild!“

    Sei es drum. Solange Lucario aus der Distanz angriff, würden er und Guardevoir damit umgehen können. Gedankengut wirkte schließlich bereits auf sie und wenn er jetzt noch ihre Abwehr stärkte, konnte Bella gerne den ganzen Abend lang Fokusstoß, Aurasphäre oder dergleichen nach ihnen werfen.

    Ein dünner Arm wurde ausgestreckt und sogleich eine goldene Energiewand vor ihr erschaffen. Der Aufprall brachte diese zum Vibrieren, sodass man kaum noch hindurchsehen konnte. Ein bisschen fühlte sich der Einschlag an, als würde er in Zeitlupe ablaufen. Sofort zuckten Guardevoirs Brauen alarmiert nach oben. Der zweite Arm wurde erhoben und der ganze Körper gegen ihre Barriere gestemmt. Schon einen Herzschlag später sandte die Energiekugel einen Stoß aus, der nicht nur den Lichtschild erzittern ließ, sondern zu ihren Flanken die Erde zum Beben brachte. Aus dem spröden Gestein lösten sich einige Brocken und flogen durch die Luft wie aufgewirbeltes Laub in einer Windhose. Die Luft selbst schien zu zittern, wie Espenlaub. Sie fühlte es in ihrer Brust, in ihren Beinen. Was für eine Kraft!

    Ryan spürte es selbst an seiner Position ebenfalls noch in den Füßen bis zu seinem Rumpf vordringen. Oder war das die Anspannung? Das war ein einziger Fokusstoß, gewesen! Nicht mal großspurig oder aufwendig vorbereitet, wie zum Beispiel Kryppuks riesiger Spukball. Ränkeschmied schön und gut, aber diese Energie war wahnwitzig. Befand auch ein gewisser Stadionsprecher.

    „Das soll ein Fokusstoß gewesen sein? Was gibt Déreaux diesem Lucario denn zu fressen?“

    Sicher gab es den ein oder anderen, der die Worte nicht einmal vernahm. Die Reaktion der Zuschauer ging unter dem Lärm des berstenden Gesteins sogar ganz unter.

    Bella schmunzelte zufrieden und biss sich voller Vorfreude sanft auf die Unterlippe. Dann lehnte sie sich nach vorn, schob einen Fuß voraus und stemmte eine Hand auf ihr Knie.

    „Jetzt Agilität.“

    Auch Lucario beugte sich vor und streckte die Arme nach hinten. Schon die ersten Schritte waren flink wie die eines Geradaks. Dann war er jedoch für einen Sekundenbruchteil verschwunden und tauchte in Guardevoirs Augenwinkel zur Rechten auf. Die konnte endlich ihre Aufmerksamkeit von der Erhaltung ihres Lichtschilds auf den Angreifer wechseln. Dass es so viel Mühe kosten würde, die Kraft des Fokusstoßes zu absorbieren, war linde gesagt einschüchternd. Und das Tempo von Lucario ebenfalls. Kaum drehte sich den Kopf nach rechts, verrieten ihre feinen Sinne den Gegner plötzlich zu ihrer Linken. Sie hörte, wie ihr Trainer Magieflamme befahl. Sie drehte sich auf dem Absatz, schnell, aber noch immer elegant und machte eine ausholende, streuende Bewegung mit dem Arm. Ein violetter Funke glimmte auf, wie bei einem gerade entzündeten Feuerzeug. Eine Flammenpeitsche schlug vor ihr aus, rauchte und züngelte wütend. Und da wurden Guardevoirs Augen nochmal groß und weit. Er war hinter ihr!

    „Dunkelklaue!“, hörte man von der anderen Seite. Panisch wandte sich das sonst so grazile Psychopokémon um und machte einen Satz zur Seite, in der Hoffnung, dem Angriff damit noch ausweichen zu können. Sie sah ihn nicht einmal. Nur ein paar violette Fetzen von Geisterenergie schlugen vor ihre Augen, doch da war der Schlag schon geschehen. Aus nächster Nähe trat die Wirkung von Lichtschild selbstverständlich nicht ein. Lucario zog schnell wie ein Pfeil an ihr vorbei und schlug aus einer gebückten Haltung in ihren Torso. Gleichfarbige Spuren wurden dort hinterlassen wie Schnittwunden. Aus ihnen quoll dicker, violetter Rauch. Guardevoir stöhnte einmal hohl und stimmlos, da sie an widerlichen Schmerzen zu würgen hatte. Beinahe wäre sie gestürzt, doch selbst für das taumlige Zurückweichen grämte sie sich.

    „Boah, das hat direkt gesessen. Carparso und Guardevoir wurden von Lucarios Tempo eiskalt überrascht.“

    Nicht nur die Geschwindigkeit hatte sie verblüfft. Mit Dunkelklaue hatte sie beileibe nicht gerechnet. Wohl keiner hatte das. Auch nicht ihr Trainer. Der musste mit ansehen, wie der Torso seiner Partnerin einen dicken Schwall Geisterenergie absonderte, als würde sie aus dem Körper ausdringen. Ein gequältes Heulen ging zum Abendhimmel hinauf. Sicher erreichte er die Ohren von Ruby.

    Lucarios Haltung hatte sich derweil entspannt. Er stand aufrecht und sah bloß teilnahmslos über die Schulter. Bella schaute dafür mit umso mehr Zufriedenheit drein.

    Ryan rümpfte die Nase. Diese Schnelligkeit stellte selbst Andrews Scherox in den Schatten, wenn es Agilität einsetzte. Aber er und Guardevoir waren bereits stärker als Scherox!

    „Standhaft bleiben! Schlag zurück mit Sondersensor!“

    Als würde sie es wagen, schon nach einem Schlag zu Boden zu gehen. Tatsache war allerdings, dass sie so einen Schmerz zum allerersten Mal spürte. Es bedurfte viel, sehr viel Konzentration und Beherrschung, ihren Rhythmus nicht völlig zu verlieren. Einen einzelnen Schritt wankte sie, doch schon der Wechsel des Standbeines war wieder erfüllt von Anmut und Kontrolle und außerdem von einem vermengten Leuchten aus Weiß und Purpur um ihren gesamten Leib. Erneut drehte sie sich und beschrieb mit ihren dünnen Armen diesmal eine Stoßbewegung, während sie in die Knie ging. Das Licht wurden in den Händen komprimiert und löste eine nahezu unsichtbare Druckwelle psychokinetischer Energie aus, die man nur an einer Schneise verzerrter Luft sowie aufbrechendem Lehm und Gestein am Boden erkennen konnte.

    Ryan legte sich bereits vorausblickend zwei Folgeattacken zurecht, je nachdem wie Bella reagieren würde. Aber er wartete vergebens auf ihre Stimme. Sie erklang nicht. Keine Reaktion folgte auf Sondersensor. Er wagte in diesem Moment nicht, den Blick von Lucario zu nehmen und zu ihr rüber zusehen. Sonst hätte er womöglich verpasst, wie die Energiewelle ihn überrollte.

    Sie überrollte ihn gar nicht. Sie rollte an ihm vorbei. Zu beiden Seiten, wie das Wasser eines reißenden Flusses einem großen Felsen auswich. Links und rechts wurde Erde aufgewühlt und durch die Luft gewirbelt, einen zerrenden Klang nach sich ziehend. Aber das berüchtigte Aura-Pokémon zuckte nicht mal mit der Wimper.

    „Was ist denn da los?“, fragte Cay im Namen Ryans und vermutlich aller.

    „Das ging doch nicht daneben? Der Sondersensor hat voll getroffen, definitiv. Juckt Lucario nur kein bisschen.“

    Audrey zog ungläubig ihre Brille ein Stück runter und erhob sich sogar von ihrem Platz. Sie war eh eine der ganz Wenigen, die überhaupt noch sitzen konnten. Für Melody, deren irritierten Blick sie nur am Rande registrierte, hatte sie diesmal keine Erklärung parat.

    Ach, wie Bella diese allgemeine Verwirrung genoss. Aber zu sehr sollte sie es nicht auskosten. Das wäre eine verschenkte Gelegenheit und sie war mittlerweile ernst genug ermahnt worden, Carparso ihrerseits keine Geschenke zu machen.

    „Nochmal Fokusstoß!“

    Eine Vorderpfote wurde geöffnet. Ein weiterer himmelblauer Energieball erschien darin und wurde schließlich mit einer tiefen, ausholenden Bewegung, als wollte man einen flachen Stein übers Wasser flippen lassen, präzise auf Guardevoirs Schädel geschleuderte. Die war geistesgegenwärtig genug, um mit einer noch immer tänzerisch anmutenden Bewegung den Oberkörper zurückzulegen und somit auszuweichen. Ein Knie wurde für die Balance angehoben und anschließend genutzt, um Schwung für eine Pirouette zu holen und sich neu auszurichten.

    „Donnerblitz, eine ganze Salve!“, rief Ryan noch währenddessen. Er erhoffte sich keinen nennenswerten Erfolg von diesem Angriff. So aus der Not heraus konnte er diesem Lucario sicher nicht ans Leder. Er musste sich jedoch ein, zwei Sekunden Bedenkzeit erkaufen. Der Sondersensor hatte ganz eindeutig nicht verfehlt. Dessen war er sich absolut sicher. Die kinetische Energie hatte ganz einfach keinen Effekt auf Lucario gehabt. Als könne sie ihm überhaupt nichts. Das Wieso entzog sich gegenwärtig seinem Wissen. Er hatte es doch hier zum Teil mit einem Kampf-Typen zu tun. Folglich mussten Psychoattacken einen Effekt haben – eigentlich. Doch so viel Zeit konnte er nicht zu schinden hoffen, dass er die Antwort noch vor dem Ende des Kampfes herausfand. Sondersensor klappte gegenwärtig nicht. Unter diesem Fakt zog er hier und jetzt einen Schlussstrich und konzentrierte sich auf seine übrigen Optionen. Auch in Seher setzte er besser keine Hoffnung.

    Bella sah in aller Ruhe zu, wie jeder Stromschlag ins Leere ging und stemmte zufrieden eine Hand in die Hüfte. Guardevoir streckte abwechselnd die Arme vor und sandte mit jeder Bewegung neue Blitze aus, tippelte dabei mit den Füßen immer im Rhythmus mit.

    „Guar-de-voir“, rief sie immer wieder im Takt zu ihren Bewegungen, ging mal in die Knie oder vollführte gar eine flotte Drehung. Aber dieses Lucario war verflucht schnell und beweglich, duckte sich unter den Angriffen hinweg, katapultierte sich mit den Vorderpfoten hoch und ging in eine makellose Schraube, für die jeder Kunstturner die volle Punktzahl erhalten würde. Mit Handstand und Flick-Flack und beherzten Sprüngen brachte er sich schließlich komplett außer Reichweite und Guardevoir stoppte die Angriffswelle.

    „Déreaux dominiert diese Finalrunde bislang nach Strich und Faden. Lucario ist echt ne Wucht! Komm schon Carpi, jetzt bist du gefordert“, sprach Cay die unangenehme Wahrheit aus. Andrew wollte auf der Stelle raus und nach oben zu Sprecherkabine stürmen, um ihm das Maul zu stopfen. Aber dann könnte er die große Wende verpassen. Ryan würde sie schaffen. Würde ins Match zurückkommen. Er musste!


    Ruby könnte vor Wut brüllen. So laut, dass sie alle dort unten diesen lächerlichen Kampf vergessen und zu ihr emporsehen würden. Während des sich langsam dem Ende neigenden Tages hatte sie mehrfach und zum ersten Mal wirklich realisiert, dass dieser junge Mann dort unten nun gewissermaßen ihr Trainer war. Streng genommen zumindest und bestimmt nur vorübergehend und selbst wenn man einen Weg fand, diese Behauptung zu verneinen, so war er zum jetzigen Zeitpunkt noch mindestens ihr Verbündeter.

    Wie jedoch konnte ihr Verbündeter es wagen, sich so vorführen zu lassen? Was war mit all der Stärke geschehen, die sie vorhin noch beobachtet hatte? Wo war sie hin? Etwa gemeinsam mit Despotar abwesend? Was dieses das einzige von seinen Pokémon, das zum Kampf taugte? Was sie dort unten sehen musste, ließ tatsächlich neue Zweifel aufkeimen, ob er, dieser Ryan, wirklich einen nützlichen Dienst für ihre Rasse zu leisten vermochte. Er sollte diese Zweifel besser schnell ersticken, sonst garantierte sie niemandem, dass sie nicht noch während des Kampfes herunterstürzen und ihn zu Asche verbrennen würde.

    Lucario griff erneut mit Dunkelklaue an. Der Temposchub durch Agilität zwang Ryan tatsächlich dazu, früh Schutzschild zu ziehen. Ihm fiel keine andere Abwehrmöglichkeit ein. Es war nicht nur die Schnelligkeit, sondern vor allem die unvorhersehbaren Bewegungsmuster Lucarios, die ihn aus der Bahn warfen. Der Blonde meinte, sich relativ gut mit dieser Gattung auszukennen, so wie mit den meisten in Sinnoh beheimateten Pokémon. Und er befand, dass sich dieses Exemplar sehr untypisch bewegte. Mehr pirschte und zu diversen Finten griff. Zumeist war Ryan in der Lage, früh einzuschätzen, aus welcher Richtung der tatsächliche Angriff folgen würde. Aber nicht hier. Auch diese Dunkelklaue zielte von der Seite in Guardevoirs Flanke, obwohl die Schrittfolge einen Satz gerade voraus und somit einen frontalen Schnellangriff hatte erahnen lassen. Auch Guardevoir selbst erkannte die Richtung erst, als ein schmetternder Schlag ihre grüne Lichtkuppel traf. Zu ihren Füßen brachen neue Risse im Boden auf, sodass man selbst hinterher mühelos die Stelle ausmachen könnte. Innerhalb des Schildes ward die Erde zwar locker durch die Vibrationen, aber nicht durch und durch brüchig, wie außerhalb.

    „Warte bis der Schild fällt und dann sofort Spukball!“, war Bellas nächste Anweisung.

    Spukball? Lucarios Attacken Arsenal war echt ein sonderbares, um es vorsichtig auszudrücken. Ob Guardevoir den ebenfalls auffangen konnte? Sollte er das Risiko eingehen? Die Entscheidung musste schnell getroffen werden. Schon löste sich die Energiekuppel auf. Die Deckung war gefallen. Fast in derselben Sekunde sah sie eine knisternde Schattenkugel auf sich zurasen. So schnell, dass sie neu entwickelten Staub und Geröll hinter sich aufschlug. Ryan verzog das Gesicht, wirkte energisch und aufmüpfig. Bella beobachtete das mit Neugier. Fand er seinen Mut noch?

    „Hol ihn runter!“

    Die Agentin lächelte beinahe zufrieden. Sie hatte was übrig für tollkühne Menschen, die gerne das Unerwartete versuchten. Auch, wenn diese oft zum Scheitern verurteilt waren.

    Die Psychodame allerdings zögerte und zweifelte keine Sekunde. Sie spürte das Vertrauen ihres Trainers und teilte seinen Trotz. Ungeachtet von Lucarios Dominanz lag eine Selbstverständlichkeit in seiner Stimme, die ihr Zuversicht schenkte. Sie wollte dem gerecht werden!

    Zunächst glimmte Lichtschild wieder auf und bremste den Spukball aus, ehe Guardevoir beherzt danach langte. Für dieses Geschoss nutzte sie freilich beide Hände. Die wurden auf der Stelle taub, als die Blitze durch ihre Handflächen zuckten und ein Brennen im ganzen Arm verursachten. Sie schluckte den Schmerz jedoch kompromisslos herunter, konzentrierte sich nur auf ihre Bewegungen sowie darauf, die Energie unter ihre Kontrolle zu bringen. Es wäre weniger selbstmörderisch, würde sie mit Granaten jonglieren. Sie wandte sich aus der Flugbahn heraus und ging flüssig in die Drehung über, zog die Arme schwungvoll nach, als würde sie ein immenses Gewicht mit sich ziehen. Nur einen winzigen Moment hatte Ryan Augenkontakt zu ihr gehabt. Aber es hatte gereicht, um ein mythisches, blaues Leuchten in Guardevoirs Augen zu erkennen. Er blinzelte und sog scharf Luft ein. Das könnte was geben.

    „Noch nicht!“

    Ryan war sehr bewusst, was er ihr hiermit zumutete. Jeder Idiot konnte sehen, welche Schmerzen der Spukball ihr zufügte. Seine unheilvolle Energie war kaum zu bändigen und wollte ausbrechen, wollte zerstören und verletzen. Aber Guardevoir war mit dieser Kraft sehr vertraut. Und so weit kam es noch, dass ein Lucario sie in Punkto Beherrschung jener Kraft übertraf.

    „Pack deinen eigenen Spukball rein!“

    Eine gewagte Kombination, entstanden aus der Kreativität der Not.

    „Ist das der Mut der Verzweiflung?“, fragte sich Cay laut und griff sich an die Schläfe. Zumindest ein bisschen irre musste man schon sein, um in dieser Situation so etwas zu versuchen. Keine Chance, dass Guardevoir sowas vorher trainiert hatte.

    Das grazile Psychopokémon riss unter größter Mühe eine Hand von dem Spukball los und streckte den Arm aus. Der fühlte sich an, als würde er von tausend glühenden Nadeln durchstochen. Dennoch flackerte ein kleiner Lichtpunkt auf, der sehr plötzlich, geradezu explosiv an Größe gewann. Der Arm knickte fast weg, als ob Guardevoir plötzlich einen Amboss halten würde. Tatsächlich traf das gewissermaßen auch zu. Nur war es eben kein physisches, messbares Gewicht.

    Es war das erste Mal am heutigen Tag, dass sie ihre anmutige Eleganz über Bord warf und einen energischen Kampfschrei ausstieß. So oft hatte sie mit ihren eigenen Spukbällen geübt. Hatte bereits vor ihrer Weiterentwicklung mit einem davon in jeder Hand zu tanzen vermocht. Aber nie hatte sie das in einem Kampf getan. Schon gar nicht mit dem Spukball ihres Gegners, der so viel wog, wie zwei ihrer eigenen. Aber sie wollte es unbedingt meistern. Wollte sich beweisen. Wollte siegen. Für ihn. Und auch für sich selbst.

    Sie wuchtete die beiden Energiekugeln zusammen. Sie verschmolzen wie zwei Seifenblasen, die zu einer wurden. Ein pulsierender Kern aus verschiedenen Violetttönen formte sich im Zentrum, während ein Stoß über das gesamte Kampffeld fegte, der die Luft erzittern ließ. Die Schattenblitze schlugen nun in einem Radius von mehreren Metern um Guardevoir wild um sich. Sie stemmte das dunkle Ungetüm über den Kopf. Aber nicht für lange. Auf das Kommando ihres Trainers musste sie nicht warten. Sie hatte längst verstanden, warum er sie zuvor noch gestoppt und worauf er gewartet hatte. In dem schwarz-violetten Blitzgewitter fiel es niemandem außer ihr selbst auf, doch über Lucario tanzten auf einmal winzige Lichtpunkte in mythischem Blau. Demselben Blau, das in ihren Augen leuchtete. Auch Bella erkannte es zu spät.

    Guardevoir stellte einen Fuß quer und schob ihn leicht nach vorn. Es bedurfte keines nennenswerten Kraftaufwandes, um hieraus in einer flotte Absatzdrehung überzugehen. Wie ein olympischer Hammerwerfer schleuderte sie diesen absurden Spukball auf ihren Gegner. Dieser spreizte die Beine und stemmte die Arme voraus. Hatte der echt vor, die Attacke abzufangen, so wie sie es getan hatte? Kühn. Und ambitioniert, aber darauf sollte sich keine Chance ergeben. Die Lichtpunkte über ihm begannen zu wachsen und zu wirbeln. Nun erst registrierte Lucario sie. Als er nach oben sah, war es allerdings schon zu spät. Aus dem Himmel kam ein Licht herab, gleich der Farbe des Ozeans bei Nacht, wenn Schwärme von Lampi und Lanturn ihn erleuchteten. Eine Säule schoss gen Boden genau an seine Position, als habe Arceus einen Richtspruch über ihn gesprochen. Das halbe Kampffeld wurde von Blau und Weiß geflutet, ehe die kleineren Lichter wütend und unbarmherzig auf das Kampfpokémon herabregneten. Sogleich war neuer Staub aus den Rissen und Spalten des verwüsteten Erdreichs emporgeworfen und ließ keine genaue Beobachtung mehr zu. Wie der Spukball direkt hinein rollte und Lucarios Silhouette traf, erkannten jedoch zumindest die Trainer noch mühelos. Dunkle Blitze schossen gen Himmel, als wollten sie das Bombardement von gerade eben trotzig und kampfeswillig beantworten. Schlieren und Zungen von gieriger Geisterenergie schlugen auf. Wie Wellen, die über einen Damm reichten. Oder Feuer, das nach neuen Nährstoffen suchte, um sie zu verbrennen. Die Druckwelle fegte Sand und Staub nicht fort, sondern warf ihn hoch. Dreimal höher als die Körper der Finalisten reichten.

    Auf den Rängen und in der Kabine des Stadionsprechers wurde es laut wie selten an diesem Tag. Was ein Turnaround. Was eine Kraft. Was eine Kombination. Ryan Carparso hatte sich aus dem Würgegriff Bellas befreien können und gleich doppelt, nein, dreifach zurückgeschossen. Mit einer Gewalt, die eigentlich nur von göttlichen, von legendären Pokémon geführt werden sollte.

    Eigentlich konnte, durfte jetzt rein gar nichts mehr dort an der Stelle stehen, wo eben noch Lucario gewesen war. Die dichte Staubentwicklung sowie der Rauch, den Seher hinterlassen hatte, spannten alle Anwesenden jedoch mal wieder auf die Folter. Selbst sein eigenes Pokémon konnte Ryan nur geradeso erkennen. In seinen Ohren lag noch ein Rauschen. Vielleicht vom rasenden Blut seines eigenen Körpers? Angetrieben vom Adrenalin des Kampfrausches? Oder war es der Einschlag gewesen?

    „Guardevoir“, rief er seine Partnerin mit unterdrückter Stimme an. Die Deckung durch diesen Schleier gab ihm die Gelegenheit, etwas auszuprobieren. Also sprach er gerade laut genug, dass sie und sonst niemand ihren würde hören können. Etwas ließ ihm keine Ruhe. Als Seher eingeschlagen hatte, waren seine Augen eisern an Lucario gehaftet und in den zugegebenermaßen kurzen Moment, ehe alles undurchsichtig geworden war, hatte sich er wieder nicht gerührt. Seher hatte offenbar ebenso wenig gewirkt wie Sondersensor. Diese völlige Immunität ergab einfach keinen Sinn. Es war als… als hätte er es hier eigentlich mit einem Unlichtpokémon zu tun. Als wäre das dort gar kein Lucario.

    Bella fuhr mit den Zähnen ihre Unterlippe entlang. Eine Braue war angehoben und sie wirkte nachdenklich. Nicht nervös, eingeschüchtert oder verunsichert. Caraprso fand wirklich immer einen Weg zurück ins Match, wie es schien. Es war ihr einfach nicht möglich, ihn konstant in die Ecke zu drängen. So einen Gegenangriff hatte sie nie zuvor gesehen. Sie warf sich das Haar zurück, während alle spürbar angespannt auf das Resultat jenes Angriffs warteten. Schließlich streckte sie eine Hand zur Seite.

    „Der Rauch gibt ihnen bloß Deckung“, merkte sie nüchtern an. Als hebe sie ein Problem von lediglich geringer Größe hervor. Der Hinweis genügte bereits. Im Zentrum des Kampffeldes wurden, wahrscheinlich durch eine einfache Körperbewegung von immenser Kraft, Rauch und Staub fast bis zur Begrenzung fortgeweht. Der Schiedsrichter erhob schützend einen Arm, behielt den Blick aber aufmerksam und professionell geradeaus gerichtet. Da stand Lucario noch. Sicher hatte manch einer bereits auf sein Fahnensignal gewartet, mit dem Carparso zum Sieger erklärt worden wäre. Aber das Aura-Pokémon hatte kaum sichtliche Schäden davongetragen.

    Die Gestalt des Unparteiischen war allerdings nicht die einzige, die von Lucario offengelegt wurde. Guardevoir tauchte plötzlich direkt über ihm auf. Mit einem hohen Sprung aus der Drehung heraus, wie von einer Eiskunstläuferin. In ihren Händen flackerten bereits feurige Funken, die in Violet getüncht waren.

    „Gibt´s doch nicht, Lucario hat… wow…!“, unterbrach Cay die Analyse, als auch er die Psychodame entdeckte. Gerade rechtzeitig, um sie ihre Hände zusammenführen zu sehen, woraus sich eine farbenprächtige Flammenwalze entlud. Ein Ausweichversuch wurde unternommen, doch Guardevoir traf ihn direkt auf den Torso. Magieflamme warf ihn zurück wie eine brandendende Welle, der er nicht standzuhalten vermochte. Das Fell wurde versengt, sein Atem erstickt.

    „Direkt aus der Deckung kommt Guardevoir mit ihrer Magieflamme daher! Das – tut – jetzt – weh!“

    Das musste es! Feuer war seine größte Schwäche und Ryan hatte die perfekte Lücke gefunden. Endlich hatte er die Oberhand gewonnen. Seine Partnerin hatte hart genug dafür schuften und leiden müssen. Diese gestattete sich dennoch keinen Moment der Ruhe oder Zufriedenheit. Nicht, bevor der Sieg nicht unumstößlich errungen war. Und nun, da sie Lucario so einen Treffer hatte beibringen können, sollte es…

    „Sagt mal, was kann dieses Lucario denn einstecken? Es steht ja immer noch!“

    Die Psychodame blinzelte mit Ryan verblüfft um die Wette. Da stand es. Direkt vor seiner Trainerin. Teile des Fells versengt und schwarz gebrannt. Mit einer faden Armbewegung wurde das letzte Flämmchen beiseite gewischt und erstickt. Eine Feuer-Attacke dieser Stärke aus nächster Nähe nach der Stärkung durch Gedankengut hätte jeden gewöhnliche Stahlpokémon zugrunde gerichtet. Für eines, das von Bella trainiert worden war, hätte es zumindest für eine Vorentscheidung reichen müssen. Nichts dergleichen war der Fall. Lucario stand fest und sicher, schnaubte entschlossen und widerspenstig.

    „Ist das zu glauben? Nach dieser Kombo aus Seher, Spukball und Magieflamme hat Lucario lediglich ´n paar Kratzer! Ich glaub aber kaum, dass Carparso noch größere Geschütze auffahren kann“, äußerte Cay seine Gedanken.

    Ryan reichte es nun endgültig. Erst die Unwirksamkeit von Psychoattacken und nun hielt das Vieh auch noch dem Feuer so einfach stand. Und noch etwas war merkwürdig. Bella hatte eben noch befohlen, den Rauch zu entfernen, um ihm und Guardevoir keine Deckung zu gewähren. Jeder wusste allerdings, dass Lucario in der Lage waren, die Aura eines jeden Lebewesens zu spüren und somit nicht auf ihr Sehorgan angewiesen waren. Streng genommen hätte der Angriff mit Magieflamme nie und nimmer klappen dürfen! Sicher war dies den weiter bewanderten unter den zuschauenden Trainern ebenfalls nicht entgangen und streute Skepsis unter ihnen.

    Der Trainer aus Johto wischte sich den Staub vom Mund und spuckte beiläufig auf den Sand. Er beugte sich etwas und stützte die Hände auf die Knie, während er Lucario und Bella mit messerscharfen Blicken traktierte. Einen Versuch wollte er noch unternehmen. Einen Test noch probieren, um ganz sicher zu sein.

    „Mit dem nächsten machen wir Schluss, Guardevoir. Nochmal Gedankengut.“

    Jetzt musste er darauf setzen, dass Bella diesen Ansatz zu unterbinden gedachte. Eigentlich konnte sie es sich nicht leisten, dass sich die Psychodame noch einmal stärkte. Sie wollte weder ihr Glück noch die Verteidigung ihres Partners weiter auf die Probe stellen. Gab man Carparso nur einen kleinen Finger, riss er schnell mal den ganzen Arm ab.

    „Mach wieder Tempo und nimm Dunkelklaue.“

    Ryan schaffte es geradeso, ein verräterisches Zucken der Mundwinkel, das ihn der Agentin gegenüber womöglich verraten hätte, zu unterdrücken. Sie hatte angebissen. Die ungewöhnliche Attacken Auswahl bestärkte außerdem seinen Verdacht. Selbst jetzt blieb Lucario bei demselben Muster. Zeit, seine Theorie wirklich auf die Probe zu stellen.

    „Schutzschild und dann sofort Zauberschein!“

    Andrew glaubte, in der Übertragung sei ein Fehler passiert. Eine Tonstörung, die Ryans Befehl wie Zauberschein hatte klingen lassen. Eine Feen-Attacke gegen ein Stahlpokémon. Als ob er so blöd wäre. Und das Bild auf dem Monitor schien auch nicht mehr sauber zu funktionieren. Er sah, wie Lucarios Angriff an einer Lichtkuppel abprallte –konnte nebenbei kaum fassen, wie diese unter dem Schlag zitterte – und schließlich, wie unter dem naturgrünen Mantel kleine, sternenförmige Lichter flackerten. Der Schutzschild fiel. Ein weißes Licht löste ihn ab und machte aus den winzigen, jedoch scharfkantigen Sternen pfeilschnelle Geschosse. Sie stachen durch das dicke Fell tief in die Haut Lucarios. Und gänzlich zur Überraschung aller, röchelte jenes und verkrampfte in seiner Haltung. Allerdings nur für einen winzigen Moment. Daraufhin schleuderte der Schein ihn nämlich fort, wie Magieflamme es eigentlich hätte tun sollen. Stärker noch! Das Aura-Pokémon wirkte plötzlich so verletzlich und gebrochen, hatte den Zauberschein rein gar nichts entgegenzusetzen.

    „Seh ich jetzt nicht mehr richtig?!“, fragte Cay und rieb sich tatsächlich die Augen. Mit seiner Verwunderung war er jedoch bei weitem nicht alleine. Wirklich jeder im Stadion, der etwas von den Grundlagen des Pokémonkampfes und somit die genaue Typensituation in diesem Duell verstand, war genauso von der Rolle, wie der Stadionsprecher.

    „Spukball, Seher und Magieflamme konnten dieses Lucario nicht aus den Socken hauen und jetzt schafft Carparso das mit Zauberschein? Hier ist eindeutig verkehrte Welt!“

    Cay vergaß glatt seinen Job, seine – zugegebenermaßen lockere – Professionalität sowie seinen Ton. Er war inzwischen selbst nur noch ein begeisterter Fan beider Trainer, der nicht mehr wusste, wohin mit seinen Emotionen. Das war ihm alles zu konfus.


    Lucario polterte einiger Meter über den Boden und kam dicht vor den Füßen Bellas zum Halt. Die sah entrüstet auf ihn herab. Sie sagte rein gar nichts, seufzte einfach nur. Niedergeschlagen? Nein, sicher nicht. Ryan konnte sich beim besten Willen nicht davon überzeugen, sie hier gebrochen zu haben. Er war doch gerade erst hinter ihre Tücke gekommen.

    Dann legte sie sachte den Kopf in den Nacken. Die Lider waren geschlossen, als würde sie in sich kehren. Ein tiefer Atemzug füllte ihre Lungen, während eine Brise mit ihrem schwarzen Haar spielte. Sowie sie abflaute, sah sie tief in Ryans Augen, welche sie längst auf sich ruhen gefühlt hatte. Ihre eigenen, bersteinfarbenen funkelten voll heißer Begierde. Die, ihn endlich niederzumachen und zu beweisen, dass er weder ihr noch Team Rocket gewachsen war.

    „Du hast es also kapiert.“

    Was genau sich hinter diesem Lucario verbarg, wagte Ryan offen gesagt noch immer nicht zu schätzen. Seine Augen zeigten ihm das berüchtigte Aura-Pokémon, doch der Kampfverlauf sagte ihm, dass es sich auf gar keinen Fall um ein solchen handeln konnte. Aber welches Pokémon vermochte, die Illusion einer anderen Spezies zu erzeugen? Ihm fiel spontan nur Ditto ein, doch dieses konnte sich nur in genau das verwandeln, was es vor sich sah.

    Das vermeintliche Lucario rappelte sich auf. Unter Qualen, unübersehbar, und mit einem wütenden Fauchen in der Kehle. Die Körperhaltung war jedoch sehr gekrümmt und die Arme hingen schlaff gerade runter. Und am unteren Ende vom einem davon flackerte etwas Purpurfarbenes. Wie ein Flämmchen, das seine Pfote einhüllte. Doch was er darunter erblickte, war nicht die Pfote eines Lucario! Schwarzes Fell sah er zwar, aber deutlich wilder, zerzaust und mit drei blutroten Krallen bestückt.

    Seine Lippen formten einen bitteren Fluch, den er jedoch nicht aussprach. Er kannte nur wenige Pokémon aus Einall. Am besten noch die von Terry. Aber diese Klauen würde er jederzeit zuordnen können. Er schloss frustriert die Augen, warf die beklemmenden Emotionen aber rasch mit einem Stoßseufzer ab. Der Johtonese beschwor sich, die Fakten zu akzeptieren, anstatt mit ihnen zu hadern. Konzentrierte sich auf das, was er nun zu tun hatte. Was er noch tun konnte. Er war noch da. Er war weiter im Spiel. Und er wusste jetzt, wie der Gegner zu schlagen war. Kampfbereit und fokussiert erwiderte er den süffisanten Blick Bellas und winkte sie provokant heran.

    „Mach schon. Es reicht langsam.“

    Das befand die Agentin auch. Die Scharrade hatte lange genug gedauert. Sie wollte sich ihrem Widersacher endlich offen und unverhüllt entgegenstellen und dasselbe galt auch für ihren Pokémon Partner. Mit einem simplen Nicken befahl sie, die Illusion fallen zu lassen. Aus dem Augenwinkel heraus wurde das erkannt und mit einem euphorischen Fauchen quittiert. Ein Laut, der ebenfalls nicht zu einem Lucario passte. Auf einmal griff die purpurne Flamme auf den ganzen Körper über. Dies war das letzte Mal, dass jemand hier ein Lucario vor sich sah.

    „Was ist denn jetzt schon wieder los?“, ertönte es fast schon zehrend aus den Lautsprechern. Cay kam auf die Überraschungen und Wendungen nicht mehr klar. Die da unten trieben es echt in jeder Hinsicht auf die Spitze. Bald würde man ihn außerdem irgendwo festbinden müssen, damit er nicht runter zwischen die Zuschauer auf die Tribünen fiel. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal gewagt zu blinzeln?

    Auch Andrew, Sandra und Audrey lehnten sich nun angespannt nach vorn. Es war schlicht nicht zum Aushalten. Nach alldem, was Bella ihnen bereits gezeigt hatte, sollte sich nun herausstellen, dass ihr letztes Pokémon nicht das war, was es zu sein schien?

    Das merkwürdige Feuer erlosch ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Lucario war fort. Vor Guardevoir baute sich ein Raubtier von dunkler Fellfarbe auf. Im Brustbereich war es besonders dicht, doch ließ sich ein schmaler, gelenkiger Körper erahnen. Fast alles bewegte sich farblich zwischen Schwarz und dunklem Grau. Lediglich eine lange, imposante Mähne, die vom Nacken bis zum Schweif reichte, strahlte im selben blutrot wie die Krallen. Die Schnauze war lang und spitz. Bedrohliche Eckzähne blitzten aus dem Maul hervor und azurblaue Augen strahlten voller Wildheit und Gerissenheit. Das Wesen stieß einen Mix aus Fauchen und Heulen gen Himmel. Keines, das Ruby dort oben beeindrucken könnte und dennoch fühlte sie sich von ihm herausgefordert.

    „Ich glaub´s ja nicht“, nuschelte Audrey konsterniert. Melody warf ihr einen nervösen, aber gleichzeitig auch zurechtweisenden Seitenblick zu. Sie spürte einen Anflug von Resignation und Kapitulation. Von dergleichen wollte sie hier überhaupt nichts hören. Völlig egal, was Bella ihnen hier präsentierte, Ryan würde es schlagen. An dieser Überzeugung hielt sie fest. Obwohl sie mal wieder ziemlich ahnungslos über diese Gattung war. Dennoch verzichtete sie darauf, Audrey darüber auszufragen.

    Glücklicherweise erweiterte Cay sodann ihr Wissen.

    „Das is nicht wahr! Déreaux hat uns alle an der Nase rumgeführt, Leute. Lucario war die ganze Zeit über ein Zoroark. Ein extrem seltener Vertreter aus der Einall-Region.“

    Auf diese Enthüllung hin knirschte Terry wütend mit den Zähnen. Er wusste nicht, wann es das letzte Mal ein Mensch geschafft hatte, ihn eifersüchtig zu machen. Geschweige denn, sich von einem dermaßen verhöhnt zu fühlen, obwohl er ihm klar war, dass er in Bellas Gedanken gerade keine Rolle spielte – was ihn ebenfalls ankotzte. Ein Zoroark. Einfach unglaublich.

    „Und für alle die es nicht wissen, dieses Pokémon kennt sich bestens mit Illusionen aus. Jedes Ditto würde neidisch werden“, führte Cay weiter aus und erörterte nun den Hintergrund der vorangegangenen Attacken sowie deren Wirksamkeit. Natürlich hatten Seher und Sondersensor keinen Effekt gehabt, da es sich hier um einen Unlicht Typen handelte. Kein Kampf und auch kein Stahl, weswegen auch Magieflamme deutlich schwächer als erwartet ausgefallen war. Auf der anderen Seite bedeutete dies, dass die Feen-Attacken Guardevoirs nun Gold wert sein konnten. Zauberschein hatte eben schon wehgetan. Noch ein oder zwei Treffer von der Sorte sollten das Match zu Ryans Gunsten entscheiden.

    Der warf sich mit einer Nackenbewegung einer Strähne aus dem Gesicht und schnaubte durch.

    „Letzter Tanz, meine Teure“, kündigte er an, woraufhin sich die Psychodame in ihre gewohnte, anmutige Pose brachte. Sie wirkte jedoch längst nicht mehr so ruhig und elegant, wie zu Beginn. Ihr schmaler Leib fühlte sich an, als könne er jeden Moment entzweibrechen. Doch sie musste durchhalten. Alles hing jetzt von ihr ab.

    Bella schmunzelte heißblütig. In ihren Augen blitzte es. Ein sich anbahnender Kampfrausch spiegelte sich darin. Ebenbürtig dem in Zoroarks azurblauer Iris.

    „Wir müssen uns nicht zurückhalten“, stellte sie süffisant klar, woraufhin sich auf der Schnauze des Raubtiers ein blutgieriges Grinsen ausbreitete, das die Eckzähne entblößte. Seine schlitzförmigen Pupillen waren bedrohlich schmal geworden, als bewege er sich gefährlich nahe am Rand zum Blutrausch.

    Kapitel 65: Schattenspiele


    „Jetzt hat´s mir glatt kurz die Sprache verschlagen. Hundemon ist echt kompromisslos. Hat es sich doch glatt selbst gebissen, um die Verwirrung abzuschütteln? Kann man das überhaupt trainieren?“

    Ryan hatte es nie versucht. Auf die Idee war er durchaus schon gekommen, aber wie er es anstellen sollte, darauf hatte er keine Antwort. Er vermutete einfach, dass Hundemon einen kurzen Moment der Besinnung erlebt hatte – er Effekt von Konfustrahl hielt nicht kontinuierlich, sondern nahm immer wieder zu und ab, schwankte also ein bisschen -, in dem er verblüffend schnell eine Entscheidung hatte treffen können und nicht gezögert hatte, sie umzusetzen. Obwohl sie so radikal war.

    „Jetzt ist die Frage, was Carparso noch mit Hundemon ausrichten kann. So ganz fit sieht es überhaupt nicht mehr aus, ich sag´s wie´s ist“, äußerte Cay seine Skepsis und tatsächlich würden in diesem Moment wohl die wenigsten Zuschauer ihr Geld auf ihn wetten. Aber das war okay für den Johtonesen. Ihren Glauben brauchte der Schattenhund auch nicht. Nur den seinen.

    „Dann drehen wir mal etwas auf“, meinte Ryan und straffte seine Körperhaltung. Jetzt musste er auf´s Gas treten. Und zwar bis zum Boden!

    „Finte, los!“

    Hundemon hechtete nach vorn, doch noch bevor seine Vorderpfoten den Sand wieder berührten, schien er sich in Luft aufgelöst zu haben. Wer zufällig geblinzelt hatte, konnte den Moment des Verschwindens verpasst haben. Bella wusste aber natürlich ganz genau, wie Finte funktionierte. Und auch, wie man sie aushebeln konnte.

    „Doppelteam.“

    Mehrere Nebelfetzen lösten sich aus Kryppuks Geisterkörper und wuchsen zur Größe des Originals heran. Eine Sekunde später öffneten sich giftgrüne Augen und ein breiter, gezackter Mund grinste voll Heimtücke und Hinterlist. Das ganz im Zentrum verpuffte wie eine Illusion, als Hundemon buchstäblich aus dem Nichts auftauchte und sich darauf stürzte. Er knurrte frustriert und drahte den Kopf, versuchte das echte Kryppuk zu finden. Er fand sich selbst wie in einem Geisterhaus vor. Keiner der Trugbilder sah zu ihm. In alle Richtungen schauten sie, außer in seine. Und sie regten sich nicht. Da war keine einzige Bewegung und auch kein Befehl seitens Bella. Für einen kurzen Augenblick vergaß Hundemon beinahe, dass er sich hier in einem Kampf befand. Was hatte das zu bedeuten? Was war los? Ryans Augen huschten hektisch hin und her, versuchten fieberhaft einen Anhaltspunkt zu erkennen, der das echte Pokémon von den Kopien unterschied. Aber selbst er war hier auf verlorenem Posten.

    Dann regten sie die vielen Kryppuks doch. Allesamt gleichzeitig. Langsam drehten sie sich zu Hundemon. Ein Schatten lag über ihrer aller Augen und das Grinsen war so breit und unheilvoll wie nie zuvor. Als hätten sie alle die Gewissheit, dass der Gegner gerade in sein unvermeidbares Verderben rannte und sie mit süßen Schmerzensschreien beschenken würde.

    Da neigte sich Hundemons Kopf etwas auf die Seite. Das Knurren und Grollen war fort. Kein Bellen und kein Fletschen der tödlichen Zähne. Seine Augen schienen die Farbe zu ändern. Da war kaum noch Weiß. Alles schien dem Rot zu weichen. Dem Rot der Hölle, dem Rot des Blutes und vor allem dem Rot der Leidenschaft. Nichts liebte der Schattenhund so leidenschaftlich gerne, wie den Kampf. Und wenn der Gegner so mächtig war, so schmeckte der Sieg umso besser. Er wollte ihn kosten!

    Sollte Kryppuk doch die Finsternis über ihn hereinbringen. In dieser fühlte er sich zu Hause. Er selbst würde dafür die Hölle über den Geist heraufbeschwören!

    Ein Stich bohrte sich in Ryans Brust und versetzte seinem Herzen einen Sprung, wie ein elektrischer Schlag. Er spürte, wie sehr Hundemon es wollte. Wie sie beide es wollten. Er holte tief Luft. Eine Faust ballte sich.

    „Finsteraura!“, schrie er nun mit aller Gewalt aus tiefer Bauchstimme. Sicher hörte selbst jeder in der letzten Reihe noch seinen Befehl. Schwarze und dunkelviolette Schattenenergie löste sich aus dem Boden und tanzten um Hundemon. Selbst aus seinem Fell quoll sie hervor, als verbreite er die Pest. Eine Energiewelle türmte sich auf und überflutete das gesamte Kampffeld mit der Nacht. Nicht bloß die Hälfte und nicht bloß in eine Richtung. Nein, in alle verteilte er seine verheerende Unlicht Energie. Vor diesem Angriff gab es kein Entkommen. Für keines von Kryppuks Trugbildern. Ihnen allen wurden das widerliche Grinsen aus der Visage gewischt. Ach was, ihr Antlitz wurde im wahrsten Sinne davongefegt. Die Geisterkörper zerstreuten sich in alle Winde – bis auf einen. Klang es sadistisch, dass es sich gut anfühlte, Kryppuk endlich einen Schmerzensschrei entlockt zu haben?

    Ryan blieb gar keine Gelegenheit, darüber zu spekulieren, ob er Freude empfinden sollte. Die wäre sogleich wieder verflogen, als sich ein dunkler Energiering aus dem Boden erhob und Hundemon einschloss. Der Schattenhund beachtete diesen gar nicht, sondern fixierte stur und zielstrebig das Geistpokémon vor ihm, das sich gerade noch schüttelte und fluchte. Der tatsächliche Fluch lag aber auf Hundemon und entlud weitere Schattenblitze in seinen Körper.

    „Hundemon hält sich echt wacker und kann selbst in dem Zustand noch übel austeilen. Trotzdem muss sich Carparso was aus dem Ärmel leiern. Die Uhr tickt!“

    Und zwar nicht gerade führ ihn. Hundemon hatte schon keine Luft zum Schreien mehr. Er knurrte bloß noch gegen die Schmerzen an. Aber seine Beine zitterten immer stärker. Der nächste Schlag könnte bereits seine Muskeln lähmen und das endgültige Aus bedeuten.

    Gegenwärtig fiel Ryan jedoch nicht viel mehr ein als den Druck aufrecht zu halten. Die Reaktion eben verreit, das Kryppuk ebenfalls langsam müde wurde. Er benötigte weit mehr Zeit, um Hundemons Attacken wegzustecken.

    Er befahl rasch Flammenwurf. Setzte darauf, dass er noch immer das schnellere Pokémon auf seiner Seite hatte.

    „Schattenstoß!“, rief Bella hierauf mit einer wegwischenden Bewegung. Langsam hatte sie echt genug. Der Kampf ging ihr bereits zu lange.

    Einer wütende Feuerbrust ging ins Nichts. Das Ziel war im Boden verschwunden und schoss mit rasanter Geschwindigkeit auf seinen Gegner zu. Hier sog der blonde Trainer auf der Gegenseite rasch Luft ein. Dieselbe Angriffsbahn wie vorhin!

    „Achtung, es kommt von links!“

    Sein göttliches Auge ließ ihn wirklich nie im Stich. Hundemon war nicht mehr in der Lage, dem Angriff auszuweichen, konnte aber seinen Körper drehen und vermeiden, erneut an der verwundeten Flanke getroffen zu werden. Stattdessen kam es zu einem bizarren und wortwörtlichen Kopf an Kopf. Kryppuk stieß auf ein Paar gebogener Hörner. Einen guten Meter vermochte er Hundmeon zu bewegen und vor sich her zu schieben. Doch der fuhr die Krallen aus und fand Hand im weitestgehend lockeren Untergrund und hielt stand.

    „Jetzt Knirscher, los!“

    Und auf einmal war Kryppuks Gaskörper durchaus greifbar. Um nicht zu sagen angreifbar. Der Schattenhund biss auf etwas Zähes, Geschmackloses. Und sofort wurde dies mit wütenden Klagelauten quittiert. Seine Kiefer schmerzten. Dennoch biss er nach, zerrte, malmte. Der Kampf artete in rohe Gewalt aus. Auf den Rängen schien man sich nicht einig, wie man über den Anblick zu empfinden hatte. Hier jubelte man, dort schlug man die Hand vor den Mund und wieder woanders schlug man die Hände über dem Kopf zusammen. Cay schwieg zu Abwechslung. Wohl zum ersten Mal in diesem Finale.

    Nicht nur Hundemon, auch Bella knirschte mit den Zähnen. Das Biest war weit zäher als sie gedacht hatte. Zum ersten Mal kamen ihr Zweifel, ob Kryppuk diese Runde überstehen würde. Unabhängig davon, ob sie den Gesamtsieg in Gefahr sah. Und da musste sie mit ansehen, wie sich ein Fetzen blassvioletter Geistermasse vom Körper löste, als habe Hundemon es herausgebissen. Sofort löste es sich zwischen seinen Zähnen auf, als habe er nach Nebel geschnappt. Kryppuk ging dagegen zu Boden und zappelte, versuchte sofort wieder Höhe zu gewinnen, doch kam er im ersten und auch zweiten Versuch bloß auf Kniehöhe.

    Das würde Bella nicht vergessen. Erst Absol und jetzt Kryppuk. Der junge Trainer schien vor nichts mehr zurückzuschrecken und war sogar bereit, ihre Pokémon schwer zu verletzen. Verurteilen tat sie das nicht. Konnte sie auch nicht. Auf sie selbst traf das ja ebenfalls zu. Jedoch musste sie gestehen, dass sie Carparso falsch eingeschätzt hatte. Sie hatte geglaubt, er würde starker an seinen Prinzipien festhalten. Leider würde das noch nicht ausreichen. Nicht für sie und schon gar nicht für alles, was sehr bald folgen würde.

    „Jetzt reicht´s aber“, wisperte sie aufgescheucht, angestachelt. Rache war etwas für Menschen, die ihre Emotionen nicht im Griff hatten. Seit Jahren hatte sie das Prinzip hiervon aus ihrem Leben verbannt. Aber sie sah kein Problem darin, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, um einen Sieg zu erringen. Und Kryppuk musste sie – das war gewiss – nicht weiter motivieren. Der verfluchte Geist drehte sich. Seine Augen schienen von Giftgrün zu Höllenrot zu wechseln. Nicht buchstäblich, sondern umgangssprachlich. Aber keineswegs weniger furchterregend. Die Zeit der Spielchen war aus. Bella fand bereits ihr Lächeln wieder, doch war es nicht dasselbe wie zuvor. War deutlich bestialischer.

    „Spukball, bring ihm das Fürchten bei.“

    Furcht? Vor der Dunkelheit? Vor der Hölle? Vor Kryppuk? Nicht mit ihm. Nicht mit Hundemon.

    „Die können uns nichts beibringen“, spie Ryan aufmüpfig, was mit einem Schnauben des Schattenhundes befürwortet wurde.

    „Deinen Spukball dagegen!“

    So mündete dieser stürmische, gnadenlose Kampf nach all seinen Wendungen und seiner Dramatik in einen offenen Schlagabtausch. Ein Kräftemessen zweier Kreaturen der Nacht. Beide erschufen einen dunklen Energieball und füllten ihn mit all er Finsternis, die ihre Körper noch hergeben konnten. Die schwarzen Blitze, die sie umspielten, zuckten und knisterten lauter als eine Hochspannungsleitung. Unter den kämpfenden Pokémon vibrierte der Boden. Die Trainer fühlten ein erdrückendes Surren in der Brust, wie ein paralysierendes Beben. Keiner konnte mehr einen Schritt machen oder einen Ton sagen. Selbst die Luft hielten sie an.

    „Oh, Achtung. Da unten knallt´s gleich richtig böse!“, ahnte Cay bereits und verwies auf die Größe der Spukbälle als könne er seinen Augen nicht trauen.

    Kryppuk war für Ryan kaum noch zu sehen. Die Energiekugel verdeckte seinen Körper fast vollständig. Hundemon stand dem aber in nichts nach. Bei dem Anblick wünschte Melody sich zum ersten Mal, etwas auf Abstand gehen zu können.


    Sie feuerten gleichzeitig. Die Vibration brachte die Erde tatsächlich zum Erzittern. Schattenblitze schlugen auf ihrem Weg in den Boden und sprengten ihn auf wie Landminen. Die Kollision erfolgte genau in der Mitte des Feldes. Ein Lichtschwall fegte durch das Stadion, doch blieb die erwartete Detonation sowie die Druckwelle aus. Fast sah es so aus als zogen sich beiden Energiemassen gegenseitig an, würden sich vielleicht gar vereinen. Doch die Trainer hatten keine Geduld mehr. Der große Knall stand bevor und er würde das Prime Stadium in seine Grundfesten erschüttern.

    „Hitzekoller!“

    „Finsteraura!“

    Das war Ryans und Hundemons letzte Chance. Wenn dieser Hitzekoller Kryppuk nicht das Handwerk legte, würde es keine von seinen Attacken mehr schaffen. Auf der anderen Seite war man sich ebenfalls bewusst, dass der Groschen hier und jetzt fallen würde. Es wurde nichts mehr zurückgehalten. Kryppuks Körper sonderte solche Massen an dunkler Schattenenergie ab, dass er darin fast ertrank. Er schien mit ihr zu verschmelzen. Wütende Böen kündigten das Chaos an. Wenn Darkrai je eine Hölle erschaffen hatte, dann würde man sie sich so vorstellen. Ein schwarzer Sturm – anders war das nicht zu betiteln. Dagegen stand ein regelrechter Vulkanausbruch. Gleißend wie die Sonne und zumindest dem Empfinden der Anwesenden nach auch annähernd so heiß, feuerte Hundemon seine letzten Reserven ab und erhellte das Kampffeld. Ungesehen und unerkannt von alle den Leuten zeichnete sich ein dunkelvioletter Lichtring am Boden ab. Dieser entlockte ihm nicht mal ein Blinzeln oder Zucken. Man könnte glatt annehmen, er bemerke ihn gar nicht. Doch Hundemon konzentrierte sich einfach nur stur auf den Angriff. War fast wie von Sinnen. Seine Pupillen waren verschwunden und man könnte nur schwer beurteilen, ob das Rot in den wilden Augen seines war oder der flammende Schein um ihn herum bloß trog. Selbst als der Ring schwarze Blitze auf ihn schoss, entlockte es keine Reaktion seitens des Schattenhundes. Einfach nur Feuer speien und dem Sturm der Nacht standhalten, der ihn zu verschlingen versuchte. Nein, ihn niederbrennen wollte er!

    Ein Flammenmeer und eines aus schwarzer Pest preschten aufeinander. Uneins und vor allem uneinsichtig, wessen Macht zerstörerischer war, hielten sie sich die Waage. Und genau dazwischen drohten die Spukbälle zu detonieren. Wie in aller Welt konnte das eigentlich noch nicht geschehen sein? Um das eventuell beantworten zu können, müsste man sie erst einmal sehen können. Selbst Ryan und Bella vermochten das nicht länger. Sogar ihre eigenen Pokémon sahen sie nicht mehr. Sie waren blind und machtlos, konnte ab hier lediglich ihre Hoffnungen und ihr Vertrauen in die Stärke ihrer Partner setzen.

    „Ich pack´s nicht, woher nehmen die zwei noch diese Kraft?“, hörte man gerade so noch einen fassungslosen Stadionsprecher staunen, obwohl der aus voller Kehle schrie. Jetzt hieß es warten und bangen. Für Zuschauer und Trainer.

    Allzu lange musste man jedoch nicht auf den unausweichlichen Knall warten. Hundemon und Kryppuk verließen fast gleichzeitig die Kräfte. Der Angriff endete auf beiden Seiten. Für eine einzige Sekunde wirbelten Schatten und Flammen um die aneinanderhaftenden Spukbälle, als würden sie aufgesogen. Dann wurde die Luft von einem ohrenbetäubenden Knall zerfetzt. Eine Bombe musste in der Mitte des Kampffeldes gelegen haben. Ein jeder Zuschauer wurde in den Sitz gedrückt und ein Stoß ging durch die Brust als sei man kerzengerade auf den Rücken gefallen. Das tat richtig weh. Ryan und Bella mussten sich gegen die Druckwelle stemmen und die Augen schützen. Es war schlicht nicht möglich, den Blick aufrecht zu erhalten. Noch weniger als in einem Blizzard oder einem Sandsturm. In den Ohren piepte es alarmierend. Das Trommelfell klagte erbost und empört über den Lärm.

    Und nichts von alldem war von irgendeiner Bedeutung für die Finalisten. Sobald es nur wieder irgend möglich wurde, musste das Kampffeld inspiziert werden. Es war die reinste Verwüstung. Sand sah man längt keine mehr. Der war weitestgehend bis zur Unkenntlichkeit zerstreut worden. Lediglich am Fuß der Betonmauer sah man noch ein paar Häufchen. Der Lehmboden, auf dem man hier nun stand, war porös und rissig, hatte diverse Schlaglöcher und Spalte davongetragen und in der Mitte hatte sich eine schwarze Mulde gebildet, in der man bis zu den Knien einsinken würde.

    Am Rande dieser fand man zwei dunkle Geschöpfe vor. Einen blassvioletten Geisterkörper auf der einen Seite, der… der tatsächlich stöhnend und röcheln in die Schwebe über ging. Sichtlich geschunden, wankend und unsicher. Brandspuren zierten seinen Leib, von dem noch immer Asche sowie losgelöste Fetzen von Geisteressenz herabrieselten. Als würde sein Körper zerfallen. Der Anblick war geradezu erbärmlich. Und doch grinste er schwach, fast benebelt, mochte man meinen.

    „Da ist Kryppuk! Es ist noch nicht am Ende!“

    Und auf der anderen Seite sah man ein schwarzer Hund mit zwei gebogenen Hörnern auf den Kopf. Dieser lag jedoch kraftlos auf dem Boden, das Maul geöffnet und die Zunge schlaff heraushängend. Schwarze Blitze zuckten noch um seinen Torso und violetter Rauch löste sich aus dem Fell. Die Spuren von Kryppuks Geist sowie Unlicht Energie. Etwas in Ryans zog sich unangenehm zusammen und er biss sich so stark auf die Unterlippe, dass sie fast blutete.

    „Hundemon…!“

    Cay blieb das Wort im Hals stechen. Als könne er es genauso wenig glauben, was seine Augen ihm weißmachen wollten. Doch es war Tatsache. Einige im Publikum begannen – noch vorsichtig und verhalten – zu jubeln. Bis der Schiedsrichter es amtlich machte.

    „Hundemon ist kampfunfähig. Die Runde geht erneut an Kryppuk!“

    „Ich glaub´s ja nicht, Déreaux dreht das Ding und geht in Führung.!“

    Da brach der lauteste Beifall des gesamten Tages los. Kryppuk hatte tatsächlich wieder gewonnen und Bella somit in Führung gebracht. Bestimmt trugen auch einige von Ryans Fans einen Teil dazu bei. Hier musste einfach jeder Einsatz, jeder Angriff und jedes strategische Geschick beklatscht werden, selbst wenn es von der Gegenseite kam. Egal für wen man hier hoffte und Daumen drückte – längst hatten beide Finalisten den Respekt aller Zuschauer.

    Wer jedoch in bitterem Schweigen festsaß, das waren Audrey und Melody. Das letzte Aufbäumen Hundemons, sein tapferer finaler Angriff, er war nicht belohnt worden. Er hatte verloren und die Trainerin aus Rosalia kannte dieses Pokémon gut genug, um zu wissen, wie sehr das an ihm nagen würde, wenn er im Pokémoncenter wieder zu sich kam. Vergebens sollte sein Einsatz aber nicht bleiben. Eher würde der Schattenhund Eis statt Feuer speien, als dass Ryan seinen Einsatz nicht zu würdigen wusste.

    Eben dieser sprach bloß in Gedanken einige Worte der Dankbarkeit. Honorierte der Leistung im Stillen. Es waren nur wenige Worte, doch so aufrichtig, wie man sie nur meinen konnte. Vor Bella wollte sich Ryan jedoch nicht die Blöße geben, zu lange im Moment des Rückschlages festzusitzen, sondern ihr zeigen, dass er noch immer nach vorne blickte, nach vorne ging und an den Sieg glaubte.

    „Carparso hat nur noch ein Pokémon in Petto. Jetzt bin ich gespannt, mit wem er dieses Kryppuk auf die Bretter schicken will.“

    Es gab keine große Auswahl mehr. Am allerliebsten hätte er auf Rubys Kraft zurückgegriffen, doch hier galt es erst einmal, ihr seine eigenen und die seiner Partner zu demonstrieren. Und zu beweisen, dass er ihrer Unterstützung auch würdig war.

    Er ließ seine Hand einige Sekunden in der Pokéballtasche an seinem Gürtel verweilen. Er schien mit ihnen zwischen den Fingern zu spielen, während er mit scharfen Augen Kryppuk musterte. Nein, nicht den Geist sah er an, sondern Bella. So meinte zumindest die Agentin zu erkennen. Sie wusste den Blick allerdings nicht einzuordnen. Wenn er sich kein anderes Pokémon in Center angefordert hatte, gab es eigentlich nichts mehr bezüglich seines letzten Kämpfers zu grübeln. Was überlegte er also? Was ging ihm durch den Kopf? Er neigte den Kopf leicht zur Seite, Bella merkte er nach einigen Sekunden, dass sie der Geste folgte. Sie blinzelte verdutzt. Fast hätte sie sich geschüttelt, um ihre Gedanken zu sortieren, beließ es aber bei einem möglichst dezenten und unauffälligen Durchatmen. Ryan richtete sich wieder gerade auf. Mit einer flotten Bewegung aus dem Handgelenk zog er eine Ballkapsel aus der Tasche und vergrößerte sie.

    „Hier kommt es!“, johlte Cay bereits voller Vorfreude, wie im Moment des ersten Falls bei einer Achterbahnfahrt. Obwohl der Johtonese es arg hinausgezögert hatte, blieb eine Überraschung aus. Die weiße Silhouette, die dort unten erschien, war erst zusammengekauert, wie im Schlaf während einer kalten Nacht. Langsam erhob sie die humanoide Gestalt, grazil und anmutig, bis sie plötzlich so hoch wie Ryan ragte. Das Licht schwand. Der schlanke Körper drehte sich einmal auf der Achse und die ebenso schmalen Arme schwangen elegant mit, wie bei einer Tänzerin. Dann vollführte sie einen Knicks, um alle hier Anwesenden zu grüßen. Dann sang sie laut ihren Namen.

    „Es ist Guardevoir!“, brüllte Cay offenbar sehr erfreut über den Anblick. Die Mehrzahl der Zuschauer schloss sich an. Sie alle hatten bereits viel Freude an diesem Pokémon gehabt, hatten sogar bei ihrer Weiterentwicklung zugesehen. Die Psychodame war selten in erste Bedrängnis gerate, doch nun würde sie ihrem mit Abstand stärksten Gegner entgegentreten.

    „Das Duell lautet Guardevoir gegen Kryppuk“, kündigte der Schiedsrichter gewohnt routiniert an. Der Stadionsprecher erklärte noch kurz, wie die Typenverhältnisse aussahen. Besonders mit seinen Geist-Attacken würde Kryppuk seiner Gegnerin sehr übel mitspielen können, musste sich aber gleichzeitig vor allen Angriffen des Typs Fee enorm in Acht nehmen. Wobei eigentlich jede Attacke nun sein Aus bedeuten könnte. Seines erschöpften Zustandes ungeachtet grinste der Geist aber wieder breit und hinterlistig. Wie ein wahnsinniger, der vergessen hatte, dass er zu Boden gehen konnte – und bald auch würde.

    Aber so weit war Hundemon auch schon gewesen. Ryan durfte nicht den Fehler machen, sich hier bereits als Sieger zu sehen und auf einen raschen Sieg zu drängen. Nicht zu sehr, wenigstens. Er kämpfte hier nicht gegen irgendjemanden. Immer nur den nächsten Schritt, nicht den gesamten Weg bedenken.

    „Beginnt!“, ertönte es laut von der Seitenlinie. Bella spreizte die Beine und nahm eine ausbalancierte Kampfposition ein, als würde sie selbst gleich auf das Feld sprinten. Das hatte sie vorher noch nie getan.!

    „Vorwärts, Spukball!“

    Kryppuk ließ sich diesmal weit weniger Zeit. Registrierte, dass seine Trainerin Druck ausüben und Tempo machen wollte. Die Kugel aus dunkler Geisterenergie erreichte daher durchschnittliche Größe, doch knisterten die Schattenblitze so laut wie bei dem gewaltigen Geschoss davor. Ryan reagierte darauf unerwartet passiv, ordnete monoton Gedankengut an. Guardevoir atmete tief ein, führte die Fingerspitzen aneinander als wolle sie beten und schloss in aller Seelenruhe die Augen. Eine irrwitzige Idee angesichts was dort auf der anderen Seite des Kampffeldes wartete.

    Oder eher zum Angriff blies. Mit dem Warten war es aus. Auf eine rasche Korrektur Bellas hin, die Ryan nicht so einfach gewähren lassen wollte, ging Kryppuk in ein regelrechtes Dauerfeuer über und feuerte eine ganze Salve von Spukbällen ab. Woher nahm dieses Monster noch die Energie dafür? Wie ging das überhaupt in dem Tempo? Andrew hatte das mit Magnayen andauernd geübt und war nicht einmal nahe an das herangekommen, was Guardevoir da entgegenflog. Doch die Psychodame schien das nicht einmal zu bemerken. Ihr Umfeld war völlig ausgeblendet. Ebenso der Lärm. Nur ein einziges Geräusch erklang in ihren Ohren. Der eines einzelnen, unscheinbaren Wassertropfens, der in einen stillen See fiel. Er verursachte keine Welle.

    Der erste Spukball zielte genau auf den Kopf. Wer die tänzerischen Fähigkeiten dieses Pokémons noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte, hätte den Treffer bereits für unausweichlich befunden. Im allerletzten Moment ging sie jedoch in eine tiefe Position und bildete ein wahnsinniges Hohlkreuz. Das sah fast unnatürlich aus. Als habe sie nicht einen Knochen im Torso. Selbigen warf sie gleich zur Seite und ruderte mit den dünnen Beinen, die so selten unter dem Körperschleier hervorschauten, schwungvoll nach, um den nächsten Beiden auszuweichen und die Position zu wechseln. Dies war ein deutlich temperamentvollerer Tanz als man es von ihr gewohnt war. Aber der Gegner war ja auch nicht wie die vorherigen.

    Zwei Spukbälle flogen noch. Guardevoir nahm den Schwung aus dem Ausweichmanöver mit und ging in eine elegante Drehung. Was sie nun vollführte, war weder von Ryan befohlen noch von ihm trainiert worden. Geschweige denn hätte irgendeiner hier das, was sie da tat, für machbar gehalten. Nicht bei diesem Kryppuk. Ein Arm wurde ausgestreckt. Direkt in die Flugbahn der knisternden Energiekugel hinein. Das filigrane Psychopokémon riss sie mit sich auf die Seite und absorbierte den Druck mit ihrer telekinetischen Kraft. Sofort fuhr sie den anderen Arm auf und fing auch den nächsten. Eine weitere Drehung nahm sie noch mit, ehe Guardevoir stoppte und auf einmal stand sie mit Kryppuks Spukbällen in den Handflächen da.

    „Was war das denn? Das hab ich ja noch nie gesehen!“, ächzte Cay heißer, nachdem ein ehrfürchtiger Moment der Stille vergangen war. Zuschauer sprangen auf, applaudierten – Melody mal wieder als erste und am lauteste –, sahen sicherheitshalber ein zweites und drittes Mal hin. Die hatte den Angriff doch nicht ernsthaft einfach so aufgefangen?

    Demonstrativ rotierte Guardevoir die Geisterenergie in ihren Händen und glitt elegant über das verwüstete Kampffeld. Diese dunklen Energien nannte auch sie selbst ihre Waffen. Und sie hatte bereits lange bevor Ryan ihr Trainer wurde, damit geübt. Tag für Tag.

    Ryan konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Hätte er nur einen Moment lang Augen für Bella gehabt, wäre es wohl so breit geworden, dass seine Wangen bis morgen schmerzen würden. Die Agentin sah aus als habe man ihr einen furchtbar schlechten Witz erzählt. Die konnte tatsächlich nicht fassen, was sie da sah. Doch der Blonde nahm sich ein Beispiel an seinem Pokémon und wahrte die Konzentration. Der Moment war zu kostbar, die Chance zu groß, um ihn an sie zu verschwenden.

    „Zurück zum Absender, Guardevoir.“

    Den ersten warf sie ansatzlos auf dem Handgelenk. Den zweiten nach einer weiteren Drehung, dafür mit mehr Wucht. So holte er zum ersten auf und beide würden zur selben Sekunde ihr Ziel finden. Wenn das Ziel denn mitspielen würde.

    „Schattenstoß!“

    Gerade rechtzeitig, keinen Sekundenbruchteil später als Guardevoir eben noch, wich Kryppuk gen Boden aus und flitzte dort als schwarzer Schatten umher. Die gleich darauffolgende Explosion, als die Spukbälle auf dem Feld detonierten, ließ glatt vermuten, dass Kryppuk sie selbst in diesem geisterhaften Zustand spüren müsste. Dem war leider nicht so. Diese Tempo Attacken nahmen Ryan wirklich viel Wind aus den Segeln. Aber zum Stillstand zwangen sie ihn nicht.

    „Schutzschild, sofort.“

    Der verfluchte Geist war bereits wieder aufgetaucht und hatte seine natürliche Gestalt angenommen – zuzüglich den schwarz-violetten Schleiers um seinen Gaskörper –, noch bevor die schützende Lichtkuppel erschaffen worden war. Ein Blinzeln war lang und träge im Vergleich zu der Zeit, die für deren Errichtung benötigt wurde. Kryppuk prallte an dem naturgrün schillernden Schild ab, wie an einer Betonwand und überschlug sich rückwärtig.

    „Jetzt Magieflamme!“

    Guardevoir griff nicht übermütig von vorne an. Das viele Training in den Wäldern hatte ihr ein sehr gutes Gespür für den sogenannten Rhythmus eines Kampfes verliehen, von dem Ryan bereits in ihren ersten Trainingsstunden gepredigt hatte. Und dieser hier verriet ihr, dass sie in Bewegung bleiben, aus den kritischen Winkeln heraus zuschlagen musste. So tänzelte sie mit zwei sehr flinken Schritten an Kryppuk vorbei und ward plötzlich hinter ihm, einen Arm ausgestreckt, sodass er ihn fast berührte. Nur eines ihrer Augen lugte und dem blauen Haar hervor und blitzte klug und scharfsinnig auf. Ein kurzer, fast tadelnder Laut, als wolle sie den Gegner belehren, verriet dem Geist, dass er ohne den Schattenstoß langsam wurde. Zu langsam. Aus ihrer Handfläche sprühte ein violetter Funke. Die Farben der Dämmerung ruhten bei ihr, wurden zu tanzenden Flammenzungen und schließlich einer lodernden Feuerbrunst. Das Violett darin machte Kryppuks Körper beinahe unkenntlich, als sie ihn verzehrte.

    „Wow, da ist wieder die Konterstärke von Carparso. Kryppuk beißt bei Guardevoir bislang voll auf Granit.“

    Hätte dieses verdammte Geistpokémon ihm nicht so übel mitgespielt, würde Ryan glatt etwas Mitleid empfinden. Jämmerliche Klagelaute sowie erschütterndes Gebrüll, wie von einem verwundeten Raubtier hallten aus dem Feuerball. Das Echo machte im ganzen Innenraum des Stadions die Runde. Bella schnaubte missmutig, aber auch schuldbewusst. Was ließ sie ihn auch wieder seine bevorzugte Strategie kämpfen? Carparso brauchte die Kontrolle gar nicht zurückgewinnen. Die Agentin warf sie ihm gerade mit beiden Händen zu. Aber hatte sie denn jetzt noch den Spielraum, um mit Kryppuk die Strategie zu wechseln? Nicht in dem Zustand. Jetzt konnte sie nur noch eine Karte ausspielen. Aber zunächst musste sie sich etwas Luft verschaffen.

    „Befrei dich mit Finsteraura!“

    Das Wehklagen stoppte. Machte einem energischen und unnachgiebigem Grunzen Platz. Dem Rot und Violet, das seinen Körper verbrannte, mischten sich Schlieren aus Schwarz unter. Weit schwächer und weniger zerstörerisch als zuvor demonstriert, doch es genügte, die Flammen von sich zu stoßen. Sie verpufften in der Luft, sandten eine Welle ihrer Hitze bis zu den vorderen Zuschauerplätzen. Melody war wohl die Einzige, die nicht zurücksteckte. Guardevoir sollte sich mit Lichtschild verteidigen und gab für die Erschaffung dessen sogar ihre anmutige Haltung ein wenig auf. Die musste sich echt dagegenstemmen. Dass sie die Finsteraura selbst jetzt noch durch die schützende Wand hindurch noch so stark spürte… einfach Wahnsinn. Kryppuk nahm eine feste Schwebe ein und drehte sich bereits nach ihr um. Jetzt würde sie bezahlen!

    „Schnell, Leidteiler!“

    „Volle Kraft jetzt, Mondgewalt!“, beantwortete Ryan die Trumpfkarte Bellas. Ein Dutzend verschiedener Gedanken rasten alle auf einmal durch deren Kopf. Doch ein gehässiges Grinsen nahm seinen Platz auf ihrer sonst so makellosen Visage ein. Das wellige Haar tobte bei der ruckartigen Bewegung ihres Nackens kurz auf. Jetzt würde sie ihn endlich brechen!

    Aus Kryppuks Körper krochen Ranken heraus. Sofort waren sie im Anschlag und bereit, sich in ihr Opfer zu bohren. Doch dort, wo eben noch eine goldene Energiewand aufgeblitzt war, fand der verfluchte Geist rein gar nichts. War sie schon wieder zur Seite getanzt? Kryppuk drehte sich weiter. Von hier an nahm er die nächsten Sekunden wie in Zeitlupe wahr. Aus dem Augenwinkel stach eine schlanke, humanoide Gestalt heraus. Er riss den Blick hinauf. Sie war über ihm, jedoch kaum mehr als eine dunkle Silhouette. Sie befand sich im Gegenlicht einer gewaltigen Energiekugel, hell leuchtend wie der nächtliche Vollmond und groß genug, um Ryans Sumpex darin einzuhüllen. Lediglich Guardevoirs Augen blitzen fast ebenbürtig zu ihrer Mondgewalt auf, nur einen Moment, bevor sie selbige auf ihren Gegner wuchtete. Da durchstach auf einmal ein widerlicher Schmerz ihren Torso. Sie wagte nicht, den Blick von ihrem Gegner abzuwenden, doch wusste sie genau, dass eine der Ranken gerade ihren Rumpf durchbohrte und gierig an ihren Kräften zerrte. Genau in diesem Moment verabschiedete sie sich von der Illusion eines tadellosen Tanzes. Diese Darbietung war ruiniert. Ihre Grazie ins Wanken geraten. Ein Fehltritt, der die Perfektion zunichte machte.

    Doch zum ersten Mal schob sie die zerbrechliche Attitüde beiseite und machte Platz für ihren Kampfgeist. Hier ging es nicht um Anmut. Wenn man ein Kampffeld betrat, existierten nur Sieg und Niederlage. Und Ryan hatte sie sowie alle anderen siegeshungrig gemacht. Dafür war sie auch bereit, ihre Eleganz aufzuopfern.

    Ein bebender Ruf wie bei einer Opernsängerin begleitete ein Einschlag. Die Dämmerung dieses Sommertages wurde unterbrochen. Es herrschte wieder Mittag und die Sonne war der Erde um ein geradezu verheerendes Stück näher gekommen. Ihr Licht legte sich über das Stadion und hüllte alles in Weiß. So stark, dass niemand mehr hindurchzusehen vermochte. Ein piepender Ton lag in Ryans Ohr. Erinnerte ihn ein wenig an das Auftauchen von Latios und Latias, als sie ihn und den Rest von Milas Gruppe aus Bellas Hinterhalt gerettet hatten. Doch hier verflog der Lichtschein viel schneller wieder und hinterließ völlige Stille. Guardevoir landete sanft von ihrem Sprung, wie von einem Windhauch getragen, wo sich normale Tänzerinnen die Knöchel gebrochen hätten. Sie machte eine fegende Bewegung mit beiden Händen und reckte stolz die Brust raus. Hinter ihr lag Kryppuk völlig bewegungslos am Boden. Sowohl Zuschauer als auch Stadionsprecher atmeten bereits tief ein, wagten aber nicht ihre Stimmen zu erheben, bevor der Ausgang offiziell war.

    Es brauchte nur zwei Sekunden. Keine Zweifel waren übrig. Eine Fahre wurde in Ryans Richtung gereckt.

    „Kryppuk ist kampfunfähig. Die Runde geht an Guardevoir!“

    Audrey hatte bereits mehr als einmal geglaubt, den Zenit der Lautstärke dieses Stadions erlebt zu haben. Dieser Jubel toppte es aber nochmal. Melody stand neben ihr auf ihren Sitz, hatte beide Fäuste geballte und sandte scheinbar einen Dank in den Himmel – zu wem auch immer – dafür, dass dieses verfluchte Kryppuk endlich geschlagen war. Und obendrein hatte Ryan es entgegen aller Erwartungen doch schnell geschafft. Damit hatte er nicht einmal selbst gerechnet. Der Lärm allerdings prallte wieder an ihm ab. Es wäre kaum eine Übertreibung, wenn er behauptete, er nahm ihn gar nicht wahr. Sein Blick hing an dem ohnmächtigen Pokémon, das ihn so viel Mühe und in diesem Finale gleich zwei seiner eigenen Kämpfer gekostet hatte. Eine Hand wanderte nochmals vorsichtig an den Gürtel, wo seine Pokéballtasche befestigt war. Klammerte sich durch das feste Material hindurch an den von Hundemon. Sein Einsatz war nicht umsonst gewesen. Ohne seine Vorarbeit wäre Guardevoir niemals so glimpflich an Kryppuk vorbeigekommen.

    Dennoch war der Blick unerwartet ausdrucklos. Weder Erleichterung noch Zuversicht las man darin über die Kameras, was Andrew und Sandra verblüffte. Aber auch negative Emotionen, sprich Flüche oder Verwünschungen suchte man vergebens, obwohl man es ihm kaum vorwerfen könnte, wenn er dieses Kryppuk selbst noch einmal zusätzlich verfluchte. Zumindest in einem emotionalen Moment, während man noch auf dem Kampffeld stand, war das vertretbar. Sobald man es verließ und sich das Gemüt beruhigte, war derlei Missgunst verflogen. In der Regel zumindest. Wenn man es mit irgendeinem beliebigen Gegner zu tun hatte. Selbst bei Terry war das immer der Fall gewesen. Aber bei einer Agentin von Team Rocket war das durchaus infrage zu stellen.

    Von solchen Spekulationen abgesehen, waren die beiden Johtonesen in den Katakomben dermaßen erleichtert, dass es für Ryan mit reichte. Andrew stützte sich auf die Knie wie nach einem Marathon. Sandra daneben musste all ihre Selbstbeherrschung abringen, um Haltung zu wahren. Aus reiner Selbstdisziplin verstand sich. Doch auch ihr rann der Schweiß die Schläfe herab und ihr Nervenkostüm wurde völlig neuen Strapazen ausgesetzt. Sie fühlte sich, als habe sie gerade stundenlang Holz gehackt, so sehr machte sie das Zusehen fertig.

    „Alter“, stöhnte Andrew neben ihr, als er sich wieder aufrichtete und die Hände in die Seiten stemmte.

    „Aus welcher Hölle hat die dieses Kryppuk eigentlich ausgegraben?“, fragte er mehr sich als Sandra mit einem abschließenden Gedanken an das geschlagene Pokémon, das eben zurückgerufen wurde. Die Arenaleiterin ordnete die Frage als rhetorisch ein und ließ sie daher unbeantwortet. Lieber richtete sie den Blick nach vorne.

    „Absol war schon ein echter Brocken.“

    Das hatte sie selbst schmerzhaft erfahren müssen.

    „Kryppuk war nochmal ein anderes Level“, fügte sie hinzu und Andrew spürte, wie sie auf etwas hinarbeitete. Er sah sie aus dem Augenwinkel an und wartete geduldig, dass sie ihre Gedanken kundtat.

    „Da muss man sich schon fragen, was sie sich bis zum Schluss aufgespart hat.“

    Selbst wenn der Raum noch immer voll von Trainern wäre, würde darin nun vermutlich betretene Stille dominieren. Es war Gewohnheit der meisten Trainer, ihr stärkstes Pokémon bis zum Schluss aufzuheben. Das war fast schon logisch. Und in diesem Fall besorgniserregend. Fast schon beängstigend.


    Ryan atmete bereits wieder ruhig, geradezu flach. Dabei hämmerte sein Herz in seiner Brust, sodass es fast schmerzte. Zu keiner Sekunde wollte er zulassen, dass seiner Mauer bröckelte. Seine aq1q¹Emotionen stellten zwar während eines Kampfes wirksame Waffen dar, aber er durfte nicht zulassen, dass sie ihn und seine Entscheidungen lenkten. Schon gar nicht neben dem Kampffeld. Das war gerade heute leider nicht allzu leicht. Ihm wurde glatt schwindelig, wenn die Kämpfe unterbrochen waren und er somit nichts mehr hatte, woran er sich mit seiner Konzentration klammern musste. Bella würde ihm glatt einen Gefallen tun, wenn sie ihr letztes Pokémon schnell präsentierte, doch sie ließ sich alle Zeit der Welt damit. Was keine große Überraschung darstellte. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sie dies ganz bewusst tat, um ihn unter Druck zu setzen. Oder konkreter, um ihn noch länger unter dem Druck, den er sich selbst aufbürdete, leiden zu lassen. Auch auf solche Psychospielchen verstand sie sich und gehörten irgendwo zu so einem Kampf dazu.

    „Wir kriegen unser perfektes Finale, Leute. Beide Trainer müssen zu ihrem allerletzten Pokémon greifen. Der Turniersieg hängt an diesem einen Kampf“, rief Cay allen in Erinnerung. Man schien sich uneinig, ob man in Vorfreude auf dieses heiße Duell jubeln oder in angespannter Ehrfurcht schweigen sollte. Sicher war Melody nicht mehr die einzige Person, die hier kurz vor einem Herzinfarkt stand.

    Bella reizte die Wartezeit erneut bis zum Äußersten aus. Sogar so lange, dass sich der Schiedsrichter ein weiteres Mal gezwungen sah, sie zu ermahnen.

    „Miss Déreaux, ihr letztes Pokémon bitte“, sprach er in haargenau derselben Tonlage wie zuvor, als sie ihr zweites hatte präsentieren sollen. Der Typ spielte echt ein Band ab, wenn er uniformiert war. Selbst hiernach tat die Agentin nur provokant langsam, was von ihr verlangt wurde. Ryan runzelte Stirn, als eine ungewöhnliche Farbe in ihrer Hand aufblitzte. War das ein besonderer Pokéball mit einem anderen Design als das klassische rot-weiß? Auf die Entfernung konnte er sich nicht sicher sein. Bella schien diese Verwunderung zu registrieren und es schien sie sichtlich zu amüsieren. Natürlich gewährte sie keine Chance, den Ball genauer zu betrachten, sondern warf ihn mit Schwung in die Höhe. Das hatte sie zuvor noch nie gemacht. Nicht mit so viel Elan.

    „Komm raus, mein Süßer.“

    Es blieb nicht bloß bei einem weißen Lichtblitz. Ein regelrechter Funkenregen ergoss sich aus dem Pokéball und weißer Rauch flutete das Zentrum des verwüsteten Schlachtfeldes. Gleich war Ryan klar geworden, was es mit der Farbe auf sich hatte. Bella verwendete eine von diesen Effektkapseln, wie Koordinatoren sie gerne einsetzten, um den Auftritt ihrer Pokémon aufzupeppen. Während des Wettbewerbes, den er zusammen mit Melody besucht hatte, war ihm das ein paar Mal demonstriert worden, auch wenn dieser Trend in Sinnoh weit größere Beliebtheit genoss. Aber warum in aller Welt nutzte Bella so ein Ding? Das machte die doch nicht einfach so zum Spaß! Wollte sie etwas verbergen? Oder einfach Eindruck schinden?

    Über all das konnte Ryan höchstens spekulieren, aber eine klare Antwort würde sich nicht finden lassen. Er beschloss einfach, dass der Grund letztlich unwichtig war. Sollte sie doch gleich ein Feuerwerk zünden. Sollte sie nur machen. Alles egal, alles nebensächlich. Er war nicht leicht einzuschüchtern. Stattdessen spähte er in den Rauch und wappnete sich für alles, was gleich hinter dessen Schleier auftauchen mochte. Recht schnell war eine Silhouette erkennbar. Etwas gekrümmt, zusammengekauert, doch erhob sie sich langsam und ruhig in eine stolze, gerade Haltung, strahlte dabei eine enorme Selbstsicherheit aus. Die Gestalt wirkte ein wenig humanoid. Zwei Arme, zwei Beine, verbunden durch einen Torso. Eine lange Schnauze meinte er ebenfalls zu erkennen, sowie zwei spitze Ohren. Amfira war das schon mal nicht. Sondern kleiner und weniger schlaksig. Aber allzu lange spielte das Wesen dieses Spiel aus Geheimniskrämerei nicht. Es zog die Arme an und heulte einmal zum Himmel hinauf, was den Rauch und die Funken vergehen ließ. Es wurde ein raubtierähnliches Wesen enthüllt, das aufrecht stehen konnte. Das Fell war am Körper sandfarben, während Kopf und Gliedmaßen sowie der Schweif eine Mischung aus Kobaltblau und Schwarz darstellten. Arme und Beine endeten in Pfoten und auf dem Kopf zuckten aufmerksam zwei Ohren. Ein eiserner Dorn stach aus der Brust heraus, ebenso wie am Handrücken. Na klasse. Nach Absol und Kryppuk jetzt auch noch das.

    „Lucario!“, brüllte Bellas letztes Pokémon und begab sich sofort in eine ausbalancierte Kampfposition. Blutrote Augen blitzten scharfsinnig auf und verrieten einen unglaublichen Siegeswillen.

    „Bella zieht nochmal eine Überraschung aus dem Hut. Ein Lucario!“, schien Cay sehr erfreut über die Wahl. Dieses Wesen vom Typ Kampf und Stahl war ein weiterer seltener Gast in Hoenn und sehr berüchtigt unter Trainern. Unter anderen Umständen hätten Andrew, Sandra, Audrey, ja sogar Terry sich durchaus gefreut ein solches Exemplar in diesem Finale zu sehen. Aber es auf Bellas Seite zu wissen, während Ryan auf der anderen Seite stand, war kein Umstand, der ihnen auch nur irgendwie gefallen konnte. Lucario waren bereits von Natur aus besonders zäh und ausdauernd. Sie kämpften mit Herz und Leidenschaft, waren stolz und ehrgeizig. Robust waren sie außerdem und flinker als man von einem Stahl-Typen erwarten würde. Nicht zu vergessen verdammt kräftig. Vermutlich mehr noch als die meisten Kampfpokémon, obwohl der Körper nicht besonders viel Muskelmasse vermuten ließ. Der Schein trog jedoch immens, wie Veteranen wussten.

    Ryan fasste also zusammen – Lucario waren schnell, gewieft und wussten sowohl wie man austeilte als auch einsteckte. Nur wenige Gattungen waren von Grund auf so stark veranlagt. Obendrein würden Guardevoirs Spukball sowie ihre Feen-Attacken nahezu wirkungslos sein, was seine Optionen in der Offensive stark einschränkte. Dafür besaß er mit Magieflamme eine sehr effiziente Waffe.

    Unabhängig von der theoretischen Auslegung lächelte der junge Trainer herausfordernd. Er war weder übermütig noch leichtsinnig. Auch er vergoss bei dem Anblick einen weiteren von vielen Schweißtropfen. Und trotzdem freute er sich. Wie oft bekam man schon die Gelegenheit, gegen ein Lucario zu kämpfen? Dass es leicht werden würde, davon hatte er nie ausgehen können. Natürlich würde die letzte Hürde eine brutale werden. Darauf war er längst eingestellt. Aber das hier würde ein offener, ehrlicher Kampf werden, in dem nichts weiter als Stärke und Geschick zählten. Ohne die fiesen Tricks eines Kryppuk oder ähnlich unangenehmen Gegnern. War es irrwitzig, dass gerade jetzt Sheilas Worte in seinem Gedächtnis widerhallten, als sie von ihren Prinzipien gesprochen hatte? Den Prinzipien einer Assassine?

    „Bereitmachen, Guardevoir.“

    Die Psychodame antwortete mit einem edlen Ausruf ihres Namens und nahm ihre Tanzposition ein. Die Arme sachte vom Körper gestreckt, der leicht zur Seite gedreht war und ein immenses Hohlkreuz bildete. Ryan würde erneut versuchen müssen, den Gegner so viel wie möglich auf Abstand zu halten. Lucario waren zwar bei weitem nicht nur auf den Nahkampf beschränkt, aber wenn er diesen erlaubte, war er am Ende.

    „Anschnallen, Freunde. Der letzte Kampf des Summer Clash steht auf dem Programm. Und der wird sich lohnen, das könnt ihr glauben“, kündigte Cay nochmals großspurig an. Seine Worte lenkten die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Schiedsrichter. Der wartete diesmal selbst ungewöhnlich lange, sah noch immer zu Bella und Lucario hinüber. Hatte ihn der spektakuläre Auftritt durch die Ballkapsel so überrascht? Man konnte nur spekulieren. Nach einigen quälenden Sekunden hob er dann doch endlich die Fahnen.

    „Das letzte Duell lautet Guardevoir gegen Lucario.“

    Ein letzter Blick links, ein letzter Blick rechts.

    „Beginnt!“

    Kapitel 64: The cursed one


    Das Stadion sprang auf. Ryans Anhänger unter losgelösten Jubel. Bellas unter Fassungslosigkeit, dass Sumpex diesem Nachthieb tatsächlich mit reiner Zähigkeit und Willenskraft standgehalten hatte. Unterbewusst erhoben sie sich auch aus Respekt vor dieser Standhaftigkeit. Dieser Schlag hätte einen Felsen von der Größe des Pokémons zu Kies verarbeitet. Aber nicht ihn.

    Audrey ballte zum ersten Mal eine Faust. Erleichterung und Zuversicht sprudelten in ihr, während Melody neben ihr das übliche Jubeltheater veranstaltete. Das erste Blut ward vergossen, wie man bei den Gladiatoren einst gesagt hatte. Wobei tatsächlich Blut im Spiel war und das ironischerweise noch auf der Siegerseite. Sumpex dehnte sporadisch seine Schulter und würdigte den Beifall keiner Geste. Hier gab es für ihn noch nichts zu feiern. Sein Kampf war noch nicht vorbei und die Zeit hierfür daher noch nicht gekommen. Sein Soll war zwar gewissermaßen erfüllt und das Lob seines Trainers ihm sicher. Doch er war in dieser kurzen Zeit, die er unter seiner Führung trainierte, wahnsinnig ehrgeizig geworden. Ihm reichte das nicht. Er wollte mehr. Er wollte, ganz gleich wie unwahrscheinlich die Aussichten auf zwei weitere Siege waren, kämpfen als hinge alles allein von ihm ab. Als wäre er die letzte Bastion und einzige Hoffnung auf den großen Triumph. Er wollte kämpfen, als wolle er alle drei Gegner bezwingen.

    Ryan brauchte einen Moment, um sich aus seiner angespannten Haltung zu befreien. Die Hände schienen noch verkrampft nach etwas greifen zu wollen. Unbewusst und unbeabsichtigt. Erst nachdem sie sich zu Fäusten ballten, als haben sie das Gejagte erreicht, schaffte er es durchzuschnaufen. Er hatte es selbst kaum für möglich gehalten, dass Sumpex diesem Nachthieb standhalten würde. Und nun sehe sich einer diesen Brocken an. Da stand er, als sei er bloß einmal gestürzt und habe sich wieder aufgerafft, ohne dass es der Rede wert sei. Und das trotz dieser üblen Wunde. Ryan lachte trocken auf. Es war eingetreten, was er vor Wochen noch prophezeit hatte. Sumpex war eine Festung geworden.

    „Boah, wo will dieses Finale noch hin, wenn so die erste Runde aussah?“, fragte sich Cay sowohl in böser als auch immens freudiger Erwartung und hielt das Publikum weiter angeheizt für das nächste Duell, während Bella ihr geschlagenes Absol zurückrief. Sie wirkte ernüchtert. Ein bisschen. Mehr aber nicht. Davon abgesehen schien sie in erster Linie Mitleid mit ihrer süßen Partnerin zu haben, sprach vielleicht einige Worte der Entschuldigung im Geiste. Dies hatte sie nicht verdient und dennoch hatte die Agentin sie bewusst als erste gewählt und quasi zu diesem Schicksal verdonnert, sei es nun früher oder später. Ryan Carparso ohne eigenen Verlust schlagen zu können, bildete sie sich gar nicht erst ein. Dass sein Sumpex über ihr Absol triumphierte, traf sie jedoch unerwartet. Wie lange trainierte er das Vieh? Weniger als einen Monat? Sandras beiden stärksten Pokémon hatten nicht bewerkstelligen können, was Sumpex gerade geschafft hatte. Wie weit hatte der Typ es denn in der kurzen Zeit gebracht?

    Selbst seine engsten Weggefährten kamen nicht umhin, sich diese Frage zu stellen. Andrew schüttelte fassungslos, aber natürlich erleichtert den Kopf.

    „Sag, was denkst du?“

    Er drehte etwas überrascht den Kopf. Sandras Blick klebte noch stur am Bildschirm, als würde dort schon wieder gekämpft. Und im übertragenen Sinne war er tatsächlich bereits auf die nächste Runde gerichtet.

    „Ich denke er ist gut dabei“, antwortete Andrew auf die wohl simpelste Art und Weise. Das tat er sehr bewusst und sagte dies nicht nur aufgrund der momentanen Führung, sondern auch wegen des bisherigen Verlaufs. Ryan hatte an seinem Kampfstil festgehalten und sich von Bella nicht aus dem Konzept bringen lassen. Ihre Versuche, Tempo zu machen und Druck zu erzeugen waren weitestgehend an ihm abgeprallt und er hatte mal wieder die richtigen Momente zum Gegenangriff gefunden. Auch wenn die Aktion kurz vor dem Ende ein riskanter Gamble gewesen war. Aber vielleicht hatte er den auch gar nicht vorgesehen. So viel durfte man nun auch nicht erwarten, dass Ryan der Agentin von Team Rocket immer einen Schritt voraus sein würde.

    Die Drachenmeisterin würde sich dieser Analyse bedingungslos anschließen, hielt sich aber mit jeglichen Äußerungen zurück, ehe nicht das ganze Match gewonnen war. Bis dahin würde es noch ein weiter und beschwerlicher Weg werden.

    „Und was fühlst du?“

    Andrews Kopf hatte geantwortet, wenn auch nur äußerst knapp. Dennoch reichte es ihr. Jetzt wollte Sandra wissen, wie sein Bauch einschätzte, was vor Ryan lag. Der war nämlich manchmal gar schlauer als die grauen Zellen.

    Tatsächlich war ihm aber ein wenig Flau in der Magengegend. Sie alle wussten, was dieses Absol auf dem Kasten hatte. Der Blick zurück sollte also eigentlich Mut und optimistisch machen. Der Blick nach vorne stimmte ihn allerdings nervös. Er glaubte nicht daran, dass mit dem Unlichtwesen die größte Hürde aus dem Weg geräumt war. Die allermeisten Trainer behielten ihre Trumpfkarte bis zum Ende im Blatt. Was also sparte sich Bella denn noch auf, wenn Absol ihre erste Wahl war?

    Sandras Frage blieb letztlich unbeantwortet. Dennoch wiederholte sie die nicht. Keine Antwort war schließlich auch eine Antwort. Die wusste sie sehr gut zu deuten. Und erneut schloss sie sich ihm an.


    „Nun sind wir gespannt wen Déreaux als nächsten ins Rennen schickt. Wem es nicht aufgefallen ist, hier ist gerade zum ersten Mal in diesem Turnier eines ihrer Pokémon K.O. gegangen! Mal sehen, wie die Antwort darauf aussieht. Vielleicht Amfira oder Nisnjask? Die haben im Halbfinale verflucht stark ausgesehen“, äußerte Cay seine Spekulationen. Ryan würde aber eher mit etwas Neuem, noch Ungesehenem rechnen. Gerade Absols Niederlage sollte aufgezeigt haben, dass es unklug wäre, zu viel auf bewährte Pokémon zu setzen. Ryan vermochte durch reine Beobachtung extrem viele Informationen sammeln und diese auch zu verwerten. Auch das war ein Hintergrund seines göttlichen Auges. Er lernte aus den Misserfolgen anderer

    „Miss Déreaux, ihr zweites Pokémon bitte.“

    Bella würdigte den Schiedsrichter keines Blickes. Noch machte sie Anstalten, seiner Forderung zügig nachzukommen. Sie beäugte Ryan noch ein paar Sekunden länger. Er war tatsächlich deutlich schwieriger zu lesen als der Löwenanteil der Menschen, mit denen sie in der Vergangenheit beruflich zu tun gehabt hatte. Das sprach durchaus für ihn. Schließlich hatten nicht selten weit erwachsenere und erfahrenere Leute aus dunkleren Ecken der Gesellschaft dazugezählt. Und trotzdem meinte sie, Erleichterung in ihm zu durchschauen. Es war also doch kein kalkuliertes Opfer gewesen, Sumpex dem Nachthieb Absols auszusetzen. Bestenfalls ein kalkuliertes Risiko, das genauso gut nach hinten hätte losgehen können. Er war also noch in der Lage, den Verlauf ehrlich zu beurteilen. Sie hatte es nämlich ebenso beobachtet. Und sie müsste lügen, wenn sie behaupten wollte, es frustrierte sie nicht ein wenig. Aber sie war imstande, das wegzulächeln und diesen Frust in Siegeswillen zu wandeln. Mit ihrem nächsten Pokémon würde sie das Blatt wenden.

    Gerade als der Schiedsrichter sich zu einer erneuten Aufforderung gezwungen sah, fischte Bella unter ihre Weste und tauschte Absols Pokéball mit einem anderen. Ein letztes Mal funkelte sie ihren Gegner noch aus verschmitzten Katzenaugen an, bevor sie ihn ganz simpel in der Hand aufspringen ließ.

    Es herrschte einen Moment lang Stille, als das weiße Licht erlosch und eine sehr kleine Gestalt preisgab. Nein, keine Körper, sondern ein Objekt sahen sie dort auf dem Boden. Einen Stein, kaum größer als eine Faust. Allerdings schien er im Begriff, in der Mitte entzwei zu brechen und schien aus dem Inneren giftgrünes Licht abzusondern. Verwirrtes Schweigen hielt auf den Rängen Einzug, doch richtig absurd wurde es erst, als sich der Brocken plötzlich in die Höher erhob und in der Luft schwebte. Nur sehr wenige im Prime Stadium ahnten hier bereits, was da vor sich ging und was Bella in den Kampf schickte. Aus dem Spalt begann eine rauchartige Masse auszutreten. Ein runder Körper in blassem Violet mit Punkten derselben giftgrünen Farbe wie des Steines formte sich. Leicht ähnelte es einem Nebulak, war allerdings trüber, undurchsichtiger und wirkte eigentlich auch nicht komplett gasförmig. Und schließlich formte sich eine schiefe, makaber grinsende Fratze in der Mitte, stieß ein unheilvolles Lachen aus und raunte seinen Namen als sei er eine Warnung. Und als solche musste man sie auch wahrnehmen.

    „Kryppuk.“

    Ein ehrfürchtiges Raunen machte die weite Runde. Bei der eindeutigen Mehrzahl waren Augen und Münder weit offen. Andrew, Sandra und Audrey sogen mit einem beklemmenden Gefühl Luft ein oder bissen sich auf die Unterlippe. Terry verengte die Augen und schüttelte ungläubig den Kopf. Die hatte doch nicht wirklich ein…

    „Nicht zu fassen, ein Kryppuk!“, beendete Cay die unbehagliche Ruhe. Sogleich schlossen sich die Zuschauer seiner Begeisterung an. Kryppuk waren wahnsinnig selten und allgemein gefürchtet. Die wenigsten würden sich überhaupt in die Gefilde wagen, in denen sich dieses Pokémon wohl fühlte und selbst wenn, stellte der Fang eine Mords Aufgabe dar. Manch ein Abergläubischer hielt sogar daran fest, dass diese Gattung von Grund auf bösartig war oder zumindest eine böse Ader besaß.

    Auch Ryan war mit den Geschichten hinter diesem Geisterwesen zumindest ein wenig vertraut. Einer Legende nach waren Geistpokémon einst in einem solchen Stein, Spirit Kern genannt, eingeschlossen worden, um für ihre Untaten zu büßen. Wurden jedoch zu viele von ihnen in einen einzelnen Stein versiegelt, konnte es nach einigen Jahrhunderten durch die enorme Anhäufung von Leid, Hass und allerlei anderen dunklen Gedanken vorkommen, dass die Geister ihre Körper vereinten und etwas Neues formten, um dem Spirit Kern zu entkommen. So konnte ein Kryppuk entstehen. Jedoch vermochte es selbst in dieser Gestalt nicht, sein Gefängnis endgültig zu verlassen und ward für den Rest seines Daseins daran gebunden. Man sprach quasi von einem verfluchten Pokémon.

    An diese Märchengeschichte glaubte Ryan nicht wirklich. Ihm klang das alles ein wenig zu fantastisch und zu kryptisch. Aus so einer Ansammlung von negativen Emotionen ging kein neues Leben hervor. Arceus würde im Dreieck springen! Wie dem auch sei, der junge Trainer pflegte nicht umsonst immer wieder zu sagen, dass jede Legende irgendwo einen Ursprung hatte und zumindest ein Fünkchen Wahrheit steckte in jeder mit drin.

    „Runde zwei lautet Sumpex gegen Kryppuk“, rief der Schiedsrichter mit erhobenen Fahnen und riss Ryan somit aus seinen Gedanken. Er konnte wann anders über die Herkunft und das Wesen von diesem Pokémon spekulieren. Jetzt musste er sich bloß darauf konzentrieren, wie es zu schlagen war. Mit Hammerarm schon mal nicht. Aber der direkte Nahkampf erschien ihm dennoch als der richtige Weg. Ähnlich wie Traunmagil oder Gengar beschoss dieses Wesen seine Gegner vermutlich bevorzugt aus der Distanz. Er sollte besser vermeiden, es so kämpfen lassen, wie Bella es wollte.

    „Bereitmachen, Sumpex.“

    Er grollte entschlossen seinen Namen und festigte den Stand. Sein Siegeswille war unerschüttert durch das unheilvolle Grinsen und die leeren Augen. Bella hatte fast Mitleid mit diesem Übermut.


    „Vorwärts, Kryppuk. Spukball“, ordnete die Agentin nach Eröffnung des Kampfes plötzlich wieder verdächtig ruhig an. Ihr Ton hatte sich der Aura ihres Kämpfers angepasst, was wie das unheimliche Raunen und Wispern eines Geistes.

    Der tatsächliche erschuf eine dunkelviolette Energiekugel, die von schwarzen Blitzen durchzuckt wurde. Ryan wollte noch einen Moment abwarten…, doch wurden zwei, drei Momente daraus. Kryppuk brauchte ungewöhnlich lange. Und zwar, weil sein Spukball eine irrsinnige Größe hatte. Für gewöhnlich war das Geschoss kaum größer als ein Handball. Dort sah Ryan ihn aber bei schätzungsweise doppelter Größe!

    „Wohoa, Kryppuk lädt durch. Schaut mal, was dieses Pokémon im Köcher hat!“, merkte Cay an, dem dieses Detail nicht entgangen war. Hatte Bella gewusst, dass sie sich diese Zeit leisten konnte? Hatte sie mit Ryans Passivität gerechnet?

    Der verzog die Lippen zu einer angesäuerten Grimasse. Scheiße, das konnte er nicht so einfach abwartend aussitzen.

    „Aquawelle dagegen! Und volles Rohr, mach die Schleuse auf!“

    Er wollte nicht so früh Schutzschild verwenden und probierte es stattdessen auf ähnliche Weise, wie er schon in den Kampf gegen Absol eingestiegen war. Jetzt musste er aber noch mehr von seinem Partner verlangen. Sumpex kratzte alles aus sich heraus, was ging. Die Wasserkugel wuchs fast auf dieselbe Größe heran, wie der Spukball auf der Gegenseite. Dieser wurde soeben abgefeuert und schlug mit knisternden Blitzen um sich, die feine, rauchende Schneisen im Boden hinterließen.

    Als beide Geschosse miteinander kollidierten, war Sumpex definitiv zu nahe. Während seine Aquawelle zerplatzte und eine reißende Welle entfesselte, explodierte der Spukball in violettem Rauch und einer knisternden, surrenden Druckwelle. Sie erschütterte den lockeren Boden um Sumpex‘ Füße so stark, dass er Risse bekam und Sand ausspuckte, welcher augenblicklich zur Unkenntlichkeit zerstreut wurde, sowie jedes Körnchen an Staub und Dreck in der Nähe. Mit erhobenen Armen versuchte das Amphibium seinen Kopf zu schützen und den Sturm auszusitzen. Eigentlich war die Attacke verpufft, doch zuckten noch immer Schattenblitze um ihn herum und stachen in seine Haut. Es brannte wie heißes Gift.

    Kryppuk dagegen konnte der Aquawelle mühelos in die Höhe entkommen. Sie erreichte gar Bella noch, wenn auch nur als sachter Strom – zumindest ein Teil von Ryan hätte sie nicht ungern hier ersaufen sehen –, sodass sie fortan bis zu den Knöcheln im Wasser stand. Die Agentin regte sich jedoch kein Stück. Stattdessen lächelte sie zufrieden über das Resultat und entschied, den Druck weiter zu erhöhen. Vor allem den mentalen.

    „Jetzt Fluch.“

    An das fiese Ding erinnerte sich noch jeder im Stadion ausgesprochen gut. Sie hatte Andrew im Kampf gegen Jamie Gregory und sein Zwirrfinst zu schaffen gemacht und besiegelte einen sicheren K.O. des betroffenen Pokémons. Lediglich der Zeitpunkt war nicht festgelegt. Doch sowie der dunkelviolette Ring sich aus dem Boden erhob und leuchtende Runensymbole den Geisterkörper im Zentrum einen Schlag mit knisternden Schattenblitzen versetzten, war es aus mit Sumpex‘ Plan, alle drei Gegner zu selbst zu schlagen. So lange würde nicht einmal Despotar oder selbst Ruby nicht durchhalten, ehe der Fluch das Aus besiegelte. Aber daran verschwendete der keinen einzigen Gedanken. Wenigstens Kryppuk würde er noch mitnehmen.

    Genau das war auch Ryans Plan. Jetzt brachte es überhaupt nichts mehr, sich einzumauern und zu versuchen, den Gegner langsam mürbe zu machen. Er holte noch so viel raus, wie möglich. Und tatsächlich eröffnete sich ihm hier im seichten Wasser eine Möglichkeit.

    „Vorwärts!“, brüllte er einfach mit geballten Fäusten. Sumpex hechtete mit schaufelartigen Bewegungen seiner Arme voran. Wasser schäumte und spritzte auf und sogar der malträtierte Boden unter seinen Füßen brach auf. Mehrere Lehmbrocken wurden in die Luft geworfen, der blonde Trainer stand für eine Sekunde im Regen. Heute Mittag hatte Sumpex bereits einmal demonstriert, wie flink er sich selbst im seichten Wasser zu bewegen vermochte. Er zog aufgeschlagene Gischt hinter sich her und hatte seinen Gegner, auf dem die orangefarbenen Augen zielstrebig haften blieben, innerhalb von zwei Sekunden erreicht. Sodann vernahm er den Befehl „Eishieb“, obwohl im die Strategie längst klar gewesen war. Die Kombination hatten sie schließlich schon im Viertelfinale angewandt. Anstatt direkt auf Kryppuk einzuschlagen, machte er einen Satz und bekam den Spirit Kern zu greifen. Ryan war sicher, dass der Geisterkörper nicht beliebig weit aus ihm ausdringen konnte und beide immer eng verbunden blieben. Und er hatte Recht. Kryppuk wurde einfach auf den Boden in eine Wasserlache geschmettert, ehe sich die freie Hand zu einer Faust schloss und von einem Winterhauch ummantelt wurde. Der Schlag erinnerte an einen herabfallenden Stahlträger. War von sehr dumpfen klang und erschütterte die Erde. Erneut wurde das Wasser aufgewühlt, doch war es diesmal binnen eines Wimpernschlages gefroren. Eiskristalle schossen in die Höhe wie Stalagmiten. Ein Aufschrei ging durch die Massen, die weiter vom Stadionsprecher angeheizt wurden. Einzig Bella blieb ruhig. Der Blick war allerdings leicht geneigt, sodass sie das Geschehen aus tiefen, finsteren Augen beobachtete. Sie musste gestehen, dass sie es nicht für möglich gehalten hatte, dass Sumpex noch zu diesem Tempo fähig war. Das Amphibium musste doch auf dem Zahnfleisch gehen.

    Jenes musste die eigene Faust mit einem Ruck aus dem selbst verursachten Eisblock befreien. Kryppuk blieb jedoch am Boden festgefroren. Und ein geringer Teil des Geisterkörpers sowie eine Hälfte des Gesichts lagen frei.

    „Woah, was ein Tempo, was ein Schlag. Sumpex dreht nochmal auf!“, zeigte sich Cay eindeutig begeistert. Ryan wollte eine triumphale Faust anschlagen, doch er wusste, dass das noch nicht reichte. Er musste nachsetzen!

    „Und jetzt…“

    Aber nichts war´s. Ein dunkler Ring erhob sich aus dem Boden, sonderte erst schwarzen Nebel und schließlich dunkelviolette Blitze ab. Letztere direkt in den ozeanblauen Körper.

    „Ooohhh, Fluch zeigt seine Wirkung und fährt Carparso voll in die Parade!“

    Scheiß Timing. Ein tiefer, grollender Schmerzensschrei ging zum Himmel hinauf. Sicher erreichte er selbst die dort kreisende Brutalanda Dame. Und wäre Sumpex sich ihrer Anwesenheit gewahr, würde er sich hierfür schämen. Doch es stach und brannte einfach so fürchterlich. So eine widerliche Art von Schmerz hatte er noch nie gespürt. Nicht einmal, wenn er im Training die Spukbälle von Kirlia oder Hundemon weggesteckt hatte. Als würde eine kalte Nadel gewaltsam in den Körper gerammt, um eine heiße, zwickende Pein freizusetzen.

    Ryan biss, einen eigenen Fluch herunterschluckend, die Zähne zusammen. Scheiß Timing. Was folgte, würde jedoch nicht glimpflicher ausgehen. Der Ausdruck in Bellas Augen änderte sich die ganze Zeit über nicht, doch nun zuckte ein Mundwinkel nach oben. Jetzt hatte sie ihn da, wo sie ihn haben wollte.

    „Los, Finsteraura.“

    Die Energie war fort, die Lautstärke in ihrer Stimme herabgedreht. Nun sprach sie, befahl sie lediglich noch süße Vergeltung. Kryppuk grinste auf einmal wieder breit und heimtückisch, als habe es allen nur etwas vorgemacht und freue sich, dass seine Zügel endlich gelockert wurden. Von seinem Körper ging eine dunkle Energiewelle aus, die sofort das Eis aufsprengte und es zur Unkenntlichkeit zerstreute. Die Nacht brach über Sumpex herein und warf ihm all ihre Tücken entgegen. Gleich der Kraft eines Orkans wurde er von ihr erfasst und fortgeschleudert, in einen Ozean aus schauriger Dunkelheit geworfen, die an seinem Körper zerrte, als wolle sie ihn zerreißen. Eine Unbarmherzige Böe tat dasselbe mit Ryans Kleidung und blies ihm den Sand des Kampffeldes ins Gesicht. Die Luft vibrierte selbst auf den Tribünen noch, sodass selbst durch die Stadionlautsprecher keine Stimme mehr zu ihm durchdrang.

    Der Spuk war sehr plötzlich zum Ende gekommen. Unerwartet rasch und ohne sichtbare Rückstände, wenn man von der nackten Erde auf dem Feld einmal absah. Sand und Asche waren fast gänzlich verweht. Das markierte Kampffeld war kaum noch zu erkennen. Ein schwerer, blauen Körper landete plötzlich vor Ryan, sodass er den Arm vom Gesicht entfernte und beinahe einen törichten, unüberlegten Schritt nach vorn unternommen hätte, um auf das Feld zu stürmen. Er konnte das und die damit einhergehende Disqualifikation vermeiden, doch versetzte ihm ein flaues, beklemmendes Gefühl in der Magengegend dafür einen regelrechten Schlag. Sumpex lag auf dem Rücken. Das Maul noch weit geöffnet las würde er noch schreien, doch entwich ihm lediglich ein kratziges Röcheln. An dutzenden Stellen seiner blauen Haut hafteten noch winzige Schlieren und Fetzen der Finsteraura wie kleine Aasfresser, die sich über einen Kadaver hermachten. Die Augen waren ohne Pupillen. Einfach nur blankes Orange. Die zittrigen Arme machten sein Erscheinungsbild sehr makaber, denn die hingen wie steifgefroren in der Luft, als versuchten sie nach der Sonne zu greifen, nun, da das Wasserpokémon der kalten Nacht entkommen war.

    „Boah, was war denn das?“, drang nun Cays Stimme wieder an Ryans Ohr.

    „Déreaux schlägt bombastisch zurück und wischt den Boden mit Sumpex!“

    Anders konnte man es leider nicht formulieren. Ryan hatte geglaubt, Bella kalt erwischt zu haben, als sie den Ausgleich bereits nur noch für Formsache gehalten hatte und war selbst ins offene Messer gerannt. Nur was hätte er sonst tun sollen, wenn sich Fluch wie eine Schlinge immer enger um ihn schnürte?

    Doch er lamentierte nicht über das Ergebnis. Jammerte den Fehlern und verpassten Chancen nicht lange nach. Blieb vollkommen in der Gegenwart und überlegte, was nun zu tun war, anstatt was er hätte tun können. Irritierender Weise ließ sich der Schiedsrichter sehr viel Zeit mit seinem Urteil. Während Cay quasi das 1 zu 1 vorweg nahm und sich Spekulationen anstellte, wen Ryan als nächstes in den Kampf schickte, inspizierte der Unparteiische mit geschürzten Lippen und gestochen scharfem Blick Sumpex‘ reglosen Körper. Selbst Ryan würde ihn ab hier nicht mehr weiterkämpfen lassen. Es war zu viel. Es war aus für ihn. Jeder im Stadion sah das ein.

    Nur Sumpex nicht.

    Eine seiner Hände schlug flach auf den Boden neben ihm. Nicht kraft oder leblos, als habe ihn die Ohnmacht überwunden. Stramm war jeder einzelne Finger und die Muskeln unter der ledrigen Haut sichtbar gespannt. Die andere blieb in der Luft, streckte sich aber voll aus und ballte eine Faust.

    „Hä? Warte, was?“, quietschte und kratzte es aus allen Lautsprechern, da Cay scheinbar fast das Mikro abhanden kam. Man mochte sich vorstellen, er klettere gerade auf seinen Tisch und lehne sich ungläubisch so weit wie möglich nach vorn.

    „Nein, das gibt´s nicht! Sumpex kann noch?“

    Der Stadionsprecher schien es nicht zu glauben. Und Ryan ebenso wenig. Bella blinzelte einmal. Auch sie traf das überraschend. Kryppuks Finsteraura hatte kaum ein Gegner jemals überstanden und schon gar keiner, der bereits angeschlagen war. Generell musste sie nur selten von seiner Kraft Gebrauch machen. Sie überstieg die von Absol bei weitem und selbst an ihr bissen sich die meisten die Zähne aus. Aber Ryan Carparso war nicht wie die meisten. Und sie war mit diesem Wissen in dieses Finale gegangen.

    „Zäher als ich dachte“, murmelte sie leise. Kryppuk quittierte das Aufbäumen mit keinerlei Reaktion. Er grinste feist und voller Schalk vor sich hin und wartete nur darauf, dass der Spaß weiterging. Sumpex wuchtete sich auf die Seite und stützte den Oberkörper mit einem Arm. Schweiß rann seine Stirn in Rinnsalen hinab und er schnaufte als ziehe er ein Mamutel. Doch die Pupillen, die in seine Augen zurückgekehrt waren, hafteten eisern an Kryppuk. Seiner Trainerin war das Lächeln mittlerweile weitestgehend vergangen und Ernst gewichen. Und bei ihm würde er es auch schaffen!

    Eine Faust stemmte sich in den Boden. Wirklich jedem stockte der Atem. Melody schlug einer Hand vor den Mund und krallte sich mit der anderen in Audreys Oberschenkel. Die schluckte den Schmerz hinunter. Die Agentin machte große Augen. War das die aufopferungsvolle Einstellung, die Mila in ihrem Gefolge auslöste? Oder bewegte etwas Anderes dieses Pokémon zum Weitermachen? Sie begann es zu bewundern, vergaß glatt, ihm den Gnadenstoß zu versetzen.

    Auf einmal waberte dunkler Nebel in einem Kreis um das Amphibium. Ein violetter Ring aus Schattenenergie hob sich aus dem Boden. Es geschah genauso langsam wie zuvor und doch zu schnell, zu unwirklich für Ryan, um irgendwie zu reagieren. Um einen verzweifelten Schutzschild anzuordnen oder Sumpex ganz einfach zu erlösen und zurückzurufen. Er hatte noch nicht einmal entschieden, was von beidem er tun sollte, ehe die Blitze ihn erneut quälten.

    Mit ihnen kehrte der Lärm zurück. Auf den Rängen schrie und johlte man – sowohl aus Verbitterung als auch Euphorie. Doch selbst in Ryans Ohren wurde es vom scharfen Knistern und Knacken des Fluchs übertönt. Der azurblaue Körper zuckte unkontrolliert. Das Fleisch wurde mit verfluchter Geisterenergie zerstochen und verbrannt. Ätzender Qualm stieg bald von den Wundstellen auf. Doch seine Stimme blieb diesmal still. Und der Kopf gesenkt. Und da stockte diesmal nun dem einzigen der Atem, der soeben noch schelmisch gegrinst hatte. Kryppuk fand die orangefarbenen Augen nach ihm zielend. Sumpex durchbohrte ihn mit seinem Blick. Er versprach ihn hier und jetzt Rache. Keine Revanche, sondern Rache. Er würde den Moment verfluchen, wenn er das nächste Mal sein Gefängnis verließ, um sich ihm entgegenzustellen. Dann fiel er. Sumpex brach zusammen. Doch kein Lachen und keine Schadenfreude sah man bei Kryppuk. Nur einen leeren Blick und einen verdutzt offenstehenden Mund.

    „Sumpex ist kampfunfähig! Die Runde geht an Kyppuk!“, ertönte nun augenblicklich das Signal. Der Jubel hielt sich auf einmal jedoch ein wenig in Grenzen. Audrey sah sich sporadisch um und stellte fest, dass dieser tragische Kampf Sumpex‘ nicht ganz spurlos an allen vorbeigegangen war. Er hatte keine Chance mehr auf den Sieg gehabt und da war ihm längst bewusst gewesen. Dennoch hatte er weiterkämpfen wollen. Ob aus persönlichen Gründen, die Kryppuk betrafen oder um noch möglichst viel für seine Kameraden rauszuholen vielleicht. Das konnte man von hier oben nur mutmaßen. Spielte letztendlich aber auch keine entscheidende Rolle. Ganz gleich, was diesen eisernen Willen bestärkte und sein Kämpferherz zum Schlagen brachte – sein Kampf verdiente Respekt.


    Sandra merkte selbst nicht, wie sich ihre Nägel durch die Handschuhe hindurch in ihre Oberarme krallten. Sie waren vor der Brust verschränk, krampfend und zitternd vor Anspannung. Andrew bemerkte das mit einem Seitenblick. Er selbst ließ den Kopf in den Nacken fallen. Es hatte nie eine große Chance bestanden, dass Sumpex gleich zwei von Bellas Pokémon würde schlagen können. So jedenfalls die analytische, vernünftige Einstellung. Die echte, die kämpferische Einstellung, die immerzu ans Gewinnen und an die eigene Stärke glaubte, die hatte hier das Unausweichliche ins Wanken gebracht. Bella oder mehr noch Kryppuk hatte den Anschein gemacht, als habe er bloß mit Sumpex gespielt, ihn vielleicht gar geködert, als er im Eis festgesessen hatte. Doch hätte Fluch hier nicht eingesetzt, wäre der weitere Verlauf ein ganz anderer gewesen. Gesprochen wurde unter den beiden Johtonesen diesmal nicht. Es brauchte nicht nach und vor jeder Runde eine Analyse oder Gedankenaustausch stattfinden. Höchstens, wenn das Reden die Nerven beruhigte, denn die waren bin an die Grenze ihrer Belastbarkeit gespannt.


    Ryans Augen waren unter einer schief hängenden Strähne seines blonden Haares verdeckt, während er seinen geschlagenen Partner in den Pokéball rief. Was er heute geleistet hatte, lag jenseits dessen, was er ihm hatte abverlangen können. Er hatte einen perfekten Kampf gezeigt. Hatte alles richtig gemacht, jeden Befehl hervorragend umgesetzt und mehr weggesteckt als Ryan hätte zulassen dürfen. Er war sich nicht einmal sicher, ob die fehlende Erfahrung hier ein ausschlaggebender Punkt sein konnte.

    Aber der junge Trainer hielt sich gar nicht erst mit solchen Spekulationen auf. Es war nach wie vor alles offen, alles möglich.

    Der Pokéball wurde ausgetauscht und ohne viel Federlesen in die Luft geschleudert. Ein unerwarteter Aufschrei machte die Runde im Prime Stadium.

    „Oha, das hab ich nicht kommen sehen. Carparso schickt Hundemon ins Rennen! Kaum zu glauben, dass wir es nach diesem Halbfinale nochmal zu sehen kriegen, aber da steht es!“

    Und Hundemon stand eisern. Fest und entschlossen, mit feurigen Funken in den Augen. Maxax‘ Klauen hatten sichtbare Spuren hinterlassen, doch schien der Schattenhund keineswegs von ihnen beeinträchtigt zu werden. Dennoch schlug Melodys Herz nun noch fester als ohnehin schon. Konnte diese Entscheidung weise sein? War Ryan so überzeugt, dass Hundemon uneingeschränkt kämpfen konnte? Vor allen, dass er diesen Kampf kämpfen konnte?

    „Er trifft keine leichtfertigen Entscheidungen“, erklang eine junge Frauenstimme zu ihrer Rechten und riss sie aus ihren Zweifeln. Audrey hatte die Sonnenbrille leicht runtergeschoben und blickte über den Rand direkt in Melodys Augen. Ihre Lippen waren zu einem zuversichtlichen Grinsen geformt.

    „Wenn Hundemon nicht voll da wäre, würden wir ihn jetzt nicht sehen.“

    Es existierte kein Trainer, der noch nie einem seiner Pokémon zu viel zugemutet hatte. Doch von all seinen Schützlingen besaß Ryan zu kaum einem anderen ein solch enges Verhältnis wie Hundemon. Er konnte sehr gut einschätzen, wo seine Grenzen lagen und schließlich spielte die Meinung von Schwester Joy auch eine Rolle. Die wusste schließlich, wofür sie die Pokémon speziell heute wieder aufpäppelte. Und Ryan hatte noch nie eines kämpfen lassen, dem das von ihr untersagt worden war.

    Melody wirkte leider nicht gänzlich überzeugt. Sie schürzte die Lippen und stützte nachdenklich den Kopf. Audrey unternahm allerdings keinen weiteren Versuch, ihre Bedenken auszulöschen. Sie lehnte sich zurück und schob die Brille wieder hoch.

    „Hab ein bisschen Vertrauen“, riet sie bloß nüchtern. In der Tat hatte der Blonde bisher keinen Grund geliefert, ihm nicht zu vertrauen. In keiner Lebenslage. Hatte in seinen noch jungen Jahren bereits mehr über Pokémon gelernt, als sie es in ihrem ganzen Leben könnte. Melody hielt den Kopf weiter gestützt, ballte aber ihre Fäuste und sandte alle guten Gedanken, die sie aufbringen konnte, an die zwei da unten. Sie mussten einfach gewinnen!


    Bald schon waren Hundemons Augen nicht länger der einzige Ort, an dem ein wütendes Feuer entfachte. Gleiches geschah in seinem Rachen, als er eine tiefe Jagdstellung einnahm und seine üblichen Drohgebärden zelebrierte. Andrews Augen wurden etwas schmaler. Nein, das waren nicht dieselben wie sonst. Der Blick. Man konnte ihn kaum anders als tollwütig nennen. Und die Lefzen erst. So hoch zog er sie sonst nie an. Es ging nicht darum, sein Gebiss zu präsentieren. Viel mehr stellte er sich anscheinend vor, wie er Kryppuk damit in Stücke riss.

    Kein Zweifel, der brannte richtig darauf. Natürlich wusste er, gegen wen er hier kämpfte. Nicht bloß gegen irgendeinen Gegner wie er sie schon zu hunderten geschlagen hatte. Vor ihm stand der Feind. Und er zeigte deutlich, wie bereit er war, jenem an die Kehle zu springen und zu Asche zu verbrennen.

    Der Schiedsrichter eröffnete den Kampf sodann, womit Melodys Herz einen heftigen Schlag machte, genau wie in jeder Runde bisher. Dies war tatsächlich das erste Match, in dem sie die Verschnaufpausen und Unterbrechungen sehr gut gebrauchen konnte. Diese Spannung hielt die stärkste Frau nicht aus.

    „Fang an mit Flammenwurf!“

    Eine Standarderöffnung, weder mit voller Kraft ausgeführt, noch versprach sich Ryan besonders viel davon. Jedoch sah er sich gezwungen, wieder proaktiver zu handeln, um auszuloten, wie viel Kraft Kryppuk tatsächlich noch besaß. Ob er wirklich nur Scharade gespielt oder von Sumpex Eishieb doch etwas weggesteckt hatte.

    Die Information blieb ihm aber verwehrt, da Bella mit Doppelteam antwortete. Einem verdammt guten noch dazu. Doch etwas Anderes durfte man bei dieser Gegnerin wohl einfach nicht erwarten. Kryppuk duplizierte sich locker 25 bis 30 Mal. Die Trugbilder schwebten in die Höhe und umkreisten Hundemon, womit der Angriff folglich aus buchstäblich jeder Richtung erfolgen konnte.

    „So einfach wird´s wohl nicht werden…“, begann Cay die Erörterung der Lage, welcher Ryan allerdings keine Aufmerksamkeit schenkte. Genau genommen hörte er den Stadionsprecher mittlerweile nur noch in den Pausen reden. Während des laufenden Kampfes rauschte das Blut viel zu laut in seinen Ohren und ölten die Zahnräder in seinen grauen Zellen.

    „Hüll dich in einen Feuerwirbel.“

    Der Schattenhund ließ den Gegner nur ungern aus den Augen, doch er konnte den echten Geis sowieso nicht von den falschen unterscheiden. Seine Schnauze ging tief gen Boden und spie eine feine Flamme. Mit schraubenartigen Nackenbewegungen breitete sie sich in einem 360 Grad Radius aus, sodass Hundemon im Zentrum eines wachsenden Rings aus Feuer blieb. Dann legte er eine Schippe drauf. Sofort schossen die Flammen in die Höhe und bildeten einen Tornado, der vollständigen Sichtschutz bot. Das Problem war, dass Bella dennoch genau seine Position kannte und er zudem seine Ausweichmöglichkeiten zerstört hatte.

    „Spukball“, ordnete sie ruhig, nein unheilvoll an. Sie nahm die boshaften, schelmischen Züge ihres Pokémons an und befahl nicht wie eine Trainerin, sondern wie eine Herrin.

    Kryppuk ließ sich nicht ganz so viel Zeit wie zuvor bei Sumpex, weshalb die blitzende Energiekugel auch nicht so groß wurde. Bestimmt neigte es zur Eile, weil die Trugbilder von Doppelteam indes verschwanden und zum Original zurückkehrten, das genau frontal in nur leicht erhöhter Position schwebte. Perfekt.

    „Jetzt gib Zündstoff! Finsteraura!“

    Der Feuerwirbel färbte sich urplötzlich schwarz. Jedoch nur unten am Ansatz. Danach breitete sich ein alles verschlingendes Lauffeuer aus. Feuerrot und Nachtschwarz überrollten das Kampffeld als haben Hölle und Nacht es sich zur gemeinsamen Aufgabe gemacht, es auf ewig zu verwüsten. Kryppuk war davor wie erstarrt. Sein hämisches Grinsen eingefroren und der kümmerliche Spukball verpufft. Er hatte gar keine Zeit zu reagieren. Bella ebenso wenig. Cay dagegen reagierte, wie man es von ihm erwartete. Nämlich laut.

    „Der Wahnsinn! Carparso schüttelt eine spitzen Kombo aus dem Ärmel. Déreaux kann nur zusehen…!“

    Viel sah sie jedoch nicht. Im Nu war der Sturm über sie hereingebrochen und Kryppuk darin versunken. Nur Arceus wusste neben ihm, was er gerade erlitt. Doch seine Folter sowie die des Wartens seitens der Zuschauer dauerte nicht allzu lange. Wie eine entflammte Gaswolke walzte sich das mit Unlicht Energie gefütterte Feuer und erstarb sehr bald, da es nichts Brennbares zum Nähren vorfand. Ein paar dunkle Schlieren der Finsteraura regneten zu Boden wie Funken und Asche, leicht und geräuschlos. Dagegen war der Aufschlag eines Faustgroßen Steines geradezu erschütternd. Ihm hing ein größtenteils violetter, teils aber schwarz verbrannter Gaskörper an. Kryppuk stöhnte und hustete. Selbst ohne Gliedmaßen erkannte man, wie er sich krümmte und wandte, als spüre er noch immer die Hitze und versuche vor ihr davonzukriechen.

    „Boah, das hat Kryppuk sichtlich mitgenommen. Kein Wunder bei dieser Kraft. Hat irgendeiner hier schon mal so eine Verbindung aus Feuer und Unlicht gesehen?“

    Selbst die ausgeschiedenen Trainer müssten hier wohl länger in ihrem Gedächtnis kramen. Doch selbst wenn sie nur Sekunden bräuchten, so wollte dennoch keiner seine Aufmerksamkeit von den Kämpfenden abwenden. Nicht einmal Terry, der keinen der Finalisten leiden konnte und für den somit das Ergebnis in jedem Fall frustrierend sein würde, egal wer am Ende gewann. Tatsächlich fragte er sich irgendwo, warum er überhaupt blieb. Die Antwort fand er höchstens unbewusst, da er es nur ungern eingestand. Tatsache war, dass er Ryan Carparso und Bella Déreaux unbedingt gegeneinander kämpfen sehen wollte.

    Weder er noch die zehntausenden Menschen um ihn herum konnten das Ausmaß von Kryppuks Qualen erkennen. Das taten lediglich Andrew und Sandra, die über die Monitore zusahen. Die Kameras fingen ein völlig geschundenes Geistpokémon ein, das sich schwerfällig auf die Seite wälzte und röchelnde Atemstöße machte. Und Ryan erkannte es natürlich auch. Dieser Überraschungsangriff hatte besser funktioniert als erwartet. Jetzt musste er nachsetzen, dann konnte er das 2 zu 1 perfekt machen!

    Der Johtonese befahl Flammenwurf. Und fing bereits an es zu bereuen, kaum dass er die letzte Silbe ausgerufen hatte. Denn erst jetzt sah er zu Bella hinüber, die verschmitzt grinste und sich voller Vorfreude auf die Unterlippe biss. Ihre Stimme war ein verspieltes Schnurren und gleichzeitig ein unheilvolles Raunen.

    „Schattenstoß.“

    Auf einmal breitete sich auch auf Kryppuks Visage wieder ein schalkhaftes Grinsen aus und finsteres Gelächter drang aus seinem gezackten Maul. Sein Körper verschwand im Boden. Einer Feuerbrunst fegte darüber und färbte ihn schwarz, sodass der dunkle Schatten überhaupt nicht mehr zu sehen war. Selbst wenn, so hätte Hundemon nicht darauf reagieren können. Er bewegte sich fast so schnell wie das Licht. Von einem pechschwarzen Schleier eingehüllt tauchte Kryppuk aus der Flanke auf und stieß direkt in die Schnittstelle von Maxax Klauen. Der Schattenhund schluckte, wollte schreien und brüllen, doch in diesem Moment, in dem die für ihn sonst so harmlose Geisterenergie sich in die Wunde zwängte, schüttelte es ihn wie selten zuvor in seinem Leben. Die versehrte Stelle wurde heiß wie Lava, doch schüttelte es ihn als sei er in einem Gletscher gefangen. Nein, das war nicht richtig. Diese kalte Hand kam von innen, wühlte sich durch seine Organe und griff mit einer eisigen Klaue nach seinem Herzen.

    „Leute, Déreaux hat´s einfach schon wieder getan. Sie wendet das Blatt und kann einen wirkungsvollen Nadelstich anbringen!“

    Cays Wortwahl passte ausnahmsweise verdammt gut. So ein Schattenstoß – selbst von diesem Kryppuk – sollte einem Unlicht Typen normalerweise nicht viel anhaben können, vor allem da der Angreifer selbst alles andere als unversehrt war. Doch Hundemon erstarrte regelrecht für einen Moment. Und dieser konnte ihm glatt das Match kosten, wie sich nach Bella nächstem Befehl eröffnete.

    „Jetzt Konfustrahl!“

    Hundemon selbst sah aus dieser Nähe nur noch einen grellen, gelblichen Schein über sich hereinbrechen. Er blendete gar nicht und doch benebelte mehrere seiner Sinne. Er sah verschwommen wie durch Milchglas. Alle paar Sekunden stand die Welt für ihn plötzlich Kopf oder drehte sich. In seinen feinen Ohren lag ein schriller Pfeifton, der sich nicht vertreiben ließ, egal wie oft oder fest er sich schüttelte. Der Tastsinn war ihm geblieben, doch nützte der wenig ohne Grundorientierung. Er konnte keine drei Schritte geradeaus laufen und hatte Mühe das Gleichgewicht zu halten. Selbst im Stehen.

    Und es wurde nicht besser für den Schattenhund.

    „Kyppuk“, rief Bella bereits sehr zufrieden und mit einem gewaltigen Maß an gewonnener Selbstsicherheit. Sie gewann nur bedingt die Aufmerksamkeit ihres verfluchten Geistes, doch wusste er eh bereits, was zu tun war. Obwohl schlimm zugerichtet, lächelte auch er wieder breit und schadenfroh.

    „Los, Fluch.“

    In Ryans Magen verkrampfte etwas. Nicht schon wieder! Er musste sofort zurückschlagen!

    „Flammenwurf, schnell!“

    War da eine Stimme? Hundemon konnte nicht sicher sein, obwohl dieses ferne Geräusch sich irgendwie vertraut anhörte. Aber die Quelle könnte genauso gut direkt an seinem Ohr sein – mit diesem schrillen Ton im Hörkanal verstand kein Pokémon ein vernünftiges Wort. Er bereitete ihm furchtbare Kopfschmerzen. Er wollte ihn loswerden. Irgendwie.

    Der Unterkiefer des Schattenhundes hing schief und seine Augen huschten orientierungslos hin und her. Der Kopf wurde geschüttelt wie nach einem Bad, wenn er das Wasser aus seinem Fell schüttelte. Doch es reichte nicht, half nicht. Schließlich schlug er ihn sogar auf en Boden und grub die gebogenen Hörner in die Erde. Der Anblick war einfach mitleiderregend.

    „Oje, da geht überhaupt nichts. Hundemon hat keine Ahnung, wo oben und unten ist. Konfustrahl hat Mus aus seinem Hirn gemacht“, kommentierte Cay das traurige Bild und schlug sich glatt gegen die eigene Stirn. Er war in diesem Match vollkommen unparteiisch, aber in diesem Moment tat Carparso ihm einfach leid. Auf diese Weise die Kontrolle über das Match zu verlieren, war verdammt frustrierend und ärgerlich.

    Ryan vermochte nicht gänzlich zu verbergen, wie er mit den Zähnen knirschte. Hundemon bemerkte den dunkelvioletten Lichtring gar nicht, der ihn auf einmal umgab. Sehr wohl aber die Schattenblitze, die sich sein Fell schlugen. Sie lähmten die Muskeln, verbrannten das Fleisch, genau wie ein elektrischer Schlag. Hinzu kam allerdings die widerwärtige Geisterenergie. Und im Falle von Fluch spielte es keine Rolle, ob das eigene Pokémon anfällig dagegen war oder nicht. Fluch schädigte, zerstörte von innen heraus. Und zwar immer mit derselben Unbarmherzigkeit. Auch gegen einen Unlich-Typen, der sich zumeist unbeeindruckt von Geistattacken zeigte.

    Hundemons Körper zog sich zusammen. Er schmiss sich auf den Boden und wälzte sich panisch, wie ein verschreckter Welpe, der zum ersten Mal Schmerz fühlte. Die anhaltende Konfusion blockierte den rationalen Denkprozess sowie die natürlichen Instinkte und verhinderte somit eine sinnvolle Reaktion. Zumindest weitestgehend. Kaum war die Wirkung von Fluch vorüber, sprang der Schattenhund wütend auf und schoss wild mit Flammenwurf um sich. Eine zornige Reaktion ohne Verstand, wenn auch nicht ganz ohne Sinn. Und sowohl Bella als auch das Publikum wurden deutlich alarmierte, als ein satter Streifschuss Kryppuk auf Abstand zwang. Der war tatsächlich ein wenig erschrocken.

    „Wow, aufgepasst!“, warnte Cay sogleich.

    „Ja, auch ein verwirrtes Pokémon kann noch austeilen. Da hat Déreaux Schwein gehabt, dass der Schuss nicht nach hinten losging.“

    Cay war sicher einer der letzten, dessen Meinung oder gar Rat sie benötigte. Sie kämpfte lange genug mit und gegen Pokémon, um das Risiko solcher Situationen zu kennen. Doch letztendlich hätte selbst ein Volltreffer sie kaum aus der Bahn geworfen. Warum auch? Es lief ja alles nach Plan. Und der würde sich in diesem Augenblick allen erschließen. Ihr verschmitztes Lächeln wurde noch breiter. Die bernsteinfarbenen Augen blitzten auf einmal rötlich auf. Ein Farbspiel des fortschreitenden Tages? Die Dämmerung war in kürze vorbei. Oder eher ein böses Omen, das dem Blick der meisten Menschen entgangen wäre, die nicht in der Lage waren, hinter die Fassade einer Person zu blicken und deren wahre Intentionen zu erkennen? Für einen kurzen Moment hatte Ryan fast das Gefühl er blicke in Sheilas mörderische Iris. So er sich auch gleich seines Irrtums erinnerte, wusste er bereits, dass auch Bella zu töten vermochte. Und gnadenlos sein konnte.

    „Jetzt Leidteiler.“

    Das Wort Euphorie wäre wohl ganz bestimmt nicht das passendste für den makabren Ausdruck in Kryppuks Fratze. Ryan würde erst viel später und länger nach einem geeigneten Adjektiv suchen. Tatsache war, dieser verdammte Geist freute sich wahnsinnig darauf, Hundemon leiden zu sehen. Nicht eine, sondern gleich drei schwarze Ranken, halb durchsichtig und wabernd wie Nebel, schossen mit immensem Tempo aus seinem Körper und gruben sich in den des Unlichtpokémons. Der zappelte und tobte weiter, stürzte und schnappte nach etwas, das nicht zu greifen war. Die Verwirrung hielt noch immer an. Ryan war machtlos. Verdammt dazu, zuzusehen, wie Kryppuk violette Lichtpunkte durch die Ranken sog und sich selbst einverleibte. Ein heulender Schmerzensschrei ging zum dämmrigen Himmel hinauf. Hundemons Muskeln verkrampften erst, dann ermüdeten sie, wie sonst über einen ganzen Tag hinweg. Der eigene Körper wurde schwer, die Beine kribbelten als würden sie gleich taub werden.

    „Das hat sie nicht gemacht!?“

    Cay wollte seinen Augen kaum trauen. War das nun genial oder dreist, was die Newcomerin da abzog?

    „Déraux kombiniert die Strategien von Audrey Miller und Jamie Gregory und stellt hier alles auf den Kopf!“

    Cay nannte sie bereits gen gesamten Tag über gnadenlos, aber jetzt war sie es nicht nur zu ihrem gegnerischen Pokémon, sondern auch dem Trainer. Ryan litt fast so sehr wie Hundemon, obwohl allein dieser die physischen Konsequenzen tragen musste. Sie hatte ihn völlig in der Hand. Hatte es die ganze Zeit gehabt, seit sie Kryppuk eingewechselt hatte. So langsam und kontrolliert von ihr zermürbt zu werden, grenzte an eine Demütigung. Letztendlich hatte es den Schattenhund viel schlimmer getroffen. Während Ryan höchstens mit einem verletzten Ego zu kämpfen hatte, war dieser der Ohnmacht bereits gefährlich nah. Alles, was er und Sumpex ausgeteilt, was sie Kryppuk hatten schmecken lassen, war ihm nun zurückgezahlt worden, zuzüglich eines erbarmungslosen Fluchs, der ihn schon sehr bald ohne weiteres Zutun seines Gegners niederstrecken würde. Hundemon taumelte. Seine Zunge hing schlaff heraus. Vor ihm schwebte ein blassvioletter Geist, der ihn höhnisch angrinste. Lachte er sogar?

    Ein Paar wilder Pupillen wurde mit einem Mal verschwindend klein. Ihr Besitzer riss das Maul auf, verrenkte sich augenscheinlich fast den Kiefer. Doch brüllte er nicht, sondern schien eher nach etwas Unsichtbarem schnappen zu wollen. Worin er sich dann tatsächlich verbiss, war jedoch seine eigene Pfote. Einige Flammenfetzen fanden ihren Weg an den Lefzen vorbei ins Freie. Ein aufgeschrecktes und einheitliches Raunen ging durch die Menge, ehe sie gleich wieder angespannt schwieg und den Atem anhielt. Melody stürzte nach vorn und krallte sich in die Mauer. Verletzte sich Hundemon aufgrund der Verwirrung nun gar selbst? Sogar Bella blinzelte verdutzt. Das sah nicht nach den typischen Symptomen einer Konfusion aus. Auch Ryan war für einen Augenblick perplex und verstummt. Doch an der plötzlich festen Körperhaltung und dem leisen Knurren, das eindeutig an Kryppuk adressiert war, erkannte er genau, was gerade vonstatten ging. Hundemon hatte sich absolut bewusst selbst gebissen. Er hatte einen Preis gezahlt, ein Opfer gebracht, seine Aussichten dadurch aber immerhin gesteigert. Um ein Minimum, sicher. Dennoch schloss sein Trainer daraus, dass er seinen Kampfgeist nicht verloren hatte. Ein unbeugsames Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Zuversicht sah bestimmt anders aus, aber Ruby sollte von dort oben herabgestürzt kommen und ihn zerschmettern, wenn er jetzt schon die Flinte ins Korn warf.

    „Ich bin dabei, wenn du dabei bist“, murmelte er mit der Stimme eines irren Draufgängers. Eines Kämpfers, der nur noch verlieren konnte und daher nichts mehr zu verlieren hatte. Hundemon schüttelte darauf den Nacken. Seine Augen funkelten wieder wild und bei Sinnen. In seiner Kehle brannte bereits das Feuer, mit dem er Kryppuk zu Asche verbrennen würde. Und wie er dabei war. Jedem, nur nicht diesem Gegner, dem Feind, würde er sich geschlagen geben. Er könnte doch nie wieder vor seine geliebtes Vulnona treten, die zu Hause auf ihn wartete. Sie sollte einen siegreichen Partner willkommen heißen. Bösartiger Geist, verbannte Seele, unbarmherziger Fluch - was kümmerte es? Nichts auf diesem Feld konnte ihm etwas antun, das seinen Kampfgeist zu brechen vermochte. Vorher brach jeder Knochen in seinem Leib.

    Bella konnte es nicht verstecken. Die Aufmüpfigkeit auf der Gegenseite ging ihr enorm gegen den Strich. Für meist gefielen ihr die widerspenstigen Gegner am besten. Die gaben nicht so schnell auf. An ihnen konnte sie sich austoben. Konnte in den Genuss eines echten Kampfes kommen. Die Strategie mit Fluch und Leidteiler hatte sie allerdings weder zufällig noch zum Vergnügen gewählt. Nicht einmal wegen der hohen Erfolgsaussichten. Diesen Carparso hätte sie zu gerne gebrochen. Hätte am allerliebsten seine Entschlossenheit und Zuversicht zum Einsturz gebracht, zu Staub zermahlen und in alle Winde verstreut. Nicht aus Boshaftigkeit oder Sadismus. Sondern einfach, weil sie es bislang nicht geschafft hatte. Nicht mit dem Druck, den sie mit Team Rocket auf seine Gruppe ausübte. Nicht mit dem Attentat, das sie im Wald vor der Stadt geleitet hatte. Und nicht mit ihren eindrucksvollen, niederschmetternden Siegen über alle bisherigen Teilnehmer des Summer Clash, die das Pech gehabt hatten, ihr entgegentreten zu müssen. Eingeschlossen seiner Gefährten und Freunde aus seiner Heimatregion.

    Und selbst diese völlig aussichtslose Lage, in der er sich gegenwärtig befand, vermochte noch immer nicht, ihn zu brechen. Kryppuk war neu erstarkt und – wie es ihm nun dämmern sollte – auch nie wirklich in Gefahr gewesen. Hundemon war dagegen an seiner Stelle völlig erschöpft und zu allem Übel verflucht. Wie konnte der noch an den Sieg glauben?

    Einige Strähnen ihres pechschwarzen Haares fielen ihr über die Augen. Sie lachte trocken auf, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf. Ein bisschen so, als würde man sie hier verschaukeln. Was für ein hoffnungsloser Held.


    Kapitel 63: The Grand Final


    Der Tag begann allmählich zu dämmern. Der Sommerhimmel über Hoenn wurde in Orange, bald schon in Rot getüncht. Noch war Tageslicht in aller Großzügigkeit vorhanden, doch wurden bereits jetzt die Flutlichter des Prime Stadiums entfacht. Schließlich konnte man das nicht mitten in einem Kampf tun. Im schlimmsten Fall überraschten und behinderten sie damit einen der Teilnehmer. Und gerade vor diesem Match wollte man alle Störfaktoren fernhalten. Es war schließlich das wichtigste des gesamten Turniers. Der Höhepunkt eines energiegeladenen Wochenendes.

    Ryan erwartete bereits im Tunnel Cays aufbauschende Eröffnungsrede. Er war Bella unterdessen aus dem Weg gegangen. Hatte vermeiden wollen, von ihren Psychospielchen aus der Fassung gebracht zu werden und sie daher eiskalt ignoriert. War ihm sogar ganz gut gelungen, was die Agentin mit Sicherheit mindestens zum Schmunzeln gebracht haben musste. Eigentlich besaß er ein großes Selbstvertrauen in seinen Charakter und seine Nerven, aber gleiches galt auch für Andrew und der war unmittelbar vor dem Halbfinale ein emotionales Wrack gewesen. Hätte Ryan ihn nicht wachgerüttelt – wer wusste schon, wie dieser Kampf verlaufen wäre. Wobei sich das Ende leider trotzdem nicht hatte positiv gestalten lassen.

    Das war aber nicht der einzige Grund, warum Ryan hier ausharrte. Er wollte ihr erst wieder in die Augen sehen, wenn sie sich auf dem Kampffeld gegenüberstünden. An jedem anderen Ort auf der Welt war sie ihm überlegen. War abgebrühter, kaltschnäuziger, hemmungsloser und ganz einfach lebenserfahrener, da sie einen solch rauen Pfad eingeschlagen hatte. Auf dem Kampffeld allerdings, da fühlte er sich wohl. Da besaßen Worte kein Gewicht. Da wurden die Fähigkeiten getestet, von denen er etwas verstand. Er wollte ganz einfach vermeiden, Bellas Spiel zu spielen. Und stattdessen sein eigenes Spiel durchziehen.

    „Leute, ich bin ehrlich mit euch. So einen geilen Tag hab ich sehr, sehr lange nicht erlebt“, erklang Cays stimmte dumpf aus dem Innenraum. Man konnte förmlich heraushören, wie glücklich, geradezu fassungslos dankbar er sich schätzte, all diesen kämpfen beigewohnt zu haben. Sie sogar kommentiert zu haben. Das Publikum schien seine Ansicht zu teilen und applaudierte bereits jetzt. Einige begeisterte Pfiffe mischten sich darunter.

    „Wie alles muss aber auch der Summer Clash ein Ende haben und so viel verspreche ich euch – diese zwei hier werden dafür sorgen, dass es ein absolut würdiges ist!“

    Musik setzte ein. Schwere Paukenschläge, tiefe Violinen. Ein Orchester begleitete den heroischen Aufmarsch eines Heeres. Aufgeregt und ungeduldig huschten die Blicke der Zuschauer umher. Kaum hielt es sie auf den Stühlen, obwohl noch nicht einmal die Kontrahenten erschienen waren. Melody krallte sich gar in Audreys Arm und merkte gar nicht, dass sie ihr tatsächlich Schmerzen bereitete. Sie schluckte es runter. Die Kleine konnte sie nicht mehr bändigen. Andrew und Sandra verweilten in den ansonsten völlig ausgestorbenen Katakomben und verfolgten die Übertragung am Monitor. Beide mit verschränkten Armen und steifen, angespannten Mienen. Die Luft war zum Schneiden dick hier unten.

    Für das Finale hatte man in Sachen Licht und Show nun alle Register gezogen. Suchscheinwerfer schwenkten durch den Innenraum. Weitere waren am Fuße der Betonmauer aufgestellt worden und warfen bunte Farben in die Luft. Die Tunnelausgänge waren verdunkelt, sodass man selbst aus optimalem Winkel keinen Meter weit reinzusehen vermochte. Einige Männer hatten während der Pause irgendeine kabelartige Struktur am Rahmen verlegt. Der Weg bis zu den Trainerzonen auf dem Feld wurde von mehreren schwarzen Boxen gesäumt, die unter Schwerstarbeit angeschleppt worden waren. Sicher eine Vorrichtung für Feuerwerkskörper oder Ähnliches.

    „Was für ein Tag, was für eine Geschichte. Eine absolute Größe in der Trainerszene trifft auf eine Newcomerin sondergleichen. Und ganz ehrlich, bei dem was uns die Beiden bislang gezeigt haben, könnte das hier genauso gut das Hoenn Liga Finale sein!“, führte Cay weiter aus, wurde dabei immer lauter und anstachelnder. Tja, es fiel tatsächlich schwer, ihm hierbei zu widersprechen. Sicher hatten schon schwächere Trainer in selbigem gestanden. Umso glücklicher schätze der Stadionsprecher sich und alle anwesenden Zuschauer, dass sie diesen Kampf hier beim Summer Clash bestaunen durften.

    „Also will ich auch, dass sie wie bei der Hoenn Liga empfangen werden!“

    Das Publikum drehte auf. Wollte Cay scheinbar umgehend zufriedenstellen. Die Tatsache, dass er gegen die Massen anschreien musste, sollte das problemlos bewerkstelligen. Selbst die Musik aus den Lautsprechern war kaum noch zu hören, erreichte aber gerade ihren Höhepunkt.

    „Die Bühne ist bereit. Ihr seid´s auch?“

    Cay hielt einen Moment inne und sog die Atmosphäre auf. Er würde es wohl erst in einigen Tagen mit Sicherheit entscheiden können, aber die Vermutung lag nahe, dass er in seinem Job noch nie so viel Spaß gehabt hatte wie heute.

    „Und ich wurde eh bereit geboren. Also lasst die Trainer rein!“

    Eine Kette an Feuerwerkskörpern explodierte an den Rahmen beider Tunnelausgänge. Der Lärm hallte im Innenraum so stark wider, dass er ohne die Anspannung und das Adrenalin Kopfschmerzen bereiten konnte. Gleichzeitig begann das Innere wie ein Blitzgewitter zu flimmern und enthüllte zwei menschliche Silhouetten. Eine zweite Kette wurde gesprengt und anschließend eine Funkenfontäne horizontal Richtung Kampffeld entzündet. Sie trafen auf Flammensäulen, die den Weg säumten, welche die Trainer zu ihrem vorgewiesenen Platz zurückzulegen hatten. Beinahe sekündlich wurde Feuer in die Luft geworfen.

    Sowie sich die Funken gelegt hatten, wurden beide Tunnel hell erleuchtet. Nicht das verspielte bunte Farbenspiel der bisherigen Runden. Silber und Gold mischten sich hinter ihnen. Schienen so grell, dass die Trainer nach wie vor kaum mehr als Silhouetten waren. Sie setzten sich in Bewegung, traten diesmal gemeinsam ins Freie. Beide mit festen, aber gleichzeitig langsamen Schritten. Entschlossen, doch nicht hastig über übereifrig. Bella hatte ihr süffisantes Lächeln aufgesetzt, hielt den Kopf allerdings tief, sodass nur ein winziges Funkeln ihrer bernsteinfarbenen Augen aufblitzte. Sie wirkte gewohnt souverän und verschlagen. Ryan dagegen schlenderte seinen Pfad entlang, wie ein Kampfsportler auf dem Weg zum Ring. Konzentrierte sich überhaupt nicht auf das, was vor ihm lag, sondern lediglich auf die nächsten ein, zwei Meter vor seinen Füßen. Nicht auf die Show, nicht auf das Publikum und schon gar nicht auf Bella. Er war völlig in sich gekehrt, doch verriet seine hohe Körperspannung absolute Bereitschaft und Siegeswillen.

    Nicht einmal Melodys Rufe vermochten ihn aus diesem Zustand zu zerren. Sie stand mal wieder direkt and der Brüstung und lehnte sich gefährlich weit nach vorn. Auf halbem Weg ließ sie das Toben und Jubeln dann aber plötzlich sein. Ein Arm ward noch in die Luft gereckt und senkte sich nur langsam wieder nieder. Ihr Augen schimmerten. Sie drückte eine Faust an ihren Mund, doch erkannte man noch spielend das breite Lächeln darauf. War es irrwitzig, dass sie so stolz auf ihn war? Sowohl auf seine bisherigen Leistungen als auch sein Auftreten im Allgemeinen? Sie hatte doch eigentlich gar keinen Anteil daran. Das kleine Bisschen an moralischem Beistand, dass sie ihm lieferte, konnte nun wirklich nicht den Unterschied machen. Noch bildete sie sich ein, dass niemand sonst es besser könnte.

    Ryan war nicht die einzige Person, die jener Behauptung widersprochen hätte, würde Melody die Worte laut sagen. Audrey kannte das Gefühl, wenn ein ganz besonderer Mensch hinter einem stand. Jemand, der mehr war als bloß ein treuer Fan oder ein guter, vielleicht gar bester Freund. Sie war einst, als sie ihren Eltern offenbart hatte, dass sie Trainerin werden wollte, nicht gerade auf Begeisterung gestoßen. Und schon gar keine Unterstützung. Ihre Eltern waren – was wohl niemand, der Audrey kannte, erwarten würde – ein wenig verbohrt und altmodisch. Böse Zungen würden das Wort spießig in den Mund nehmen. Sie hatten damals behauptet, dass sie das nicht nötig und eine idyllische Kleinstadt wie Rosalia auch keinen Bedarf an Pokémontrainern hatte. Die machten nur Krach und Ärger.

    Beim Aufbruch zu ihrer ersten Reise hatte betretenes Schweigen dominiert. Ihr Dad sich nicht einmal verabschiedet, was Audrey sehr verletzt hatte. Dennoch war sie froh, ihrem rebellischen Freigeist gefolgt zu sein, anstatt ihre Eltern glücklich zu machen. Und nach einem Jahr des Trainierens und Kämpfens waren sie ganz unerwartet bei einem Turnier im Stadion erschienen und hatten sie angefeuert. Zunächst hatte sie sich vor Freude kaum auf ihr Match konzentrieren können. Beinahe hatte sie geweint. Letztendlich war die Anwesenheit der Beiden jedoch ein derart großer Motivationsschub gewesen, dass sie das Turnier nicht bloß gewonnen hatte, sondern durchmarschiert war. Es war ihr erster großer Triumph gewesen. Obwohl mindestens ein halbes Dutzend Namen das Teilnehmerfeld bekleidet hatten, die sie nie zu schlagen geglaubt hätte.

    Mit Sicherheit war Melodys Anwesenheit eine genauso große Stütze für Ryan. Wenn er sie sich denn im Hinterkopf behalten konnte. Audrey war im Halbfinale nicht sicher gewesen, ob der stetig schreiende Rotschopf zu ihm durchgedrungen war. Gegen diese Déreaux sollte das besser klappen. So sie auch nicht daran zweifelte, dass Ryan dieses Finale gewinnen würde, nahm er lieber jede noch so kleine Hilfe in Anspruch.

    Dann hoben sich Audreys Brauen und sie schob sogar ihre Sonnenbrille hoch, die trotz des langsam dämmernden Tages auf ihrer Nase ruhte. Ryans Hände friemelten an seinen Gelenken rum. Aus dieser Distanz vermochte sie zunächst nicht erkennen, was er da tat, doch dann konnte sie beobachten, wie er einen seiner Lederhandschuhe auszog. Tatsächlich sorgte das um sie herum für vereinzeltes Getuschel und sogar ein dezentes Raunen. Bei seinem Kampf gegen Terry war sie von selbigem zu eingenommen gewesen, um es zu bemerken, aber auch da hatte es Reaktionen auf das Ausziehen seiner Lederhandschuhe gegeben. Anscheinend war selbst hier in Hoenn diese Geste nicht gänzlich unbekannt.

    Der zweite wurde ebenfalls von der Hand gezogen. Beide landeten auf dem Sand, unweit von Ryans vorgewiesener Kampfposition. Melody drehte sich nach Audrey und grinste sie vielsagend an. Es wirkte ansteckend auf die Trainerin aus Rosalia. Das hatte sie noch nie beobachtet. Er wollte von Beginn an 110 Prozent geben. Kein Abtasten, kein Taktieren, sondern das Gaspedal sofort durchtreten. Gewagt, sicherlich. Besonders in einem Finale. Und besonders bei diesem Gegner. So befanden auch Andrew und Sandra weiter unten. Sie tauschten ebenfalls einen Blick aus, der jedoch wenig euphorisch war. Tatsächlich schürte die Geste einige ungute Befürchtungen. Aber sie schätzten, dass er irgendein Signal senden musste, irgendetwas anders machen musste als üblicherweise. Denn mit seinen üblichen Methoden würde er Bella nicht in Verlegenheit bringen können. Zumal die selbige nun zu Genüge beobachtet hatte.

    Alles in Allem war es ein Risiko. Ein Münzwurf, der eine wesentliche Richtung für das anstehende Match setzen konnte. Und Risiken mussten sie eingehen. Sie alle. Jetzt wie auch in nach dem Summer Clash.


    Beide Trainer hatten ihre Kampfposition erreicht. Ein letztes Mal schossen hinter ihnen Flammen in die Höhe. Erst in einer Welle von ihnen fort zu den Tunneln und dann wieder zurück, um mit der letzten Batterie weitere Knaller am Fuße der Betonmauer rund um sie herum zu zünden. Es war der Höhepunkt der Eröffnungsshow. Alle Scheinwerfer, bunt wie farblos, zielten nun ins Zentrum des Innenraums und erhellten ihn, sodass man meinen könnte, es wäre noch Mittag. Und die meisten von ihnen würden für den recht des Abends erleuchtet sein, da das natürliche Licht bereits zu schwinden begann und sich das Finale wohl bis nach Einbruch der Dunkelheit ziehen würde. Der Jubel erreichte ebenfalls seinen Zenit. Die Geduld der Zuschauer sowie des Stadionsprechers dagegen, ihre Grenze.

    „Ladies and Gentleman – Ryan Caraprso und Bella Déreaux!”, präsentierte Cay die Finalisten ein letztes Mal ausschweifend. Die Agentin stand etwas geneigt mit gehobenem Kinn. Zum ersten Mal strahlte sie nicht die verspielte Überlegenheit aus, sondern war sich der Schwere der vor ihr liegenden Aufgabe absolut bewusst. Ebenso wie eines rubinrotes Augenpaares, das sie hinter sich im Tunnel erahnte und zu dem sie sich nur zu gern umgewandt hätte. Wie könnte ihr Sheilas bohrender Blick noch entgehen? Sie hatte ihn so oft und lange in letzter Zeit auf sich gewusst. Mittlerweile war es wie ein Instinkt. Von wo aus Mila wohl zusah?

    Trotz diesem Brocken vor und der Bewachung hinter ihr, behielt Bella ihr selbstsicheres Lächeln bei. Ihr jenes endlich mal aus dem Gesicht zu wischen, schien schwieriger als Team Rocket in die Knie zu zwingen. Wurde höchste Zeit, dass jemand das bewerkstelligte. Beides, so befand Ryan. Gegenwärtig würde er sich aber auf ersteres konzentrieren. Er hatte sich, im Gegensatz zu Bella, ganz nach vorn gewandt, als erwarte er ihre Attacke. Fast schien er sie stumm aufzufordern, es ruhig zu versuchen. Gleichzeitig hatte er den Kopf auf die Seite gelegt. Geduldig, abschätzend, wie ein Arbok in Angriffsstellung, das mit tückischem Wanken eine unüberlegte Bewegung provozieren wollte, um mit seinem tödlichen Biss zurückzuschlagen.

    Der Schiedsrichter betrat das Feld. Ein gewöhnlicher Mann mit Schnauzer im fortgeschrittenen Alter. Er wirkte extrem routiniert, schien sich von dem ganzen Drumherum, dem Lärm und dem Licht überhaupt nicht beeinflussen zu lassen. Seine Schritte waren stramm und in einem perfekten Rhythmus, als würde er Marschieren. Die Fahnen klemmten unter einem Arm, während er in den Händen eine alte Brille hielt und beiläufig putzte. Sowie er seine Position erreicht hatte, vergewisserte er sich scheinbar zum ersten Mal der Anwesenheit der beiden Finalisten und begann sogleich, die Regeln festzulegen.

    „Der Finalkampf zwischen Ryan Carparso und Bella Déreaux wird in Kürze beginnen!“

    Seine Stimme war laut und kräftig. Ganz anders als man aufgrund seiner Erscheinung erwartet hätte. Der stellte sogar das Eisenblut Dan Hayes in den Schatten. Dessen Statur hatte etwas von einem Soldaten gehabt. Der Unparteiische hier sprach wie sein Ausbilder. Obendrein wie einer, vor dem man Respekt haben musste.

    „Beide Seiten dürfen drei Pokémon einsetzten. Auswechslungen sind verboten. Ausgenommen sind Attacken, die einen Wechsel zur Folge haben. Das Match endet, wenn alle drei Pokémon einer Seite kampfunfähig sind. Sollten die letzten beiden Pokémon gleichzeitig K.O. gehen, wird auf beiden Seiten ein Viertes Pokémon gewählt und bis zur Entscheidung weitergekämpft.“

    In offiziellen Kämpfen wurde im Falle eines doppelten K.O. normalerweise das Pokémon zum siegreichen erklärt, das als zweites zu Boden gegangen war. Geschah auch dies gleichzeitig, entschied die Ausführung der letzten Attacke. Bei großen Turnieren allerdings wollte man den Sieg nicht solchen Halbzufällen überlassen. Der Sieger sollte klar ermittelt sein, weswegen ein Ausgang frei von sämtlichen Zweifeln ermittelt, ja erzwungen werden wollte. Daher griffen diese haarspaltenden Regeln nur dann, wenn bereits beide mit ihrem sechsten und somit allerletzten Pokémon kämpften. Beim Summer Clash war es allerdings selten genug, dass überhaupt zu einem vierten gegriffen werden musste.

    „Wie über die gesamte K.O. Phase schon, wählen die Trainer ihr erstes Pokémon gleichzeitig“, fuhr er fort und warf den Kontrahenten einen anweisenden, erwartungsvollen Blick zu. Keiner stellte Sichtkontakt zu ihm her, doch kamen sie der Anweisung nach und zückten jeweils einen Pokéball. Sowie sie vergrößert wurden, schlug Melody das Herz nun sprichwörtlich bis zum Hals. Das Warten hatte ein Ende. Entgegen der tausenden Zuschauer um sie herum, welche diese Tatsache frenetisch bejubelten und ihre Favoriten anfeuerten, verfiel sie ihn überwältigtes Schweigen. Sie war eigentlich ein taffes Mädchen, manchmal aufgesetzt und überspielt, aber dennoch. Her und jetzt wurde sich dagegen zum absoluten Nervenbündel. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie es einem dort unten an Ryan Position ging.

    Der Schiedsrichter nickte fest und hob seine beiden Fähnchen. Zwei Pokébälle wurden daraufhin in die Luft geschleudert. Cay schien vor Aufregung vor seinem Mikrofon zu zappeln und zu springen.

    „Die Pokémon für die erste Runde wurden gewählt. Wer wird das Finale eröffnen?“

    Es waren zwei sehr unterschiedliche Staturen, die sich aus dem Lichtblitzen materialisierten. Vor Ryan erschien ein kräftiges Wesen in gekrümmter Haltung von ozeanblauer Farbe. Ein muskelbepacktes Amphibium, das den schweren Körper mit dem wuchtigen Armen stützte und mit seinen sensiblen Flossen auf dem Kopf die Luft ertastete. Nicht nur das Publikum meinte, sie knistern zu fühlen. Zwei kleine Augen in leuchtendem Orange taxierten den felinen Gegner. Dieser war eine schneeweiße Raubkatze mir einem säbelartigen Schweif und einem geschwungenen Horn an der rechten Schläfe. Sie setzte eine Pfote nach vorn und fuhr ihre schwarzen Klauen aus.

    „Carparso hat sich für Sumpex entschieden und Déreaux kämpft einmal mehr mit Absol!“

    Das Erscheinen des Unlichtpokémons löste in Sandra einen missbilligenden, frustrierten Impuls aus, dem sie nur mit Mühe zu unterdrücken vermochte. Wäre sie draußen und allein, wäre ihr glatt danach, auf den Boden zu spucken, obwohl sie sich solche kindischen und niederträchtigen Gesten eigentlich seit Jahren abgewöhnt hatte. Sie war keine grantige Teenagerin mehr. Sie war Drachenmeisterin Sandra und so wollte sie sich auch immer und zu jeder Zeit präsentieren. Und obwohl sie Andrew kein sichtbares Anzeichen für ihren Unmut lieferte, ahnte der genau, was gerade in ihr vorging. Er hielt seinen Blick aber steif auf den Bildschirm gerichtet.

    „Beide Pokémon haben heute bereits grandiose Leistungen gezeigt und uns hellauf begeistert. Außerdem sind beide noch ungeschlagen bei diesem Turnier“, hielt Cay wahrheitsgemäß fest. Ryan biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Ohne die Fähigkeiten von Schwester Joy in Frage stellen zu wollen, durfte man anzweifeln, dass Absol bereits wieder im Vollbesitz all ihrer Kräfte war. Obwohl siegreich, hatte sie das Feld nach dem Kampf gegen Sandra ebenso wenig aus eigener Kraft verlassen können, wie Shadrago und Dragonir. Bella musste großes Vertrauen in ihre Stärke legen, wenn sie die angeschlagene Schattenkatze über Ninjask und Amfira priorisierte. Wobei es nicht auszuschließen war, dass diese zwei noch folgen würden.

    Der Schiedsrichter machte sich daran, das Finale zu eröffnen. Ein letzter prüfender Blick galt Trainern und Pokémon.

    „Runde 1 lautet Sumpex gegen Absol.“

    Ein letztes, tiefes Durchatmen. Alle überflüssigen Gedanken und Gefühle beiseite schieben. Die Fahnen wurden wuchtig herabgeschwungen.

    „Beginnt!“



    Obwohl zehntausende Stimmen am Brüllen und am Toben waren, fühlte sich Ryan, als sei er von völliger Stille umgeben. Er befand sich nicht länger im Prime Stadium. Nicht einmal auf der Erde. Er und Bella waren aus dem Fluss der Zeit gerissen und standen sich an einem unwirklichen Ort gegenüber, den kein Mensch je erreicht hatte und auch nie erreichen würde. Die Erde über ihren Köpfen und der Himmel unter ihren Füßen. In der Ferne sah man bereits die Sterne und Planeten des Weltalls und boten ein Lichtspiel so farbenprächtig wie die Eröffnungsshow dieses Kampfes. Wolken zogen an ihnen vorbei, nahe genug, um sich in sie zu stürzen und hinauf zum Erdball tragen zu lassen. Wenn Mew einen Ort für sich beanspruchen sollte, den sie aufsuchte, um Einsamkeit und Ruhe zu finden, so musste er in etwa so aussehen.

    Die Sekunden verstrichen. Jede einzelne dehnte sich auf die Länge eines ganzen Tages. Weitere Gedanken um Strategien oder Taktiken musste sich keiner machen. Das war zu Genüge erledigt worden, während sie im Tunnel gewartet hatten und in Ryans Fall auch noch lange davor. Sie standen sich im Duell gegenüber. Doch noch hatte keiner den Revolver gezogen.

    Normalerweise würde Cay hier einen dämlichen Spruch drücken. Aber selbst an ihm ging die spannungsgeladene Atmosphäre zwischen den Beiden nicht vorbei. Keiner wollte überfallartig den Gegner zu Kontern einladen oder anderweitig Angriffsfläche bieten. Vor allem Bella nicht, da inzwischen jedem Amateur klar geworden wäre, wie gut sich Ryan auf diesen Kampfstil verstand. Bei Terry war er aus seiner Routine herausgebrochen, um ihn zu überraschen. Hier, gegen Bella, würde das kein zweites Mal funktionieren, weswegen er auf seine bewährten Methoden zurückwechselte. Er brauchte den Kampf nicht proaktiv gestalten. Musste weder Fehler erzwingen noch das Tempo bestimmen. All das durfte Bella gerne haben.

    Die schien jedoch ebenfalls nicht gerade scharf darauf, den ersten Zug zu machen. Sie wartete lässig ab, hatte einen Arm in die Seite gestemmt und spielte das Anstarr-Spiel mit dem Johtonesen.

    Ironischerweise schien das Publikum kaum verärgert, nicht einmal verwundert über die Verzögerung der tatsächlichen Kampfhandlung. Allein, dass das Match eröffnet war und sich zwei phänomenal starke Pokémon gegenüberstanden, reichte aus, um den Lärmpegel auf den Rängen oben zu halten. Ein Windzug wehte durch den Innenraum und spielte mit Haar und Kleidung der Trainer, wehte den Sand auf. Sein Flüstern ging im Lärm der Massen unter.

    Ryans Kiefer war sehr angespannt. Allerdings nicht vor Angst oder Nervosität. Er verdeutlichte seine Entschlossenheit und seinen felsenfesten Standpunkt. Ein Mundwinkel zuckte bei Team Rockets Agentin nach oben. Nun gut. Mal sehen, wie eisern er tatsächlich stand. Zum Zurückweichen wollte sie ihn jedoch nicht zwingen. Solche primitiven Kräftevergleiche waren was für die Vorrunden. Hier im Finale sollte zwar hart und offensiv, aber auch clever gekämpft werden. Angreifen sollte er sie! Damit sie ihrerseits mit allem, was sie hatte, zurückschießen konnte.

    „Absol Schätzchen, Schwerttanz.“

    Den Ablauf kannten alle zu gut. Die leuchtenden Klingen, die aus dem Boden emporstiegen und die Raubkatze umkreisten, während die ihren Namen zum Himmel hinauf schrie, hatten sie alle bereits einmal beobachtet. Den erfahrenen, bewanderten Zuschauern – vorwiegend Trainer, die mittlerweile nicht mehr als solche waren – wussten allesamt sofort, was Bella damit bezweckte. Sie eignete sich zum Teil Ryans Strategie an. Verwendete seine bevorzugte Taktik gegen ihn und verlockte früh zu einem Angriff. Natürlich was das ein Köder. Und wenn Ryan den schluckte, würde Sumpex postwendend die Quittung kassieren.

    Doch das stämmige Wasserpokémon rührte sich nicht. Schließlich hatte sein Trainer nichts befohlen. Keiner von Beiden hatte sich auch nur gerührt. Nicht einmal eine Miene hatte Ryan verzogen. Er hielt unbeeindruckt an seinem Plan fest und ließ sich nicht auf´s Glatteis führen. Dann waren Absols Attacken fortan eben stärker und gefährlicher. Na und? Was soll´s?

    Cay schien sich diese Passivität nicht zu erschließen. Und sicherlich war er nicht der Einzige im Stadion, dem das so ging.

    „Oh oh, was denkt sich Carparso denn dabei? Dieses Absol kann so schon böse zuschlagen, aber jetzt…?“

    Bella schürzte die Lippen. Besonnen wie eh und je. Scheinbar war ihm das Risiko eines Konters zu hoch. Fürchtete es gar so sehr, dass er die Stärkung seines Gegners ohne Weiteres in Kauf nahm. Nun gut. Wenn selbst das ihn nicht zum proaktiven Handeln bewegte, musste Bella eben direkter vorgehen.

    „Jetzt greif an mit Schlitzer!“, sprach sie, als müsse sie ihre Kampfeslust zügeln, die Bestie in ihr im Zaum halten. Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten dagegen geradezu mordlüstern. Noch nie zuvor hatten sie das so früh und so intensiv wie jetzt getan. Andrew und Sandra erkannten es über das vergrößerte Bild auf dem Fernseher. Ansonsten blieb es wohl von jedem außer Ryan selbst ungesehen. Diese Iris, dieser Ausdruck…

    Ryan reagierte noch immer nicht, als Absol lossprintete. Er spreizte die Beine ein wenig und grub die Füße in den Sand, als erwarte er den Angriff gegen sich selbst. In aller Ruhe und doch unter höchster Konzentration behielt er die Schattenkatze im Auge und passte den richtigen Moment ab. Er holte tief Luft, wies Sumpex aber an, ohne dabei die Stimme arg zu erheben.

    „Aquawelle.“

    So fokussiert und neutral hatte er bislang nicht einen Befehl ausgerufen. Seine Emotionen und sein Feuer waren für gewöhnlich zwei seiner stärksten Waffen, wie sich im Halbfinale eindrucksvoll gezeigt hatte. Hier aber durfte er sich nicht von ihnen leiten und überwältigen lassen. Gegen jeden, nur nicht gegen Bella.

    Sumpex erschuf vor seinem breiten Maul eine Wasserkugel von der Größe eines Medizinballs und schleuderte sie auf den Boden vor sich. Sie sich daraus auftürmende Wasserwand nach fast die gesamte Breite des Feldes ein. Vielleicht wäre es möglich, sie zu überspringen, aber dann würde Bella ihre Partnerin ihrerseits in eine neue verwundbare Position bringen. Dann doch lieber mit dem Kopf durch die Wand. Fast buchstäblich, wollte erwähnt sein.

    „Wechsel auf Psychoklinge!“

    Absol stoppte keineswegs, bremste nicht einmal ab. Sie machte lediglich eine ausholende Bewegung mit dem Kopf, während ihr Horn purpurfarben zu leuchten begann. Mit einem Satz beförderte sie sich einen Meter in die Luft und warf ihn nach vorn. Das leuchtende Klingengeschoss zerteilte die Wassermassen mühelos, ließ sich weder von ihnen noch von sonst etwas auf seinem zerstörerischen Weg aufhalten.

    Bella war sich des Risikos ihrer halsbrecherischen Taktik durchaus bewusst. Sicher hatte Ryan nicht erwartet, Absol hiermit aufhalten zu können. Der wahre Gegenschlag würde erst noch folgen. Doch den war sie mehr als gewillt, mit offenem Visier zu begegnen, jetzt wo Absol die Kraft von Schwerttanz im Rücken hatte.

    Ihre Vermutung sollte sich bewahrheiten. Als sich die blaue Wand vor ihr teilte, war Sumpex auf einmal viel näher, hatte sich wohl durch das seichte Wasser so flink bewegen können, wie er es bereits einmal demonstriert hatte. Er neigte den Kopf auf die Seite, was bereits genügte, damit die leuchtende Lichtklinge ihn hauchzart verfehlte. Doch so knapp es auch gewesen war, geriet sein Manöver keineswegs ins Stocken. Seine orangefarbenen Augen waren strikt und zielstrebig nach vorn gerichtet, fixierten das nun äußerst angreifbare Absol.

    „Hammerarm!“

    Sowohl im Auge der Schattenkatze als auch ihrer Trainerin blitzte es auf, sodass man einen kalten Schauer auf ihrer beider Rücken erahnen konnte. Auf diese Attacke konnten sie wirklich am meisten verzichten. Aber es war nicht so, als wäre damit nicht zu rechnen gewesen.

    „Finte, los!“

    Beinahe konnte man einen Luftwirbel sehen, der Sumpex‘ Faust voraus ging. Und spüren würde man ihn sicher auch, befände man sich nicht in sicherer Entfernung auf den Tribünen. Was Absol zu spüren bekäme, wollten sich Bella sowie ihre Fans lieber nicht ausdenken, doch reagierte sie gerade noch schnell genug und ward binnen eines Wimpernschlages ganz plötzlich verschwunden. Einfach weg, in Luft aufgelöst. Der Konterangriff erfolgte aus dem toten Winkel und zielte genau auf das Genick. Doch in dem Moment, in dem Absol aufgetaucht war und zum Schlag ausholte, zuckten die empfindlichen Flossen auf dem Kopf des Amphibiums. Diese waren sozusagen mit einem sechsten Sinn ausgestattet und verrieten den Hinterhalt, sodass Sumpex, ohne sich umzudrehen, eine Faust über die Schulter reckte und den Angriff mit einem energischen Grunzen abblockte. Die schneeweiße Raubkatze fauchte frustriert und wollte eigentlich sofort den nächsten Versuch starten, sah aber ein, dass Bellas rascher Befehl zum taktischen Rückzug hier der richtige war. Sie durfte nicht zu lange in unmittelbarer Nähe von Sumpex aufhalten. Früher oder später würde er sie doch einmal zu fassen kriegen – und weniger Treffer als Sandras Dragonir benötigen, um sie bewusstlos zu schlagen.

    Für einen kurzen Moment atmete der Kampf durch, erlaubte sich eine Verschnaufpause nach diesem ersten Schlagabtausch, der jedoch auf beiden Seiten ohne Erfolg geblieben war.

    „Das Bollwerk namens Sumpex steht mal wieder bombenfest. Aber noch wirkt Déreaux etwas zögerlich. Sie hat wohl aus den Fehlern ihrer Vorgänger gelernt“, legte Cay die Eröffnung dar. Umso angespannter waren er und die Zuschauer auf den ersten Treffer. Einige, darunter wie immer auch Melody, sprangen auf ihren Sitzen ständig auf und ab, wenn man dachte, dass es nun soweit war. Ungeachtet auf welcher Seite es geschehen würde.

    Bella schnaubte einmal und warf sich das Haar zurück. Diese Misserfolge kitzelten ihren Ehrgeiz. Und ihren Siegeswillen. Und kratzten gleichermaßen an ihrem Ego. Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Für ihn musste sie schon mehr aufbieten.

    „Legen wir einen Zahn zu? Was meinst du, Süße?“

    Mit ihrer gebückten Lauerstellung antwortete Absol ganz unmissverständlich. Bella wies mit einem zufriedenen Grinsen Ruckzuckhieb an, doch sollte ihre Partnerin Sumpex erst umkreisen und verwirren. Einen so uninspirierten Frontalangriff brauchte sie gar nicht erst versuchen. Ungeachtet des Tempos.

    Aus übersichtlicher Entfernung konnte man die Bewegungen Absols sicher noch gut ausmachen, aber ein so schwerfälliges Pokémon wie Sumpex, das sich auch noch im Zentrum ihres Bewegungsradius‘ befand, konnte da nicht mithalten. So schnell konnte er sich gar nicht umdrehen, wie sie schon wieder auf der anderen Seite war. Selbst seine gestochen scharfen Augen, die in jedem trüben Tümpel zu sehen vermochten, erkannten lediglich ein verzerrtes, weißes Abbild des Gegners, sowie eine gleißende Lichtschliere, die dem folgte. Ryans Körperhaltung neigte sich, ging tiefer. Damit versuchte Bella wohl die feinen Sinne von Sumpex‘ Kopfflossen auszuschalten. Die verrieten ihm zwar Dinge, welche sich seinem Blick entzogen, doch konnte er darauf trotzdem nicht schnell genug reagieren. Auch der Stadionsprecher sah ihn hier in einer Zwickmühle, aus der er keinen Ausweg fand. Genau einen solchen Moment hatte Bella gewollt.

    „Jetzt Nachthieb!“

    Das Weiß, das dem Körper folgte, wurde auf einmal von schmalen Streifen und Fetzen aus Schwarz durchzogen. Abrupt stoppte das Absol Weibchen, schlidderte noch einen Meter über den Sand und grub tiefe Furchen mit ihren Pranken. Von den zwei vorderen ging eine dunkle Aura aus Schattenenergie aus, die das restliche Weiß des Ruckzuckhiebs sowie Sand und Staub in unmittelbarer Nähe fortwehte. Sie befand sich im Rücken von Sumpex. Ein einziger Satz genügte ihr, um die Distanz gänzlich zu überbrücken. Ihre tödliche Klaue war erhoben und zielte auf den Hinterkopf.

    „Schutzschild!“

    Der Schlag war wie auf Panzerglas. Sumpex vermochte diese verdammte, rettende Lichtkuppel mittlerweile binnen eines Sekundenbruchteils zu erschaffen. Schwarze Nebelfetzen wurden in alle Richtungen geschlagen, konnten sie auf Teufel komm raus einfach nicht durchdringen. Bellas Kiefer spannten sich tatsächlich frustriert an, als sie den erneuten Fehlversuch beobachten musste. Wenn auch nur ein bisschen.

    Die von Ryan verschoben sich dagegen, sodass ein euphorisches und feuriges Grinsen resultierte. Als nächsten formten seine Lippen erneut das Wort „Hammerarm“. Mit einem protzigen Blick über die Schulter ließ Sumpex den Schild zerspringen und ballte eine Faust. Jegliche Versuche, die Gefahrenzone zu verlassen, würde scheitern. Absol war fällig!

    So hatte das Wasserpokémon zumindest gedacht.

    „Doppelteam!“, erschallte es von der anderen Seite des Feldes. Im selben Moment, in dem die letzte Silbe geendet hatte, ging ein erregter Aufschrei durch die Massen, als die Faust bereits auf die Stirn der Schattenkatze einschlug. Und durch sie hindurch sauste, wie durch einen Geist. zeitgleich erschien sie zu Sumpex‘ Linken. Dann eine weitere zur rechten, zwei vor ihm, dann hinter ihm. Sie hatte es gerade noch geschafft, ihre Position mit einem der Doppelgänger zu tauschen.

    „Boah, jetzt hab ich echt gedacht, Déreaux hätte es erwischt, aber der Tanz auf der Klinge geht weiter. Noch immer kann keine Seite einen Vorteil erkämpfen“, kommentierte Cay das Gesehene. Ryan sah das völlig anders. Hatte der Stadionsprecher etwa vergessen, dass Absol Doppelteam beherrschte? Er hatte es jedenfalls nicht. Hatte quasi darauf gewartet, dass Bella nach dieser Fluchtoption griff. Ab hier erkannte er seinen eigenen Vorteil. Und seine Chance.

    „Nochmal Hammerarm, schlag auf den Boden!“

    Sumpex faltete die massigen, schaufelartigen Fäuste ineinander und hob sie hoch über den Kopf. Ein Ketten sprengender Kampfschrei rollte durch seine Kehle und bewerkstelligte beinahe ein Vorbeben. Bella hätte reagieren müssen. Hätte das Manöver unterbinden müssen. Aber nachdem sie eben gerade so davongekommen war, zögerte sie einen winzigen Moment. Und so wie dieser verstrichen war, war es bereits zu spät. Die Erde begann zu zittern, als käme gleich eine Horde Geowaz angerollt. Im Epizentrum ward Sand aufgeschleudert und Gestein zertrümmert. Selbst nahe der Betonwand unterhalb der Zuschauer vibrierte der Boden noch. Ryan wollte dies Sumpex‘ Eifer gutschreiben, obgleich es nicht gerade eine vorausschauende Verwendung seiner Kraft war. Diese Menge hätte es niemals gebraucht. Schließlich genügte schon ein sachtes Zittern oder Rütteln des Erdreiches, um die Trugbilder Absols zu verraten. Die waren für eine Sekunde nämlich verzerrt, wie ein gestörtes Fernsehbild. Nur das echte Absol erschien klar und deutlich in der Flanke. Es wurde sofort entdeckt. Die Augen von Trainer und Pokémon zielten zeitgleich in dieselbe Richtung und verengten sich. Sie stand obendrein auf wackeligen Beinen. Nun war der Moment endlich gekommen, auf den Ryan hingearbeitet hatte.

    „Zeig ihnen Aquahaubitze!“

    Das Amphibium reckte nicht nur den Kopf in die Höhe, sondern begab sich gar auf die Hinterläufe, um so viel Schwung wie möglich zu gewinnen.

    „Oh oh, jetzt wird´s brenzlig für Absol!“, erschallte es derweil aus den Lautsprechern und erneut wurde die Menge aufgepeitscht. In der ersten Reihe sprang man bereits jetzt auf und drängte sich nach vorn. Melody verzichtete ausnahmsweise darauf, stand aber fast schon mit beiden Füßen auf ihrem Sitzplatz.

    Sumpex wandte sich auf die Seite und warf den Kopf nach vorn. Mit den Vorderläufen berührte er den Boden schon gar nicht mehr. Der Rückstoß, den die abgefeuerte Wasserkugel durch seinen Körper jagte, drängte ihn auf die Hinterbeine und musste von ihnen allein abgefangen werden. Absol fauchte wütend, doch dieses Geschoss ließ sich nicht abschrecken oder einschüchtern. Es traf sie an der Schulter, doch da sie ihrem Gegner zur Seite geneigt gestanden hatte, wurde sie komplett erfasst und mitgerissen, als sei die Aquahaubitze aus Blei. Ein Schleier aus Staub zog hinter der Flugbahn her und erreichte binnen eines Herzschlages die Mauer, wo die Attacke endlich detonierte, sodass man meinte eine mächtige Welle sei dagegen gebrandet. Gischt und Spitzwasser nässten den Bereich vollkommen ein. Allen Zuschauern, die sich an jener Stelle vorgewagt hatten, um nach unten zu spähen, erging es genauso. Ein kleiner Schauer ging auf sie nieder. Cay jaulte, grölte und sprang wie ein Flumi auf, da nun das Blocken und Wegrennen ein Ende gefunden hatte. Es war kaum zu fassen, welche Verkettung von Kontermaßnahmen dazu nötig gewesen war. Die allermeisten Kämpfe wären von solch einer Attacke direkt beendet worden.

    „Jetzt hat Carparsos Angriff endlich gesessen – und wie! Sumpex hat ordentlich Dampf im Kessel und haut alles in diese Aquahaubitze!“

    Man musste eigentlich vermuten, Absol hätte es gänzlich zerrissen. Aber man kannte Bella Déreaux hier mittlerweile zu gut. Dieses Pokémon würde sich nicht von einer Attacke ausknocken lassen. So fragil die Spezies grundlegend war, hatte dieses Exemplar bereits beeindruckendes Durchhaltevermögen demonstriert.

    Entgegen dieser Überzeugung war es allerdings sehr lange still. Der Staub legte sich nur gemächlich. Es war verwunderlich, dass die Nässe die Bildung nicht eindämmte und die Sicht früher aufklärte, aber was da an äußerst feinem Bodenmaterial nachgezogen worden war, erstickte alle Erwartungen. Da war Cays Frage nach der Wucht durchaus berechtigt.


    Ryan atmete ruhig und erlaubte sich, die Staubwolke einen Moment zu ignorieren und seine ach so gepriesenen göttlichen Augen in Bellas Richtung zu lenken. Und der Anblick überraschte ihn durchaus. Der Kopf war leicht gesenkt, doch schauten ihre bernsteinfarbenen Augen unter dem welligen Haar noch hervor. Sie wirkte mürrisch, vielleicht beleidigt? Doch bald konnte sie das Schmunzeln nicht mehr unterdrücken. Es wandelte sich schnell zu einem feisten Grinsen.

    „Wir sind dran“, wisperte sie unheilvoll und Ryan verzog herausfordernd die Miene.

    „Psychoklinge!“

    Aus dem dichten Schleier schoss eine sichelförmige Lichtklinge von purpurner Farbe hervor, die selbigen teilte und endlich Absols Gestalt preisgab. Schon auf den ersten Blick erkannte man, dass die Aquahaubitze sie übel zugerichtet hatte, doch so leicht war sie dann doch nicht zu besiegen. Auch sie konnte zäh sein. Das hatte sie Sandra bereits spüren lassen.

    Eine Antwort hatte Ryan hierauf nicht parat. Sumpex konnte sich nach Aquahaubitze, ähnlich wie bei Hyperstrahl oder Gigastoß, für kurze Zeit nicht bewegen und würde den Angriff über sich ergehen lassen müssen. Der tat das mit einem ähnlich grimmigen, wie entschlossenen Gesichtsausdruck, wie sein Trainer ihn vormachte, stieß dabei feines Spühwasser aus seinen Nüstern. Er wurde an der rechten Schulter getroffen. Wie ein vorbeirasender Zug erfasste Psychoklinge den Arm und riss ihn fast aus dem Gelenk. Eine feine Schneise schnitt mit chirurgischer Sauberkeit durch den Boden. Energisch zog Sumpex dagegen, um ja keinen Schritt zu weichen, doch zeugte der hohle Blick und die Krampfadern von unglaublicher Pein. Arceus, wie das brannte. Das Grummeln und Grollen erinnerte an einen Gewichtheber, der nicht einsehen wollte, dass er sich gerade viel zu viel zugemutet hatte und sich stur am Unmachbaren versuchte. Und schon setzte Absol mit Klingensturm nach, erlaubte keine Verschnaufpause. Sie griff im Sprint an, bewegte sich in einem weiten Boden um Sumpex herum, während das Horn an der Schläfe immer wieder herumgewuchtet wurde und scharfe Luftklingen entsandte. Sie durchschnitten pfeifend die Luft, prasselten auf ihren Gegner ein, wie Peitschenhiebe, obwohl jeder Treffer eher nach einer Axt klang, die Metall zu durchtrennen versuchte.

    Ryans Kiefer knirschten. Seine Hände ballten sich so verbissen, dass sie schmerzten. Durchhalten, standhaft bleiben. Das sagte sich leicht von seiner Position aus. Sumpex hatte den schweren Part. Die ersten paar hielt er energisch aus, ehe er bald gequält zusammenfuhr und schließlich zum Himmel hinauf schrie. Die Grundmauern seines Körpers wackelten, zitterten und drohten in sich einzustürzen. Keil Teil blieb versehrt. Aus allen Richtungen wurde er gnadenlos malträtiert. Seine Glieder begannen zu kribbeln. Das viele Training hatte ihn gelehrt, dass dies ein Vorbote sich anbahnender Taubheit war. Beinahe wäre er wie ein nasser Sack zusammengebrochen, doch er kämpfte gegen die Schmerzen an, stemmte sich mithilfe seiner kräftigen Arme. Der Kopf hing allerdings gesenkt und die unversehrte Hand krallte sich in den Boden. Er litt fürchterlich.

    Die Raubkatze schlich nicht lange um ihr Opfer umher, hetzte nun stur geradeaus und ließ die Klauen aufblitzen. Mit Schlitzer wollte sie ihm einige Narben als Andenken hinterlassen. Da ballte sich plötzlich Sumpex‘ Faust. Ryan spürte bei dem Anblick im gleichen Maße Enthusiasmus wie Erleichterung. Knapp, aber gerade noch rechtzeitig.

    „Mit Eishieb dagegen!“, rief er und ballte seine eigene Faust. Die des Amphibiums benetzte auf einmal eine massive Eisschicht und wurde von frostigem Winterhauch ummantelt. Er ging voll auf Offensive. Ohne Rückhalt und ohne Furcht vor Absols Schlag. Das konnte Bella nicht durchgehen lassen. Wenn sie im Nahkampf offen aufeinanderprallten, würde sie den Kürzeren ziehen. Sumpex war zu robust und ihr Schätzchen zu angeschlagen für die direkte Konfrontation.

    „Scanner!“

    Das Licht wechselte. Die Krallen nun wieder schwarz und matt, völlig ohne Glanz. Dafür leuchteten ihre Augen sachte auf. Jedoch in einem leicht blassen Naturgrün. Mit unnatürlicher Reaktionszeit duckte sie sich und ließ den linken Haken ins Leere sausen. Das Publikum reagierte mit verblüfften Aufschreien und anschließendem Schweigen. Der Atem wurde unter all der Spannung schon längst angehalten. So lange, dass manch einer fast in Ohnmacht fiel.

    Bella biss sich voller Vorfreude auf die Unterlippe. Ihre Augen wurden weit, die Pupillen darin klein und scharf. So der Ausdruck darin doch ein anderer war, standen sie denen von Sheila in nichts nach.

    „Bring es zu Ende mit Nachthieb!“

    „Standhaft bleiben, Sumpex!“, spornte Ryan seinen Partner simpel, aber dafür enorm lautstark an. Mit einem fast unbrauchbaren Arm auf der eigenen und dem Tempovorteil auf der Gegenseite fiel ihm tatsächlich nichts Besseres ein. Schutzschild konnte er vergessen. Absol war zu nah. Die schwarze Schattenenergie schlug Sumpex bereits so bösartig entgegen, als besäße sie einen Willen. Denselben wie ihre Meisterin – den Willen, ihm Schmerzen zuzufügen, die sich auf ewig in sein Gedächtnis brennen würden. Mit zumindest einem Fuß wich das Wasserpokémon zurück und stemmte sich vorausschauend gegen den Schlag, gewann somit außerdem eine Millisekunde, die nötig war, um den noch immer vereisten Unterarm wie einem Schild zu erheben. Dieses wurde fast vollständig abgeschlagen und die Splitter hinfort geschmolzen. Nebelartige Unlichtenergie malträtierte Haut und Fleisch darunter, schlug außerdem in alle Richtungen um sich und wehte abermals Sand auf. Unter Sumpex‘ Füßen zitterte die Erde. Und Absol hatte im Gegensatz zu ihm noch eine freie Pranke.

    Ein Aufblitzen in den Augen beide Kontrahenten erfolgte exakt zur selben Sekunde. Sowohl in der Mitte als auch am Rande des Kampffeldes. Ein weiterer Nachthieb folgte mit der linken Klaue. Mächtiger und boshafter als der Vorgänger. Schlug direkt auf die bereits verwundete Schulter und hüllte nun das gesamte Zentrum des Innenbereiches in Schwarz. Vermischt mit aufgeschlagenem Staub und Sand waren die kämpfenden Pokémon völlig verschwunden.

    „Woooow, jetzt hat Déreaux in die fatale Lücke gestochen und gnadenlos zurückgeschlagen. Und diesmal hat´s richtig gesessen!“

    Und wie. Cay schien fast ein wenig verängstigt und das wollte was heißen, angesichts der vorangegangenen Kämpfe, die er ausschließlich mit Begeisterung beobachtet hatte. Vermutlich gründete das auf dem rücksichtslosen – aber natürlich keineswegs verbotenem – Eindreschen auf die versehrte Schulter. Sicher schloss sich da der ein oder andere in seinem Umfeld an. Die Mehrzahl der Zuschauer bejubelte allerdings den gelungenen Angriff geradezu frenetisch. Melody schloss sich dem selbstverständlich gar nicht an. Sie kauerte nach vorn gelehnt auf der Kante ihres Sitzes und kaute sich beinahe die Nägel ab. Und selbst unter den routinierten Trainer, die hier zusahen, würde nun keiner wagen, einen Tipp abzugeben, wie es um Sumpex und Absol stand. Die Gewissheit ließ nur wenige Sekunden auf sich warten, fühlte sich im Eifer des Kampfrausches aber an wie mehrere Minuten.

    Der Schiedsrichter spähte aufmerksam und konzentriert in die Wolke. Sein Signal war es, auf das alle warteten oder hoffte, dass es ausbliebe.

    Kurz bevor die Pokémon wieder erkennbar wurden, leuchtete in Absols Sichtfeld ein paar orangefarbener Augen auf und durchstachen den Schleier aus Schwarz. Alles in ihr spannte sich. Das war nicht möglich! Niemand hatte je ihren Nachthieb überstanden, wenn sie so unbehelligt und präzise hatte zuschlagen können. Sie besah sich ihrer Pranke, die sich ein Stück in Haut und Fleisch von Sumpex gegraben hatte. Beides war an dieser Stelle schwarz verschmort, wie bei einer Brandwunde. Zudem zeichneten sich dunkle Spuren wie geschlagene Asche an Oberarm und dem rechten Torso. Wie konnte er überhaupt bei Bewusstsein bleiben, während sich diese finstere Energie in seinen Körper fraß? Geschweige denn aufrecht stehen?

    Sie überlegte eine Sekunde zu lange. Noch ehe sie sich zurückziehen konnte, griff eine massige Hand nach ihrem Fußgelenk und schloss sich wie ein Schraubstock darum. Daraus gab es kein Entrinnen für sie. Die andere wanderte währenddessen an die malträtierte Schulter und versetzte ihr kompromisslos einen strammen Ruck. Das Geräusch der einrastenden Gelenke jagte selbst der erbarmungslosen Schattenkatze einen Schauer über den Rücken. Sumpex grunzte, schluckte den Schmerz runter. Er zitterte und wackelte nicht ein bisschen. Die Festung stand noch immer sicher! Und als hätte er die ganze Zeit über gesehen was zwischen ihnen vor sich ging, holte Ryan plötzlich tief Luft, brüllte ein einziges Wort so stark heraus, dass man meinte, ein Windstoß resultierte daraus.

    „Hammerarm!“

    Sumpex riss Absol, nicht mehr als Fliegengewicht in seinen Händen, mühelos herum und schleuderte sie über die eigene Schulter. Ihre Krallen lösten sich hierauf endlich daraus. Schwarze Fetzen und Klumpen lösten sich und machten Platz für Rot. Manche fest und fleischig, andere verpufften wie der Rauch einer erloschenen Kerze. Sämtlicher Nebel, Sand und Staub – alles, was die Sicht eben noch behindert hatte, wurde fortgeweht, als Absol auf den Rücken geschmettert wurde. Der ohnehin gelockerte Boden brach und splitterte bereits hier. Als dann schließlich ein brachialer Schlag mit der Linken direkt in den ungeschützten Unterbauch folgte, konnte man angesichts des Gesehenen fast schon von einer Beerdigung sprechen. Eine brutale, wüste, barbarische Form davon vielleicht, die keinerlei Rücksicht auf den Körper nahm und nur schnell vonstatten gehen sollte.

    Schnell war es für Absol in der Tat gegangen. Schon der Schlag auf den Rücken hatte fast sämtliche Luft aus ihren Lungen gepresst und ließ ihre Sicht verschwimmen. Die geballte Faust sah sie schon gar nicht mehr. Nur spüren tat sie sie, allerdings auch nur einen Sekundenbruchteil. Danach war sie schon woanders. Fort von den Schmerzen und von diesem azurblauen Ungetüm, zumindest in ihrer Wahrnehmung.

    Erst als Sumpex mit einem Ruck von dem schneeweißen Körper abließ und einen Schritt zurücktaumelte, plötzlich erbarmungslos erinnert an seine eigenen Schmerzen und sein Leiden, hob sich eine Fahne an der Seitenlinie. Sie zeigte in Ryans Richtung. Das Signal bekräftigte ihn tatsächlich, weiter standhaft zu bleiben, sich nicht von der Erschöpfung überwältigen zu lassen und den unanfechtbaren Sieg somit noch aus der Hand zu geben. Ein tiefer Atemzug folgte. Dann stützte er sich auf seine beiden Fäuste und grunzte entschieden, sodass der Schiedsrichter den Ausgang bedenkenlos offiziell machen konnte.

    „Absol ist kampfunfähig! Runde 1 geht an Sumpex!“

    Kapitel 62: Bis zum Äußersten


    Pete war spät dran gewesen. Etwas früher und sie hätten sich weniger, weil gar keine Sorgen machen müssen, dass Bella ihm und somit auch Mila, Ryan und Sandra auflauern könnte. Nun war ihr Kampf allerdings vorüber und die Gruppe daher in den abgelegensten und leersten Korridor des Prime Stadiums geschlichen, um sich den Bericht des Barkeepers anzuhören. Hätte Sheila nicht berichtet, dass Bella sich ins Pokémoncenter begeben hatte, würden sie das Wagnis gar nicht erst eingehen. Viel Zeit würde ihnen jedoch nicht bleiben und die Attentäterin war nicht sicher, alle getarnten Spitzel von Team Rocket erwischt zu haben, weswegen Pete sich kurz gefasst hatte. Viel war es ja auch nicht, das seine Informanten herausgefunden hatten.

    „Das ist wenig“, fasste Mila passenderweise zusammen. Ryan wusste nicht genau zu deuten, ob sie das nüchtern oder ernüchtert tat. Pete zog frustriert an einer Zigarette.

    „Einige sind gar nicht erst wiedergekommen. Und die, die es sind, haben fast ausnahmslos Hoenn auf dem schnellsten Weg verlassen.“

    Er hatte vor Mila noch große Stücke auf seine Kontakte gesetzt, sodass es ihm regelrecht peinlich war, was er ihr nun präsentieren musste. Es verdeutlichte außerdem gerade furchterregend die Macht des Feindes. Mit Devons Information allein, dass Team Rocket heute Abend ausrücken würde, war zwar der Überraschungseffekt dahin, doch dafür rüsten konnten sie sich nicht. Keiner wusste, wie der Plan aussah, wie viele sie waren, oder wie stark und wo der Angriff stattfinden würde. Man war sich lediglich einstimmig sicher, dass es nicht hier im Stadion vor zehntausenden Zivilisten geschehen würde.

    „Wir sollten heute Nacht besser nicht im Pokémoncenter bleiben“, schlug Ryan seufzend vor, was einstimmig befürwortet wurde. Es würde schwierig werden, überhaupt einen Unterschlupf zu finden, wo sie wenigstens eine Nacht sicher sein würden.

    „Nach dem Turnier gibt´s noch ne Feier, richtig?“ erkundigte sich Pete mürrisch. Erneut nickten alle. Er spielte auf den spätabendlichen Ball an, der traditionell nach dem Finale abgehalten wurde. Alle Teilnehmer der K.O. Runden waren geladen. Es würden Journalisten, Geschäftsführer, Sponsoren und dergleichen vor Ort sein und das Event mit Tanz und Bowle ausklingen lassen. Was das anging, sprach Sandra aus, was wohl jeder gerade dachte.

    „Nicht für uns. Wir sehen zu, dass wir schleunigst von hier wegkommen, wenn das Finale vorbei ist.“

    Jeder, bis auf die bislang so schweigsame Drachenpriesterin.

    „Das werden wir nicht.“

    Alle sahen Mila an. Mit erhobenen Brauen, gerunzelter Stirn und offenen Mündern. Bei jeder anderen Person wäre wohl die Frage herausgerutscht, ob sie noch richtig tickte. Das ahnte sie auch bereits, ohne in die Gesichter ihrer Kameraden zu sehen. Daher begann sie auch unbeirrt sogleich mit einer Erklärung der Strategie.

    „Wenn wir das tun, wird Bella uns sicher folgen und unverzüglich den schwarzen Lotus informieren. Mit einer unvorbereiteten Flucht erreichen wir rein gar nichts und gewinnen weder Zeit noch Land.“

    Das machte leider durchaus Sinn. Ryan erinnerte sich an sein erstes Treffen mit den beiden Kriegerinnen zurück. Damals hatte Mila einen Agenten von Team Rocket erwähnt, den sie nur mit Mühe und nie lange hatten abschütteln können. Ganz ohne Zweifel hatte es sich dabei um Bella gehandelt.

    „Bevor wir uns neu gruppieren können, müssen wir uns erst um sie kümmern.“

    Die Luft auf dem Korridor begann sich zu verändern. Eine erdrückende Stille hielt Einzug, ließ so manchen in der Runde schlucken. Jeder konnte sich bereits denken, was diese Formulierung zu bedeuten hatte. Dennoch wollte Ryan, dass sie es unmissverständlich aussprach. Den Grund dafür kannte er jedoch nicht.

    „Heißt konkret?“

    Sie atmete nochmal tief und in aller Ruhe ein, ehe ihre himmelblauen Augen sich vielsagend auf Ryan richteten. Sie transportierten ein ganz konkretes Gefühl, einen Gedanken mit sich. Nämlich den, dass dieser eingeschlagene Weg ihr keinesfalls gefiel, jedoch der einzige war, der nicht in einer Sackgasse oder an einer Klippe endete. Es rief dem jungen Johtonesen die Worte ins Gedächtnis, die sie kurz vor der Begegnung mit Ruby in den Wäldern gesprochen hatte. Die Worte über die Not zum Töten, um Frieden zu schaffen.

    „Sheila wird es tun.“

    Damit hatte sie vermieden, es direkt auszusprechen und Ryan doch die Antwort gegeben, nach der er verlangt hatte. Mila würde ihrer langjährigen Partnerin den Befehl erteilen, die Agentin zu ermorden.

    Für einige weitere Sekunden war es völlig still. Selbst Pete schien die kalte Atmosphäre in ihrer Runde zu beeinflussen. Er hatte sich abgewandt und ließ seinen Blick über den Fußboden wandern. Sandra vermied es, irgendwen oder irgendwohin zu sehen. Ihre Lider waren geschlossen, die Arme fest verschränkt. Es war ihrer Ansicht nach nur eine Frage der Zeit gewesen. Bella saß Mila schon seit Wochen im Nacken und hatte ihrer aller Leben bedroht. Sie war gut. Und zäh. Hatte obendrein ein eigenes Netzwerk aus Handlangern, Informanten und anderen Attentätern, auf das sie zugreifen konnte – vielleicht gar ein besseres als Pete. Sie würde sich nicht einfach abwimmeln lassen. Erst wenn ihr Herz abhörte zu schlagen, konnten sie dieses Problem als beseitigt ansehen. Sandra tat es genauso ungern und sah genauso ungern dabei zu, wie Mila. Aber auch dazu hatte sie sich bereiterklärt, als sie ihrem Ruf nach Hoenn gefolgt war.

    Ryan befeuchtete die Lippen. Er sollte damit eigentlich nichts zu tun haben. Aber die Versprechen, die er in den vergangenen Tagen Mila und sich selbst gegenüber gemacht hatte, sagten ihm, dass er es sogar musste.

    „Ich könnte versuchen, sie abzulenken. Sie in ein Gespräch zu verwickeln…“

    „Es wäre vermutlich besser, wenn du überhaupt nichts tust“, meinte Pete plötzlich äußerst mahnend über seine Schulter hinweg. Damit brockte er sich eine gehörige Portion Unmut seitens des Pokémontrainers ein. Er hatte gesprochen, wie mit einem überheblichen Kind. Mittlerweile sollte Ryan ausreichend bewiesen haben, dass er dem Kampf gegen Team Rocket sowie den Drachen gewachsen war. Er war sich ziemlich sicher, dass er sogar dazu bereit war, den von Mila erhaltenen Langdolch zu gebrauchen. So ließ er zum jetzigen Zeitpunkt sicher nicht mehr mit sich umspringen.

    Er hatte bereits zu einer bissigen Erwiderung angesetzt, da spürte er plötzlich eine Hand sanft an seinem Oberarm. Mila sah an mit einem beschwichtigen und demütigen Lächeln an. Es wirkte allerdings gezwungen und sie selbst traurig. Sicher hatte sie noch einen naiven Funken Hoffnung, Ryan und auch Andrew würden nie Zeugen von solcher Gewalt werden müssen, in sich getragen. Wie viele Jahrhunderte würde sie wohl noch leben müssen, um zu lernen, dass sie Menschen nicht vor ihren eigenen Entscheidungen zu retten vermochte?

    „Ihr helft am meisten, wenn ihr Euch ganz natürlich verhaltet, Ryan. Wenn Ihr Bella gegenüber zu offen seid, wird sie misstrauisch werden und den Angriff womöglich erahnen.“

    Auch hier wollte Ryan sogleich widersprechen, öffnete schon den Mund, nur um festzustellen, dass ihm auf die Schnelle kein Gegenargument einfiel. Dennoch redete Mila weiter auf ihn ein. Nicht nur, um ihn zu beschwichtigen. Er sollte sich seiner Stärken gewahr sein und zur Tat schreiten, wenn er von ihnen Gebrauch machen konnte. Dies hier war nicht seine, sondern Bellas Stärke. Sowie Sheilas.

    „Tut am besten, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden. Ihr werdet noch früher zum Handeln gezwungen sein, als Euch lieb sein wird.“

    Dies riet sie ihm nun wieder mit einer bedrückten Stimme, die wünschte, sie hätte Ryan niemals so tief in ihre Pflicht hineingezogen. Jemand wie er hätte gar nicht mit ihr in Kontakt geraten dürfen. Auch dies verdeutlichte einmal mehr ihre Machtlosigkeit in den Entscheidungen anderer. Glücklicherweise begann Ryan, wenn auch mit einer Spur an Widerwillen, sachte zu nicken.

    „Ich sage Andrew Bescheid, sobald sein Kampf vorbei ist“, verkündete er stattdessen, woraufhin es nun Mila war, die nickte. Vorher würde er ihn wohl nicht mehr abfangen können. Ein Teil von ihm wollte das auch gar nicht. Weitere Probleme und Sorgen konnten die paar Minuten warten, bis das Turnier für ihn endgültig beendet war. Mit dem Wissen, was danach geschehen würde, war Ryan hier und jetzt nicht einmal sicher, selbst mit freiem Kopf in sein letztes Match gehen zu können.


    Bella kämpfte selten bei Turnieren. Generell selten öffentlich. Umso mehr genoss sie es, völlig unverhüllt und ungetarnt am Summer Clash teilnehmen zu können. Es war eine völlig andere Atmosphäre. Für gewöhnlich hatte sie keine Zuschauer um sich und auch ein Schiedsrichter existierte nicht. Ferner gab es nicht einmal Regeln. Dort wo sie herkam, wo sie sich so oft herumtrieb, wurde schmutzig, brutal und ohne den geringsten Hauch von Rücksicht gekämpft. Auch gerne Mal bis zum Tod. Dies hier hatte dagegen etwas Entspannendes. Sie würde gar sagen etwas Belebendes. Überall um sie herum war Begeisterung und vor ihr sah sie stets Leidenschaft und Ehrgeiz.

    Diese Gefühle sorgten glatt dafür, dass sie sich selbst an den Kämpfen anderer zu begeistern vermochte. Normalerweise tangierte es sie nicht, was andere so trieben, solange es nicht mit ihrer Arbeit in Verbindung stand. Naja, tatsächlich tat das einer der beiden Trainer auf dem Kampffeld sogar, doch spielte es keine Rolle in der Tatsache, dass sie ihnen gar stundenlang zusehen könnte. Es war einer dieser Kämpfe, die mit der Dauer immer und immer persönlicher wurden. Dabei besaßen Andrew Warrener und Terry Fuller schon von vornherein durchaus eine kleine Vorgeschichte. Selbstverständlich nicht mit derselben Tragweite, wie es bei Ryan Carparso der Fall war, aber dennoch nicht unwesentlich. Ein bisschen war die Agentin frustriert, dass sie nicht auf die Tribünen gegangen war, um das Match hautnah zu verfolgen. Sei es drum, die Einsamkeit der Katakomben barg auch ihre Vorteile. Draußen hätte sie nämlich Probleme kriegen können, wenn sie ständig ihren Flachmann hervorholte. Der neigte sich schon wieder der Leere. Verflucht, wurde das Ding kleiner?

    Ryan hatte eben das getan, was Bella abgelehnt hatte. Er ließ sich die Sonne auf den Kopf scheinen, fühlte Hitze, Druckwellen und Erschütterungen, die vom Kampffeld ausgingen und das Publikum elektrisierten. Gleiches galt natürlich für Stadionsprecher Cay.

    Es wäre des Glücks zu viel gewesen, hätte Ryan einen freien Sitzplatz bei Audrey und Melody ergattern können. Da das Match um Platz 3 jedoch mit zwei solch hoch dekorierten Namen bekleidet war, hatte sich wirklich niemand innerhalb seiner Sichtweite von dem seinen entfernt. Daher befand sich der junge Trainer sozusagen auf dem inoffiziellen Stehplatz in einem der Mundlöcher. Allerdings allein, da Sandra nach ihren Pokémon sehen wollte und daher rüber ins Center gegangen war. Eigentlich war dies kein Bereich, in dem Zuschauer verweilen durften, da man so ein- und ausgehenden Menschen im Wege stand. Die Frau vom Stadionpersonal, die hier stationiert war, drückte allerdings ein Auge zu, da sich eh niemand von seinem Stuhl fortbewegte. Vielleicht traute sie sich auch ganz einfach nicht, Ryan auf seinen Verstoß hinzuweisen.

    Eine letzte Möglichkeit wäre noch, dass sie vom Kampf selbst zu sehr vereinnahmt wurde. Andrew und Terry gaben wirklich alles, um sich mit einem Sieg aus dem Turnier verabschieden zu können. Im Falle seines Kindheitsfreundes war Ryan heilfroh, dies beobachten zu können. Der war nach dem verlorenen Halbfinale echt down gewesen, aber er wäre nicht der Rastlose, wenn er nicht in der Lage wäre, den Blick gleich wieder nach vorn zu richten.

    Es wurde erneut im Doppel gekämpft. Auf Andrews Seite sah man Dragonir und Scherox. Terry hatte sich für Washakwil und Flampivian entschieden. Letzteres setzte Andrews Pokémon schon die ganze Zeit über schwer unter Druck. Scherox war es bislang zum Glück gelungen, den verheerenden Feuer-Attacken zu entgehen. Dass er sich so sehr darauf besinnen musste und nicht so ohne Weiteres in die Nahkämpfe gehen konnte, eröffnete jedoch dem zerzausten Adler viele Freiräume und Möglichkeiten. Gerade hatte Washakwil durch ein Täuschungsmanöver sein Angriffsziel kurzerhand gewechselt und statt Scherox Dragonir ins Visier genommen. Er schlug mit Zermalmklaue auf die Körpermitte und schmetterte den Schlangendrachen zu Boden. Das Käferpokémon wollte eingreifen, den Angriff wenigstens vergelten, musste aber bereits in der nächsten Sekunde einem lodernden Feuersturm ausweichen. Ohne den Einsatz von Agilität wäre das vermutlich unmachbar und der Kampf somit praktisch entschieden gewesen.

    „Warrener war lange auf Augenhöhe mit Fuller, aber so langsam scheint er nicht mehr mithalten zu können. Dass er mit Scherox gegen ein Feuerpokémon ran muss, macht ihm echt das Leben schwer“, meinte Cay zu erkennen. Hierbei lehnte er sich doch arg weit aus dem Fenster. Ryan sah gar spöttisch in Richtung seiner Sprecherkabine, als könne er ihn von seiner Position aus zurechtweisen. In diesem Match konnte und würde noch so einiges passieren. Andrew hatte allemal bewiesen, dass er einem wie Terry ebenbürtig war.

    Leider stellte Flampivian es unbestreitbar eine verdammt große Hürde dar. Ryan fragte sich, ob Terry die Wahl von Scherox antizipiert und sich sehr bewusst für dieses Pokémon entschieden hatte. Mit fast allem konnte der Stahlkäfer mehr oder weniger umgehen, aber Feuer...

    „Dragonir, Winhose, los!“, rief Andrew, um zunächst Washakwil loszuwerden. Ein Luftwirbel bildete sich um ihre Schweifspitze und wuchs rasch zu einem Tornado. Der Adler reagierte darauf ganz von selbst, versuchte fast panisch, davon zu flattern. Mit einer Peitschen-Bewegung wurde die Windhose über das Kampffeld dirigiert und erfasste Washakwil, ehe es an Höhe hatte gewinnen können. Er wurde unerbittlich umher geschleudert und verlor binnen von Sekunden die Orientierung. Dutzende seiner Federn wirbelten im Winde und verteilten sich in alle Himmelsrichtungen.

    „Drachenwut!“, lautete der nächste Befehl. Die Drachenschlange wusste genau, was Andrew im Sinn hatte. Sie zielte mit ihren blauen Flammen auf den unteren Ansatz der Windhose. Sie wurden aufgefangen wie Feuer von einer Ölspur. Die Kombination bewirkte einen blauen Feuerwirbel, in dem bloß noch Washakwils Silhouette zu erkennen war. Seine Schreie waren dafür überaus deutlich.

    „Okay, ich hab nichts gesagt“, gestand Cay gleich und lehnte sich staunend nach vorn.

    „Warrener schlägt mit einer klasse Kombination zurück. Kann er das Ding jetzt nochmal rumreißen?“

    Vielleicht. Wenn er Washakwil ausschalten und eine Überzahl erzwingen konnte, standen die Chancen sehr gut. Aber das hier würde noch nicht reichen und Flampivian würde was dagegen haben, dass er einfach ungehinderte nachsetzte.

    Allerdings war es Andrew, der weiter das Tempo bestimmte.

    „Vorwärts Scherox, nochmal Agilität!“

    Das Abbild des roten Stahlkäfers verschwand für einen Herzschlag und wechselte sekündlich die Position. Wenn man blinzelte, verpasste man es glatt. Dennoch blieb es stets in derselben Kampfhaltung, mit den gewaltigen Scheren vor dem Körper gekreuzt.

    „Wir warten!“

    Eigentlich hatte Terry die Nase voll vom Warten. Aber dieses Scherox war echt schwer zu kriegen. Wenn er Flampivian kopflos in die Offensive schickte, spielte er bloß Andrew in die Karten. Er musste den richtigen Moment abpassen.

    Dem Trainer aus Einall war wohl nicht bewusst, dass er seinem Gegner bereits in dieser Sekunde in die Karten spielte. Andrew war absolut fein damit, das Match in zwei separate Kämpfe aufzuteilen, anstatt seine Pokémon als Einheit kämpfen zu lassen. Natürlich besaß Flampivian auf dem Papier einen immensen Vorteil, aber er und Scherox wussten ebenso gut, einen Kampf in die Länge zu ziehen. Das musste er nur so lange bewerkstelligen, bis Washakwil ausgeschaltet war. Er durfte nur nicht zulassen, dass Dragonir an seinen Angriffen gehindert wurde und befahl daher, Flampivian mit Patronenhieb in Schach zu halten. Irgendwann musste selbst dieses Muskelpaket mal zu Boden gehen. Er würde dennoch nicht darauf hinarbeiten, es langsam müde zu machen. Flampivian war schon lange müde! Das sah er in seinen Augen. Dennoch waren seine Bewegungen weder schwächer noch langsamer geworden. Das Vieh hatte echt eine unglaubliche Ausdauer.

    Durch den Temposchub von Agilität jedoch war Scherox glücklicherweise schneller. Man sah den Stahlkäfer nicht einmal ausholen. Sein blutroter Körper blitzte schemenhaft vor den Feuerpokémon auf, sodass es aussah, als würde es von einem Unsichtbaren geschlagen. Es schützte den Kopf mit den gewaltigen Armen, so gut es ging und beobachtete Scherox‘ Bewegungen. Doch es war zwecklos. Er müsste schon im Voraus wissen, von wo der nächste Schlag kommen würde, um darauf reagieren zu können, aber die Angriffsmuster waren zu undurchsichtig, wiederholten sich praktisch nie.

    Terry atmete tief, aber dennoch ruhig durch. Er hatte es nicht für nötig befunden, Andrew im Rival-Check nachzuschlagen. Generell hatte er es lediglich bei Bella versucht, die allerdings nicht vertreten war. Aus seinen Beobachtungen schloss er jedoch, dass der Johtonese bevorzugt die Initiative ergriff und seine Gegner mit Angriffsketten überrollte. Er musste unbedingt aufhören, ihn das tun zu lassen, worin er gut war, und ihm seine eigene Strategie aufzwingen. Er war Terry Fuller. Er war nicht derjenige, der zu reagieren hatte. Er war es, der proaktiv kämpfte!

    Wenn Flampivian in Schach gehalten wurde, so musste er sich eben gegenüber Dragonir den Vorteil erarbeiten, den er brauchte, um endlich den vernichtenden Schlag setzen zu können, auf den hier alle längst warteten. Die Drachenschlange glaubte sich vermutlich selbst gerade überlegen. So ein Moment war doch perfekt für eine Wende.

    „Washakwil, Himmelsfeger!“

    Die Silhouette des Adlers wirbelte noch immer in der entflammten Windhose umher und schien in dem Wirbel hoffnungslos verloren. Unerwarteterweise leuchtete sein Körper dennoch in einem hellen Weiß auf. Lichtstrahlen durchbrachen den Schleier aus Blau. Wie die strahlende Sonne, die einige erschöpfte Gewitterwolken vertrieb. Washakwil schoss, eingehüllt in einen Schleier aus Weiß, durch den Tornado aus Drachenfeuer hindurch und zielte direkt auf Dragonir.

    „Schlag zurück mit Eisenschweif!“, lautete Andrews Konter. An dieser Attacke hatten sie beide in den vergangenen Wochen sehr ausgiebig gearbeitet, da sie keine bessere Antworte gegen direkt Angriffe parat hatten. Wäre schon clever gewesen, Dragonir Drachenrute beizubringen, so wie Sandra es bei ihrem Exemplar getan hatte.

    Die zwei Kristallkugeln am Schweifende glimmten silbrig auf und wurden von einem Mantel aus Metall überzogen. Dragonir wandte den länglichen Körper geschickt wie eine geschwungene Peitsche, um die maximale Kraft sammeln zu können. Cay schien das Ergebnis dieses Kräftevergleichs am allerwenigsten abwarten zu können.

    „Washakwil will es jetzt wissen. Hier kommt die stärkste Attacke der Flugpokémon, Leute!“

    Seiner Euphorie zum Trotz wollte man bei dem Anblick meinen, der Adler könne sich hierbei doch nur das Genick brechen. Aber entgegen der allgemeinen Erwartung ging er nicht mit dem Kopf durch die Wand, sondern streckte plötzlich seine Krallen aus. Sie fingen das Schweifende auf und rissen Dragonir glatt mit sich, als wiege sie nichts.

    „Oha, seht euch das an“, jaulte der Stadionsprecher perplex. Das sah ja aus, als hätte Washakwil mal eben ein Barschwa aus seinem Teich gefischt und es als seine nächste Mahlzeit auserkoren. Auch Andrews Augen wurden groß. Es hatte die Wucht von Eisenschweif so spielend absorbieren können?

    „Ja und jetzt abwärts!“, befahl Terry mit geballter Faust. Washakwil ließ für einen winzigen Augenblick los und krallte sich stattdessen um die Körpermitte des Drachenpokémons. Dann ging es in den Sinkflug. Der würde allerdings nur wenige Sekunden dauern. In dieser Zeit musste eine Idee her.

    Eine wirklich gute oder sichere fand Andrew auf die Schnelle nicht. Generell hatte ein Kampf mit Terry Fuller wenig mit Sicherheit zu tun. Alles, was ihm hier noch einfiel war, auf seines Partners Zähigkeit zu bauen.

    „Nochmal Drachenwut, los!“

    Dragonir ward überrascht und überrumpelt. Aber nicht wehrlos. Washakwil hatte sie in seiner Gewalt, doch sie war nach wie vor bei sich und sowohl bereit als auch absolut gewillt, über das Federvieh zu triumphieren. Vögel nannten sich gern die Herren der Lüfte. Sie verweilten jedoch nur dort oben, weil die Drachen es gestatteten. In nahezu jedem Lebensraum, Land, Luft, Wasser, selbst unter der Erde, war dies der Fall, lebten und herrschten die Drachenpokémon. Und dieser Vogel musste dringends daran erinnert werden.

    Dragonir richtete den Kopf aus und spie ein weiteres Mal himmelblaue Flammen aus. Sie nahm keine Rücksicht auf ihren eigenen Körper, zielte strikt nach Washakwil, selbst wenn sie sich eigene Verbrennungen zufügen würde. Der Adler kreischte schrill und laut. Aus nächster Nähe war das Drachenfeuer gar noch gemeiner, brannte heißer, schmerzvoller. Dennoch wollte er diesen Wurm, der sich selbst Drache nannte, unbedingt schlagen, wollte ihn in den Staub schmettern und dem Himmel als sein Territorium markieren. Mit aller Kraft wollte er das.

    Seine Kraft reichte aber nicht aus. Der Griff seiner gebogenen Krallen lockerte sich nur ein wenig. Hätte er sie mal besser in Dragonirs Fleisch geschlagen. Das winzige Bisschen an zurückerlangter Bewegungsfreiheit reichte aus, um in einer windenden Bewegung ihren Körper einmal um Washakwil herumzuwickeln. Dann drehte sie sich in der Luft, befahl ihren Muskeln trotz empörten Aufbegehrens und entgegen aller Müdigkeit Gehorsam und schmetterte den noch immer im Flammen stehenden Körper auf die Erde. Wäre an dieser Stelle ein Relaxo umgekippt, wäre der Aufprall wohl sanfter ausgefallen. Staub und Dreck wurden in einem Radius von mehreren Metern aufgeschlagen und ein rauchiges Stöhnen presste Washakwil die Luft aus den Lungen. Seine Pupillen wurden winzig klein. Dennoch sah er deutlich, was über ihm passierte. Lediglich reagieren konnte er darauf nicht mehr. Dragonir umhüllte seinen Schweif erneut mit einer Schicht aus Eisen. Sie zielte diesmal direkt auf die Schädeldecke. Washakwil spürte schon gar nichts mehr. Es war einfach bloß mit einem Mal alles dunkel geworden.


    Andrew musste sich selbst eingestehen, dass er vielleicht nicht zu, aber doch sehr weit gegangen war. Wie der Eisenschweif auf den zerzausten Vogelkopf niedergegangen war – selbst er hatte einem Impuls widerstehen müssen, wegzusehen. Das Publikum sowie der stets so begeisterte Stadionsprecher quittierten das K.O. allerdings ausschließlich mit Jubel. Denen fehlte wohl die Fähigkeit, sich in das geschlagene Pokémon hineinzuversetzen. Zugegeben, das brutalste Aus des Turniers war es dennoch nicht. Das tragischste Bild hatten wohl seine eigenen Pokémon abgegeben, als sie gegen die von Bella verloren hatten.

    „Fuller sitzt in der Klemme. Er muss jetzt mit nur einem Pokémon gegen zwei gleichzeitig antreten!“, erinnerte Cay an die neue Ausgangslage. Washakwil lag mit dem Kopf in einer tiefen Mulde, die Eisenschweif in den Boden geschmettert hatte. Die Füße sowie die Schweiffedern ragten noch etwas in die Höhe und über den Rand hinaus. Lockere Erde, die durch die Krafteinwirkung aufgeschlagen worden war, hatte den blau und braun gefiederten Leib teilweise begraben. Doch seine Körperumrisse waren selbst so noch deutlich erkennbar. Ebenso, dass er in Ohnmacht lag, wie der Schiedsrichter sehr rasch verkündet hatte. Eigentlich war das Ergebnis mit dem Einschlag bereits klar gewesen.

    Terrys Hände ballten sich krampfhaft zu Fäusten. Er war sicher gewesen, Andrew hier kalt erwischt zu haben, aber Dragonir hatte sehr schnell und geistesgegenwärtig reagiert. Hatte sich durchgebissen und als das zähere Pokémon herausgestellt. Wenn er an ihr erstes Match zurückdachte, übertraf das seine Erwartungen an Andrew. Lediglich Psiana hätte er zugetraut, ihn ernsthaft herausfordern zu können. Und nun war Washakwil raus, war geschlagen und er somit im Nachteil.

    Der Schiedsrichter ermahnte Terry, sein besiegtes Pokémon rasch zurückzurufen. In Momenten wie diesen, in welchen der Kampffluss nach einem K.O. unterbrochen war, waren die Unparteiischen in offiziellen Matches angehalten, das Weiterkämpfen erst zu erlauben, wenn das ohnmächtige Pokémon vom Kampffeld geholt worden war. Sonst würden nur weitere Verletzungen durch Querschläger riskiert. Während Terry dem nachkam, harrte Flampivian in einer tiefen Position aus. Die Arme waren in den Boden gestemmt, aber stark angewinkelt, als wolle er sich gleich abstoßen und nach vorn katapultieren. Dass dieser flammende Berserker selbst jetzt so eifrig auf Angriff sann, durfte man getrost als besorgniserregend betiteln. Andrew schnaufte einmal durch und sammelte seine Konzentration. Er durfte nicht zu sorglos oder übermütig werden. Dieses Flamivian war verflucht stark und mit Scherox hatte er kaum Spielraum für irgendwelche Attacken. Terry war in jeder Situation ein ernst zu nehmender Gegner. Wenn er ihm nur eine winzige Möglichkeit eröffnete, würde er ihm das Match schneller aus den Händen reißen als er gucken konnte.

    Der Uniformierte an der Seitenlinie hielt beide Fahnen oben und vergewisserte sich, dass unter fairen, unter gleichen Bedingungen weitergekämpft werden konnte. Dass beide bereit waren.

    „Der Kampf wird im 2 gegen 1 fortgeführt“, rief er sodann und senkte beide Fahnen. Das Match war wieder freigegeben.

    „Scherox, benutz Agilität, um nah ranzukommen!“, lautete Andrews erster Befehl. Wenn er Agilität so weiter verwendete, würde der Stahlkäfer doch noch zum Angreifen kommen. Bald konnte man ihm mit bloßem Auge überhaupt nicht mehr sehen.

    „Dragonir, du bleibst wo du bist und zeigst ihnen Nassschweif!“

    Es war ungewöhnlich, bei dieser Wasser-Attacke auf Distanz zu bleiben. Sie entfaltete ihr volles Potential erst aus nächster Nähe. Cay schien das sicher nicht als einzigen zu verwundern.

    „Warrener legt eine Kombination hin, aber vielleicht spielt er da zu vorsichtig? Scheinbar will er Flampivian ausmerzen.“

    Terry schmunzelte verwegen. Das konnte er lange versuchen. Und wenn sie morgen früh noch hier stünden – die Zeit allein würde seinen Partner nicht in die Knie zwingen. Und so halbherzige Attacken schon gar nicht.

    Eine wilde Wasserpeitsche schlug auf dem Kampffeld um sich. Ein verlängerter Arm Dragonirs in flüssiger Form. Die Drachenschlange schlug Spiralen und Wellen, schwang mal von links, mal von rechts, mal von oben. Niemals im selben Rhythmus oder zweimal aus derselben Richtung. Scherox befand sich geradewegs inmitten dieses Wasserspiels, konnte sich darin gar bewegen, ohne selbst getroffen zu werden. Das vermochte man aber nur unter großer Mühe zu beobachten, da er immer nur für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen war, bevor seine Gestalt verzerrt wurde und wieder verschwand. Einige Meter weiter wiederholte sich dann der Ablauf – mit sinkendem Abstand zu seinem feurigen Gegner. Terry befahl ein simples Ausweichmanöver. Auf diese Distanz könnte jedes Geowaz einem Nassschweif entkommen.

    Flampivian sprang unerwartet geschickt zur Seite, landete auf nur einem Fuß und hüpfte ansatzlos über einen Tiefschlag hinweg. Seine Gestalt wirkte eigentlich recht massig und schwerfällig, aber es bewegte sich wie ein flottes Ambidiffel, hielt sich manchmal gar all in mit den Armen aufrecht und lachte dabei noch höhnisch. Das verging ihm allerdings, als urplötzlich, im wahrsten Sinne aus dem Nichts, Scherox vor seiner Nase erschien.

    „Nachthieb!“

    Eine rot gepanzerte Schere wurde erhoben, von schwarzer Dunkelheit eingehüllt und direkt auf Flampivians Schädel geschmettert. Der sackte fast bis zum Boden runter und würde diesen als erstes treffen, bevor der gesamte Körper folgen würde. Wenn Andrew dachte, hiermit die Oberhand gewonnen zu haben, hatte er sich gewaltig geschnitten. Jetzt hatte er es doch gewagt, Scherox nahe an Flampivian heranzuführen. Darauf hatte er lange warten müssen.

    „Feuerschlag, gib´s ihm!“

    Ein Fuß wurde in den Sand gestemmt. Der Flammengorilla ballte eine Faust und hüllte sie in loderndes Feuer. Als sich sein Blick hob, konnte man die Genugtuung, dem nervigen Insekt endlich eins verpassen zu können, förmlich in den Augen lesen. Flampivian grunzte und brüllte. Energisch, aber mit einer erlösenden Vorfreude vermischt. Scherox wurde ganz anders bei dem Anblick. Weniger bei dem von Flampivians Augen als bei den Flammen in seiner Faust.

    Ein Zischen durchschnitt die Luft. Etwas Schmales, Blaues schlug um sich. Dragonirs Nassschweif wütete unaufhörlich – und traf Flampivian direkt an der Schläfe. Ein weiterer Hieb folgte. Noch einer und noch einer. Feuerschlag brach ab. Diese Treffer stellten lediglich Nadelstiche dar, aber es war immer noch Wasser. Der größte Feind eines jeden Feuerpokémons. Scherox ging sofort wieder auf Abstand und wechselte mit jedem Herzschlag die Position, um nicht vom verbündeten Nassschweif getroffen zu werden, wie bereits zuvor.

    „Warreners Strategie scheint aufzugehen. Seine beiden Pokémon decken sich gegenseitig und kommen ohne Gegenschlag davon“, hielt Cay beobachtend fest. Scheinbar hatte er seine Zweifel gehabt.

    Terrys Pokerface war im Begriff zusammenzubrechen. Langsam aber sicher verlor er die Geduld. Wurde Zeit, dass er zurückschlug. Und allmählich war er auch bereit, das Risiko, das diese Attacke beinhaltete, durchaus einzugehen. Flampivian sollte mittlerweile kapiert haben, wie sich Scherox bewegte und was sie tun mussten, um es endlich zu erwischen. Er beschloss, den Splint dieser Granate zu ziehen und setzte seine Hoffnung darin, dass sie nicht explodieren würde, ehe er sie warf.

    „Flammenblitz, los!“

    Kleine Feuerbälle wurden aus den Nüstern entflammt. Na endlich. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Terry das viel eher befehlen können. Diesmal war es nicht nur die Faust, sondern der ganze Körper, der sich in einen Mantel aus Flammen hüllte. Der rote Gorilla schoss wie eine Rakete geradeaus. Ohne Muskelkraft zu beanspruchen und in perfekter, waagerechter Bahn, als habe tatsächlich ein Antrieb auf seinem Rücken gezündet. Flampivian verwandelte sich selbst in ein zerstörerisches Geschoss. Eines, das präzise Andrews Scherox ansteuerte.

    Terry war wohl am Ende mit seinem Latein. Sonst würde er nicht so einen stupiden Angriff befehlen. Er hatte nun ausreichend Beobachtungsmaterial zur Geschwindigkeit des Stahlkäfers erhalten. Mit einer geradlinigen Attacke würde das nichts werden. Das sollte, musste Terry klar sein. Daher verbot sich Andrew, sich in Sicherheit zu wiegen und den flammenden Zug, der da herangerauscht kam, genau zu beobachten.

    „Jetzt, hoch!“, hallte es dann plötzlich vom anderen Ende des Kampffeldes herüber. Noch immer in vollem Lauf sprang Flampivian mehrere Meter in die Luft. Dass die verhältnismäßig dünnen Beine so eine Kraft aufbieten konnten…

    Der Trainer aus Johto biss sich auf die Unterlippe. Er ahnte sofort, was gleich passieren würde.

    „Mit Nassschweif unterbrechen, los!“, befahl er Dragonir rasch mit einer winzigen Spur von Verzweiflung. Die Chancen, dass das gelingen konnte, bewegten sich nahe der Null. Aber mehr konnte Dragonir hier nicht ausrichten.

    „Scherox, zurück und Eisenabwehr!“

    Außerhalb der Gefahrenzone würde das blutrote Käferpokémon nicht mehr gelangen. Daher ja auch die defensive Maßnahme. Die Scheren wurden erneut vor dem Körper gekreuzt, der schließlich für eine Sekunde grau- silbrig zu schimmern begann. Jeder Muskel in dem gepanzerten Insekte war nun angespannt, ebenso wie die Nerven. Das würde jetzt weh tun.

    Flampivian ließ sich nicht einfach zur Erde fallen. Stattdessen katapultierte er sich in einer diagonalen Linie in die Mitte von Andrews Hälfte des Schlachtfeldes, eine heiße Luftschliere hinter sich herziehend. Nassschweif prallte einfach an ihm ab, bremste ihn nicht ein bisschen aus. Der Einschlag kam einer Bombe erschreckend nahe. Der Knall war ohrenbetäubend. Fast auf dem ganzen Feld wurde der Sand aufgeschlagen. Im Zentrum des Einschlagpunktes gar mehrere Meter hoch. Und genau in dieser Zone ward Scherox‘ Gestalt auf einmal verschwunden. Von Rauch, Staub und Flammen verschlungen.

    „Oh mein Gott“, staunt der Stadionsprecher fassungslos. Das hatten doch tatsächlich die Scheiben in seiner Kabine gezittert und wären fast zersprungen.

    „Fuller hat ´ne echte Bombe gezündet und Scherox voll erwischt!“

    Das stimmte nur zu Hälfte. Terry hat diese Form, diesen eingesprungenen Flammenblitz eben daher gewählt, da ein direkter Treffer nicht gelingen würde. Nun war Flampivian jedoch derart brachial und zerstörerisch eingeschlagen, dass fast das halbe Kampffeld zersprengt war. Selbst Dragonir, die gebührenden Abstand eingehalten hatte, war von der Druckwelle erfasst worden. Nur mit sehr viel Mühe hatte sie sich an Ort und Stelle halten können.

    Die Sicht klärte sich nur langsam. Die Silhouette des Flammengorillas wurde als erste für Andrew sichtbar. Gekrümmt, um nicht zu sagen, am Boden und nur auf einer Faust gestützt. Zweifellos die Nachwirkungen der eigenen Attacke, da der Angreifer sich bei Flammenblitz stets selbst gefährdete. Beim erneuten Nachdenken ganz schön gewagt, in einer benachteiligten Situation wie dieser zu solch halsbrecherischen Mitteln zu greifen. Doch Terry war nun gezwungen schnell ebenfalls ein Pokémon der Gegenseite auszuschalten. Im 1 gegen 2 würde sich Flampivian nicht mehr lange halten können. Dem Trainer aus Einall sollte die Sicht noch versperrt sein, da sich das Geschehen vollkommen in Andrews Hälfte verlagert hatte. Daher entschied sich der Johtonese ebenfalls für eine riskante Attacke. Dafür war es eine, die das Match entscheiden könnte.

    „Hyperstrahl!“

    Er und natürlich auch Dragonir wollten unbedingt Gewissheit über den Zustand von Scherox erlangen. Aber der würde selbst auch wollen, dass sie die Gelegenheit ergriffen, anstatt seinetwegen zu zögern. An der Spitze von Dragonirs Horn wuchs eine goldene Energiekugel. Flampivian grunzte energisch und stemmte die zweite Faust in die aufgewühlte Erde. Als ob er das über sich ergehen lassen würde. Davon träumte Andrew vielleicht. Terry befahl mit Feuersturm zurückzuschlagen und der geschuppten Drachenschlange zuvorzukommen.

    In Flampivians Augenwinkel blitzte etwas auf. Im ersten Moment konnte er selbst nicht sagen, was es gewesen war. Im nächsten schlug bereits eine Kreuzschere in seine ungeschützte Seite. Ein ersticktes Stöhnen verriet, wie sehr die Lungen sowie die restlichen Organe durchgeschüttelt wurden. Eine Sekunde lang war das Feuerpokémon wie erstarrt und würgte den Schmerz herunter. Rasch sehnte es sich aber schon nach Vergeltung und holte mit einem erneuten Feuerschlag aus. Da hagelte es jedoch blitzschnelle Hiebe mit metallisch aufblitzenden Scheren. Sie droschen auf das breite Gesicht und den Torso ein, wischten Flampivian endlich das Grinsen aus der Visage.

    Doch mit einen lächerlichen Patronenhieb vermochte man diesen Berserker nicht zu beeindrucken. Zum ersten Mal schnaufte er wütend, stieß einen heißen Atem aus den Nüstern und ballte nun beide Fäuste. Loderndes Feuer hüllte sie ein. Terry schloss ebenfalls seine Hand und warf sie voraus, als wolle er selbst zuschlagen. Zu solchen Gesten hatte er sich lange nicht hinreißen lassen.

    „Jetzt gib´s ihm!“

    „Nochmal Eisenabwehr!“, ordnete Andrew sofort an. Mit Stahl- und Käfer-Attacken sowie dem zuvor gezeigten Nachthieb konnte er dieses Flampivian einfach nicht in die Knie zwischen. Schon gar nicht im direkten Kräftevergleich. Der Feuerschlag traf auf zwei überkreuzte Scheren und antwortete mit einem Geräusch, das an zwei kollidierende Metallbolzen erinnerte. Einige Zuschauer schüttelte es ähnlich, wie vor einigen Runden bei Bronzongs Freiflug und der anschließenden Landung. Die Arme von Scherox krümmten sich böse bei dem Einschlag. Sie konnten der Flammenfaust nicht standhalten. Kein Körperteil vermochte das. Der Stahlkäfer wurde einfach weggefegt wie ein Yanma von der flachen Hand eines Letarking. Das Feuer hatte auf die Arme übergegriffen, doch man musste es als Glück im Unglück bezeichnen, dass es gleich wieder erstickte, während Scherox über den Sand schleuderte. Er rollte fast bis an die Betonmauer. Schwer vorstellbar, dass er nach diesem Schlag noch bei Bewusstsein war.

    Wie beim Flammenblitz zuvor, zwang sich Andrew jedoch verbissen, die Sorge um Scherox hinten anzustellen und die Gunst der Stunde zu nutzen. Trotz des Siegeswillens war das eine sehr bittere Pille, die er da schluckte. Aber er schuldete diesen Sieg auch seinen aufopferungsvollen Pokémon. Dragonir hatte freies Schussfeld und die goldene Lichtkugel pulsierte voller Energie. Jetzt oder nie, hieß es.

    „Und los!“, brüllte er aus voller Kehle und stieß beide Fäuste vom Körper. Sie waren so fest geballt, dass seine Arme zitterten. Vielleicht war es aber auch die Anspannung. Der Kampfesrausch. Das Schnuppern am Sieg.

    Flampivian drehte sich und blickte geradewegs in die Sonne. Seltsamerweise vermochte er seine Augen nicht zu schließen. Das Licht blendete fast unerträglich und doch sah er mit weit aufgerissenen Augen hinein. Obwohl es wohl treffender formuliert wäre, wenn man sagte, es überfiel ihn. Ein Schein aus Gold kam über ihn, als würde Arceus selbst sein göttliches Licht auf ihn scheinen. Dann wurde alles weiß. Und dann sehr schnell schwarz.


    Flampivians Körper war unweit dem von Scherox zum Erliegen gekommen. Im Gegensatz zu diesem war er jedoch mit ungeheurer Kraft in die Betonmauer gekracht, die abermals Risse bekommen hatte. Nun lag er mit dem Gesicht im Staub und hatte alle Viere von sich gestreckt. Während Cay der Zerstörungskraft dieses Hyperstrahls frönte, eilte der Schiedsrichter zur den beiden Pokémon, um sich ein präzises Urteil bilden zu können. Terry hielt gespannt den Atem an. Er bildete sich ein, dass die Hitze der Grund für den Schweiß war, der seine Schläfe hinab rann. Er konnte doch nicht zweimal hintereinander verlieren!

    Der Schiedsrichter drehte sich zum Kampffeld zurück und hob beide Fahnen. Einer etwas höher als die andere.

    „Scherox und Flampivian sind beide kampfunfähig!“

    Andrews Herz machte einen Satz und er atmete euphorisch ein. Terry dagegen seufzte ernüchtert. Der erste Jubel setzte bereits ein und übertönte den Uniformierten beinahe.

    „Da nur noch Dragonir übrig ist, geht das Match an Andrew Warrener!“

    Der siegreiche Trainer ließ den Kopf erleichtert in den Nacken fallen und riss die Arme müde zum Himmel hinauf. Er hatte es geschafft, hatte seine Revanche bekommen. Er hätte nicht gedacht, wie gut sich das nach dem ernüchternden Halbfinale fühlen würde.

    „Es ist vorbei!“, jaulte auch Stadionsprecher Cay und holte tief Luft. Seine Stimme und seine Lunge machten all das hier wohl nicht mehr lange mit. Aber das Ende des Turnieres war ja fast erreicht.

    „Warrener ringt Fuller nieder und sichert sich den Platz auf dem Podest. Und dafür wird er sich bei seinem Scherox sehr erkenntlichen zeigen müssen.“

    Er formulierte das wie einen Scherz, aber Tatsache war, dass Andrew seinem ohnmächtigen Partner für diese aufopferungsvolle Leistung etwas schuldig war. Für Dragonir galt dasselbe. Scherox hatte unter widrigsten Bedingungen gegen den wohl unangenehmsten Gegner gekämpft, den man ihm hätte aussuchen können und ihn dennoch lange genug hinhalten und beschäftigen können, damit seine Kameradin den Freiraum erhielt, ihn aus dem Turnier zu pusten.

    Dragonir war dann auch binnen einer Sekunde bei ihrem Trainer und drückte sich fröhlich an ihn. Der erwachte sogleich aus seiner Trance und umarmte ihren Kopf, ließ es zu, dass sie ihn ein Stück vom Boden anhob. Rasch lenkten sie ihre Aufmerksamkeit dann auf Scherox weiter und vergewisserten sich seines Zustandes. Ohnmächtig war er tatsächlich nicht. Dafür völlig entkräftet und seine Arme verbrannt. Das konnte eine Weile dauern, bis diese Wunden ausgeheilt waren. Andrew zahlte es mit Massen an Lob und Dankbarkeit zurück. Gegenwärtig nur in verbaler Form, doch bei nächster Gelegenheit würde er die heutige Leistung zusätzlich mit einer gründlichen Politur belohnen, damit sein Panzer wieder glänzte. Für ihn selbst war der Summer Clash somit nun ebenfalls endgültig vorbei. So ein Gefühl bewegte immer etwas in ihm. Bei den allermeisten Trainern tat es das. Allerdings fühlte es sich für den Johtonesen rein gar nicht so an. Das überraschte ihn durchaus und ließ im Grund die Teilnehmer des anstehenden Finales als einzig mögliche Ursache zu.


    Ryan applaudierte verhältnismäßig nüchtern. Sein Lächeln war breit und voller Freude für seinen besten Freund. Sowie zugegebenermaßen auch etwas Schadenfreude in Richtung von Terry. Aber er verbot sich allgemein und erst recht an dieser eigentlich unerlaubten Zuschauerzone, in den grölenden Jubel einzusteigen, der um ihn herum herrschte. Außerdem machte Melody genug krach, dass es für sie beide reichte. Er hörte sie hier oben noch.

    Lange war es ihm jedoch nicht vergönnt, sich für und über Andrews Sieg zu freuen. Cay lenkte – verständlicherweise – die Aufmerksamkeit sehr zügig nach vorn. Sie hatten eben einen tollen Kampf gesehen, aber er war dennoch von minderer Bedeutung. Das, worauf sie alle wirklich und sehnlichst warteten, folgte nun als nächstes.

    „Okay, okay, Freunde. Ihr wart alle echt laut und echt leidenschaftlich dabei heute. Ich darf sagen, ich bin überglücklich, heute so viele begeisterte Menschen zu sehen.“

    Wurde der aufgedrehte Stadionsprecher im Hinblick auf das Finale jetzt sentimental? Ryan schüttelte sich und versuchte, die angefangene Rede nicht zu zynisch zu beurteilen. Er hatte keinen Grund für Zynismus. Nur jemand, der des Todes nervös und vielleicht sogar ängstlich war, hätte das. Und das wollte, durfte er auf keinen Fall sein. Im Gegenteil. Ihm bot sich hier die Chance, seine Stärke vor Team Rocket zu beweisen. Und vielleicht sogar einige von Bellas Pokémon auszuschalten. Zumindest für ein, zwei Tage. Besser als nichts. Er würde jetzt nicht unbedingt alles, aber doch sehr viel tun, um die Kampfkraft des Feindes nur ein bisschen zu schwächen.

    „Aber ihr wärt ja alle nicht so lautstark bei der Sache, wenn ihr dafür nichts zu erwarten hättet. Und ich weiß genau, was das ist. Ja, gleich ist es soweit – das große Finale des Summer Clash steht uns ins Haus!“

    Noch während er sprach, wurden die Massen lauter, nur um beim Wort „Finale“ geradezu hysterisch aufzuschreien. Cay hatte wirklich einiges von seinem Enthusiasmus und seiner Begeisterung auf das Publikum übertragen.

    „Ihr seid bereit?“

    Am Anfang ihrer Bekanntschaft wäre Ryan erschrocken. Mittlerweile überraschte es ihn kaum noch, Mila plötzlich hinter sich zu wissen oder zu hören. Und ihre sanfte, beseelte Stimme schüchterte ihn schon lange nicht mehr ein. Nun, da sie miteinander vertraut waren, war das Gegenteil der Fall. Gar kam Ryan sich dämlich vor, da es eine Zeit gegeben hatte, in der jedes ihrer Worte ihn mindestens verunsichert hatte. Wenn nicht mehr.

    Der junge Trainer blickte aus dem Augenwinkel über die Schulter. Gerade so weit, dass er goldenes Haar sowie einen schwarzen Mantel erahnen konnte. Nicht einmal Augenkontakt stellte er her, bevor sich sein Blick wieder nach vorn richtete. Genauer gesagt zielte er hoch zur Anzeigetafel, auf welcher soeben sein Bild neben dem von Bella erschien. Golden eingerahmt und mit einer Krone gekürt, während im Hintergrund ein Abbild der Trophäe rotierte, um die gekämpft werden würde.

    „Und ich darf mit Recht sagen, dass diese beiden es verdientermaßen erreicht haben. Macht euch bereits für das Duell zwischen Ryan Carparso und Bella Déreaux!“, beendete Cay die Ansage. Dass er direkt im Anschluss auf die Pausenzeit verwies, wirkte fast schon wie ein Witz und Sabotage an seinen eignen Worten. Eine totale Stimmungsbremse, auf die hier jeder gut verzichten könnte. Die Geduld war aufgebraucht. Die Leute wollten Carparso und Déraux kämpfen sehen!

    Irgendwie sah Ryan das Bild der Agentin, obwohl er es nur auf der Leinwand und nicht leibhaftig vor sich hatte, gerade anders als bisher. Es fühlte sich merkwürdig an, in das Gesicht einer Person zu blicken, von der man wusste, dass sie morgen um diese Zeit nicht mehr am Leben sein würde. Sofern der Plan gelang. Dies hinzuzufügen, machte die Situation noch obskurer und unwirklicher für ihn. Und wie so oft schien Mila, die sich nun an seine Seite gesellte, seine Gedanken zu erahnen. Besonders viele Möglichkeiten existierten aber auch nicht, wenn sein Blick so eisern an ihrem angezeigten Bild hing. Erst recht nicht, da der Blick nicht überwiegend von Abscheu und Hass gezeichnet war. Obwohl sie wusste, was das bedeutete, war die Drachenpriesterin jedoch nicht unglücklich, diese negativen Emotionen in den marineblauen Augen zu missen. Ryan sollte nicht so werden wie Sheila. Sollte sich nicht ihre Denkweise über das Töten und den Tod selbst aneignen.

    „Es ist wohl kein Trost, wenn ich euch daran erinnere, dass Ihr eure Hände nicht beschmutzen müsst?“

    Die Frau vom Ordnungsteam hatte bereits die Flügeltüren im Mundloch geöffnet und stand nun in einigen Metern Abstand, sodass sie nicht mithören konnte. Und Zuschauer kamen ihnen komischerweise kaum welche entgegen. Vielleicht war man zu angespannt oder hatte einfach keinen weiteren Bedarf an Speisen und Getränken, für welche man seinen Platz verlassen müsste. Dennoch klopfte Ryans Herz, da sie dieses Gespräch hier in aller Öffentlichkeit führten.

    „Ich bin Teil von alldem und habe den Plan abgenickt“, stellte er klar. Eine unglückliche Wortwahl, wenn man es genau bedachte. Die Entscheidungsgewalt hatte schließlich nicht bei ihm gelegen. Er war nicht einmal gefragt worden. Aber seine Zustimmung hatte er definitiv gegeben.

    „Vergiss die Hände. Ich beschmutze mich von oben bis unten.“

    Das tat er fürwahr. Und er hatte entschieden, dies in Kauf zu nehmen. Das und mehr, falls nötig. Die Grenze, bis zu der er wirklich Halt machen und zögern würde, war bereits seit einiger Zeit äußerst weit verschoben.

    „Aber ja. Ich bin bereit.“

    Das war er in zweierlei Hinsicht. Sowohl für das Match und das Duell von Angesicht zu Angesicht als auch die Kämpfe, die noch folgen würden. Und gleichermaßen war er bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Sein Leben, seine Seele, alles würde er aufopfern, um diesem Alptraum endlich ein Ende zu setzen. Selbst bei seinem Kampf an der Seite Lugias war er nicht so weit gegangen. Hatte es glücklicherweise auch nicht müssen. Jedoch verschwendete er keine Hoffnung daran, dass er im Fall um den Drachensplitter ähnliches Glück haben mochte. Sein Leben hatte bereits mehrfach auf Messers Schneide gestanden und wäre ohne die Hilfe von Mila und Sheila längst beendet worden. Dennoch begann Ryan erst heute langsam zu begreifen, dass genau das gefordert werden könnte, um das ersehnte Ziel zu erreichen. Spätestens dann, wenn er vor Rayquaza stünde.

    Kapitel 61: Mut allein reicht nicht zum Sieg


    „Psiana!“, rief Andrew entsetzt und wäre fast von seiner Position gestürmt. Seine Beine waren dabei so wackelig, dass er es wohl kaum bis zu ihr geschafft hätte.

    Andrew war völlig fassungslos. Glaubte sich in einem schlechten Traum. Bella hatte ihn total ausgespielt. Sie musste gewusst haben, dass er Ninjasks Angriff mit Reflektor beantworten würde. Er hatte ja mittlerweile unübersehbar durchblicken lassen, dass er zur Verteidigung gegen die blitzschnellen Nahkampangriffe gerne darauf zurückgriff. Dass er Kangama dann mit Feuerschlag würde antworten lassen, war ebenfalls naheliegend, da dieser mit Abstand die effektivste Attacke war, die er gegen die Zikade aufbieten konnte. Nicht zu fassen, dass sie eine defensiv so wertvolle Attacke wie Doppelteam diesmal so lange zurückgehalten hatte. Eine mutige Entscheidung, um nicht zu sagen riskant. Der Flammenwall, den Feuerschlag unweigerlich erzeugt hatte, war dann als zusätzliche Deckung genutzt worden, aus der Amfira heraus hervorragend angreifen konnte und danach war Andrews Aufmerksamkeit zu sehr von ihr in Anspruch genommen worden, um Psiana vor Ninjask zu schützen.

    Lange hatte er das Match ohne die ganz großen, verheerenden Rückschläge führen und Bella mindestens auf Augenhöhe begegnen können, aber mit dieser Kombination war er kalt erwischt worden. Beide seiner Pokémon lagen am Boden. Der Schiedsrichter beugte sich nach vorn und versuchte ein möglichst präzises Bild zu erlangen. Was bedeuten musste, dass er nicht unparteiisch war und Andrew gerne als Sieger ausrufen wollte. Vielleicht war es ja derselbe, der Bella schon am Vortag ob ihres skrupellosen Verhaltens kritisch beäugt hatte. Anders vermochte man sich nicht erklären, wie er die Entscheidung so hinauszögern konnte. Letztlich war sie aber unumgänglich.

    „Kangama und Psiana können nicht weiterkämpfen. Bella Déreaux gewinnt!“

    Und da waren die Massen wieder, mit all ihren Stimmen, all ihrer Kraft und Energie. Begeisterung, Bestürzung, Faszination und Niedergeschlagenheit fand man gleichermaßen unter all diesen Menschen. Ganz abhängig davon, auf wessen Sieg sie gehofft hatten. Als neutraler Zuschauer blieb einem ohnehin nichts Anderes übrig, als beiden Kontrahenten zu applaudieren. Zu so einem dramatischen und mitreißendem Match gehörten immer zwei Parteien. Andrew und seine Pokémon hatten fantastisch gekämpft. Mehr brauchte man gar nichts zu sagen. Nur richtig betonen musste man es. So, dass niemand es als hohle Floskel hinnahm, die sich der Verlierer gerne einredete, um seine Pokémon in Schutz zu nehmen oder weil er unbedingt Stolz auf sie sein wollte, weil ansonsten die Verbitterung es unmöglich machte, ihnen für die Niederlage nicht zu zürnen. Nein. Jeder der hier Anwesenden würde genau wissen, wie sie von diesem Match zu erzählen hatten, um zu vermitteln, dass Andrew Warrener sowie natürlich sein Psiana und sein Kangama eine glanzvolle Leistung gezeigt hatten. Nur selten wünschte man dem Unterlegenen so sehr doch noch irgendeine Art von Lohn.


    Wie sah der tatsächliche Lohn nun aus? Kein Preis, kein Ruhm, kein Triumph und keine Ehre lagen in dieser Niederlage. Die beiden waren zermürbt und geschlagen, fristeten den gut gemeinten Applaus, von dem sicher einiges ihnen galt, in der undankbaren Wiege der Ohnmacht. Aus Kangamas Maul lief noch immer zähflüssiges Gift. Innerhalb des Körpers ließ es einige Nerven zucken, ehe diese gelähmt wurden. Psianas Hinterleib lag in einer unnatürlich ungesunden Haltung. Als Außenstehender würde er annehmen müssen, dass ihre Hüfte und Beine gebrochen waren, wobei das angesichts dessen, was sie hatte erdulden müssen, auch ohne genaue Inspizierung mindestens plausibel wäre. Und selbst wenn er das Doppelte oder Dreifache der versprochenen Zeit aufwenden würde, um ihr Fell zu pflegen, würde das nicht reichen, um sie wieder zum Glänzen zu bringen. Sie sah aus, als sei sie um Haaresbreite einem Hausbrand entkommen und im Nachhinein doch der Rauchvergiftung erlegen. Das Gift war es zwar nicht gewesen, das sie in die Knie gezwungen hatte, doch musste es ihr unvorstellbare Qualen bereitet haben. Selbst jetzt kämpfte ihr Körper noch dagegen an, aber der musste gerade zu viele Fronten halten. Ein Würgereflex brachte selbst jetzt einen Schwall violetter Flüssigkeit hervor. Dies unterbrach die Ohnmacht für einige Sekunden. Am liebsten würde sie sogleich wieder dahin zurückkehren. Der Schwindel, die Übelkeit, das flaue, hohle Gefühl in der Magengegend, das in Bälde ein weiteres Erbrechen ankündigte und sie hoffen ließ, dass einfach alles aus ihr herausgepresst würde, das Schmerz zu verursachen und zu fühlen imstande war. Selbst wenn sie ihre Organe vor sich wiederfinden sollte, ging sie den Tausch für das Enden ihre Qualen gerne ein. Dazu brannten nicht nur ihre Muskeln vor Schmerz, sondern gar die Venen, die sie mit Blut versorgten. Das Toxin vermischte sich damit, wodurch größere und auch zähere Flüssigkeitsmengen hindurchströmen mussten, was in einem Pochen resultierte, als quetsche sich ihr schlagendes Herz hindurch. Diese Folter breitete sich über ihren ganzen Körper aus. Glücklicherweise spürte sie schon wieder ihr Bewusstsein schwinden. Gleich würde das Gefühl zumindest wieder unterbrochen. Wenn sie in ein paar Stunden aufwachte, würde es bestimmt besser sein. Schlimmer ging es schließlich nur noch, wenn die Giftmenge tödlich wäre.

    Psiana hatte die Schritte gar nicht kommen hören. Sie vernahm ja nicht einmal die tausenden Stimmen um sich herum. Selbst die so laute, verstärkte Stimme des aufgedrehten Mannes, der hier schon den ganzen Tag wie am Spieß herumschrie, klang so fern, als riefe er von einem Berggipfel auf sie herab. Dann aber drängte sich etwas zwischen sie und die brennende Sonne – wobei deren Hitze nun wirklich nichts im Vergleich zu Amfiras Flammen war. Sie konnte geradeso eines ihrer Augen öffnen. Spürte sie da etwas an ihren Kopf? Was hatte sich da vor ihr niedergelassen?

    Morgen würde sich die Psychokatze wundern, wie ihre Sinne derart vernebelt gewesen sein konnten. Wer mochte da schon sein? Andrew natürlich. Ihr geliebter Trainer und größter Verehrer. Er strich ihr sanft über das Haupt. So vorsichtig, als könne sie sonst zerbrechen. Und ironischerweise hörte sie seine Stimme trotz des Lärms um sie herum sehr deutlich, obwohl es kaum mehr als ein Flüstern war.

    „Es gibt keine mutigere Prinzessin als dich.“

    Mut hatte sie in der Tat bewiesen. Tollkühnheit und Opferbereitschaft demonstriert. Hatte mit ganzer Leidenschaft gekämpft. Doch all dies war noch zu wenig gewesen. Selbst aller Mut auf dieser Welt vermochte nicht, sie stärker zu machen. An mangelnder Stärke allein hatte es aber nicht gelegen, so befand Andrew. Auch nicht an Geschwindigkeit, Geschick oder Zähigkeit. Das Einzige, wovon es mehr gebraucht hätte, war Cleverness. Von allen anderen Attributen war genügen vorhanden gewesen. Ihm hatte alles zur Verfügung gestanden, was nötig war, um Bella zu schlagen. Und er hatte es verbockt. Hatte versagt. Verloren.

    Psiana versuchte den Kopf anzuheben und ihren Trainer in die Augen zu blicken. Seine zarte Berührung war verkrampft und versteinert. Die Sonne schien so hell, dass sie ihn bloß als dunkle Silhouette vor sich sah. Ein erster, äußerst zögerlicher Versuch wurde unternommen, wieder auf die Beine zu gelangen. Ein rasch einsetzender Würgereflex, der jedoch diesmal kein weiteres Gift hervorbrachte, machte dies zunichte. Diese wenigen Bewegungen reichten bereits aus, um sie wieder auf den Boden zu befördern. Mit einem Schwindel, als habe sie sich stundenlang im Kreis gedreht und einem widerlichen Schauer auf dem Rücken, der sie erzittern ließ, obwohl ihr ganzer Körper in Flammen stand. Zumindest fühlte sie so.

    Andrews Kiefer spannte sich und er unterdrückte einen sich anbahnenden Klos im Hals. Das hier hatte er zu verschulden. Er sollte dort liegen und für die Niederlage bezahlen. Wenigstens teilen wollte er das Leiden von Psiana und Kangama, aber so liefen Pokémonkämpfe leider nicht ab. Es zahlten immer nur die Pokémon den Preis. Doch er würde nachverhandeln. Indem er seine Schützlinge belohnte, damit sie die Strapazen ein wenig vergessen konnten. Und vor allem, indem er es Bella heimzahlte. Sandra hatte ihr bereits Rache geschworen und dem schloss er sich nun mit felsenfester Entschlossenheit an. Dann, wenn die Kämpfe wirklich zählten, würde er diese Rechnung begleichen.


    Psiana öffnete abermals unter großer Anstrengung und Überwindung ein Auge, sah aber nur noch eine ballförmige Kapsel vor sich. Ein roter Lichtstrahl griff nach ihr, woraufhin sie augenblicklich einschlief. Dies war geringfügig besser als die Bewusstlosigkeit.

    Andrew erhob sich dann aus seiner Hocke und ging weiter zu Kangama. Die versuchte such ebenfalls am Aufstehen, doch zitterten ihre Arme wie Zweige im Sturm. Aus ihrem Maul rannen weiter Speichel und Überreste des Toxins. Ein paar Tropfen Blut mischten sich ebenfalls darunter. Sie versuchte fast verzweifelt, die Erschöpfung und die Vergiftung zu besiegen und sich zu erheben. Liegend, kauernd, krümmend und winselnd wollte sie dieses Kampffeld auf keinen Fall verlassen. Wenigstens ein letztes Mal wollte sie ihrem Gegner in die Augen sehen und für das nächste Mal einen anderen Ausgang versprechen. Jedoch schien sie Unmögliches von ihrem Körper zu verlangen. Sie könnte schwören, eine eiserne Kette war um ihren Hals geschlungen und hielt am unteren Ende einen Amboss.

    Da schob sich auf einmal ein junger Mann neben sie, drängte sich an sie. Er griff ihren Arm und schlang ihn um seine Schulter, während die andere Hand ihren Torso stützte. Aus wässrigen Augen erkannte sie das Gesicht ihres Trainers. In den seinen stand eine klare Aufforderung – nämlich, ihr Vorhaben unbedingt in die Tat umzusetzen. Andrew kannte sein Kangama lange genug. Sie war nicht unbesiegbar und sich dessen auch bewusst. Aber niemals würde sie am Boden kriechen, sich klein machen und sich selbst damit demütigen. Nicht, wenn nicht einer der großen Götter persönlich vor ihr stehen sollte. Sie verließ das Feld mal als Sieger, mal als Verlierer. Aber immer erhobenen Hauptes!

    Andrew sprach kein Wort. Es waren keine vonnöten. Seine Geste sprach für sich und sie dankte ihm dafür aus tiefsten Herzen. Allein für diese hätte sie ihm so gerne den Sieg geschenkt. Mit einem Ruck schaffte es Kangama auf ein Bein. Ihr Trainer hielt den Oberkörper aufrecht, half bei der Balance und nahm ihr etwas von ihrem Eigengewicht ab. Mit Mühe konnte sie den zweiten Fuß auf die Erde setzen. Noch war ihre Haltung gekrümmt. Das Gift bereitete überall, besonders aber in der Magengegend unerträgliche Krämpfe. Von einem Speer aufgespießt zu werden, konnte sich kaum schlimmer anfühlen. Ein solcher hätte hier und jetzt das Ende bedeutet. Dieses war jedoch noch nicht gekommen. Kangama knurrte energisch, entblößte dabei ihre Eckzähne und spuckte diesmal demonstrativ widerspenstig Gift aus. Sie stand. Geschunden, geschlagen, gepeinigt und noch immer als Verlierer. Aber sie stand.

    Jubel brannte ein letztes Mal für sie auf. Melody erhob sich von ihrem Sitz aus reiner Erleichterung, doch fassten die umliegenden Zuschauer es scheinbar als letzte Ehrung, gleich der, die Sandra erfahren hatte, auf. Es wurde ohne großes Zögern mit eingestimmt. Andrew und Kangama wurden mit Dank und Respekt verabschiedet, was Cay lautstark unterstrich.

    Das bedeutete Andrew durchaus etwas. Auch, wenn er frühestens in ein paar Stunden imstande sein würde, dankbar dafür zu sein. Bevor es soweit war, würde er allerdings noch einmal auf diesem Feld stehen. Mit seiner Niederlage, so erinnerte Cay gerade, stand fest, dass er mit Terry um den dritten Platz kämpfen würde. Daran dachte Andrew in diesem Moment noch überhaupt nicht und gestattete auch nicht, seine Aufmerksamkeit jetzt bereits darauf zu lenken. Stattdessen inspizierte er Kangamas Wunden und prüfte mit einigen vorsichtigen Berührungen, ob alle Knochen noch heile waren. Manche Spezies konnten einen Kampf selbst mit solchen Verletzungen noch sehr gut überstehen. Psiana gehörte, wie man sich denken konnte, ganz bestimmt nicht dazu. Kangama verzog ab und an vor Schmerz das Gesicht und die Körperspannung ließ für eine Sekunde stark nach, sodass Andrew nachfassen musste, damit sie nicht fiel. Dafür würde sie sich glatt selbst hassen.

    „Du warst fantastisch“, beteuerte er eindringlich, nach somit ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Wenn er es schaffte, dass sie ihm zuhörte, vergaß sie vielleicht ein paar ihrer Schmerzen sowie die Erschöpfung. Mit der freien Hand packte er ihren muskulösen Nacken und hielt ihren Kopf in seine Richtung gedreht.

    „Ihr wart beide großartig, hörst du? Du und Psiana. Ihr habt euch nichts vorzuwerfen“, setzte er fort und gab sich allergrößte Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Vermutlich hätte er die meisten seiner Pokémon hier auch überzeugt, dass er nichts Anderes als Stolz empfand. Nur nicht diese beiden, die eben verloren hatten.

    Kangama zwang sich zu einem schwachen Lächeln, konnte ihrem Trainer dabei aber nicht ehrlich in die Augen blicken. Ihr blieb keine andere Wahl, als den Ausgang des Kampfes zu akzeptieren. Solch bitteren Erfahrungen machten die Schönheit dieses Wettkampfes leider auch aus. Das Siegerpodest war sehr eng und es rissen sich zahlreiche Anwärter um den Platz ganz oben. Heute hatte es ganz einfach nicht gereicht. Und dass es immer ein nächstes Mal gab, das tröstete so unmittelbar nach der Niederlage nicht über jene hinweg. Doch diesen Schmerz teilten sie gemeinsam. Nicht jeder alleine für sich. So ließ er sich etwas besser ertragen.


    Das, was nun folgte, würde glatt noch schwerer zu verdauen sein. Gleichmäßige, subtile Schritte kündigten die Finalistin an, die hier bejubelt wurde. Sie schenkte allerdings weder Cays aufbauschender Ansage noch den tausenden Fans Beachtung, die darauf einstimmten. Sie trat stolz und erhaben vor Andrew und Kangama, sodass sich in deren gebückter Haltung glatt ihr Schatten über sie legte. Amfira und Ninjask flankierten ihre Trainerin, welche ihnen beiden lobend über den Rücken strich, ohne die Augen von Andrew zu lassen. Besonders die Giftechse schien die Berührung sehr zu genießen. Ihr Gegenüber hatte sie ganz zweifellos bemerkt. Er sah schon gar nicht mehr Kangama an, sondern abwesend an ihr vorbei, als suche er noch nach einer Möglichkeit, dieser Konfrontation entgehen zu können. Einsichtig, dass dies unmöglich war, wägte Andrew noch rasch ab, ob er sie einfach ignorieren sollte, ordnete das aber unterhalb seines Niveaus ein. Er konnte ein angesäuertes Zusammenpressen seiner Lippen nicht unterdrücken. Dennoch vergewisserte er sich, dass Kangama einen Moment lang von selbst stehen konnte und richtete sich dann zu voller Größe auf. Er hätte gerne weiter als diese drei oder vier Zentimeter auf sie herabgesehen.

    Es wurde nicht viel Zeit mit Schweigen und Anstarren verschwendet. So etwas tat Bella nicht. Der Kampf war aus, das Ergebnis in Stein gemeißelt. Es gab diesbezüglich nichts mehr zu hinterfragen. Und um ihre Gegner zu erniedrigen oder zu verspotten, besaß sie zu viel Anstand. Leider doch wenig genug, um sich von einer skrupellosen Verbrecherbande anheuern zu lassen.

    „Ich danke euch.“

    Andrew musste einige Male blinzeln. Dieser kurze Satz kam jetzt mehr als überraschend. Und die nächsten sorgten glatt dafür, dass ihm der Mund offen stehen blieb. Glücklicherweise nur ein klein wenig.

    „So viel Adrenalin wie heute habe ich ewig nicht mehr in einem Pokémonkampf verspürt. Und ich…“

    Dieses Zögern verwunderte fast noch mehr. Für einen Sekundenbruchteil vergaß Andrew beinahe, wen er vor sich hatte und sah wieder das Mädchen in der Bar, die lediglich Ausgelassenheit suchte. Sie schien fast betrübt über die Worte, die sie zu sagen im Begriff war und befeuchtete seufzend die Lippen.

    „Ich weiß nicht, was demnächst passieren wird, aber ich hoffe, ihr überlebt es.“

    Diesmal kein Blinzeln. Kein offener Mund. Dafür vergaß der Trainer aus Johto bestimmt eine halbe Minute das Atmen. Dies registrierte Bella jedoch gar nicht. Sie machte kehrt und schritt von dannen. Ihr Pokémon folgten auf dem Fuß und wurden auf den nächsten Metern in ihre Bälle zurückbeordert.

    Sandra war von der Agentin in der letzten Runde ihrerseits am Gehen gehindert und eine würdevolle Verabschiedung von ihr verlangt worden, doch Andrew würde sie nicht zu einer vergleichbare Geste zwingen. Man konnte ihm die Wut darüber, welche Bella er heute vorgefunden hatte, nur schwer übel nehmen, nachdem sie ihm am Vorabend so ein nahbares, ja gar freundliches Bild von ihr gezeigt hatte. Vermutlich ging er davon aus, sie habe ihn getäuscht und verarscht. Dass sie jedes ihrer Worte von gestern ernst gemeint hatte, davon würde sie ihn hier und jetzt ganz bestimmt nicht überzeugen können. Aber vielleicht würde er sich dessen bewusst werden, wenn er diesen Moment noch einmal in Ruhe auf sich wirken ließ und sich nur ein wenig Mühe gab, sie zu verstehen. Sie war eiskalt, sie war käuflich und kompromisslos. Aber weder gehässig noch sadistisch oder grundsätzlich böse. Sich hatte sich ganz einfach auf ein Leben mit vielen düsteren Aspekten eingelassen.


    Genau wie sie es vermutete, verstand Andrew kein bisschen, was in der Agentin vorging. An einem Tag wirkte sie kumpelhaft, am nächsten wurde sie zur Psychopatin, die mit rücksichtslosen Mitteln seine Pokémon niederschlug. Wer mit Gift kämpfte, riskierte schonmal die Langzeitgesundheit der Gegnerseite. Es geschah zwar nur selten, aber die Möglichkeit bestand und die Gefahr wuchs selbstverständlich mit der Stärke des Pokémons. Doch konnte Andrew ihr und Amfira wirklich dafür zürnen, dass sie all ihre Fähigkeiten einsetzten? Oder Ninjask für seine Brutalität? Wohl kaum, es sei denn, er wollte zum Heuchler werden. Schließlich hätte und hat Kangama ebenso unbarmherzig zugeschlagen. Wenn er so drüber nachdachte, schloss Andrew nicht einmal gänzlich aus, dass er selbst es im Kampfrausch glatt darauf angelegt hätte, Bellas Pokémon zu ernsthaft zu verletzen. Mehr im Hinblick auf die nächsten Tage, wenn Andrew ihnen wieder gegenüberstehen könnte, aber dennoch änderte das nichts an seinem Charakterzug. Oder dem der kämpfenden Pokémon. Nirgends stand geschrieben, dass der Einsatz einer bestimmten Gattung ehrenlos oder gar verboten sei. Die meisten Pokémon vermochten anderen auf irgendeine Weise zu schaden und einige unter ihnen taten es nun einmal auf eine sehr brachiale. Das hatte ihnen kein Trainer nahe, sondern die Natur selbst in die Wiege gelegt.

    Was Bella selbst anging, so gab Andrew nun gänzlich auf. Ob sie ihm in Wahrheit grundsätzlich freundlich gesinnt war oder ihn bloß in dem Glauben ließ. Ob sie wirklich, so wie eben behauptet, auf ihr Wohlergehen hoffte oder sie entgegen ihrer eigenen Worte sogar sein und Ryans Leben bedrohen würde. Ob in den baldigen Kämpfen, die so unausweichlich schienen, bloß ihr Job zählte oder nicht doch persönliche Gefühle mitspielten. Nichts davon wusste er mehr zu beantworten. Ferner traute er sich nicht einmal mehr, zu raten.

    Andrew begann abzuwägen, ob es denn überhaupt eine Rolle spielte, was die Agentin wirklich dachte und fühlte. Entschied aber, dass dies in einer ruhigen Minute – oder auch zehn – getan werden sollte, gar musste. Hier auf dem Kampffeld würde sich das nicht bewerkstelligen lassen.

    Selbiges würde diesmal deutlich rascher gerichtet sein, weshalb ihm geradeso genug Zeit vergönnt sein würde, um Psiana und Kangama im Pokémoncenter abzugeben und einen Augenblick durchzuschnaufen, bevor er und Terry erneut aufgerufen werden würden. Auch nicht gerade die einfachste Aufgabe, so kurz nach dem verlorenen Halbfinale seine Konzentration gleich auf das nächste Match zu lenken. Und auf dem Weg stünde ihm noch etwas oder eher jemand anderes bevor.


    Ryan hatte die Hände in die Seiten gestemmt und die Lippen aufeinander gepresst. Andrew erkannte daran sehr deutlich, dass er jetzt so wahnsinnig gerne andere Worte als die folgenden aussprechen wollte.

    „Mach dir keinen Vorwurf“, meinte er zwar leise, aber möglichst ehrlich und eindringlich. So richtig wollte es allerdings nicht gelingen und seine Augen fielen etwas ab, da Andrew ihn bereits passiert hatte. Es geschah nicht oft, dass er schwieg. Schon im Allgemeinen, aber noch seltener, wenn man mit ihm sprach. Sein Blick schweifte währenddessen abwesend über den Boden. Ryan seufzte und verzichtete bewusst darauf, ihm nachzugehen oder auch nur hinterher zu sehen. Nach Sandra hatte nun auch er gegen Bella verloren. Gegen Bella! Ihre Feindin, die mehr oder weniger direkt für einen Anschlag auf Sheilas Leben verantwortlich war und ein Vorhaben unterstützte, welches bald das tausender anderer kosten könnte. Und er war zu schwach, um sie aufzuhalten. Vielleicht war ihr einziger Grund, am Summer Clash teilzunehmen, ja der, ihnen genau das aufzuzeigen. Dass sie nicht die Kraft besaßen, sich ihr zu widersetzen. Und wenn sie nicht einmal das vermochten, so waren sie gegen die Macht von Team Rocket wirklich chancenlos. So musste Andrew an die Worte denken, welche die Agentin zum Schluss gesprochen hatte.

    „…ich hoffe ihr überlebt.“, rief er sich ins Gedächtnis. War all dies hier eine Einschüchterung? Eine – er sträubte sich gegen die Formulierung, fand aber so rasch keine andere – gut gemeinte Warnung, den Widerstand aufzugeben? Ihre hoffnungslosen Mühen sein zu lassen und aus Hoenn zu verschwinden, um nicht von dem drohenden Sturm verschlungen zu werden?

    Andrew torkelte wie in Trance durch die Flure, erreichte die Eingangshalle und lenkte seine Schritte völlig unbewusst zu der großen Schiebetür. Er hatte nicht die geringste Ahnung, ob der Bereich bereits wieder mit Menschen geflutet oder völlig leer war. Es kreuzte keiner seinen Weg. Alles Weitere ging über die Grenzen seiner Aufmerksamkeit hinaus. In einer Minute würde er sich glatt fragen können, wie er denn hier draußen gelandet war. Sein Blick war steif und unabänderlich vor seine Füße gerichtet und doch nahm er keinerlei Notiz von seinem tatsächlichen Weg. Man könnte glatt meinen, er könne geradewegs einen Abgrund hinunterstürzen, ohne es zu merken.

    Entgegen dieser These blieb Andrew abrupt stehen, als sich das erste Hindernis vor ihm aufbaute. Ein Paar Turnschuhe in Nachtblau und Braun positionierte sich direkt vor seinen eigenen Tretern. Er folgte dem Weg nach oben, bis er in das Gesicht des Besitzers blickte. Boah, die rote Mähne konnte er jetzt eigentlich nicht gebrauchen.

    „Harter Kampf, hm?“

    Ein müde und wenig erbauliche Floskel. War Terry in all der Zeit, die er hier draußen gestanden hatte, kein besserer Weg eingefallen, das Gespräch zu beginnen? Das konnte selbst Sheila besser.

    „Hart wie eine Kopfnuss von Stollos.“

    Das Rümpfen seiner Nase sollte wohl ein trockenes, wenn auch etwas gezwungenes Auflachen sein. Für gewöhnlich versuchte Andrew mit solchen Sprüchen auch genau das zu erreichen, aber jetzt gerade war es nichts als die bittere Wahrheit, gemischt mit einer Prise untypischen Zynismus. In dem Augenblick, in dem das Endresultat vom Schiedsrichter ausgerufen worden war, hatte er sich genau so gefühlt.

    „Naja, jetzt kriegst du immerhin deine Chance auf Revanche“, meinte Terry schulterzuckend. Sollte ihn das jetzt aufbauen? Dass es rein theoretisch noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen gab, hatte Andrew nicht vergessen, maß dem Kampf von damals aber offen gesagt keine große Gewichtung bei.

    „Mhm, im Kampf um die goldene Ananas.“

    Der abfällige Tonfall verdeutlichte, was er von dieser Ausganglage und dem Match hielt. Er war echt nicht scharf drauf und traute eigentlich auch dem Trainer aus Einall nicht zu, es zu sein. So ehrgeizig und anspruchsvoll Terry Fuller gegenüber sich selbst war, konnte er sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Was würde der Lohn sein, jetzt den dritten Platz zu erobern? Die lächerliche Bronzemedaille? Die Ehre, hautnah beim Sieger zu stehen, wenn der seine Trophäe erhielt? Bei Arceus, er hoffte so sehr, dass das Ryan sein würde. Wenn er sich vorstellte, neben Bella stehen zu müssen, während die zum Sieger des Summer Clash gekürt wurde, wäre die Verlockung gar groß, Terry den Sieg zu schenken.

    Da sprach allerdings wieder der Zynismus aus ihm. Sogar jetzt besaß der Johtonese jedoch noch immer genug Stolz, um absolut alles zu geben. Er hatte es Terry gestern selbst erläutert. Sobald er einmal auf dem Kampffeld stand, waren alle Menschen und Probleme, die ihn so plagten, völlig ausgeblendet. Selbst der eben beendete Kampf gegen Bella stellte nur fast eine Ausnahme dar. Und tja, bezüglich der Agentin würde er einfach all seine Hoffnungen in Ryan setzen. In der Regel waren die dort gut platziert. Allerdings war es zweifelhaft, dass er jemals einen solchen Gegner zu überwinden gehabt hatte. Und das wollte etwas heißen, jetzt, nachdem Ryan gerade seinen größten Rivalen geschlagen hatte.

    „Wow, du bist ja richtig angepisst“, stellte Terry durchaus überrascht fest und fuhr sich durch das Haar. Ja, ach. Natürlich war er das. Selbst ohne das Wissen um Bellas Identität sollte das nicht verwunderlich sein. Allein die Chance auf ein Finale gegen seinen besten Freund verpasst zu haben, rechtfertigte seine Laune, so befand Andrew.

    „Steht dir überhaupt nicht gut zu Gesicht“, fügte Terry an. Jetzt reichte es aber langsam. Der führte sich ja auf als wäre hier nur einer von ihnen ausgeschieden. Als hätte er den Gedanken vernommen und sich wieder auf den Boden der Tatsachen holen lassen, seufzte der Trainer aus Einall schließlich und stemmte die Hände in die Seiten.

    „Naja, falls es dich tröstet, mich hat´s zunächst auch echt getroffen. Hab mich vorhin selbst nicht grad rühmlich verhalten.“

    Wenn er so an den vereitelten Konfrontationsversuch und vor allem seine primitive Drohung Audrey gegenüber zurückdachte, könnte er sich bereits selbst eine verpassen. Das war nun wirklich nicht die Art, wie sich ein guter Verlierer benahm. Damit bewies er keine Größe, sondern Schwäche, da sein Frust seine Worte sowie beinahe seine Taten diktiert hatte. Und es war ja nicht so, dass er zum ersten Mal gegen Ryan unterlegen war.

    „Und ehrlich gesagt, hab ich auch gehofft, dass du die Tussi fertig machst“, gestand er weiter und kratzte sich am Hinterkopf. Nun war es Andrew, der die Nase rümpfte und sich das Schmunzeln kaum verkneifen konnte.

    „Sie kann einem echt auf den Sack gehen, was?“

    Er hatte zwar keine Ahnung, welchen Grund Terry hatte, Bella zu hassen, aber es war ihm nicht entgangen, mit welch durchstechenden Blicken er sie in den Katakomben traktiert hatte. Vielleicht hatte sie ihm ja genau das prophezeit – das Ausscheiden im Halbfinale gegen Ryan. Und zu wissen, dass sie nun die Genugtuung des Rechthabens auf ihrer Seite wusste, konnte einen schon mal krank machen.

    Terrys Blickte schweifte einen Moment lang ab. Seine Brauen zuckten hoch und er nickte, etwas abwesend, befürwortete die Aussage mit jeder Faser seines Körpers. Da waren sie zur Abwechslung einer Meinung. Eben das verriet auch der Blick, den sie gerade teilten. Und ohne es erklären zu können, begann Terry Fuller zu lachen. Erst nur ganz leicht und noch zurückhaltend, unsicher. Für Andrew könnte der mit Bella verbundene Frust noch etwas zu frisch sein. Doch er stimmte tatsächlich mit ein. Schien es sich eigentlich erst verbieten und es unterdrücken zu wollen, aber das Lachen setzte sich durch. Auch seines war dezent und ihm wohnte ein winziger Hauch Verbitterung inne. Dessen ungeachtet fühlte es sich durchaus ein wenig befreiend und durch die Tatsache, dass sie es teilten, fast kameradschaftlich an. Andrew war sicher, dass er diesen Moment irgendwann in seinem Leben mal verfluchen würde. Ähnlich wie der äußerst kurz ausgefallene Trinkabend mit Bella.

    „Also“, setzte Terry dann nach einer längeren Pause an.

    „Wir sehen uns nachher?“

    Damit fragte er sicher nicht bloß, ob Andrew anwesend sein würde. Sondern auch, ob er ihm einen gebührenden Kampf bieten würde. Dafür würde er den Kopf freibekommen müssen. Und seinen Ehrgeiz wiederfinden. Für so niveaulos hielt Terry ihn allerdings nicht, dass er nur halbgar an das Match herabgehen würde.

    „Der dritte Platz tangiert mich ü-ber-haupt nicht“, stellte Andrew jedoch unmissverständlich klar. Sein Gegenüber holte bereits Luft für einen enttäuschten, sogar etwas wütenden Seufzer, aber die Dinge wurden rechtzeitig richtiggestellt.

    „Mich bei dir für die Klatsche zu revanchieren, dagegen schon.“

    Wieder ein trockenes Auflachen. Diesmal schüttelte Terry dabei den Kopf, war allerdings sehr zufrieden mit der Antwort.

    „Wird aber diesmal ohne Maxax und Psiana gehen müssen.“

    In der Tat war es völlig ausgeschlossen, dass die Beiden in dieser kurzen Zeit wieder fit würden. Selbst das beste und am modernsten ausgestattete Pokémoncenter der Welt würde das nicht hinkriegen. Vermutlich würden sie, ebenso wie Kangama und Voltula über Nacht dort bleiben müssen.

    „Ja, da hast du echt Glück gehabt“, kommentierte Andrew darauf. Die Spitze erntete ein weiteres Kopfschütteln. Wo nahm der so schnell nur wieder diese Albernheit her? Dies zu kommentieren oder weiter mit ihm zu zanken, lehnte der Trainer aus Einall jedoch ab. Stattdessen machte er einen kleinen Bogen und spazierte an Andrew Warrener vorbei. Der drehte sich zunächst nicht nach ihm um. Erst als er einen kumpelhaften Klaps auf der Schulter spürte, wandte er sich noch einmal. Mehr als den Rücken bekam er nicht zu sehen. Die Hände bereits in den Taschen vergraben.

    Er wurde aus Terry Fuller nicht schlau. Dies war mindestens die zweite Andeutung, dass die zwei gut miteinander auskommen konnten. Warum also schien das bei Ryan so unmöglich? Vermutlich waren sie einfach zu stur, um die Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen. Von einem Versuch ganz zu schweigen.

    Kapitel 60: Lithium


    Bella war zuerst über die Lautsprecher angekündigt worden. Der Beifall des Publikums, den sie inzwischen genoss, hatte beinahe den von Ryan und Terry erreicht. Ihre teils unbarmherzigen Methoden, die sie während des Turniers bereits gezeigt hatte, schienen die Leute nicht zu tangieren. Oder vermutlich waren sie neben ihrem beeindruckenden Durchmarsch einfach vergessen worden. Sie war eine Newcomerin, die sich bereits mit den ganz Großen maß. Und zwar auf Augenhöhe, wenn nicht sogar noch mehr. So eine Story konnte man nur selten bestaunen und die Menschen mochten so etwas. Ein Underdog, der die Riege der Toptrainer aufmischte. Der aus dem Nichts kam, um es sich auf dem Siegerpodium bequem zu machen.

    Wie war das doch zum Kotzen.

    Ein Teil von Andrew wollte ihre Fassade entlarven. Wollte ihre Maske, mit der sie hier auftrat, herunterreißen und allen aufzeigen, wer und vor allem was sie wirklich war. Aber so wie er sie mittlerweile einschätzte, würde ihr das nicht einmal etwas ausmachen. Natürlich wurde sie für etwas Anderes gehalten, als sie tatsächlich war, aber nicht etwa, weil sie sich hier verstellte und ein Schauspiel ablieferte. Sie präsentierte sich als sie selbst, machte niemandem eine Scharade vor. Man wusste hier lediglich nicht von ihrer Hauptberufung. Klammerte man diesen Fakt aus, so stand die echte Bella Déreaux vor ihnen – sofern das wirklich ihr Zweitname war.

    Andrew wurde nun ebenfalls aufgerufen. Mit aufbauschender Rede und Hervorhebung seiner bisherigen Errungenschaften. Auf seine Platzierungen in den Ligen von Kanto und Johto war er bestenfalls ein winziges Bisschen stolz. Mehr noch erwähnte Cay aber ohnehin den Ursprung seines Titels. In den beiden genannten Regionen existierten nebst Arenen noch dutzende andere Kampfeinrichtungen sowie natürlich Turniere, ähnlich des Summer Clash. Dojos für Kampfpokémon, Schwimmschulen, in denen man gegen Wasserpokémon antreten konnte, verschiedene Nationalparks mit wildlebenden Pokémon oder die berühmten Kimono Girls. Man konnte jeden Ort nennen, der einem einfiel und sicher sein, dass Andrew dort gekämpft hatte. In den Parks tat man das außerdem nicht selten gegen andere Trainer um das Recht, das stärkste der dort lebenden Exemplare, das Alpha, wie es in solchen Habitaten genannt wurde, herauszufordern. In jedem einzelnen hatte Andrew dieses Recht erlangt und natürlich auch das Alpha selbst besiegt, auch wenn das Einfangen selbstverständlich streng verboten war. Diese Parks waren keine Safari-Zone. Alle Dojos und Schulen hatte er geschlagen, sowie die meisten Turniere gewonnen. Vermutlich würde niemand in diesem Stadion eine zweite Person nennen können, die es geschafft hatte oder schaffen würde, bei all diesen Turnieren innerhalb eines Kalenderjahres anzutreten. Geschweige denn das allgemeine Niveau zu toppen und stets an der Spitze zu kämpfen. Selbst Audrey hatte das nicht geschafft und die besuchte nicht einmal die Arenen.

    Andrew senkte den Kopf ein wenig, sodass ihm sein Haar ins Gesicht fiel. Ein bekennendes Grinsen legte sich darüber. Ja, er war in der Tat unermüdlich. Zielstrebig, wie kein Zweiter. Er kam, um zu siegen, doch ungeachtet ob das gelang, blieb er nie länger als unbedingt nötig an einem Ort. Eine Trainerreise hatte den Sinn und das Ziel, neue Orte und Menschen kennenzulernen und von beidem zu lernen, an ihnen zu wachsen und letztlich stärker zu werden. Aber nicht nur das. Andrew genosss ebenso die Phasen dazwischen. Das unterwegs sein. Mit Psiana an seiner Seite durch Wälder zu wandern, über Berge zu klettern und Schluchten zu durchqueren. Der Weg war ebenso das Ziel. Das klang für mache vielleicht widersprüchlich, aber er war nie der einfache Mensch gewesen, als der er sich oft präsentierte. Er war ganz einfach so. Er war der Rastlose.

    Ein junger Trainer in Jeansjacke trat ins Freie. Warme Sonnenstrahlen des herrlichen Sommerwetters von Hoenn teilten ihm mit, dass sie absolut überflüssig war. Ihre Strahlen spiegelten sich in seinen Augen. Hatte jemals eine so gewöhnliche Iris wie seine, die auf der Welt sicher eine Millionen Mal existierte, von so viel Tatendrang und Entschlossenheit gezeugt?

    „Und hier kommt er! Hier kommt Andrew Warrener!“, brüllte Cay in sein Mikrofon, sodass die Technik an ihre Grenzen stieß und seine Stimme nicht mehr ausreichend verbreiten konnte. Bella hin oder her, er war noch immer einer der beliebtesten Trainer dieses Turniers und genoss bereits den Rückhalt diverser Fans. Das war, da dies sein erster öffentlicher Auftritt auf diesem Kontinent war, nicht selbstverständlich.

    Normalerweise würde das genießen und hoch zu schätzen wissen. In Anbetracht des Gegners sowie der Bedeutung dieses Matches war dafür jedoch keinerlei Platz. Er streckte die Arme ruckartig etwas vom Körper, sodass seine Jacke von den Schultern zu gleiten versuchte und öffnete seine Hände. Er präsentierte sich kampfbereit und siegeswillig. Vor allem aber präsentierte er sich offen. Als er selbst, als Feind – nicht nur Gegner – der jungen Frau dort auf dem Sand. Hier war er. Er war bereit. Keine Spielchen mehr, keine hohlen Worte mehr. Jetzt, erst jetzt zählte es. Mit einem Ruck beider Arme wurde die Jacke wieder sauber auf seine Schultern gezogen und er begann die zwölf Meter von der Schwelle des Tunnels bis zu seinem markierten Platz. Bella hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt und reckte diese weit hinaus. Ihr Kopf lag die ganze Zeit abschätzend auf der Seite, welche nach dieser Geste Andrews gewechselt wurde. Hatte er sich also doch noch gefangen. Sehr gut!

    Während Cay seine üblichen Reden schwang und das Publikum noch weiter anheizte, obwohl deren Stimmen bereits Berge zu versetzten mochten, trat derselbe Schiedsrichter wie vom ersten Halbfinale vor und erläuterte nochmals Regeln und Format des Kampfes. Die überflüssige Formalität eben. Von den Kontrahenten hörte eh keiner zu. Es wurde sich ein Anstarrduell der anderen Art geliefert. Wer es nicht besser wusste, würde einfach sagen, dass sich beide irrsinnig auf den Kampf freuten. Zumindest der Trainer aus Johto hatte allerdings wesentlich wichtigere Hintergründe für das Match als sein Vergnügen. Er freute sich lediglich auf den Moment, wenn Bella ihr Scheitern hinnehmen und sich ihm geschlagen geben musste. Seine Schadenfreude würde in diesem Moment unermesslich sein.


    Vier Ballkapseln, vier Lichtblitze. Auf Andrews Seite betraten zwei sehr bekannte Gesichter die Bühne und wer ihn nur ein wenig kannte, hatte mit dieser Formation sicher rechnen können. Ryan wagte allerdings nicht zu schätzen, wer, nebst ihm selbst, ihn so gut einzuschätzen vermochte.

    „Warrener setzt auf seine beiden wohl stärksten Pokémon. Für ihn treten Psiana und Kangama an!“, erörterte der Stadionsprecher seine Aufstellung. Das Katzenwesen saß scheinbar völlig unschuldig und desinteressiert da, sah sich neugierig um, als ob sie keine Ahnung hätte, was hier vor sich ging oder was sie hier zu suchen hatte. Ihre übliche, trügerische Masche halt.

    Eigentlich hätte Andrew seiner geliebten Prinzessin gerne Dragonir zur Seite gestellt, da die beiden bereits sehr gut aufeinander abgestimmt waren und einige überragende Attacken-Kombinationen draufhatten. Da Bella jedoch bereits gegen diese Gattung hatte kämpfen und Erfahrung sammeln können, schloss er den Plan kategorisch aus. Natürlich unterschied sich sein Exemplar von Sandras in mehreren Aspekten, aber dennoch war es keine gute Idee, mit einem Pokémon anzutreten, gegen das sich Bella bereits einmal durchgesetzt hatte. Allein schon vom psychischen und mentalen Aspekt.

    Zudem war Kangama schlicht und einfach erfahrener. Sie zeigte nicht ganz die typischen Drohgebärden. Und genau das – so wusste allerdings nur Andrew und allerhöchstens noch Ryan – war für Bella im Grunde aussagekräftiger und besorgniserregender als jedes Knurren oder Brüllen. Sie wusste natürlich, worum es hier ging und gegen wen sie kämpfte, war sich absolut im Klaren über die Bedeutung dieses Matches. Das hier war mit dem Achtelfinalkampf gegen Stalobor nicht vergleichbar. Hier ging es um weit mehr. Hier musste sie sich auf eine Schlacht einstellen.

    „Diese zwei Pokémon haben in den letzten Runden ordentlich Staub aufgewirbelt. Ich freu mich schon drauf zu sehen, was sie gemeinsam anrichten können. Bella Déreaux tritt dagegen mit Ninjask an, das wir schon gestern gesehen haben. Daneben schickt sie Amfira in den Kampf – eine wirklich exotische Gattung.“

    Da behielt Cay Recht. Amfira waren vorwiegend auf einer Inselgruppe weit vom Festland entfernt anzutreffen, hausten zudem gerne in vulkanischen Gebieten, wo sich nur wenige Trainer hinwagten und die Pokémonjagd schnell lebensgefährlich werden konnte. Amfira war eine echsenartige Gestalt mit größtenteils schwarzer Reptilienhaut. Auf Bauch und Brust zeichneten sich jedoch purpurfarbene, geschwungene Flammenmuster ab. Fast alles an diesem Pokémon wirkte dünn und länglich. Der Torso, der Hals, die Schnauze die Arme sowie die fasrigen Krallen daran, was diese aussehen ließ, als habe man sie von einer Kreatur aus einem Alptraum gestohlen und Amfira angeheftet. Lediglich die Oberschenkel waren im Gegensatz zur gesamten Erscheinung weniger schmal, sondern breit und kräftig. Fast wie bei einem Quajutsu, doch zweifelte Andrew stark, dass diese Giftechse zu vergleichbaren Sprüngen oder Sprints fähig war. Sie fixierte nicht etwa seine Pokémon, sondern ihn selbst mit einem schelmischen Blick, der ihm gelichzeitig das Gefühl gab, ein Beutetier zu sein. Ähnlich hatte Bella ihn angesehen, als er sich am Vorabend in einem irrsinnigen Anflug von Blödheit zu ihr gesetzt hatte. Süffisant und sadistisch, in vorfreudiger Erwartung eines amüsanten Massakers.

    Warum in Arceus Namen verkörperte alles an und um die Agentin diese Ausstrahlung? Die geschmacklose Freude an hinterhältigen und gar hochgefährlichen Spielchen, die er nicht anders als pervers zu betiteln vermochte? Amfiras Augen besaßen zwar eine andere Farbe, doch ansonsten wirkte sie wie ein Reptilien-Ebenbild ihrer Trainerin. Und das gefiel Andrew gar nicht.

    Wenigstens in Ninjasks Käferaugen konnte man nichts dergleichen beobachten. Wie bei vielen Vertretern dieses Typs war die Miene ausdrucks- und emotionslos. Andrew beschlich bei solchen Gegnern gerne mal das Gefühl, gegen eine Maschine zu kämpfen, die weder dachte noch fühlte und tatsächlich traf diese Beschreibung wohl auf keine Gattung so gut zu, wie bei Ninjask. Selbst das Wetzen der klauenbestückten Vorderläufe schien nichts weiter als ein einprogrammierter Mechanismus zu sein, der als Drohgebärde herhalten sollte. Dieses Pokémon sollte er tunlichst von Psiana fernhalten. Die kam mit Käfer-Attacken nicht sonderlich gut klar und Andrew erinnerte sich außerdem, dass das Vieh Nachthieb beherrschte. Die Psychokatze besaß eine Menge Stärken, aber Robustheit gehörte absolut nicht dazu. Dafür würden ihre Angriffe Amfira sehr empfindlich treffen. Für Kangama sah die Ausgangslage noch schwieriger aus. Gegen die Echsendame würde sie nur schwer in den Nahkampf kommen, doch hatte sie keine Möglichkeit, aus der Distanz anzugreifen. So würde sie sich vermutlich primär auf Ninjask fokussieren, aber hier stellte dessen Schnelligkeit ein Problem dar. Psiana würde wohl vorerst eine unterstützende Rolle für Kangama einnehmen müssen, und Räume für ihre brachialen Angriffswellen schaffen.

    „Damit sind wir alle bereit. Das zweite Halbfinale, meine Freunde. Déreaux oder Warrener – wer tritt in der Endrunde gegen Carparso an?“, pushte Cay die Spannung nochmals und schien sie selbst kaum aushalten zu können. An der Seitenlinie wurden zwei kleine Fahnen erhoben.

    „Finden wir´s raus!“

    Der Unparteiische gab das Signal.

    „Beginnt!“

    Andrew spreizte die Beine und neigte den Oberkörper nach vorn. Endlich war die Zeit der Psychospielchen, des Grübelns und Spekulierens vorbei. Auf dem Kampffeld fühlte er sich definitiv wohler und ausgeglichener. Und vor allem fühlte er sich hier Bella ebenbürtig. Nein, gar überlegen. Jetzt konnte er ihr endlich die Quittung für ihre Gehabe und Getue überreichen.

    „Vorwärts Kangama, Feuerschlag auf Ninjask!“

    Das robuste Säugetier grunzte kurz und setzte zu einem ansatzlosen Sprint an. Die rechte Klaue wurde von Flammen eingehüllt und hinter ihr eine Staubwolke hergezogen. Im Gegensatz zu den meisten Vertretern ihrer Gattung verzichtete sie zumindest für den Augenblick auf wildes Kampfgebrüll. Sie ging nicht so stumpf und kopflos vor. Das hatte ihr Trainer ihr abgewöhnt. Sie einfach so mit der offensichtlich effektivsten Attacke voranzuschicken, zeugte nun auch nicht gerade von einer besonderen Taktik oder einer kreativen Strategie, aber Andrew würde sich bei diesem Befehl schon was gedacht haben. Das tat er immer.

    Auch Bella ging schwer davon aus, aber sie hatte nichts dagegen einzuwenden, das Match ruhig zu beginnen.

    „Mit Matschbombe ausbremsen“, wies sie nüchtern an. Amfira trat vor und begab sich auf alle Viere. Ihr Grinsen mochte gar nicht gefallen. Es hätte zu jedem Pokémon des Typs Geist gepasst und jeder wusste, worauf man sich bei einem Kampf mit diesen einließ. Mit einem kehligen Fauchen spuckte sie dann violette Klumpen einer schleimigen Giftmasse aus. Sehr ekelhaft das Zeug und leider enorm geruchsintensiv. Die Wirkung auf der Haut war im wahrsten Sinne ätzend.

    „Jetzt Lichtschild.“

    Das rote Stirnamulett der Psychokatze glimmte kurz auf, woraufhin Kangama von einem goldenen, halb transparenten Lichtwürfel umschlossen wurde. Nicht nur einer Wand, welche die Frontseite schützte. Cay hob das besonders hervor. Nur wenige vermochte den Lichtschild so einzusetzen. Das bedurfte enormer Konzentration und sehr ausgeprägten telekinetischen Fähigkeiten.

    Aha, das war also die Taktik. Psiana sollte ihre Partnerin beschützen, damit sie den direkten Angriff suchen konnte. Ryan und Sandra schmunzelten. Das Training im Wald hatte sich also auch für Andrew ausgezahlt.

    Kangama wurde ermöglicht, unbedacht nach vorn stürmen und die Matschbombe fast zu ignorieren. Das, was sie von ihrer Kraft noch spürte, konnte sie locker wegstecken.

    Bella blieb somit keine andere Wahl, als Ninjask ein Ausweichmanöver zu befehlen. Das würde in diesem Kampf sicher einige Male geschehen, da seine Geschwindigkeit die größte Stärke dieser Gattung darstellte. Daraus wurde aber auch nichts.

    „Konfusion“, hörte sie von der anderen Seite des Kampffeldes. Diesmal waren es Psianas Augen, die daraufhin aufleuchteten, allerdings in einem hellen, mythischen Blau. Ein gleichfarbiger Lichtschleier umfasste den Insektenkörper in hielt ihn in der Luft fest. Ein verblüfftes, unverhofftes Zirpen später kollidierte eine Flammenfaust mit dem kleinen Körper und schmetterte ihn in einer waagerechten Flugbahn fort.

    „Oh, Bella Déreaux muss einen ersten Schlag wegstecken. Da hat sie sich zu sicher gefühlt!“

    Cay schien nicht in Betracht zu ziehen, dass jener Schlag von ihr einkalkuliert gewesen war. Andrew und auch die beiden, die ihm von den Katakomben aus die Daumen drückten, befanden gleich, dass das viel zu einfach ausgesehen hatte. Und so schnell die Agentin den nächsten Befehl anordnete, fühlte man sich rasch bestätigt.

    „Amfira, Toxin!“

    Die Salamander Dame hatte sich sofort auf Kangama fokussiert, kaum dass der Feuerschlag getroffen hatte. Die grinste sie feist an und spuckte schließlich eine andere, zähflüssigere, violette Giftmasse aus, die schon bei Hautkontakt ätzte und juckte. Zudem gelangte ein wenig von dem Zeug in ihr Maul. Es nützte überhaupt nichts, dass sie gleich darauf spuckte. Das Toxin war nun in ihrem Körper, wie ein röchelnder Huster ihr mitteilte. Kangama fühlte sich, als habe sie einen Matschklumpen verschluckt und ersticke nun dran. Und nebenbei wart der Klumpen mit etwas Brennbarem überzogen und angezündet worden. Ihre Organe brannten auf einmal irrsinnig, reagierten empört auf die Fremdsubstanz innerhalb des Kreislaufsystems. Glücklicherweise hielt das Gefühl nur eine Sekunde, die allerdings ausreichte, um ungehindert mit Flammenwurf nachzusetzen. Der Lichtschild glimmte erneut auf und minderte die Feuerkraft, doch musste Kangama das Feld räumen, sprich, Abstand gewinnen. Psiana platzierte sich gleich neben ihr und schärfte alle Sinne, um einen weiteren möglichen Angriff zu verhindern. Bella zog das Tempo jedoch noch nicht so stark an und gab Ninjask stattdessen die Gelegenheit, sich neu zu positionieren. Der Feuerschlag hatte wirklich gesessen, aber durch das geringe Körpergewicht war die Zikade nicht einmal bis zu Betonmauer geflogen. Eigentlich konnten diese Käfer nicht gerade viel wegstecken, doch da die Flammen nicht auf den Chitinpanzer übergegriffen hatten – lediglich schwarz angelaufen war er, was durch die natürliche Färbung leicht übersehen werden konnte –, war er von größeren Verbrennungen verschont geblieben. Dennoch musste Bella gewahr sein, auf welch dünnem Eis sie sich bewegte. Sie genoss jede Gefahr innerhalb des Turniers und mindestens zum Teil auch außerhalb davon. Aber sie war bislang selten Risiken eingegangen.

    „Déreaux will Warrener nun unter Druck setzen, indem sie seine Pokémon vergiftet. Scheinbar will sie auf Zeit spielen und ihn langsam zermürben.“

    Auf Zeit? Sicher nicht. Dann hätte sie keine Pokémon ausgewählt, die auf Angriff und Schnelligkeit setzten, sondern eine zähere, ausdauerndere Kombination gewählt. Schluckwech oder Aggrostella hätten für diese Strategie eine viel bessere Wahl dargestellt. Nein, sie wollte Andrew bloß zu Fehlern verleiten und dann mit ihren eigentlichen Waffen gnadenlos über seine Pokémon herfallen. Wenn Amfira einmal freies Schussfeld besaß oder Ninjask nah an Psiana herankam, würde es zappenduster werden für den Johtonesen. Einfach cool bleiben. Die Wirkung von Toxin würde erst nach einer gewissen Zeit zu einem Problem. Er durfte sich nicht aus der Not heraus einbilden, den Kampf schnell gewinnen zu können. Bella war nicht so einfach zu besiegen.

    Eben die befahl Ninjask nun Agilität. Schöner Mist. Diese Spezies war ohnehin die vielleicht schnellste in der gesamten Pokémonwelt. Mit dieser Technik vermochten sie endgültig alles und jeden abzuhängen. Das Tempo wurde umgehend demonstriert. Das Surren seiner Insektenflügel klang den Bewegungen hinterher, drang verzögert an Andrews Ohr. Und Ninjask selbst war fortan kaum noch zu erkennen. Nur einige schwarz-gelbe Farbschlieren zogen ihre Bahnen durch den niedrigen Luftraum und das auch lediglich dort, wo Ninjask abbremste oder die Richtung änderte. Das Pokémon war nur dann noch präzise zu erkennen, wenn es gänzlich anhielt.

    „Oh, oh. Das Bild kommt mir bekannt vor. Ninjasks Schnelligkeit wurde uns schon gestern demonstriert“, erinnerte Cay und verwies auf den damaligen Gegner, der dagegen überhaupt nichts zu melden gehabt hatte. Andrew spielte allerdings in einer anderen Klasse, doch schränkte das seine Optionen natürlich weiter ein, denn einen direkten Angriff auf die Zikade konnte er ab hier vergessen. Die würde allem ausweichen können, was er ihr entgegenzuwerfen hatte. Selbst Konfusion und Psychokinese konnten nicht rechtzeitig greifen, ehe dieses nervige Insekt schon wieder ganz woanders war.

    Das hieß natürlich nicht, dass er es langsam angehen durfte. Wenn er nicht proaktiv handelte und den Austausch von Attacken erzwang, würde ausschließlich er darunter leiden. Beziehungsweise seine Pokémon. Er musste sich eben auf Amfira konzentrieren, wohlwissend, dass dies genau so von Bella vorgesehen war.

    „Psiana, geh hinter Amfira. Kangama, Risikotackle!“

    Das wirkte jetzt sicher recht brachial und kopflos, aber nun, nachdem sich so früh absehen ließ, welche Art Kampf das hier werden würde, brachte es nichts, sich großartig abzutasten. Die kleine Psychokatze brauchte keine gesonderte Anweisung für Teleport. Ihr war regelrecht eingeprügelt worden, dass sie sich möglichst immer mithilfe von diesem und nicht einfach ihrer Füße neu zu positionieren hatte. In einem seichten Lichtblitz, im wahrsten Sinne binnen eines Wimpernschlages, saß sie auf einmal direkt hinter der Giftechse. Praktisch zu Bella Füßen und tatsächlich erlaubte sie sich einen äußerst kurzen, hämischen Blick über die Schulter in ihre Richtung. Sie verspottete die Agentin. Die nahm es gelassen und die Herausforderung nur zu gerne an.

    „Psystrahl!“

    Das Stirnamulett sonderte gleißendes Licht ab, das die Farben des Regenbogens in sich trug und als schillernder Energiestrahl Amfiras Rücken beschoss. Die bog selbigen unnatürlich durch und fauchte wütend. Psychoattacken konnte sie auf den Tod nicht ausstehen. Direkt von vorne rollte sogleich die nächste Bedrohung in Form von Kangama auf sie zu, die goldene Luftschlieren neben sich herzog, als würde sie gleich die Schallmauer durchbrechen.

    Wenn Andrew glaubte, er könne sie so einfach umzingeln, hatte er sich aber gewaltig geschnitten.

    „Schlammwoge“, wisperte Bella heimtückisch. Amfira konnte sich kaum bewegen, aber es genügte, den Kopf einmal hinauf zu Himmel zu hieven und mit allen Vieren auf den Boden zu stampfen. Unter ihren Gliedmaßen schien sie einen Geysir aus verseuchtem Moorwasser zurückzuhalten. Die Substanz schillerte im Sonnenlicht in ähnlicher Farbenpracht wie Psystrahl, als sei Öl in die Quelle gelaufen, doch dominierte natürlich ein giftiges Violet. Die ekelhafte Flüssigkeit schwappte an die Oberfläche und wurde in einem geschlossenen Ring um Amfira herum über das halbe Kampffeld gesandt. Psiana unterbrach die eigene Attacke, konnte sich aber nicht rechtzeitig aus der Gefahrenzone teleportieren. Sie wurde fortgeschwemmt, paddelte panisch und angewidert. Kangama ließ sich davon überhaupt nicht beeindrucken. Sie pflügte durch die Schlammwoge hindurch, als sei es bloß seichtes Wasser, obwohl es gemein auf der ledernen Haut brannte.

    „Kreuzschere“, so vernahm man als nächstes und kaum war das Wort zu Ende gesprochen, schlugen zwei Käferkrallen in Kangamas Rücken. Sie schrie auf, grunzte, taumelte. Aber niemals blieb sie stehen. Ließ sich durch nichts und niemanden von ihrem Weg abbringen. Stattdessen ging sie in eine gebückte Haltung und verscheuchte Ninjask mit ihrem Schweif, während sie weiterrannte, gar an Tempo zulegte. Es war Bella anzusehen, dass ihre Erwartungen an Kangama übertroffen wurden. Amfira wurde in den Bauch gerammt, ehe sich die muskulösen Arme um ihren schlanken Leib schlossen und sie einige Schritte mitgerissen wurde. Dann hievte das wilde Säugetier sie hoch in die Luft und schmetterte sie wie ein Ringkämpfer zu Boden. Trotz der eleganten Gestalt und des niedrigen Gewichts spürte man die Erschütterung noch in der Erde und man würde glatt darauf wetten, dass hier einige Knochen zu Bruch gegangen waren.

    Noch bevor sich Kangama jedoch wieder zu voller Größe aufgerichtet hatte, röchelte sie auf einmal und spuckte eine violette Flüssigkeit aus. Ein feiner Schwall überzog Amfiras linke Gesichtshälfte. Das Toxin breitete sich weiter in ihrem Körper aus. Für einen Moment breitete sich ein hohles Gefühl von Übelkeit und Entkräftung in ihrem gesamten Torso aus, sodass sie zwei Schritte zurücktaumelte. So schnell das Gefühl gekommen war, so schnell war es auch wieder… nun ja, nicht verflogen, sondern eher niedergekämpft. Aber da hatte Ninjask bereits wieder eine Klaue erhoben und zielte auf den Hinterkopf, wie ein Henker, der die Guillotine aktivierte. Allerdings war es die Zikade, die einen heißen Schmerz auf den Rücken spürte und zudem von einer Druckwelle, entstehen aus einer Detonation mit violetten Blitzen und Rauchschwaden nach vorn geschleudert wurde. Psiana hatte in den Kampf zurückgefunden und gerade rechtzeitig einen Spukball abgefeuert. Gift-Attacken konnten ihr glücklicherweise nicht viel anhaben, aber ihr Fell war für den heutigen Tag ruiniert. Als habe sie in einer Kanalisation gebadet. Sie könnte sich erbrechen vor Ekel – und vor Wut. Das würde sie dieser Giftspritze heimzahlen! Ninjask polterte über den Sand, während noch etwas Rauch an seinem Rücken haftete und landete direkt neben Amrifa.

    „Wow, das Match hat ein wahnsinniges Tempo aufgenommen. Beide Seiten sind ohne Pause am Angreifen und Warrener scheint sich einen Vorteil erkämpfen zu können!“, kommentierte Cay das Geschehen. Tatsächlich raunte und jubelte das Publikum alle paar Sekunden. Dieser Einstieg in das zweite Halbfinale kannte keine Feuerpausen. Es gab für beide nur eine Richtung: vorwärts!

    Einen Vorteil besaß Andrew dennoch nicht. Er musste dieses Tempo schließlich forcieren.

    Was würde er außerdem dafür geben, Bella endlich ihr dämliches Schmunzeln aus der Visage wischen zu können? Die war ja durch gar nichts aus der Ruhe zu bringen. Konnte sie denn wirklich so siegessicher sein? Angesichts der Tatsache, dass sich ihre beiden Pokémon recht nüchtern wieder erhoben, schien es auf ihrer Seite auch keinen plausiblen Anlass für Nervosität zu geben. Amfira schüttelte kurz den Nacken und dehnte den Rücken durch, wand sich dann mit einem scharfen Fauchen ihren Gegnern zu. Sie machte sich nicht die Mühe, das Gift aus ihrem Gesicht zu wischen. Sie leckte lediglich einmal über die Wange, dort wo es herablief. Auch Ninjask wirkte nur für einen kurzen Moment angeschlagen, zappelte zunächst etwas irritiert und unsicher in der Luft, ehe es wieder wie eine perfekte Maschine exakt die Position hielt.

    Andrew schürzte die Lippen und atmete durch. Er durfte nicht erlauben, dass sich Verschnaufpausen wie diese hier in die Länge zogen. Kangama hatte bereits einmal unter der Wirkung von Toxin gelitten und das würde von allein nicht aufhören. Eine alles andere als wünschenswerte Ausgangslage gegen so eine Gegnerin.

    Aber wie sagte man noch? Ein Unglück kommt nicht allein. Es bringt stets Freunde mit.

    Gerade als Andrew einen neuen Befehl für Psiana ausrufen wollte, krümmte sie urplötzlich den Körper und würgte. Ein Schwall violetter Flüssigkeit wurde die Speiseröhre hinaufgepumpt und ausgespuckt. Cay jaulte, als leide er mit Andrew mit.

    „Oh nein, jetzt hat Amfiras Schlammwoge obendrein noch Psiana vergiftet. Ich darf zwar nicht laut sagen, worin genau Warrener jetzt bis zum Hals steckt, aber ihr könnt´s euch sicher denken.“

    Ryan presste frustriert die Lippen aufeinander und schlug die Arme über dem Kopf zusammen. Schöner Mist. Vom Glück verfolgt waren weder Andrew noch er selbst zwar seit ihrem gemeinsamen Aufbruch nach Hoenn nicht, aber irgendwann musste doch die Pechsträhne mal reißen, verflucht. Zwar vermochten viele Gift-Attacken, den Gegner krank zu machen, aber die Chance war in den meisten Fällen doch eher gering. Und jetzt passierte es in Psianas Fall quasi beim ersten Kontakt. Auch Audrey schüttelte andernorts einfach nur resignierend den Kopf, konnte sich den Rufen Melodys, dass er sich nicht entmutigen lassen durfte, nicht anschließen. Sie selbst hätte jedenfalls keinen Bock, unter diesen Umständen mit Déreaux zu kämpfen.

    Der Situation zum Trotz reagierte Andrew praktisch überhaupt nicht auf die Vergiftung. Ein kaum bemerkbarer Seitenblick war schon alles. Psiana spuckte und schüttelte sich kurz. Es war im wahrsten Sinne zum Kotzen. Aber mehr auch nicht. Sie hatten selten etwas Ekelerregenderes erdulden müssen, aber oft genug Schmerzhafteres. Dass sie sich gerne Prinzessin nennen ließ, bedeutete weder, dass sie verwöhnt, noch dass sie schwach oder hilfsbedürftig war. Zeit den beiden Schmutzfinken aufzuzeigen, dass die Prinzessin tatsächlich kämpfen konnte.

    Andrew schmunzelte, als er Psiana beobachtete. Es bestand nicht einmal Augenkontakt, aber anhand ihrer sich straffenden Haltung und dem gesenkten Kopf wusste er ganz genau, was in ihr vorging. Und er fühlte genauso.

    „Wenn wir das hier gewonnen haben, bürste ich dich morgen mit deiner Lieblingsbürste so lange du willst. Dein Fell wird schöner strahlen als je zuvor“, versprach er süßlich. Oh, er wusste einfach, wie er sie anständig motivierte. Mit einem sehr zufriedenen „Psi“ nahm sie das Angebot an. Die purpurfarbene Katze spielte ein wenig mit ihren Psychokräften, was ihren Körper in einen sehr schwachen, kaum sichtbaren Schleier aus Blau hüllte. Um sie herum vibrierte der Sand, gar die Luft, Staub wurde aufgewirbelt und ein Windstoß ging vor ihr aus. Daneben positionierte sich Kangama mit einem festen Stampfer auf den Boden, ähnlich wie es Sumoringer taten. Vielleicht sollte sie sich noch einige Male mehr treffen lassen. Von dieser Zuneigung wollte sie ebenfalls ihren Teil abhaben, so dachte sie mit einem kecken Grinsen und zeigte den Gegnern ihre Eckzähne.

    Amfira wirkte sehr gelassen, hatte wie zumeist eine Klaue auf den Boden gestemmt, als würden ihre Beine keine sichere Balance gewährleisten. An der anderen zuckten alle Finger voller Tatendrang und in den Augen spiegelte sich ein Hauch des Sadismus, den Bella im Laufe des Turniers bereits bewiesen hatte. Und wer wäre die Agentin denn, dem im Wege zu sein?

    „Amfira Süße, nimm Funkenflug.“

    Dass die Zeit in ihre Hände spielte, bedeutete Bella gar nichts. Das Match sicher aussitzen und das Gift die Arbeit machen lassen, wäre so ziemlich der letzte Weg, den sie einschlagen würde, um zu siegen. Nein, das hier würde kein langes, Zähes Ringen werden. Ryan und dieser Fuller hatten ihre Zeit gebraucht, bevor sie die Visiere hochgeklappt hatten. Hier wurde längst auf diese Weise gekämpft. Dieses Match würde wesentlich kürzer ausfallen.

    Die Giftechse begab sich nun auf alle Viere und öffnete ihr langes Maul. Ein Feuerklumpen schoss in einem tiefen Rot flackernd daraus, wie die Fackel einer Signalpistole.

    „Abfangen, Kangama. Psiana, die rechte Flanke“, reagierte Andrew mit einer wegwischenden Handbewegung. Lichtschild war glücklicherweise noch aktiv, weshalb Kangama nahezu mühelos die Arme erheben und das Geschoss in ihren Handflächen abprallen lassen konnte. Wie zu erwarten, sprengte sich der Funkelflug allerdings bei der Kollision wie ein Feuerwerkskörper in ein Dutzend kleinere Leuchtkörper. Die lossprintende Psychokatze vermochte Teleport nicht so häufig innerhalb dieser wenigen Sekunden einzusetzen, doch ihr gelang das Ausweichen auch ohne den Einsatz davon. Wenn auch nur um Haaresbreite.

    „Warrener will weiter Druck machen. Aber ob er nochmal so einfach an Amfira rankommt? Die hat ordentlich Dampf im Kessel. Und von Ninjask will ich gar nicht erst anfangen“, analysierte Cay währenddessen überlegt. Ja, die Giftechse war sowohl aus der Distanz als auch aus nächster Nähe schwer anzugehen. Allerdings nur, da ihr das Käferpokémon daneben Rückendeckung gab. Sobald dieses aus dem Spiel war, würde sehr Vieles einfacher werden. Das war ob seiner Schnelligkeit leichter gesagt als getan. Zumindest für andere Psiana.

    „Psychokinese, los!“

    Sie war rasch in Position gekommen und ließ ihre Augen blau aufleuchten. Der Angriff wirkte auf Bella stumpf und uninspiriert, aber sie konnte trotz ihres Misstrauens nicht zulassen, dass er Amfira traf. Ninjask sollte mit Nachthieb dazwischengehen. Die Dauer eines Blinzelns genügte der Zikade, um die Distanz zu überwinden. Eine Insektenklaue wurde emporgereckt und von pechschwarzen Nebelschwaden umhüllt. Sie ginge jedoch ins Leere. So schnell, dass gar Ninjask im Vergleich erblasste, war Psiana in einem Lichtblitz verschwunden. Amfira samt Trainerin sahen sie plötzlich im Augenwinkel auf der anderen Flanke. Ganz ohne Anweisung hatte sie Teleport benutzt. Andrew lachte trocken. Er hatte nicht eine Sekunde gezweifelt, dass sie seinen Plan verstanden hatte.

    Amfira wurde von einem mythischen, blauen Schleier umhüllt, war fortan nicht mehr Herrin über ihren Körper. Der befand sich in einer telekinetischen Zwangsjacke, die sie quetschte und die Gliedmaßen unbrauchbar machte. Sie wurde mit dem Kinn voran gen Boden geschmettert und wie ein Pflug durch den Boden geschleift. Die Erde, vom Vorkampf noch etwas aufgelockert, brach sogar etwas auf, sodass sie eine Mulde hinter sich herzog.

    „Jetzt Wutanfall!“

    Kangamas Augen wurden erst ganz weiß, anschließend rot. Gelbe und orangefarbene Lichtimpulse umhüllten ihre Gestalt. Die Fäuste wurden geballt und erhoben, wurden rasch vom eigenen Blut durchströmt und pumpten sich auf. Die Luft flimmerte und verschwamm um sie, als sei ihr Körper so heiß wie der eines Magcargo. Ein sehr kurzes, dafür aber immens lautes Gebrüll folgte hinauf zum Himmel. Dann rannte sie los.

    Amfira war noch gar nicht zum Stillstand gekommen, da sah sie einen muskulösen Arm in brauner Lederhaut eingehüllt vor sich, der so ganz ohne Weiteres durch die Erde pflügte, um sie am Kinn zu erwischen. Die Echsendame wurde schnurstracks den Weg, den Psiana sie hatte bäuchlings zurücklegen lassen, wieder zurückgeworfen. Allerdings mit mehr Höhenmeter, was für eine schmerzhafte Landung sorgte. Einige Zuschauer wollten fast für einen Moment wegsehen. Wer es tat, verpasste aber Kangamas folgende Angriffswelle. Sie prügelte auf Amfira ein, als sei sie das abscheulichste Geschöpf auf Erden, dessen man sich nicht schnell genug entledigen konnte. Das schwarze Reptil wurde an der Kehle gepackt und wild herumgeschleudert, links und rechts wieder und immer wieder auf den Boden geschmettert. Ihr Schweif und ihre Glieder peitschten sehnig und hilflos in der Luft umher. Es war fast gnädig, dass der aufgewirbelte Sand bald keine präzise Beobachtung mehr erlaubte. Das war absolut brutal, wie besonders Melody befand. Sie hatte diese Attacke bereits einmal während dieses Turniers gesehen, aber hier wehte ein anderer Wind. Cay schien das entweder nicht zu registrieren oder nicht zu kümmern. Er und die allermeisten auf den Rängen sah nur ein hochintensives Match zwischen zwei ebenbürtigen Kontrahenten, die auf höchstem Niveau kämpften. Vielleicht verlor er in seiner Begeisterung auch einfach die Sensibilität für die – freundlich formuliert – überdurchschnittliche Härte.

    „Au, au, au, auweia, heftiger Schlagabtausch jetzt und Psiana legt perfekt für Kangama auf. Ich stell nie wieder Warrener in Frage, versprochen!“

    Schlagabtausch? Die Giftechse wurde komplett vermöbelt. Es war absolut logisch, dass ihr Partner jetzt eingreifen musste, sonst war es gleich aus für sie.

    „Schlitzer!“, hallte es zum ersten Mal laut aus Bellas Richtung. Die Zeit des Schonganges schien vorbei zu sein. Ein schwarz-gelber Blitz sauste an Kangama vorbei und hinterließ eine Schnittwunde auf dem Rücken. Dort war die Haut nebst den Unterarmen noch am dicksten, aber die Klaue schien mühelos hindurchzukommen. Ein Spritzer Blut bestätigte die Effizienz. Die Berserkerin stoppte in ihrem Angriffswahn und krümmte sich kurz. Sie sah der Zikade hinterher, aber da schoss sie schon wieder mit Brummen und Zischen durch die Luft, sodass ihr Auge kaum hinterherkam. Der Schmerz auf der Brust kam dafür sofort. Der ließ sich auch durch Wutanfall nicht ausblenden. Auf das nächste Bisschen an freigelegter, roter Flüssigkeit folgte sogleich wieder violette, als Kangamas Körper erneut etwas von Amfiras Gift abstieß. Sie konnte die natürliche Reaktion, sie dabei vorzubeugen, nicht unterdrücken. Genauso gut hätte sie ihren Kopf eigenständig auf einem Richtblock platzieren könnten. Ninjask kreuzte seine natürlichen Waffen und zielte direkt auf den Schädel. Ein Aufschrei ging durch das Prime Stadium. Audrey sog scharf Luft ein und Melody schlug beide Hände vor den Mund.

    „Reflektor!“

    In allerletzter Sekunde erschien Psiana wieder aus einem Lichtblitz direkt zwischen den Beiden. Über ihr prallte die Kreuzschere an einigen zusammenhängenden Hexagonen aus königsblauem Licht ab, die sich über der Katze wölbten. Um deren Leib zuckten einige Blitze, die sie zittern und klagen ließen. Das hatte sie definitiv gespürt. Dennoch würde sie jederzeit wieder für ihre Kameradin in die Bresche springen. Und das würde sie auch müssen.

    Selbst Psiana konnte kaum mit Ninjasks ungeheuerlichem Tempo mithalten. Sogar mit Teleport kam sie gerade so hinterher. Hier und jetzt hielt sie aber die Position zu Kangamas Füßen, wandte den Blick immer nur in die Richtung, aus der sie den nächsten Angriff erahnte. Plötzlich kam die Zikade von oben, dann von rechts, direkt von vorne – mehrere Versuche innerhalb einer einzigen Sekunde, sodass man von den Rängen fast nur das Aufflackern des Lichtschildes gegen einen nahezu unsichtbaren Angreifer erkennen konnte! Doch gegen zwei Gegner vermchte sie diese Abwer nicht aufrecht zu halten. Aus dem Augenwinkel sah sie sich plötzlich einer Flammenwalze entgegen, die sie fast in eine Schockstarre versetzte. Lichtschild wurde erneut aktiviert, weshalb sie nicht die volle Stärke zu spüren bekam, aber sie fühlte sich so bereits, als würde sie auf Kohlen laufen. Nun war es Kangama, die für ihre Kameradin einen wegsteckte. Ebenfalls von Lichtschild geschützt stellte sie sich gegen den Flammenwurf. Kaum fühlte die Psychokatze die Entlastung, erschuf sie einen knisternden Spukball und schleuderte ihn aus der Deckung heraus auf Amfira. Die wand sich elegant daran vorbei und ließ ihn hinter sich in den Boden einschlagen. Für einen Moment hätte man befürchten – oder aus Andrew Sicht hoffen – können, er würde Bella treffen. Dazu fehlte jedoch noch ein gutes Stück. Das gierige, heißblütige Grinsen, dass sich langsam hinter dem violetten Rauch zeigte, ließ wenig Spielraum für Spekulationen, wie sie über diesen Kampf empfand. Sie genoss ihn sehr. Mehr sogar noch als Ryan sein letztes Match.

    Keine Zeit, die Agentin zu beobachten. Andrew hatte bereits alle Hände voll mit ihren Pokémon zu tun. Auch Psiana spürte nun ausgerechnet jetzt erneut die Wirkung des Gifts in ihrem Körper und spuckte abermals. Ninjask zielte sofort wieder mit Nachthieb nach ihr, schien vehement sie zu fokussieren, sobald sie nur einen Moment abgelenkt war. Sie war Kangamas Schild und gleichzeitig die größte Bedrohung für Amfira. Außerdem würde sie deutlich schneller zu Boden gehen als das zähe, zweibeinige Säugetier.

    Eben dieses blockte daher erneut, doch diesmal auf Kosten der eigenen Gesundheit. Reflektor hatte die Grenze seiner Wirkung erreicht und wurde durchbrochen, splitterte in diverse Scherben aus Licht, sodass sich die Insektenklaue in den Arm bohrte, der gerade schützend über Psiana ausgebreitet wurde. Wäre sie länger, so würde sie glatt auf der anderen Seite austreten. Dies war das erste Mal, dass Kangama wahrlich vor Schmerz schrie.

    „Kangama!“, entfuhr es Andrew hierbei, was Bella nur allzu gerne sah. Sobald die Sorge um ihre geliebten Schützlinge die Oberhand gewann, ließen Obacht und Scharfsinn zwangsläufig nach. Sie war sehr zufrieden damit, wie Andrew sie bislang unterhalten hatte. Aber selbst er hatte seine Emotionen nicht vollständig unter Kontrolle.

    Dann aber realisierte Bella erst, was dieses Kangama gerade vollbracht hatte. War bisher ein ums andere Mal das schnellere Psiana zur Hilfe geeilt, um für sie zu blocken, hatte Kangama den Angriff diesmal selbst erahnt. Mehr noch, hatte schnell genug reagiert, um ihn zu stoppen! Bekam sie langsam ein Gespür für die Bewegungen von Ninjask? Lernte sie, die Angriffe zu lesen?

    „Alter ist das spannend! Déreaux greift von allen Seiten an, aber auf fast alles hat Warrener irgendeine Antwort! Die Frage ist, wie lange stehen seine Pokémon das noch durch?“, hielt Cay es kaum noch aus. Mittlerweile waren es nicht mehr wirklich die Anweisungen der Trainer, die das Match diktierten. In der Hitze dieses rasanten Gefechts wurde ein wesentlicher Anteil der Entscheidungen von den Pokémon selbst gefällt. Instinkte, Automatismen, die kleinen, aber feinen Besonderheiten eines Doppelkampfes, die durch unzählige Stunden des gemeinsamen Trainings sowie langanhaltender Freundschaft in Fleisch und Blut übergegangen waren. Psiana und Kangama waren ein erstklassiges Gespann. Und doch mit dem Rücken zur Wand.

    Dann wurde es kurios. Für gewöhnlich ging Ninjask nach einem ausgeteilten Schlag sofort wieder auf Abstand. Tatsächlich wollte die Zikade das auch hier, aber die rührte sich nicht, blieb noch immer mit dem Arm Kangamas verkeilt und schien selbst verdutzt.

    Ein Grinsen legte sich über ihr Gesicht. Sie hob den Kopf ein wenig, sah diesen nervigen Käfer somit aus funkelnden Augen an und zeigte ihre Eckzähne. Der verstand mit dem nächsten erfolglosen Ruck, mit dem er sich zu befreien versucht hatte, endlich was Sache war. Selbst Bella blinzelte tatsächlich einige Male verwirrt. Aber auch sie erkannte, was da Sonderbares vor sich ging. Jeder Muskel in Kangamas Unterarm war bis zum absoluten Äußersten angespannt, zitterte und verkrampfte fast. Der Arm wurde so intensiv mit Blut durchströmt, sodass sich die Kralle im angeschwollenen Gewebe verkeilt hatte und nun festsaß. Eventuell war das auch ein nachwirkender Nebeneffekt von Wutanfall?

    „Was zum… ey, Ninjask kommt nicht mehr los!“, erkannte nun auch Cay.

    „Hat es sich verhakt? Das ist doch… boah, alle Kinder sollten da wegsehen.“

    Er würgte selbst fast bei dem Anblick, würde aber im Traum nicht daran denken, ihn abzuwenden. Tatsächlich hatte er bestimmt seit Minuten nicht geblinzelt.

    Andrew holte so tief Luft, dass seine Lungen schmerzten. Diese Chance, die sich da bot, durfte er auf keinen Fall ungenutzt lassen!

    „Los, Feuerschlag!“

    Der zweite Arm streckte sich nach Ninjask und hielt den Körper fest, wie ein Schraubstock. Nun riss Kangama sich eigenmächtig los, was ein absolut widerliches Bild abgab. Ninjask verlor den Vorderlauf beinahe, als dieser gewaltsam aus den aufgepumpten Muskelsträngen entfernt wurde. Gleichwohl schlug beiden ein dicker Schwall Blut entgegen, was von Kangama komplett ignoriert wurde. Der Arm brannte wie Feuer, ja. Na und? In das von Amfira hatte er sich auch ohne zu zögern geworfen. Und die Genugtuung, dieses fiese Insekt endlich zu Klump zu schlagen, wäre glatt doch doppelte Dosis am Schmerz wert.

    Gleich darauf war es Kangama, die sich – konkreter ihre Faust – in Flammen hüllte. Es schloss sich glatt ein gewaltiger Feuerball um ihren gesamten Unterarm, der wütend züngelte, als könne sie ihm kaum bändigen. Als habe die Flamme ein Bewusstsein und versuche verzweifelt, den Zügeln seiner Meisterin zu entfliehen, um alles um sich herum in Asche verwandeln zu können. Und wenn man es nicht besser wüsste, so schien Kangama ebenso all ihre Kraft aufbringen zu müssen, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Dies war nun die Chance. Mit hoher Wahrscheinlichkeit die letzte. Sie würde absolut alles in diese Attacke stecken. Selbst wenn sie das Risiko einging, dass hiernach kein Ninjask mehr zu identifizieren wäre. Das jedenfalls drückten ihre Augen aus, in welchen exakt dasselbe zerstörerische Feuer loderte, das sie in her Hand führte. Ein durch Mark und Bein dringender Kampfschrei entfesselte das letzte Fünkchen Kraft, das sie zusammenklauben konnte. Er ließ selbst Bella erstarren. Und Ninjask könnte man es gar nicht einmal verdenken, wenn gerade sein Leben vor seinem inneren Auge vorbeizog.

    Das Gebrüll erstickte. Ein Röcheln nahm den Platz ein und die Iris Kangamas wurde auf einmal furchtbar winzig. Ein weiterer Schwall aus zäher, violetter Flüssigkeit drängte sich ihren Rachen hinauf und ergoss sich zu ihren Füßen. Ein widerlicher Schauer überkam sie zusammen mit einem unkontrollierbaren kalten Schütteln. Der Griff um den Insektenkörper lockerte sich und eine sensenartige Bewegung später befreite sich Ninjask aus den Klauen. Ein tiefer Schnitt in der Handfläche machte jene fast unbrauchbar, doch Kangama reagierte gar nicht darauf. Das Gift war es, das sie in Schach hielt.

    „Oh, da hat Déreaux echt Schwein gehabt. Das wäre wohl das Aus für Ninjask gewesen aber das Toxin macht Kangama immer schwerer zu schaffen. Wie lange hält es das noch durch?“

    Andrew knirschte so stark mit den Zähnen, dass sie fast splitterten. Es war nicht zum Aushalten. Das verdammte Gift wurde langsam zu einem riesigen Problem. Wenn sich die Wirkung noch ein, maximal zwei Mal so entfaltete, dann war´s das. Seine Partnerin ging in die Knie und hielt ihren Torso umklammert. Vermutlich verkrampfte alles vom Hals bis zum Unterleib und sie wünschte sich, ihre Organa hervorwürgen zu können, damit diese sie nicht länger quälten. Der Kampf dauerte bereits länger, als es für ein vergiftetes Pokémon erträglich sein konnte. Andrew musste einen Weg finden ihn zu beenden und zwar so schnell wie nur irgend möglich. Nur war er gerade nicht derjenige, dem diese Entscheidungsgewalt oblag. Denn während Kangama in die Knie ging und noch immer lange Fäden der Giftmasse vermischt mit Speichel von ihrem Kiefer hingen, ging Amfira gerade auf alle Viere und öffnete ihr langes Maul. Lodernde Flammen knisterten in ihrem Rachen und entluden sich rasch in einem wütenden Feuerstrahl.

    Psiana ging bereits in eine gebückte Haltung. Lichtschild sollte zwar noch anhalten, aber diesem Angriff konnte sie Kangama niemals aussetzen. Dem hielt sie zum jetzigen Zeitpunkt im Leben nicht mehr stand. Ein scharfes Zischen hinter ihr ließ die Psychokatze jedoch innehalten. Ihre Trainer sah sie zügelnd an, achtete scheinbar akribisch darauf, keine allzu auffälligen Gesten zu machen. Nur ein sachtes hin und her mit dem Zeigefinger erlaubte er sich und musste gleichzeitig genügen. Sie ahnte gleich, was Andrew vorhatte und blieb auf Abstand.

    Kangama konnte nur noch mit Mühe ein Auge öffnen und sah sich direkt einem Inferno gegenüber. Ihre Wunden und Eingeweide konnten nicht halb so qualvoll brennen, wie dieser Flammenwurf es auf ihrer Haut würde. Doch selbst durch dessen Lodern, Flackern und Fauchen drang noch Andrews Stimme an ihr Ohr.

    „Ausdauer!“

    Nochmals wurden die Pupillen klein. Die Gesichtszüge erhärteten sich, während sie die Schmerzen und die Erschöpfung niederkämpfte und sich grunzend auf die Beine kämpfte. Dann breitete sie die Arme aus und schrie zum Himmel. Eine Windböe schien sich um Kangama zu schließen und schon nach einer Sekunde wieder aufzulösen. Einige äußerst schwache Lichtpunkte aus Rot und Gold, die man selbst bei genauer Betrachtung leicht übersehen konnte, stiegen ihren Körper hinauf. Dann kreuzte sie die Arme vor dem Körper.

    Lichtschild glimmte auf. Ein letztes Mal, so wusste Andrew sehr genau. Er begann augenblicklich zu flackern und splitterte schließlich in Dutzende, goldene Scherben, die sich wiederum in glitzernden Staub auflösten. Dann wurde Kangama von den Flammen verschluckt. Amfira hatte wirklich alles in diesen Angriff gepackt. Das kam fast Hundemons Hitzekoller gleich. In ihrem Inneren würde man niemals ein Mannshohes Säugetier vermuten. Überhaupt nichts Lebendiges würde man darin vermuten, was der Feuerbrust standhalten könnte.

    „Flammenwurf trifft voll ins Schwarze! Wie kann Kangama das noch aushalten?“, fragte sich Cay, was bedeutete, dass er Andrews Befehl offenbar nicht vernommen hatte. Besäße dieser den Luxus, sich umzusehen und die Gesichter der Zuschauer zu inspizieren, würde er glatt meinen, keiner habe das. War der Kampflärm so intensiv, dass kein Wort mehr bis auf die Tribünen vordrang? Bei seiner Stimmgewalt war das schwer vorstellbar, aber es machte den Anschein. Und Melodys Stimme, die im Minutentakt laute Anfeuerungsrufe in seine Richtung sandte, vernahm er ja wiederum auch nur geradeso.

    Amfira spie die Flammen eine gefühlte Ewigkeit, sodass man sich fragen musste, woher sie diese Energie bezog. Genau wie Absol und Ninjask war sie keine sehr robuste und ausdauernde Kämpferin, sondern eher mordsgefährlich in schnellen, rasanten Duellen. Bedachte man, was sie hatte wegstecken müssen, war es kaum weniger verwunderlich, dass sie noch stand, wie es bei Kangama der Fall war.

    Als die Flammenwurf-Attacke letztlich doch endete, brannte eine kokelnde Schneise im Sand. Er glühte, wie bei Dragonirs Hyperstrahl und einige feurige Klumpen flackerten noch einige Sekunden am Rand, obwohl sie nichts Brennbares vorfinden konnten. Im Zentrum dieser Spur der Zerstörung, ebenso wie an deren Ende, stieg dichter, schwarzer Rauch auf und verschleierte selbst für Bella und Andrew die Sicht. Während der junge Johtonese sich bestenfalls mit mäßigem Erfolg zu Ruhe und einer ausgeglichenen Atmung zwingen konnte, wartete Bella das Ergebnis gelassen ab. Jedoch war das süffisante und sadistische Lächeln in ihrem Gesicht mittlerweile verschwunden. Ihre Augen waren schmal geworden, observierten das Geschehen konzentriert und scharfsinnig. Versuchte so rasch wie möglich abzuwägen, was für jeden erdenklichen Fall gleich der nächste Schritt, das nächste Kommando sein sollte.

    Noch bevor sich der Rauch gänzlich verzogen hatte, erlangte sie Gewissheit. Kangamas Silhouette zeichnete sich dort ab. Aufrecht! Sie stand und ihre Augen leuchteten rot durch den Qualm hindurch. Ein wirklich schöner Anblick, auf den Bella dennoch gern verzichtet hätte.

    „Kangama steht! Wie, frag ich mich? Wie zum Darkrai hat es das überstanden?“

    Anscheinend war Cay Ausdauer komplett entgangen. Selbst wenn man Andrew nicht hörte, so hatte das geübte Auge es durchaus beobachten können. Dies war der letzte Rettungsanker, den Andrew hatte ziehen können – aber auch Teil seiner stärksten Waffe. Denn wenn er jetzt alles richtig anstellte, würde Kangama den Anker als Waffe schwingen und Amfira damit aus dem Turnier prügeln können.

    Die Giftechse richtete ihren schlanken Körper auf und fauchte heiser, wobei eine letzte Flammenzunge ausgestoßen wurde. Bella biss sich vor Vorfreude auf die Unterlippe.

    „Bist ein zäher Brocken, Andrew“, sagte sie anerkennend, allerdings viel zu leise, als dass er sie hören könnte. Nun denn, es war genug. Bella befand, dass der Kampf beendet werden sollte. Eigentlich wollte sie ja gar nicht. Sie genoss ihn viel zu sehr, aber genau das war das Problem. Wenn man sich zu sehr im Rausch, des Adrenalins verlor, riskierte man Fehler und schuf Räume für den Gegner, das Blatt zu wenden. Der Punkt war erreicht, an dem sie das Ende erzwingen wollte. Sie wollte gemäß des Sprichwortes dann aufhören, wenn es am schönsten war. Für gewöhnlich war sie sicher, als Siegerin dazustehen, wenn dieser Punkt erreicht war. Heute könnte es jedoch das erste Mal seit Jahren sein, dass sie den Kürzeren zog. Doch das rüttelte nicht an ihrer Entschlossenheit. Sie war bereit, das Risiko einzugehen. Wenn sie siegte, war sie im Finale und wenn nicht, dann war sie eben raus. Häufig liefen große Duelle auf eine einzige Entscheidung hinaus. Und sie hatte ihre getroffen.

    „Los Amfira, Giftschock.“

    Ihr Grinsen war eine deutliche Antwort. Mit dem allergrößten Vergnügen. Wieder ließ sie sich auf alle Viere fallen und hechtete dann mit langen Sätzen nach vorn. Andrew hielt den Atem an, konnte aber nicht vermeiden, dass sich seine Stirn in Falten legte. Das war viel zu einfach. Viel zu stupide. Ein stumpfer Frontalangriff konnte niemals ihr Ass im Ärmel sein.

    Sein Verdacht sollte sich bestätigen, als der Befehl „Kreuzschere“ folgte. Ninjask sauste mit seiner irrwitzigen Geschwindigkeit erst um Amfira herum und dann an ihr vorbei. Die Vorderläufe kreuzten sich zu einem X und leuchtete blutrot auf.

    „Psiana!“

    Andrew brauchte ihr gar keine Anweisung zu geben. Per Teleport schaffte sie es, sich rechtzeitig zwischen dem angreifenden Gegner und ihrer Kameradin zu positionieren. Wieder prallte Ninjask an einem aufleuchtenden Gebilde aus blauen Hexagonen ab. Für diesen kurzen Moment war es nochmals anfällig und schutzlos.

    „Feuerschlag, Kangama!“

    Die Zikade sah sich zum wiederholten Male einer infernalen Flammenfaust gegenüber. Fast jede andere Gattung wäre an ihrer Stelle zu einem kümmerlichen, ängstlichen Häufchen Elend verkommen – und zu einem ebensolchen Häufchen Asche verbrannt. Dennoch konnte Andrew zu keiner Sekunde Furcht in den roten Käferaugen lesen. Gar keine Emotion, um genau zu sein. Und das bescherte ihm Unbehagen. Einerseits, weil ihm diese Gattung eben aufgrund dessen nicht geheuer war. Andererseits wegen der Befürchtung, Bella könnte etwas in der Hinterhand haben…

    „Doppelteam!“, rief Bella hastig und regelrecht verbissen, aber auch energisch und euphorisiert. So lange hatte sie in einem Pokémonkampf kein Adrenalin mehr verspürt. Cay kam nicht umher, diesen Zustand besonders hervorzuheben, da sie bislang doch so souverän aufgetreten war.

    Ein Wimpernschlag glich einer Teepause im Vergleich zu Ninjasks Reaktionszeit. Das Käferpokémon duplizierte sich so rasch und so zahlreich, dass die Vermutung einer Illusion nicht fern lag. Dort, wo eben noch das Original gewesen war, sauste Kangamas Faust ins Leere, traf durch die Wucht – da es ein entscheidender Angriff hatte werden sollen, hatte sie ihren gesamten Körper eingesetzt – stattdessen auf den Boden. Ein Feuerball stieg vom Einschlagspunkt auf und ließ weitere Kopien verschwinden, jedoch war die Zahl noch immer weit im zweistelligen Bereich. Kangama ward allerdings keine Zeit gegeben, sich nach dem echten Ninjask umzusehen. Amfira kam geradewegs durch die Flammen gehechtet. Sie machten ihr scheinbar überhaupt nichts aus. Natürlich nicht, denn sie waren ihr Element. Andrew fluchte innerlich eintausend Flüche.

    „Schnell Gegenschlag!“

    So hatte er diese Trumpfkarte definitiv nicht spielen wollen. Dank Ausauer hatte Kangama die Flammenwurf-Attacke nur hauchdünn überstanden, wodurch Gegenschlag nun die maximale Kraft entfalten konnte. Diese Kombination fruchtete allerdings nur selten aus der Not heraus, so wie Andrew sich jetzt gezwungen sah, sie anzuwenden. Aber eine andere Gelegenheit würde es nicht mehr geben. Es musste alles auf eben diese Trumpfkarte setzen.

    Ein Windstoß ging von dem kastanienbraunen Säugetier aus und wirbelte Staub auf. Doch die Salamander Dame war bereits zu nahe. Das würde sie nicht schaffen.

    „Psiana…“

    Sie ging bereits in eine tiefe Haltung über und ließ ihr Stirnamulett aufleuchten.

    „Kreuzschere, Los!“

    Das echte Ninjask stürzte sich von oben herab. Seine rot glühenden Vorderläufe streckten die Psychokatze förmlich nieder, trafen sie genau im Kreuz. Unter ihr wurde der Sand aufgeschlagen und eine kreisrunde Fläche des massiven Bodens aus Stein und Lehm preisgegeben, in dem sich sofort Risse auftaten Ihr Hinterleib schmerzte einige Sekunden fürchterlich, ehe er taub wurde und sich nicht mehr regen wollte. Ein keuchender Schrei, so elendig und mitleiderregend – wie von einer hinterlistig gemeuchelten Prinzessin, die sich nach Rettung sehnte. Doch es kam kein Prinz zu ihrer Hilfe. Sie war diejenige, die Hilfe hätte leisten müssen. Zu spät. Amfira setzte zu einem wilden Sprung an und stürzte sich zügellos auf Kangama. Die hatte die Faust im Anschlag. Bereit, ihr damit den Kiefer zu brechen.

    Vergebens, da zu langsam, war der Versuch. Die Giftechse landete unverhofft direkt auf ihren Schultern und schlug ihre Krallen in die dicke Muskulatur. Sie durchdrangen die Lederhaut mühelos, durchbohrten ohne viel Kraftaufwand. Die Blicke beider Pokémon trafen sich. Kangamas Augen waren ungläubig geweitet. Und dennoch setzte sie zu dem Schlag an, mit dem sie endlich den Sieg erringen würde. Ein Luftschub löste sich von ihrer Faust, so stark war sie im Begriff, diese auf Amfira zu schmettern. Eben die sah dagegen hämisch und sadistisch auf sie herab, sabberte giftigen Speichel und brüllte sie mit einem verwesungsgleichen Atem an. Dann schossen die Giftdrüsen in ihren Krallen die ätzende Substanz ab. Explosionsartig durchströmte sie Kangamas Körper. Alle Bewegungen stoppten, machten Platz für zuckende Krampfbewegungen, als sei da etwas Lebendiges in ihrem Inneren, das unbedingt ausbrechen wollte. Ein Schrei ging hinauf zum Himmel. Er hielt nur äußerst kurz, erstickte sodann an dem violetten Schleim, der sich abermals nicht nur den Rachen hinaufdrängte. Das Gift schoss so brutal und unbarmherzig durch den gesamten Körper, durch alle Adern und Kanäle. Selbst aus der Nase und den Augen drang die zähe Flüssigkeit, spritzte Amfira glatt entgegen und ins Gesicht, was sie jedoch nicht einmal zum Zucken mit einer Wimper veranlasste. Ferner schien es ihr zu gefallen. Wie ein Berserker in einem Blutrausch, der sich mit dem Lebenssaft der Feinde besudelte. Um Kangama herum war der ganze Sand mit Gift bedeckt, das einen übelriechenden Dampf absonderte. Was es in ihrem Körper gerade anrichtete, wollte sich Audrey gerade besser nicht vorstellen. Allein beim Gedanken daran kam ihr unweigerlich die Galle hoch. Selten sah man sie so das Gesicht verziehen, wie in diesem Augenblick. Melody würgte tatsächlich ein wenig, so glaubte sie bemerkt zu haben. Ryan und Sandra stockte bei dem Anblick er Atem und man biss sich krampfhaft auf die Unterlippe. Und Andrew? Dem stand der Mund offen, als ob Kangamas Herz durchbohrt worden wäre. Für die Dauer ihres kläglichen Ringens mit der widerlichen Substanz war er versteinert. Giftschock war umso verheerender, wenn man bereits an Toxin litt, sodass ihm die Vorstellung, was gerade mit seiner Partnerin geschah, Schwindel nahe an der Grenze zur Ohnmacht bereitete. Aber Kangamas Leiden hielt nicht lange an. Amfira, feiste grinsend und mit ihrem Werk offenkundig sehr zufrieden, stieß sich von den Schultern ab. Ihre Augen wanderten nach oben. Das weiß wurde nur noch vom Rot einiger geplatzter Adern verunreinigt. Der erschlaffte Leib wankte und fiel schließlich, als sei alles Leben aus ihm gerissen worden.

    Zwei junge Frauen auf der Tribüne sowie zwei Trainer in den Katakomben stöhnten resignierend oder fuhren sich mit krampfenden Händen durch Haar. Das hätte es sein können! Für eine Sekunde hatte Andrew fast wie der Sieger ausgesehen. Aber er und Bella waren auf einer Rasierklinge getanzt. Und letztlich war er doch zuerst aus dem Gleichgewicht geraten.

    Noch hielt sich der Löwenanteil des Publikums mit Beifall und Freudenschüssen zurück. Auch Andrews Anhänger verfielen noch nicht gänzlich in Verbitterung. Psiana wehrte sich tapfer, wie eine Kriegerin, nicht wie eine Prinzessin, gegen die Niederlage. Jedoch konnte sie die Hinterbeine kaum bewegen. Sie kroch mehr mit ihren Vorderpfoten über den Sand, als zu laufen. Das wunderschöne Fell verrußt und versengt von Flammen sowie von schlammigen Giftspuren verklebt. Jenes innerhalb ihres Kreislaufs zwang sie erneut zum Erbrechen und fast überkam sie das Gefühl, sie würde daran ersticken.

    Bellas Blick war absolut kaltblütig. Ungerührt und ohne Anteilnahme am Leid des felinen Katzenwesens. In ihrem Inneren zollte sie ihrem Kampfgeist und ihrer Zähigkeit jedoch allerhöchsten Respekt. Und da sie sich diesen hatte erkämpfen können, würde sie es gnädiger Weise rasch beenden, um Psiana nicht länger als nötig leiden zu lassen. Wahrlich ein Akt der Gnade von der gnadenlosen Déreaux, wie Cay sie vermehrt genannt hatte.

    „Funkenflug, Amfira. Und du nimmst Käfergebrumm, Ninjask“, befahl sie nun wieder gelassen und souverän. Aus dem geöffneten Maul der Echsendame quollen bereits feurige Klumpen und knisterndes Flackern. Dieses wurde rasch von den surrenden Geräuschen ihres Kameraden übertönt, das wie eine drückende Schallwelle über das Kampffeld fegte und auf dem Weg Sand und Kies fortblies.

    Andrew reagierte rein instinktiv, befahl Lichtschild, da jedes Ausweichmanöver nun misslingen würde. Psiana hatte den gesamten Kampf über noch nicht so laut und energisch geschrien. Die Energiewand allerdings flackerte. Gar sprangen Risse, als Käfergebrumm darauf traf. Ihre Beine zuckten außerdem und drohten einzuknicken. Zumindest für eine Sekunde konnte sie noch dagegenhalten, obgleich das, was sie von der Attacke spürte, sie bereits sehr, sehr nahe an die Bewusstlosigkeit trieb. Psiana war am Ende ihre Kräfte. Geradeso sah sie noch den züngelnden Feuerball. Er durchschlug ihre Verteidigung, als sei sie aus Pappe. Weitere feuerrote Lichtpunkte spalteten sich von dem Geschoss und detonierten der Reihe nach wie Sprengkörper. Die Psychokatze wurde von Licht und Qualm verschleiert.

    Kapitel 59: Tension


    Audrey und Melody kamen in die Katakomben gestürmt, als gäbe es dort was umsonst. Das Verlassen ihrer Plätze konnten sie sich getrost erlauben, da für die anstehenden Aufräumarbeiten eine Pause von einer ganzen Stunde angekündigt worden war. Viel länger als beim letzten Mal, aber das Kampffeld war auch viel schlimmer zugerichtet als zuvor. Als die Mädels jedoch in den Aufenthaltsraum stolperten, war von Ryan keine Spur. Sie fanden Andrew, Sandra und weit abseits in einer Ecke die ominöse Déreaux vor. Allerdings schenkte nur die Drachenmeisterin ihnen Aufmerksamkeit. Die anderen zwei, die das nächste Halbfinalmatch bestreiten sollten, schienen mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Andrew weitestgehend mit sich selbst, wie es schien. Tatsache war allerdings, dass er gerade nichts anderes außer Bella im Kopf hatte. Er dachte an jeden einzelnen Moment zurück, den er sie gesehen und mit ihr gesprochen oder in dem nur über sie geredet worden war. Das schloss selbstredend die Kämpfe, die er hier beim Summer Clash beobachtet hatte, mit ein. Dass er eben darauf allerdings nur wenige nützliche Informationen herausfiltern konnte, lag noch nicht einmal primär an seiner – im Vergleich zu Ryan – schlechten Beobachtungsgabe. Sie hatte fast ausschließlich mit Absol gekämpft, aber dieses konnte sich nach dem Kampf mit Sandra unmöglich bereits erholt haben. Was blieb da noch? Ein Ninjask hatte sie gezeigt, jedoch konnte er sich nicht drauf stützen, dass sie es erneut wählen würde. Verflucht, so analytisch war er sonst nicht.

    Andrew bemerkte das eben eingetretene Frauenduo nicht einmal, so sehr war er in seinen Gedanken versunken. Er saß einfach auf seiner Bank und starrte einen Punkt in der Ferne an, war mental ansonsten vom Diesseits abgemeldet.

    Der Blick der Frauen wollte fragen, ob man sich Sorgen machen musste, aber Sandra beschwichtigte sie mit einem Lächeln. Dass er so konzentriert war, konnte nur von Vorteil sein. Er würde alles aufbieten müssen, um Bella zu schlagen.

    „Ryan ist bereits im Pokémoncenter“, beantwortete sie sodann die unausgesprochene Frage. Da war er aber flott gewesen. Melody nickte nun ihrerseits. Ein stiller Dank, ehe sie und Audrey wieder hinaus türmten. Sandra sah ihnen einen Augenblick lang zufrieden hinterher. Es war sicher motivierend und aufbauend, wenn Freunde so viel Anteil an den eigenen Erfolgen nahmen. Sicher würden sie ihm bei Misserfolgen genauso zur Seite stehen. Andrew hatte Ryan, als der vor weniger als zwei Minuten hier durchgekommen war, noch alle zehne gegeben, was angesichts seines momentanen Zustandes eigentlich undenkbar schien. Doch er hatte sich wirklich, aufrichtig für Ryan gefreut. Wenn man es nicht besser wüsste, hätte man vermuten können, er selbst wäre der siegreiche Trainer. Solche Freude ward ihm ins Gesicht geschrieben. AN Unterstützung hatte es Ryan demnach nie gemangelt, selbst ohne den zwei-Personen-Fanclub. Ferner war es nun an Andrew, Bella zu überwinden und das Traumfinale gegen seinen besten Freund perfekt zu machen.

    Die Hürde in Form der Agentin hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Den unauffälligen Seitenblick der Drachenmeisterin bemerkte sie allerdings sofort. Sie winkte, wie bei einem Flirt. Ihr verschmitztes Lächeln, dass sie die ganze Zeit schon voller Vorfreude ausstrahlte, war nach dem kurzen Auftritt Audreys und Melodys gar noch etwas breiter geworden. Sandra zeigte ihr die kalte Schulter. Der Missmut über ihrer Niederlage war bereits weitestgehend verflogen. Die Kämpfe, die zählten – wahrlich zählten –, würden erst noch folgen. Auf diese wollte sie sich konzentrieren und sich bis dahin keinen albernen Provokationen hingeben. Für den Augenblick war sie fertig mit Bella.


    „Carparso? Der mit dem Hundemon und dem Despotar?“

    Die diensthabende Schwester Joy hatte trotz zahlreicher helfender Hände sehr viel um die Ohren. Während des alltäglichen Normalbetriebes hätte sie sich bestimmt an jeden einzelnen Trainer erinnert, der bei ihr eingecheckt oder Pokémon zur Behandlung abgegeben hatte. Jetzt gerade, während dutzende verletzte Pokémon vom Turnier behandelt werden mussten, sah sie kaum noch in die Gesichter der Trainer. Dass sie sich an ihn erinnerte, lag vermutlich auch nur daran, dass ihr Gespräch mit ihm erst eine Minute zurück lag.

    „Genau der.“

    „Die beiden Pokémon werden untersucht. Carparso ist hinten raus zu den Trainingsplätzen.“

    Audrey hob eine Braue, während Melody sogar die Stirn in Falten legte. War er schon wieder bei der Arbeit? Als ob er eben nicht genug Adrenalin getankt hatte.

    „Danke Ihnen“, meinte die Trainerin aus Rosalia dennoch flink und schleifte den jüngeren Rotschopf mit sich. Kein Grund, Joy weiter auszufragen und vor allem aufzuhalten. Das zerzauste Haar und der Stress-Schweiß auf ihrer Stirn zeigten deutlich, wie wenig sie derart unnötige Störungen gerade brauchte.

    In den vergangenen zwei Wochen hatte zu dieser Tageszeit kaum eine Chance bestanden, die Trainingsplätze gänzlich leer vorzufinden. Für die Vorbereitungen auf den Clash hatte man regelrecht Schlange stehen müssen. Jetzt allerdings, da es nur noch drei bestehende Teilnehmer gab, war fast der gesamte Bereich frei. Nur ein einziger Trainer hielt sich hier auf. Hatte der Eingangstür den Rücken gekehrt und redete gerade anleitend auf ein Guardevoir mit untypischer Farbgebung ein. Dabei gestikulierte er mit den Händen, als mache er die Attacke vor.

    Melody fühlte sich auf einmal wie erstarrt. Da stand er schon wieder und war mit dem Kopf bereits beim nächsten Match. Ja, es war das alles Entscheidende, das große und heiß ersehnte Finale. Dennoch konnte man diesen Eifer nicht anders nennen als bemerkenswert. Fast schon könnte man ihn als krankhaft bezeichnen. Selbst der Begriff Workaholic würde Ryan nicht gerecht. Es wäre legitim, um nicht zu sagen völlig menschlich, wenn er sich wenigstens eine Minute lang in dem Erfolg, dem Sieg über seinen größten Rivalen, sonnen könnte. Dafür war er allerdings zu zielstrebig. Würde man Ryan darauf ansprechen, so würde er Audreys Überzeugung nach antworten, dass er im Moment noch rein gar nichts gewonnen hatte. Er hatte die Silbermedaille gesichert. Die Auszeichnung für den ersten Verlierer, wie er gerne sagte. Sie selbst hatte ihre Haltung entspannt und eine Hand in die Seite gestemmt. Der Kopf lag leicht schief, sodass ihr eine Haarspitze ins Gesicht fiel. Sie lugte unter der Brille hervor und grinste. Einfach unverbesserlich, der Kerl.

    „Schätze wir kommen zu spät.“

    Neben ihr ertönte ein ernüchtertes Seufzen. Da hatte Melody einmal geglaubt, Ryan in die Augen zu sehen und in die Arme schließen zu können. Aber nichts war´s. So nah sie ihm eigentlich auch war, so fern war er in Wahrheit. Tragisch, aber trotzdem behielt sie ein Lächeln auf den Lippen. Wenn auch mit einer traurigen Note.

    „Wir können ihm wenigstens zusehen, oder?“

    Es klang fast, als frage sie um Erlaubnis. Melody stimmte zu, dass sie den jungen Trainer nicht stören sollten. Allein seine mit Herz und Seele bewaffnete Leidenschaft, die er in so simple Anweisungen fließen ließ, sorgte dafür, dass man es sich selbst gar verbot, sein Training zu unterbrechen. Ihre bloße Anwesenheit fühlte sich schon aufdringlich und falsch an, würde aber zumindest tolerierbar sein. Oder nicht?

    Selbstverständlich durfte sie bleiben, so wollte Audrey gerade versichern, vernahm aber hinter sich das elektrische Surren der Tür, durch die sie beide eben noch getreten waren und ihre Aufmerksamkeit beanspruchte. Wäre der Ausgang des Kampfes ein anderer gewesen, hätte es sich mit Audreys Lächeln hier und jetzt erledigt. Doch da die Dinge so waren, wie sie waren, wurde ihr Grinsen glatt noch breiter, als sie Terry Fuller ins Freie treten sah. Es war jenem absolut unmöglich, Audrey und Melody zu übersehen oder zu ignorieren. Und das schadenfrohe Gesicht, das unter der Sonnenbrille hervorlugte, war eines der letzten Dinge, die er nun gebrauchen konnte. Glücklicherweise war nur das Halbfinale, nicht aber seine Nerven verloren gegangen, weshalb ihm lediglich ein missbilligendes Rümpfen der Nase entfuhr. Melody hatte ihm noch immer den Rücken gekehrt und sah verträumt zu Ryan, der anscheinend noch überhaupt keinen der Neuankömmlinge bemerkt hatte. Terry schien den respektvollen Abstand jedoch nicht einhalten zu wollen, wie es die Mädels taten. Mit zielgerichtetem Blick marschierte er an den beiden vorbei. So zumindest die Intention. Die Trainerin aus Rosalia griff ihn glatt fest am Oberarm.

    „Was soll das werden?“

    Sie fragte, als habe er vor, einen Diebstahl zu begehen oder einen Akt der Sabotage zu verüben. Hatte der Typ kein Feingefühl? Oder auch nur eine Spur von Anstand? Terry sah zunächst auf ihre Hand und erst danach in ihre Augen. Sie sorgte gar für direkten Kontakt, indem sie ihre Sonnenbrille abnahm.

    „Geht dich nichts an. Ich brauche für nichts deine Erlaubnis“, antwortete er ruhig, aber äußerst giftig und befreite sich von ihrem Griff. Audrey ließ es jedoch keineswegs gut sein und stellte sich ihm in den Weg, woraufhin er gar einen Schritt zurückwich.

    „Ryan trainiert gerade. Respektier das.“

    Ja klar trainierte er. Das sah jeder, der Augen im Kopf hatte. Das hier konnte allerdings nicht warten und ehrlich gesagt interessierte es Terry auch nicht, was Ryan gerade trieb. Er würde sich nicht einfach abwimmeln lassen, wie ein unerwünschter Gaffer. Schon gar nicht von ihr. Was bildete die sich eigentlich ein? Hielt sie sich für seinen Bodyguard?

    „Zu schade, denn ich bestehe darauf“, stellte er felsenfest klar. Audrey erwiderte allerdings eisern.

    „Und ich bestehe darauf, dass du gehst!“

    Terrys Kiefer spannte sich sichtbar an. Ein deutliches Zeichen, dass sein Geduldsfaden zu reißen im Begriff war. Was dann passieren mochte, wagte er noch nicht einzuschätzen. Er lehnte es eigentlich ab, sich mit anderen Trainern zu schlagen, aber wenn sie den Weg nicht endlich frei machte, so garantierte er heute für nichts mehr.

    „Treib´s nicht zu weit. Geh zur Seite!“

    Audrey tat nichts dergleichen. Sie kam sogar noch ein Stück näher, sodass ihre Gesichter sehr nahe beieinander waren. Die beiden besaßen fast die gleiche Größe, sodass sie praktisch auf Augenhöhe waren.

    „Sonst was?“

    Audrey war auch nicht unbedingt scharf darauf, sich zu prügeln. Sie müsste lügen, wenn sie behaupten wollte, es sei noch nie passiert, aber so grob war sie im Kern dann auch wieder nicht. Sie setzte einfach ihre Hoffnung darin, dass Terry eher aufgeben, anstatt zuschlagen würde. Die aufeinander gepressten Lippen und scharfen Augen verrieten jedoch, dass er große Mühe hatte, sich dazu durchzuringen.

    „Ich warne dich nur noch ein…“

    „Schh!“

    Ein strenges, fast empörtes Zischen brachte beide zum Schweigen. Die Blicke der Streitenden suchten nach der Quelle. Melody sah lediglich aus dem Augenwinkel über die Schulter. Audrey hatte das Gefühl, einen ganz anderen Menschen vor sich zu sehen als während der Kämpfe auf der Tribüne. Mahnend wurde sie gleichermaßen wie Terry angefunkelt und im Gegensatz zu ihrer beider Zoff kamen Audrey wenig Zweifel, dass auf diesen Blick wirklich Gewalt folgen würde, wenn er sie nicht zur Ruhe zu bewegen vermochte. Das perplexe Schweigen stellte Melody aber scheinbar zufrieden und sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Sumpex hatte eine Aquawelle auf den Boden geschmettert, die sich zu einer Welle auftürmte. Guardevoir sammelte Funken aus blauem und silbrigem Mondlicht um sich herum und rotierte auf der Stelle um die eigene Achse, wie eine Ballerina. Mit jeder vollen Umdrehung wuchs eine schimmernde Kugel vor ihr, die entfernt dem Vollmond glich und von einer dunklen Masse umhüllt wurde, die dem Nachthimmel anmutete. Die drei Zuschauer waren nun allesamt zum Schweigen übergegangen und bestaunten das Schauspiel auf dem Trainingsgelände. Die Wassermassen schienen urplötzlich wie von Zauberhand gelenkt zu werden. Sie begannen die mondartige Struktur, welche als die Attacke Mondgewalt identifiziert wurde, zu umkreisen, wie ein Schwarm Wadribie ihre Honigwaben. Guardevoir musste den selbst erschaffenen Vollmond mittels ihrer Psychokräfte in die Höhe hieven, um der Aquawelle zu entgehen. Diese folgte gehorsam, trotzte selbst der Schwerkraft und wirbelte nun um den Mond herum. Ryan grinste zufrieden und nickte einige Male sehr sachte. Mondgewalt wirkte sich also tatsächlich genauso auf das Wasser aus, wie der echte Mond, der die Gezeiten bestimmte. Hier waren die Auswirkungen gar noch stärker und extremer.

    Guardevoir schien Schwierigkeiten zu haben, diese Energie lange zu kontrollieren. Ihr Tanz hatte gestoppt und sie schien die Energien über ihrer aller Köpfe mit den Armen zu stemmen. Dann vollführte sie eine Drehung und schleuderte die Mondgewalt zum Absender zurück. Der hatte bereits im Voraus die Anweisung erhalten, mit Schutzschild abzublocken. Hier fand kein Sparringskampf statt. Sumpex half lediglich, die Attacken seiner Kameradin zu verbessern und mit ihren Fähigkeiten zu experimentieren. Da im Finale nicht länger im Doppel gekämpft wurde, konnten sie diese Kombination leider nicht ausspielen, aber für die Kämpfe, die danach folgen würden, wollte Ryan all seine Möglichkeiten ausschöpfen. Und wer wusste schon, ob nicht auch ein Wasserpokémon zu Bellas Team zählte. Überhaupt war dies ja nur eine von vielen Ideen, die noch in Ryans Kopf herumspukten und derer er sich in dieser kurzen Zeit nicht restlos würde annehmen können. Aber das war schon okay. Wenigstens ein paar Kniffe und Tricks konnte er sich bestimmt noch in den Ärmel schieben, bevor er sich wieder ins Stadion begeben musste. Und auf diese Weise war er wenigstens beschäftigt, bis es soweit war. Verhinderte somit, sich in unnötigen und unnötig vielen Gedanken zu verirren, die sein Nervenkostüm strapazierten. Wer sein Gegner sein würde, mit welchen Pokémon dieser antreten oder welche Strategie er verfolgen könnte – um nur die Spitze des Eisberges anzukratzen. Alles wichtig, aber auch alles ungewiss und nicht beeinflussbar. Daher wollte Ryan es vermeiden, darüber zu spekulieren und um das zu erreichen, brauchte er Beschäftigung. Routine hin oder her, Anspannung fühlte er immer vor einem großen Kampf. Ein paar lockere Übungen waren lediglich eine Methode, um im Vorfeld eines solchen nicht zu verkrampfen.

    „Sehr gut. Noch einmal und versuch sie so lange zu halten, bis du voll im Gleichgewicht bist.“

    Er meinte nicht nur die körperliche, sondern primär die mentale Balance Guardevoirs. Von der sprach er fast jedes Mal, wenn er mit ihr, beziehungsweise zuletzt noch mit Kirlia trainiert hatte. Sie war Dreh- und Angelpunkt ihrer Stärke und musste zu jeder Sekunde gewahrt werden können. Das hätte Ryan ihr nicht einmal sagen müssen. Ihnen fehlte zwar die Zeit, um die Taktik zu perfektionieren, aber bevor sie keine Kontrolle über ihre eigene Attacke besaß, würde Guardevoir dieses Feld nicht verlassen.

    Aus der Ferne sah man noch immer schweigend zu, wie der Ablauf wiederholt wurde. Melodys erboste Miene von eben war bereits wieder völlig verschwunden und einem beseelten Lächeln gewichen. Audrey hatte ihre Haltung entspannt, da sie sicher war, dass Terry die vorangegangene Mahnung nicht übergehen würde. Eine Hand legte sich auf ihre Hüfte und die Mundwinkel zuckten wieder nach oben. Ryans Ausstrahlung, seine Energie, die war wirklich was Besonderes. Und Melodys auch, so ganz nebenbei.

    Terry merkte erst nach einer halben Minute, dass er den Atem angehalten hatte. Seine Augen huschten zwischen den beiden Frauen hin und her und blieben schließlich ebenfalls an Ryan haften. Und in diesem Moment drängte sich ihm die Frage auf, ob ein sturer, gnadenloser, selbstfokussierter Drecksack von einem Pokémontrainer, der krankhaft an nichts außer das Gewinnen dachte und dafür sogar die Gesundheit seiner Schützlinge aufs Spiel setzte, so aussehen konnte? Oder eher noch, ob die Pokémon eines solchen Trainers so aussahen? Er inspizierte die Mimik von Guardevoir und Sumpex sehr genau. Rief sich außerdem Despotar und Hundemon ins Gedächtnis. Voller Leidenschaft und Hingabe. Heißblütig in das Geschehen vertieft und hingen an jedem seiner Worte. Beides genau dann, wenn es verlangt wurde. Allerdings nicht wie Untergebene. Sondern wie ein Team. Sie blühten unter seiner Führung voll auf, ja hatten wirklich Freude hieran. Jeder Amateur konnte das beantworten.

    Terry war kein Amateur. War davon genaugenommen so weit entfernt, wie kaum ein anderer in seinem Alter. Doch vor gar nicht langer Zeit hatte sein Eindruck von Ryan noch dem genauen Gegenteil entsprochen. Wie um alles in der Welt konnte es damals wie heute so offensichtlich erscheinen, wenn sich die Situation um 180 Grad gedreht hatte? Der Trainer aus Einall wandte seinen Blick ab, sah einen willkürlichen Fleck Erde irgendwo abseits des Geschehens an. Audrey bemerkte das, entschied aber, darauf nicht zu reagieren. Sonst bewirkte sie noch, dass er den Konflikt ein weiteres Mal aufzunehmen versuchte.

    Glücklicherweise trat das Gegenteil ein. Terry Fuller machte kehrt und stapfte zurück ins Pokémoncenter. Am besten gar nicht drüber nachdenken. Es würde früh und an der Zahl genug Gelegenheiten geben, Ryan das mitzuteilen, was er eben noch zu sagen gedachte. Und selbst wenn nicht, was kümmerte es ihn denn überhaupt? Er war doch sonst auch nie wichtig genug gewesen, dass er das Gespräch zu ihm suchte. Er sollte sich wieder auf sich selbst fokussieren. Das verlorene Match schnell hinter sich lassen. Wobei... war es ihm wirklich darum gegangen, als er entschieden hatte, Ryan aufzusuchen? Kopfschüttelnd warf er den Gedanken fort und verbot sich alle weiteren bezüglich dieses Trainers. Wenn er so weiter machte, beschlich ihn noch das Gefühl, seine Meinung über ihn könnte nicht ganz dem echten Bild von Ryan Carparso entsprechen.


    Nachdem Terry sie verlassen hatte, war die Atmosphäre deutlich entspannter geworden. Und stiller war es zudem. Audrey, die sich an einen Zaun lehnte und locker die Arme verschränkte, sah mindestens genauso oft in Melodys Gesicht, wie in Ryans. Man könnte einem hoffnungslosen Romantiker den atemberaubendsten Sonnenuntergang der Erdgeschichte zeigen und er würde nicht so befriedet und glücklich aussehen, wie die kleine Rothaarige. Nichts auf der Welt schien sie so entspannen zu können, wie der Anblick von Ryan und seinen Pokémon beim Training. Dabei meinte Audrey durchschaut zu haben, dass Melody gerne mehr Zeit zusammen mit ihm verbringen würde. In Zweisamkeit verstand sich. Viel hatte sie nicht durchblicken lassen, aber selbst eine – zumindest oberflächlich betrachtet – taffe, raue, kecke Frau wie sie besaß das nötige Maß an weiblicher Intuition und Feingefühl.

    So verblieben die beiden eine ganze Weile, bis das Zeitgefühl fast verloren ging. Irgendwann, mehr sporadisch, schaute Audrey dann doch mal auf die Uhr und war äußerst verdutzt, die angekündigte Pausenzeit fast verstrichen zu sehen. Zwölf Minuten nur noch, dann würde Cay das Publikum wieder an die Plätze zitieren. Sie wollte es jedoch kaum übers Herz bringen, Ryan darauf aufmerksam zu machen. Fühlte sich auch nicht gerade gut an, ihn vorhin noch verteidigt zu haben und jetzt selbst die störende Botin darzustellen, die ihn zurück ins Stadion drängte. Glücklicherweise war das auch nicht nötig. Ein kurzer Blick an sein Handgelenk ließ den jungen Trainer für einen Moment stillstehen, ehe er zweimal in die Hände klatschte und das Ende verkündete. Guardevoir und Sumpex atmeten entspannt auf. Natürlich waren sie weit von ihren Energiereserven entfernt, denn schließlich mussten sie nachher noch antreten können. Und zwar in Höchstform, wenn sie Chancen auf den Turniersieg haben wollten. Es würde der härteste Kampf des gesamten Tages anstehen, ungeachtet des Gegners. Ryan wollte zwar fest daran glauben, dass Andrew sich die Chance auf ein Finale zwischen ihnen beiden niemals nehmen lassen würde, aber so blauäugig und gutgläubig war er nun einmal nicht. Objektiv betrachtet war Bella ihm absolut ebenbürtig und darüber hinaus auch clever genug, um erfahrene Trainer auszustechen und zu schlagen. Sandra hatte das bereits am eigenen Leib erfahren müssen. Andrew war also ausreichend vorgewarnt und gut beraten, ihr mit vollem Ernst und voller Stärke entgegenzutreten. Und dann würde er von einem Moment auf den nächsten zu seinem eigenen Gegner werden. Zu seiner letzten Hürde, die es zu Ruhm und Ehre zu überwinden galt. Der Lohn für die harte Arbeit.

    Ryan trat nochmals an seine beiden Schützlinge heran und klopfte ihnen fest auf die Schultern, während sich ein einnehmender Blick auf sie legte und abwechselt tief in ihre Augen sah.

    „Bis es losgeht möchte ich, dass ihr euch den Sieg ganz genau vor Augen führt. Stellt ihn euch bildlich vor.“

    Die Psychodame blinzelte etwas irritiert. Eine merkwürdige Anweisung war das. Eigentlich viel zu emotional für Ryan, der sonst so strategisch vorging und dessen Vorgehensweise stets einen weiten Bogen um Träumereien und Wunschdenken machte. Er bemerkte ihre Verwirrung natürlich.

    „Denn nur wenn man an etwas glaubt, kann es auch wahr werden“, fügte er dann hinzu und schenkte beiden ein aufbauendes Lächeln. Sumpex hätte er nicht weiter überzeugen brauchen. Er hatte bereits genügend Beweise erhalten, dass Ryans Vorgaben ihn stets voranbrachten. Ob beim Training oder auf dem Kampffeld – er war derjenige, der wusste was zu tun war und genau daher richtete sich das Wasserpokémon strikt nach ihm. Auch Guardevoir begann zu lächeln, aber versteckte dahinter auch einen winzigen, amüsierten Tadel. Als ob sie an ihm oder sich selbst je zweifeln würde. Natürlich glaubte sie an ihren gemeinsamen Sieg. Und auch wenn sie noch niemals vor so vielen Menschen einen solche großen Sieg errungen hatte, würde sie ihr Bestes geben, sich den Moment vor Augen zu führen. Doch sicher würde die tatsächliche Erfahrung um ein Vielfaches besser sein.

    Beide griffen nach je einem von Ryans Armen und hielten sich daran. Sumpex fest und zustimmend, Guardevoir sanfter, dafür aber mitsamt erhabener Verbeugung. Sie würde sich von ihm führen lassen, wie beim gemeinsamen Tanz.

    Zufrieden richtete sich Ryan zu voller Größe auf und sah zielgerichtet zum Eingang des Pokémoncenters. Schien dabei keineswegs überrascht, dort Audrey und Melody zu erblicken und marschierte schnurstracks auf sie zu, seine Pokémon treu im Schlepptau. Man lächelte sich schon aus der Entfernung breit an, doch die letzten Meter waren seine marineblauen Augen mit denen von Melody fest verankert. Als könnten sie sich gar nicht voneinander losreißen. Erst nach einem Moment der Stille und einem niedlichen Schieflegen ihres Kopfes umarmte er sie einmal innig. Sie schmiss sich regelrecht auf ihn und hauchte ihm ein „Glückwunsch“ ins Ohr. Er bedankte sich nur still, wollte keine Diskussion anfangen, wann denn Glückwünsche angebracht seien. Er selbst hätte vor dem endgültigen Turniersieg zumindest noch keine erwartet.

    „Was wollte er?“, fragte er dann, als die Umarmung endete und sah dabei zu Audrey. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte fast ausschließlich sie mit Terry gesprochen. Oder gestritten. Er hatte nichts Genaues heraushören können. Die Trainerin aus Rosalia schmunzelte, verdrehte aber gleichzeitig die Augen.

    „Bist du jetzt auch der mit den göttlichen Ohren?“

    Sein Lachen kam einem Schuldgeständnis nahe, aber mehr als diesen kurzen Moment erlaubte er nicht zu Spaßen. Er wollte die Frage zügig beantwortet haben. Sie hatten schließlich nicht viel Zeit, ehe Andrew und Bella das Kampffeld betraten.

    „Was er genau vorhatte, ließ sich nicht rausfinden. Hab lediglich versucht, ihm etwas Respekt nahezulegen“, erklärte sie dann und zog anschließend hoffnungslos die Achseln an, während sie ihre Hände öffnete.

    „Kannst es dir sicher denken. Ich hätte genauso gut mit einer Wand reden können.“

    „Es sollte dich einfach keiner stören“, ergänzte Melody gleich darauf konkreter und bestimmender, womit sie seine Aufmerksamkeit wieder gewann. Ihr Blick war ihren Worten angemessen. Eine Drohung lag darin, dass man es bereuen würde, diese von ihr gesetzte Linie zu überschreiten. Ryans Mund öffnete sich, aber er blieb still. Wusste zunächst nicht, wie er darauf reagieren sollte. Dass sie sich so vehement dafür einsetzen würde, fühlte sich wie eine Ehrung an. Wie ein Maß an Respekt, das man sonst nur den größten Persönlichkeiten der Trainerbranche entgegenbrachte, allerdings mit einem distanzierenden Beigeschmack. So bedeutend war er und sein Training nun wirklich nicht. Vor allem nicht so sehr, dass Melody sich selbst von ihm entfernte. Das gestattete er nicht, doch jetzt war kaum der richtige Zeitpunkt, darüber zu diskutieren. Die Geste wurde dennoch geschätzt und er hoffte inständig, dass sein Lächeln das ausreichend vermittelte. Seltsam. Was war es, das sich in ihm sträubte, den Dank einfach auszusprechen?

    Audrey beobachtete die Situation genau. Keiner erlaubte sich, zuerst zu sprechen. Oder den Blick abzuwenden. Seufzend ergab sie sich ihrem Schicksal, dies in die eigenen Hände zu nehmen. Hoffentlich nahm Melody ihr das nicht krumm. Sie wusste ja nun, dass die Kleine auch anders konnte.

    „Wie sieht´s aus, gehen wir Andrew anfeuern?“

    Sie zog beide Blicke auf sich und die Münder der Turteltaubsi wuchsen synchron zu einem Grinsen.

    „Kann ich euch überreden, ihn genauso lautstark zu unterstützen, wie mich?“

    Er würde schließlich jede Hilfe gebrauchen können und wenn er den gleichen Aufwind wie Ryan erfuhr, stünden die Chancen sicher erheblich besser. Selbst unter all den Stimmen auf den Rängen hatte er Melodys noch herausgehört.

    „Wenn es einer kann, dann du“, erhielt er als Antwort. Das und ein hinreißendes Zwinkern.


    Andrew hatte in all dieser Zeit, die er zum Warten verdammt war, seinen Platz nicht verlassen. Auch hatte er keinen Ton gesagt. Jedoch war ihm der Fehler unterlaufen, Bella einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. Es war nur ganz willkürlich gewesen. Er hatte nicht einmal bewusst in ihre Richtung gezielt. War sogar sicher, offen und ehrlich behaupten zu können, dass er ihre Anwesenheit beinahe vergessen hatte und sie bloß rein zufällig seine umherwandernden Augen gekreuzt hatte. Nun war es aber passiert und er musste mit dem Leben, was er sah. Er hatte sich vorgenommen, sie nicht zu beachten, allein um sich nicht ihrem hämischen Blick auszusetzen. Mit Sicherheit würde sie ihn wieder so dreckig anlächeln, wie ein Raubtier, das in einem Anflug von Sadismus mit seiner Beute spielte. Und egal, ob er sich abwenden oder die Geste absolut kühl erwidern würde, sie fand eh immer einen Weg, daraus ihren Spaß zu ziehen.

    Aber dazu war es gar nicht gekommen. Sie war es nämlich, die bislang nicht ein einziges Mal zu ihm rüber gesehen hatte und wenn er es nicht besser wüsste, so würde er unterstellen, sie glaubte sich in völliger Einsamkeit. Sie saß einfach da und war am Saufen. Machte sich im Gegensatz zu bisher nicht einmal mehr die Mühe, ihren Flachmann zu verstecken und nur hervorzuholen, wenn sie sicher war, gerade nicht beobachtet zu werden. Sie hatte das Ding die ganze Zeit über in den Händen, spielte am Verschluss, fuhr die Gravur auf der Frontseite mit dem Finger entlang… Die sah aus, als warte sie auf des Bus nach Hause. Weder von ihm noch von Sandra, die sich nach wie vor direkt an dem Flur aufhielt, der vom Haupteingangsbereich hierherführte, wurde auch nur die geringste Notiz genommen. Und wenn der Inhalt der verchromten Flasche in ihren Händen nur halb so stark war, wie das vom Vorabend, würde Andrew angesichts der Menge, die sie in sich reingeschüttet hatte, an ihrer Stelle vermutlich längst die Kloschüssel anschreien. Fast war ihm auch ohne dieses widerwärtige Zeug nach Erbrechen zumute. Nahm die das hier auch nur ein bisschen ernst? Was in Darkrais Namen war überhaupt ihr Ziel? Sie hatte nicht einen Versuch unternommen, sie zu attackieren oder zu belauschen. Abgesehen von gestern, als sie Ryan frech ein Bein gestellt hatte, war sie ihnen nicht einmal auf die Pelle gerückt. Konnte natürlich daran liegen, dass Sheila stets zugegen war, auch wenn Andrew sie selbst nur in den seltensten Fällen erspähen konnte. Doch je länger er darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher stufte er die Möglichkeit ein, dass Bella aus Angst vor der Attentäterin die Füße still hielt.

    Eigentlich sollte ihm das ja nur recht sein. Je weniger sie mit ihm interagierte, desto freier konnte er auf dem Kampffeld auftreten. Wenn sie ihn sogar unterschätzte, könnten sich zudem Chancen für ihn ergeben, sie kalt zu erwischen und sich einen Vorteil zu erkämpfen. So zumindest der logische Denkansatz, allerdings fruchtete der hier überhaupt nicht. Das Gegenteil war der Fall. So ignoriert zu werden, gab ihm das Gefühl, gar keine Bedrohung darzustellen. Und zwar nicht aus Überheblichkeit, sondern weil Bella in ihm schlicht keinen Gegner sah. Und das brachte Andrew auf die Palme, hatte er doch in den letzten beiden Runden eine Kampfansage – grundsätzlich an alle Konkurrenten, aber speziell sie – senden wollen.

    Sandra lehnte an der Flurwand und hatte die Arme verschränkt. Sie erkannte genau, was sich hier abspielte und dass Andrew mit Mann und Maus am Verlieren war. Bella spielte bloß mit ihm. Während seiner vorherigen Kämpfe hatte sie keineswegs unbeeindruckt gewirkt und es entsprach generell nicht ihrem Charakter, auf andere derart herabzusehen. Noch dem, was Sandra die ganze Zeit beobachtet hatte. Bestimmt lachte sich die Agentin innerlich ins Fäustchen und hatte Mühe, die Fassade aufrecht zu erhalten. Der Kampf zwischen den Beiden hatte bereits begonnen. Und er hätte schlechter nicht starten können.

    Schritte erschallten hinter ihr und kündigten den ersten, bereits feststehenden Finalisten des Summer Clash an. Die Drachenmeisterin neigte den Kopf nur leicht, ohne sich umzudrehen, sah dann gleich wieder in den Raum. Der Anblick würde ihm nicht gefallen. Ryan stoppte neben ihr und sprach, ohne Sandra anzusehen. So leise allerdings, dass er die Ruhe nicht stören würde.

    „Wie sieht´s aus?“

    Er hätte gar nicht fragen brauchen. Ein kurzer Blick hätte jedem Halbblinden alles Nötige verraten. Andrew sah meist auf den Boden oder in seine geballten Fäuste. Nur selten und wenn, dann bloß kurz zu seiner Gegnerin. Mit einem Bein wippte er zittrig auf und ab. Zu jeder Sekunde wirkte er angespannt, verkrampft sogar. Frust und Wut fraßen sich in ihn hinein, während Bella ganz nüchtern – im übertragenen Sinne, wohlgemerkt – darauf wartete, aufgerufen zu werden.

    „Miserabel“, antwortete Sandra der Offensichtlichkeit zum Trotz. Man konnte beobachten, wie Andrew immer wieder tief Luft holte und sich zu entspannen versuchte. Das gab er immer aufs Neue schon nach wenigen Sekunden auf und fuhr sich verbissen durch das rostbraune Haar. So unwahrscheinlich es vermutlich klingen mochte, war er selbst von sich und seiner Anspannung noch am meisten überrascht. Oder sollte man sagen enttäuscht? Bei der Suche nach einer angemessenen Beschreibung wurde er immer selbstkritischer und negativer, bis er an den Punkt gelangte, an dem er sein Auftreten regelrecht verachtete. Wie erbärmlich war das denn? Er hatte sich nie, nicht ein einziges Mal in seinem ganzen Leben, übermäßig Gedanken über seine Gegner gemacht oder sich von deren Getue aus der Ruhe bringen. Andere hatten es früher mit Provokationen versucht, mit Einschüchterung, Androhung von Erniedrigungen und ein, zwei Mal sogar von handfester Gewalt. Jeden von ihnen hatte er ausgelacht. Sowohl vor als auch nach dem Kampf. Keiner hatte ihm je die von ihnen erhoffte Reaktion entlocken, geschweige denn ihn schlagen können. Heute Morgen noch war er der Überzeugung gewesen, dass auch Bella das nicht zustande bringen könnte. Nun war eines davon bereits geschehen, ohne großes Zutun ihrerseits. Und das wiederum schürte Zweifel, ob er sich wirklich gegen sie behaupten und ins Finale einziehen konnte.

    Er hatte die Schritte gar nicht vernommen, die sich ihm genähert hatten. Lediglich die letzten beiden waren zu ihm durchgedrungen und das auch nur, weil sie direkt vor ihm stoppten, sich somit in sein Sichtfeld drängten. Für einen winzigen Sekundenbruchteil hatte er schon befürchtet, Bella hatte sich erhoben und wollte ihn aufziehen. Für diesen Fall schwor er sich noch im gleichen Moment, sie eigenhändig durch den Raum zu schmeißen – vergaß dabei völlig, was für Fähigkeiten sie besaß. Vermutlich würde sie ihn ebenso spielend verprügeln, wie Sheila es einmal in den Wäldern vor der Stadt vorgemacht hatte. Allerdings kündigte schon das robuste Schuhwerk und die blasse Jeans jemand ganz anderen an. Andrew sah verdutzt auf und fand einen herausfordernden Blick in der marineblauen Iris seines Kindheitsfreundes vor. Das Kinn war angehoben, nur eines seiner Augen lugte zu ihm herab, während das andere von seinem blonden Haar versteckt wurde. Nicht gerade auf eine aufbauende oder motivierende Art, so musste man betonen. Genaugenommen las man darin einen Ehrgeiz, den er sonst nur seinen Gegnern zeigte. Der ihnen unmissverständlich klarmachte, wie groß Ryans Wille war, gegen sie zu siegen und wie viel er dafür zu geben bereit war.

    Andrew wollte, er könne diesen Ehrgeiz in sich selbst finden und Bella ebenso ansehen. Aber wieso tat Ryan das überhaupt? Er hatte gerade erst gekämpft, kannte seinen nächsten und somit letzten Gegner noch nicht einmal. Warum dann dieser Blick?

    Es fiel Andrew wie Schuppen von den Augen. Es gab nur einen logischen Grund, warum Ryan so vor ihm auftrat. Und zwar, weil er ihn Andrew bereits seinen Gegner sah. Weil er felsenfest davon überzeugt war, dass er gegen sie nicht verlieren konnte. Hier saß schon nicht mehr sein bester Kumpel vor ihm, sondern einer seiner ärgsten Rivalen, der den dreisten Versuch unternahm, ihm die Trophäe abzuluchsen. Tja und so sah er diese Art von Trainern eben an. Er wollte sich nicht auf verbale Gefechte einlassen oder ihn unbedingt von der Aussichtslosigkeit seines Unterfangens überzeugen. Wortgefechte waren überflüssig und Ryan ihnen spätestens seit Terry Fuller auch überdrüssig. Allein der Kampf würde alles klären.

    Ryans Geste war mehr Herausforderung, oder eher das Einverständnis, eine Herausforderung anzunehmen, als eine Motivation für Andrew. Aber es stachelte ihn an. Appellierte an seinen Ehrgeiz und sein Ego. So stur, vielleicht sogar dämlich es auch klingen mochte, hatte trotz ihrer Freundschaft nie einer der beiden erlaubt, dass das eigene Ego vom anderen übertroffen wurde. Selbst angesichts seiner besseren Platzierungen bei den Ligen von Kanto und Johto war Andrew ihm noch immer auf Augenhöhe gegenübergetreten und hatte sich niemals vor ihm klein gemacht. Das Gegenteil war der Fall, obwohl Ryan sich so schnell entwickelte, sich so rasant verbesserte, dass er stets hatte rennen müssen, um Schritt zu halten. Doch wer, wenn nicht der Rastlose, vermochte sein Tempo schon mitzugehen? So kompliziert war das Ganze doch gar nicht. Bella stand nicht im Mittelpunkt. Sondern Ryan. Ihn galt es ein weiteres Mal einzuholen und diesmal würde sich gar die Chance bieten, ihn hinter sich zu lassen und selbst auf das Siegerpodest zu steigen. Das konnte er sich von seinen lächerlichen Emotionen nicht kaputtmachen lassen!

    Andrews Augen starrten einen Punkt in der Ferne an, während er die Lippen schürzte, als wolle er sagen: „Na schön, dann wollen wir mal.“

    Währenddessen nickte er schwach, was Anzeichen genug für seinen Kumpel war. Fast wäre ihm ein zufriedenes Lächeln entwischt, aber das wäre des Guten etwas zu viel gewesen. Er sah schließlich bereits seinen Gegner vor sich. Aber es war nicht verboten, auch einem solchen Respekt entgegenzubringen. Er reckte seine Faust nur ein kleines Stück nach vorn. Man könnte es leicht übersehen. Die Aufforderung wurde jedoch sofort verstanden.

    Just in diesem Moment erklang eine helle, aufgeregte Männerstimme über die Lautsprecher.

    „Alles klar meine Freunde. Ich sehe, die meisten von euch haben von selbst rechtzeitig zurück auf die Tribüne gefunden. Gefällt mir, gefällt mir“, schien er mit einem zufriedenen Rundblick zu beobachten.

    „Scheinbar könnt ihr´s alle genauso wenig abwarten wie ich. Wer sich nicht angesprochen fühlt sollte zusehen, dass er zurück an seinen Platz kommt, denn wir sind bereit für das zweite Halbfinale!“

    Aufgeregtes Getuschel und ungeduldiges Raunen durchdrang selbst die Musik, die während der Pause noch gespielt wurde. Hier wollte keiner mehr warten. Oder auch nur eine Sekunde verpassen.

    Andrew ließ einen Atemstoß ertönen, mit dem er allen Ballast von sich warf und klopfte mit dem Rücken seiner eigenen Faust bei Ryan ab. In einer flüssigen, lockeren Bewegung erhob er sich dann, als stünde nichts Wichtiges an und steuerte den Tunnel zum Innenraum an. Nicht drüber nachdenken. Einfach loslegen, einfach wie immer. Es war zwar kein normaler Kampf, der ihm bevorstand, was allerdings nicht bedeutete, er könne ihn nicht ganz normal angehen. Ihn betreffend war alles wie immer. Und der Gegner war ständig ein anderer. Das hatte ihn nie bekümmert und das sollte es auch jetzt nicht. Bella wurde daher keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Zumindest nicht von Andrew. Ryan drehte sich einmal und sah die Agentin fordernd an. Sie saß noch immer, hatte aber die Beine übereinandergeschlagen und lehnte sich neugierig, ungeduldig nach vorn. Sie grinste Ryan an. Fast schon, als sei sie dankbar für seine Geste und amüsiere sich gleichzeitig darüber. Mittlerweile beschlich Ryan die Vermutung, dass sie über alles lachen konnte, was er tat. Und man müsste meinen, dass ihm das gegen den Strich ging. Schließlich kam das mindestens einer Geringschätzung, eventuell sogar Spott gleich. Jedoch hatte Ryan inzwischen verstanden, dass Bella sich nicht auf ein solches Niveau herabließ. Ein sehr tiefes hatte sie aber durchaus betreten. Und obendrein etwas fast Unverzeihliches getan.

    Zu Bellas Überraschung schien Ryan sich keineswegs provoziert zu fühlen. Obwohl die korrekte Einschätzung vermutlich lauten würde, dass er sich lediglich nichts dergleichen anmerken ließ. Bestimmt brodelte so Manches in ihm und dennoch erwiderte er das gefällige Grinsen. Sie legte den Kopf schief, doch die Mundwinkel blieben oben. Sehr interessant. Was ihm wohl die Zuversicht gab, um ihre Geste so kontern zu können?

    Hätte sie die Frage ausgesprochen, so würde Ryan antworten, dass er sich auf ihren Niedergang freue. Dass er es kaum erwarten konnte, sie scheitern zu sehen. Ganz zu schweigen von der Genugtuung, sie links liegen lassen zu können, da sie es nicht geschafft hatte, mit ihm mitzuhalten und vor dem heiß ersehnten Kampf mit ihm aus dem Turnier ausschied.

    Der Blonde ahnte jedoch, dass sie auch hierfür bloß ein Lächeln übrighaben würde und darauf konnte er nun wirklich verzichten. So tat er dasselbe, wie am Vortag bei Terry und schwieg. Ließ sich nicht auf die Spielchen ein, zu denen er herausgefordert wurde und blieb ganz trocken und abgebrüht. Kurz zuckten die Augen, welche denen von Lugia glichen, in die Richtung, in die Andrew gerade abgezogen war. Im Stillen teilte er auf diese Weise mit, dass man dort draußen auf sie wartete. Nicht nur die Menge. Auch ein erbitterter Gegner.

    Bella wäre nicht abgeneigt, dieses Spielchen weiter mit Ryan zu spielen. Er wurde langsam richtig gut darin. Allerdings hatte sie sich auch auf Andrew schon seit gestern riesig gefreut. Das Publikum konnte warten, bis es schwarz wurde. Er jedoch sollte sich wegen ihr nicht die Beine in den Bauch stehen. Ein letzter Blick noch nach rechts in einen der wenigen, völlig dunklen Korridore, der weder für Zuschauer noch Teilnehmer des Summer Clash zugänglich und daher nicht erleuchtet war. Selbst von hier aus würde wohl kaum jemand die mörderische Gesichtshälfte erkennen, die dort drüben hinter einer Ecke hervorlugte. Selbst die Agentin vermochte es kaum. Aber dieses wunderschöne, höllische Rubinrot, das sie von dort aus anfunkelte, war einfach zu schön. Fast wäre sie versucht, das Match zu ignorieren, gar das gesamte Turnier hinzuschmeißen, um sich in ein zuckersüßes Gemetzel zu stürzen. Ja, wenn nur ihre Klientin nicht wäre. Läge die Entscheidung allein in Bellas eigener Hand, würde sie nicht zwei Mal überlegen. Sei es drum, das Bisschen konnte sie noch warten.

    Sie erhob sich schwungvoll. Ihr Fokus, ihre Gedanken änderten den Kurs. So geschah es zum ersten Mal, dass die Agentin an Ryan vorbeiging, ohne ihn noch ein weiteres Mal anzusehen. Für ihn galt das gleiche.


    Ungeachtet dessen atmete der junge Trainer sehr laut und erleichtert auf, nachdem er sicher war, dass Bella seine Hörweite verlassen hatte. Diese stillen Duelle waren wirklich kräftezehrend. Würde man gar nicht glauben, solange man es nicht selbst erlebte. Ryan legte den Kopf in den Nacken und beruhigte seinen Herzschlag. Er schmeckte das verdammte Ding fast, so stark schlug es in seiner Brust.

    „Du hast wirklich Mumm“, vernahm er unerwartet und fühlte eine behandschuhte Hand auf seiner Schulter. Sandra hatte eine präzise Vorstellung davon, was gerade in ihm vorging. Sie selbst hatte zu Bella bereits die Konfrontation gesucht und es gehörig vermasselt. Hatte sich selbst dadurch deutlich mehr aufgewühlt als die Agentin. Mit ihr die Blicke zu kreuzen, war nicht ohne.

    „Nicht halb so viel, wie du denkst.“

    Während er auf der Stelle einen ganzen Liter aus seinem Körper schwitzen könnte, fand Bella an verbalen oder auch stummen Gefechten, wie diesem hier, viel Freude. Was für einen verschrobenen Charakter musste man dafür wohl besitzen? Wohl denselben, der nötig war, um eine offizielles Turniermatch in ein sadistisches Schlachtfest zu verwandeln. Nicht weniger hatte Bella in der Qualifikation sowie in der ersten K.O. Runde getan.

    Statt zurückzublicken, sollte er seinen Blick nach vorne richten. Er baute sich mit verschränkten Armen vor einem der Bildschirme auf und wurde sofort von Sandra flankiert. Von ihr hatte Bella selbstredend deutlich mehr Gegenwehr erfahren, aber auch die Arenaleiterin hatte ihre Meisterin in ihr gefunden.

    „Wenn du nochmal gegen sie antreten würdest, was würdest du anders machen, um sie zu schlagen?“

    Die Einlaufshow hatte begonnen. Lichter und Knalleffekte mischten sich mit den Stimmen der Fans sowie Stadionsprecher Cay. In diesem fast leeren Raum wirkten sie verloren und trostlos. Die Stille konnte in der Weite der Katakomben nicht gänzlich vertrieben werden.

    „Einen Knüppel holen.“

    Diesen schnippischen Unterton fand man bei ihr nur äußerst selten. Die Antwort war zwar zynisch und mindestens zum Großteil sarkastisch, aber wenigstens ein kleiner Teil von ihr wollte diesen Plan gerne wahrhaftig in die Tat umzusetzen.

    „Und mich von hinten anschleichen.“

    Ein niedergeschlagener Seitenblick zeigte ihm ein Paar geschürzte Lippen. Wie erwartet haderte Sandra noch immer. Dieses Gefühl, das sie nach ihrem Kampf mit Bella erlebt hatte, würde sie nicht so rasch vergessen. Und vermutlich wäre sie nicht einmal in der Lage, sich unbemerkt an sie heranzupirschen, doch waren ihre Aussichten so noch immer besser als im offenen Duell.

    „Aber dort draußen auf dem Kampffeld…“

    Sie schüttelte den Kopf. Langsam und nur äußerst schwach.

    „Hier und jetzt liegt das außerhalb meiner Fähigkeiten.“

    Nach wie vor bedeutete das nicht, dass sie einen Rückzieher machen würde, sollte die Drachenmeisterin ihr in absehbarer Zeit noch einmal gegenüberstehen. Im Chaos des Krieges – den der Drachen wollte man zwar vermeiden, aber der gegen Team Rocket hatte spätestens mit dem Überfall und dem Anschießen Sheilas begonnen – konnte das Ergebnis immer anders aussehen. Und wenn es eine Pokémongattung gab, die den Krieg beherrschte, so waren es zweifellos die Drachen. Etwas Anderes gab es außerdem, dass sie zuversichtlich stimmte.

    „Du und Andrew dagegen…“

    Nun neigte Ryan den Kopf ein Stück zu seiner Linken. Sandra senkte den ihren etwas und zog einen Mundwinkel hoch. Sie hatte sehr großes Vertrauen in die beiden Jungen. So viel, dass sie fast bereit war, ihr eigenes Leben in ihre Hände zu legen. Lediglich das ihrer Pokémon nicht. Jenes Vertrauen wusste man auf der anderen Seite sehr zu schätzen und tatsächlich erdrückte die Last dessen Ryan mittlerweile kaum noch. Er fühlte sich verpflichtet, dem auch gerecht zu werden. Und das machte seinen Körper nicht länger schwach und zittrig, sondern stärkte ihn. Vielleicht hätte Sandra diese Worte auch Andrew sagen sollen. Dem moralischen Beistand, den er von Ryan erfahren hatte, zum Trotz, würde er jeden Ansporn gebrauchen, nach dem er fischen konnte. Für Bella konnte man kaum stark genug sein.

    Moin moin und hallo,


    kurzes Re-Kommi. Neues Kapitel kommt bald ;)

    Zitat

    der Schlagabtausch in der zweiten Hälfte des Kampfes war gefühlt etwas weniger abwechslungsreich als in der ersten Hälfte.

    Das ließ sich aus meiner Sicht leider nicht vermeiden. Da die zwei flinkeren Pokémon raus und nur noch die schwerfälligeren Kraftkolosse übrig waren, musste der Kampf zwangsläufig an Dynamik einbüßen. Allerdings gefiel mir während des Schreibens der Gedanke immer mehr, nachdem sämtliches taktisches und kreatives Pulver verschossen war, allmählich in einen zermürbenden Schlagabtausch überzugehen, bei dem mehr der Wille als die Kraft über Sieg und Niederlage entscheiden sollte.


    Zitat


    ...fühlte sich jede weitere Attacke samt ihrer spektakulär beschriebenen Präsentation so an, als wolltest du dich selbst immer weiter steigern. Die fortlaufende Dauer erzeugte eine enorme Spannung und für lange Zeit war tatsächlich unklar, wer am Ende noch stehen würde.

    Das ist noch glimpflich formuliert. Mein Ziel war es, den Spannungsbogen durch die Decke zu jagen. Auch auf die Gefahr hin, dass dieser Kampf am Ende sogar spektakulärer sein könnte, als das Finale. Diese Rivalen musste ich einfach bis ans Äußerste treiben!


    Zitat


    Meine Hochachtung für diesen atemberaubenden Kampf und die Stimmung, die du aufgebaut hast. Das Treffen dieser zwei Giganten war wahrlich ein Hochgenuss zu lesen.

    Vielen, vielen, VIELEN Dank für dieses Lob. Ich bin mit dem Kampf, so wie er letztlich geworden ist, auch sehr zufrieden und hoffe, dieses Niveau noch das ein oder andere Mal erreichen oder sogar steigern zu können. Mindestens für´s Finale und den Höhepunkt am Ende der Geschichte.

    Kapitel 58: Stand your ground


    Terry bemerkte, dass sich etwas veränderte. Darkrai noch eins, selbst in der letzten Reihe der Tribüne musste man etwas spüren. Aber hier unten auf dem Feld schien sich gar die Luft zu verändern. Sie knisterte, vibrierte, lag voller Spannung, die sich zu entladen sehnte. Wie der träge Wind in einem alten Western, der eine angespannte Melody zu einem Duell pfiff. Und wie in einem solchen Tauschten beide Trainer einen letzten Augenkontakt. In der marineblauen Iris funkelte etwas. Ryan zog zuerst.

    „Los geht´s…“, kündigte er laut an, worauf Hundemon bereits zum Sprint überging. Despotar festigte seinen Stand und straffte seine Haltung.

    „Erdbeben!“

    War der Typ wahnsinnig? Terry, Andrew, Sandra, Audrey, Cay und sicherlich auch ein beträchtlicher Teil der Zuschauer – sie alle wussten, dass dieses Despotar Erdbeben beherrschte. Und keinem von ihnen hätte man erklären müssen, warum Ryan nicht zu dieser ohne Frage mächtigen Waffe griff. Damit würde er seinen eigenen Kameraden, der ihn eben noch vor Maxax beschützt hatte, enorm gefährden, ihn womöglich mit mittelschweren Wunden sofort ins Pokémoncenter befördern. Im schlimmsten Fall riskierte er langwierige Verletzungen, deren Heilung Monate andauern könnte. Wollte er das echt riskieren? War er wirklich bereit, für den Sieg so weit zu gehen?

    Despotar zögerte keine Sekunde. Er befand den Einsatz von Erdbeben regelrecht als erlösend. Natürlich musste es gerade aussehen, als sei Ryan und auch ihm die Gesundheit von Hundemon egal. Tatsache war, dass man sich dort unten einfach uneingeschränkt vertraute. Sowohl beidseitig zwischen Trainer und Pokémon als auch selbigen untereinander. Und es hatten schließlich beide zugestimmt. Die Felsechse nahm die Wucht des ganzen Körpers zur Hilfe. Der Fuß allein besaß die Kraft einer Schrottpresse. Unter der geballten Masse, die nun auf das Erdreich schlug, erzitterte das gesamte Prime Stadium bis in seine Grundfesten. Andrew und Sandra waren fast sicher, dass Staub von der Decke rieselte und das Gemäuer um sie herum ächzte. Auf dem Kampffeld waren die Auswirkungen geradezu absurd. Erdspalte wurden aufgerissen und warfen Lehm und Gestein empor, wie ein eruptierender Vulkan. Einige der losgelösten Felsen hievten in die Hohe, während andere in ein bodenloses Loch fielen. Ein Schleier aus Sand legte sich über das Kampffeld und erschwerte die Sicht. Direkt unter den Füßen der Pokémon sackte der Boden ab oder ballte sich zu Hügeln und gar Felstürmen auf, die nach einer Sekunde gleich wieder zerbarsten und in sich zusammenfielen. Alles unter ihnen wurde lebendig, so fühlte man. Wurde zu einem Gallopa, das seinen Reiter abzuwerfen versuchte und bei Erfolg gar nochmals wild nachtreten würde.

    „Auweia, was geht da ab!?“, schrie Cay nun – man konnte es nicht anders bezeichnen – entsetzt.

    „Arceus, die beiden hören wirklich erst auf, wenn das Stadion nicht mehr steht. Das Erdbeben ist jenseits von Gut und Böse!“

    Dem musste gezwungenermaßen auch Terry nur beipflichten. Das sah ja aus als wären zwei Landmassen mit unnatürlicher Geschwindigkeit aufeinandergeprallt. Es übertraf das Erdbeben seines Rabigator um Längen! Alle acht Beine Voltulas zitterten wie Espenlaub. Dank ihrer natürlichen Instinkte und ihrer Schnelligkeit jedoch konnte sie nicht nur dem fallenden Geröll ausweichen, sondern auch die tektonischen Bewegungen unter ihr zumindest erahnen und blieb den gröbsten Gefahrenzonen fern. Maxax dagegen ging augenblicklich in die Knie. Unter dem Sand war das Gestein zertrümmert und ließ ihm in eine Mulde aus Lehm absacken, nur um dann von sich auftürmenden Felsen am Unterbauch malträtiert zu werden, während andere sich neben ihm auftürmten und gleich darauf über ihm einzustürzen. Der Staub biss in seinen Augen und ließ ihn fast erblinden. Und selbst mit klarer Sicht war es nahezu unmöglich, über den Rand dieser Mulde hinauszublicken. So war Terry der Einzige, der Hundemon kommen sah. Tollkühn durch diesen Sturm aus Sand und Fels hetzend, sprang durch die Staubwolke und landete auf einem Gesteinsbrocken, der unter der Lehmschicht hervorgetreten war. Von diesem hastete er sofort weiter, entging somit nur knapp einem lebendigen Begräbnis, da der Felsen sogleich in eine Erdspalte rutschte. Hundemon schlug Haken, um einstürzenden und herabfallenden Steinen und Lehmklumpen auszuweichen, geriet dabei arg ins Straucheln. Beinahe wäre er ganz gestürzt. Der Hinterleib verlor den Stand und schlitterte fast in einen Spalt, doch der Schattenhund stoppte zu keiner Sekunde. Ein Schlag an der Schläfe wurde mit einem wütenden Knurren weggesteckt und ansonsten völlig ignoriert, obwohl der sicher eine böse Schramme hinterlassen würde. Dann neigte er den Kopf und stieß mit den Hörnern voraus direkt in eine neue Staubwolke, räumte dabei kleinere Brocken mit seinen Hörnern aus dem Weg und wich größeren erneut aus. Wie weit war es denn eigentlich noch? So gewaltig war ihm der Abstand zu Maxax und Voltutla eben nicht vorgekommen. Er rutschte mit einem Vorderbein in ein Loch, änderte gezwungenermaßen die Richtung und hielt sich gerade noch einen Schritt möglichst nahe am Rand, um nicht zu stürzen und sprang dann drüber hinweg.

    Da standen sie! Von Despotars Erdbeben noch immer wie paralysiert und fast schon in einer Schockstarre beim Anblick seines schwarzen Fells.

    „Feuerwirbel auf Voltula!“, hörte er geradeso hinter sich. Das Beben und Donnern um ihn herum verschluckte ansonsten fast alle Geräusche. Selbst Cays Stimme drang zu niemandem hier unten mehr durch.

    Hundemon hielt noch immer nicht an, spie aus dem Lauf eine feine Flammenzunge und hüllte die Tarantel in einen brennenden Tornado.

    Terry knirschte mit den Zähnen. Er war fast davon ausgegangen, dass Ryan sich Maxax als ziel wählen würde, aber der war clever genug, zunächst die Stromspinne am Eingreifen zu hindern. Er musste Feuerwirbel schleunigst durchbrechen, um Maxax Deckung geben zu können. Allein saß er gerade wie auf dem Präsentierteller.

    „Käfergebrumm!“

    Das Surren übertönte gar die rauschenden und züngelnden Flammen. Voltula benötigte lediglich eine Sekunde, bis der Schall sie geradezu verpuffen ließ.

    „Jetzt!“, ertönte dann eine feste Stimme. Terry meinte für einen Moment, er spinne. Vor ihm spielte sich gerade eine Naturkatastrophe ab, die dafür sorgte, dass zehntausende Stimmen, inklusive einer durch Lautsprecher verstärkt, übertönt wurden und die Kämpfenden nicht mehr erreichte. Und dann vermochte diese eine – Ryans! – all das zu durchdringen? Seine Aufmerksamkeit wechselte mit dem nächsten Herzschlag, als er Hundemon wieder erspähte und ihn ein flaues Gefühl in der Magengegend überkam. Das Unlichtpokémon hatte nie Maxax zum Ziel gehabt. Es stand gerade hoch in der Luft, vermutlich von einem herausbrechenden Felsen abgesprungen und fixierte mit scharfen Augen das ebenso überraschte Voltula.

    „Hitzekoller!“

    Hundemons Körper begann Rauch abzusondern. Durch das schwarze Fell hindurch schienen rötliche Lichtflecken, wie ein brennendes Feuer aus seinem Inneren. Dann brach ein gleißender Strahl aus seinem Maul hervor, hell und heiß wie ein Hyperstrahl und von gewaltigen Flammenfäusten umspielt – die stärkste Attacke der Feuerpokémon. Die Stromspinne war erstarrt. Über ihr brach die brennende Sonne herein und ließ sie zu Asche verglühen. Ein lodernder Stern, der sich vom Himmel herab auf ihre Gestalt stürzte, um sie zur Unkenntlichkeit einzuäschern.


    Das Prime Stadium besaß exakt 146 Flutlicht Scheinwerfer. Selbst wenn man sie heute Nacht auf maximale Leistung kalibrieren und allesamt auf einen präzisen Punkt ausrichten würde, so wäre es noch lange nicht mit dem vergleichbar, was Voltula gerade erlebte. Schon als Beobachter waren die Auswirkungen des Hitzekollers abnormal. Niemand – wirklich niemand im Stadion konnte durch diese blendende Explosion hindurchsehen. Mindestens einen Arm hatte jeder schützend vor´s Gesicht erhoben und selbst an den TV-Bildschirmen sah man nur noch weiß. Wüsste man es nicht besser, könnte man glatt von einer Störung ausgehen. Eine stickige, heiße Welle schlug den Menschen entgegen, als trete man an einen Vulkankrater und ließ die heutige Sommerhitze wie einen Herbsttag erscheinen. Die Blendung ließ nur langsam nach. Sie war nebst der Erschöpfung, derer Hundemon sich ebenso wenig entziehen konnte, wie all die Leute der temporären Blindheit, der Hauptgrund für seine harte Landung. Es war beinahe unmöglich, sich noch irgendwie aufrecht zu halten, obwohl das Erdbeben endlich geendet hatte. Doch was er vor sich sah, machte den Schmerz, den Schwindel, die brennenden Muskeln und die schwere Lunge zu unbedeutenden Nebensachen. Eine glühende Furche reichte von seinem Standpunkt aus bis zur Betonmauer. Sie qualmte und stank nach Asche. Sowohl darinnen als auch nebst dieser Schneise der Verwüstung flackerten noch vereinzelte Flämmchen. Und an ihrem Ende lag Voltula. Sie war besiegt. War am Ende. Jetzt fehlte nur noch…

    „Maxax, Drachenklaue!“

    Direkt neben Hundemon tauchte ein schwarzer Reptilienkopf auf, der von olivfarbener Panzerung überzogen und von zwei blutroten Beilkiefern geschmückt war. Dieselbe Farbe wiesen auch die gebogenen Krallen auf, obwohl sie ein bläuliches Licht absonderten. Und dieselbe Farbe trat gleich aus der Flanke des Schattenhundes aus.

    Terry war gedankenschneller gewesen als Ryan. Der hätte Maxax auf der Rechnung haben und sich für einen solchen Schlag wappnen müssen. Nur für eine einzige Sekunde hatte der Sieg über Voltula seine Umsicht in den Schatten gestellt. Mehr als diese war nicht vonnöten gewesen, um die nummerische Unterlegenheit zu egalisieren.

    Hundemon war nicht nur aufgeschlitzt, sondern geradewegs davongefegt worden und schlug mit der unversehrten Flanke in einen der Felsen. Die knöchernen Rippen, die sein Fell durchzogen, fühlten sich glatt an, als würden sie brechen und die Bruchstücke sich durch Haut und Organe bohren. Der Schattenhund röchelte, spuckte Speichel sowie eine trockene Flammenwolke und würgte gar Magensäfte hervor. Zu diesem Zeitpunkt waren seine Augen bereits völlig weiß. Die Ohnmacht linderte sein Leiden.

    „Oh mein Gott!“, schallte die brechende Stimme von Cay, welcher tausende Aufschreie folgten. Jubel, Begeisterung, Schrecken, Fassungslosigkeit und diverse Emotionen dazwischen begleiteten sie. So laut, dass mit Ausnahme der Kämpfenden niemand das Urteil des Schiedsrichters vernahm. Cay verkündete es in dessen Namen anhand seines Fahnensignals.

    „Voltula und Hundemon sind beide aus dem Rennen. Der Kampf wird nur noch von Maxax und Despotar fortgeführt!“


    Ryan und Terry waren zwei Trainer, die nur sehr wenige Gemeinsamkeiten aufwiesen. Dafür waren es essenzielle, was sie natürlich weder einander noch sich selbst jemals eingestehen würden. In diesem Augenblick jedoch sahen sie sich so ähnlich, wie selten zuvor. Beide waren von Stolz erfüllt, hätten hundert lobende Worte für ihre Pokémon und waren sicher, ihnen selbst dann noch nicht ausreichenden Dank bekundet zu haben. Das würden hier und jetzt aber höchstens ihre allerengsten Vertrauten erkennen können. Bestürzung und Verbitterung überlagerten diese Gefühle, ob des sogenannten Lohns, den die Pokémon für ihre hingebungsvolle Leistung erhalten hatten. Terry blickte die Schneise entlang, die der Hitzekoller in den Boden gebrannt hatte. Voltulas Körper war nicht länger gelb, sondern braun, grau und schwarz. Völlig verbrannt und versengt. Es würde dauern, bis die Körperbehaarung nachgewachsen und das farbenprächtige Antlitz wiederhergestellt wäre. Selbst die Beine zuckten nicht mehr. Das ungeschulte Auge könnte glatt vermuten, die Tarantel habe das Zeitliche gesegnet, was, Arceus sei Dank, nicht eingetreten war. Terry glaubte auch nicht wirklich, dass Ryan es darauf angelegt hatte oder das er so etwas generell in Erwägung zog. Er war ein Arsch, aber nicht derart unmenschlich.

    Von Hundemon konnte man nicht gerade behaupten, dass er sehr viel glimpflicher davongekommen war. Auf der linken Körperhälfte verklebte Blut das Fell und sammelte sich zu einer glücklicherweise bloß kleinen Lache unter ihm. Allzu tief war die Wunde nicht und daher auch vergleichsweise ungefährlich. Jedoch musste der Schlag und besonders der Aufprall alle Organe malträtiert haben. Hoffentlich waren sie nicht ernsthaft oder langwierig in Mitleidenschaft gezogen. Beim Erwachen würde sich Hundemon vermutlich an Ort und Stelle übergeben. Beide Pokémon wurden in ihre Bälle zurückverfrachtet, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Maxax hatte noch über die Schulter geblickt, um nach seiner Partnerin zu sehen. Er hatte es zwar dem Verursacher ihres Leids heimgezahlt, doch war er der Meinung, dass dies noch nicht ausreichte. Die Felsechse vor ihm trug ebenso Schuld daran sowie nicht zuletzt an den sichtbaren wie nicht sichtbaren Wunden, die das Drachenpokémon selbst davongetragen hatte. Vergolten wäre all das erst mit seiner Niederlage. Die rot leuchtenden Augen fixierten Despotar. Der allerdings fing sie erst gar nicht auf. Sein Blick ruhte noch immer auf der Stelle, an der sein Kamerad, sein Freund und Kampfgefährte eben noch gelegen hatte. Die Mimik war grimmig, sein Inneres jedoch aufgewühlt und mitfühlend. Dieses Ende hatte er nicht verdient. Er wusste aber bereits, wie er seine Tapferkeit angemessen würdigen und ihn später, wenn er aus der Ohnmacht erwachte, froh stimmen konnte. Auf dieselbe Weise, wie immer. Indem er den Kampf für sie beide gewann. Er sah wieder nach vorne. Der Kopf wurde tief geneigt, sodass kaum noch Augenkontakt zwischen beiden Pokémon möglich war, doch durchstachen sie Maxax wie Speere. Der signalisierte rasch, dass es mehr als solche bräuchte, um ihn zu stoppen.


    Andrew schnaufte tief und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Diese zwei boten hier echt ein Match, das sich langsam, aber sicher zu einem er atemberaubendsten entwickelte, die er je beobachtet hatte. Selbst Duelle zwischen Top Vier Mitgliedern oder gar mit Champion Beteiligung boten nur selten so ein Spektakel. Für ihn persönlich war es doppelt spannend, da sein bester Freund daran teilnahm. Dasselbe galt natürlich auch für Sandra, Audrey und Melody. Während die Drachenmeisterin sich – wenn auch unter größter Anstrengung – gefasst und kühl gab, hielt es die Mädels oben auf den Tribünen kaum noch auf eben diesen. Melody war schon seit einiger Zeit drauf und dran, über die Betonmauer zu springen und mittlerweile war sie damit nicht mehr allein. Die Ordnungskräfte hatten alle Hände voll zu tun, die Zuschauer auf ihren Plätzen zu halten. Wäre dezent unschön, wenn einer von ihnen im Rausch der Euphorie und Begeisterung hinunter auf´s Kampffeld fiele. Aber die Menschen wollten alle so nahe heran, wie nur irgend möglich. Jeder gewonnene Zentimeter war ein heroischer Erfolg, dank dem der Angefeuerte vielleicht das nötige Quäntchen Mut fassen konnte, um den so hart umkämpften Sieg einzufahren.

    Genau diesen wollten beide so sehr, dass es kaum auszuhalten war. Und allmählich war man auch des Vergnügens, welches das Match in Unmengen bereitete, überdrüssig. Man hatte sich genug amüsiert. Jetzt galt es, sich zu quälen und zu schinden. Alles für das heiß ersehnte Ziel. Und niemand, der sich nie in einer vergleichbaren Lage befunden hatte, würde je nachvollziehen können, was jetzt in den zwei Trainern vorging.

    Ein kurzer Blick wurde zwischen ihnen gewechselt. Es lag in niemandes Absicht, dem Gegner irgendetwas mitzuteilen und doch erkannten beide, dass jetzt die letzten, die größten Geschütze aufgefahren werden würden. Wenn es einen Moment gab, um die letzten Reserven zu verschießen, dann jetzt!

    „Alles oder nichts“, murmelte Terry, geradeso laut genug, dass Maxax ihn hörte. Sein Grollen stellte eine klare Antwort dar. Alles natürlich. Es war niemals nichts. Immer alles!

    Ryan legte den Kopf in den Nacken und strich sich durch sein blondes Haar, als wolle er sich von etwas befreien. Dann warf er den gesamten Oberkörper nach vorn und klopfte sich auf die Oberschenkel. Er machte sich bereit. Für den letzten Sturm. Und den letzten Ansturm.

    „Mach nicht mich stolz“, sagte er aus heiterem Himmel nach einem tiefen Atemzug.

    „Sondern dich selbst.“

    Stolz. Es war eines der großartigsten Gefühle, die Menschen und Pokémon zu spüren imstande waren. Despotar liebte es. Lob und Bewunderung waren minderen Wertes im Vergleich dazu. Er selbst stellte noch immer die höchsten Ansprüche an sich. Höhere gar als Ryan. Selber stolz auf seinen eigenen Triumpf sein zu können, war der größte Lohn, den sich Despotar vorstellen konnte. Und wenn sein Trainer es ihm so simpel befahl, wer wäre er denn, sie beide zu enttäuschen?

    Ryan und Terry holten im selben Augenblick Luft. Cay las die Anspannung zwischen ihnen und fühlte glatt einen Schauer seinen Rücken hinabwandern.

    „Oho, Leute, ich halt´s nicht mehr aus. Da unten ist die Luft zum Schneiden dick.“

    Tatsache. Gar kam es ihm für eine Sekunde so vor, als herrsche absolute Stille. Als würden für die Dauer eines Herzschlages all die Stimmen um ihn herum schweigen. Das ganze Stadion hatte den Atem angehalten. Das Leben, der Lärm und die Ekstase kehrten zurück, als zwei Angriffe befohlen wurden. So laut, dass der Stadionsprecher sie selbst hier oben noch hörte.

    „Drachenpuls!“

    „Hyperstrahl!“

    Zwei Energiekugeln. Eine in einem kräftigen Blau, durchzogen von violetten Schlieren. Die andere rein und golden, als würde ein Stern geboren. Die daraus entfesselten Lichtstrahlen schienen kaum gebändigt werden zu können und fegten quer über das Kampffeld. Als sie dann auf das jeweilige Ziel gerichtet wurden, durchschlugen und zertrümmerten sie sämtliches Geröll, das sich nach dem Erbeben so spektakulär emporgehoben hatte. Regelrecht pulverisiert wurde das Gestein. Ein Drachen aus purem Licht riss sein Maul auf und brüllte einen stummen Schrei, den man sich im Rausche dieses Gefechts ganz leicht wahrhaftig zu hören einbilden konnte. Der Hyperstrahl schoss direkt in sein Maul. Die Energien kollidierten präzise auf halbem Wege und hielten sich die Waage. Blaue und Goldene Blitze zuckten zu den Seiten, schlugen Löcher in den Boden, wo Despotars letzte Attacke noch keine hinterlassen hatte und ließ herumliegende Felsen zerspringen. Sie brachten die Luft zum Knistern, sodass Melody es in ihrer Brust kribbeln spürte und es als ihre Emotionen missinterpretierte. Daneben musste Audrey sich nun im wahrsten Sinne des Wortes festhalten. Sie befürchtete, wenn diese beiden Attacken den sich andeutenden Knall entladen würden, könnten sie bis in die oberen Reihen davongefegt werden.

    Ganz so stark war sie dann doch nicht, aber die Druckwelle warf sie zumindest zurück auf ihre Plätze. Sie alle! Jeder aus den vordersten Reihen, der sich an die Mauer drängte, wurde zurückgestoßen und alle die noch saßen, in ihren Sitz gedrückt. Man könnte es kaum verurteilen, wenn sich jemand ängstlich zuckend zusammenkauern würde. Wie im Zentrum eines schweren Tropensturms, in dem man sich nicht zu rühren wagte, um ja den dunklen Donnergott Zekrom nicht zu provozieren, seine Blitze in die eigene Richtung zu schießen. Der Lärm der Explosion verursachte weitreichend fiepende Töne in den Ohren der Zuschauer, sodass die Worte aus den Stadionlautsprechern dumpf und weit entfernt klangen, als befände man sich draußen vor den Eingängen des Prime Stadiums.

    „Was sind das nur für zwei Maschinen? Ich meine, woher nehmen die jetzt noch diese Kraft? Keiner gibt einen Zentimeter nach!“

    Das galt sowohl für die Pokémon als auch deren Trainer. So sehr der Wind an ihren Kleidern zerrte und der Krach mit unerbittlicher Gewalt ihre Muskeln lähmte, rührte sich keiner vom Fleck. Es war auf eine absurde Weise berauschend und faszinierend, dies mitanzusehen. Denn diese Stärke war jenseits dessen, was Maxax und Despotar jemals geleistet hatten. Hier und heute hatten sie sich gegenseitig auf ein neues Level gehievt. Und wären es nicht ihre vertrauten Partner, in deren Hände sie selbst ihr eigenes Leben legen würden, so müsste man vor ihrer Zerstörungskraft in Angst erschaudern.

    Trotz dieses Kampfrausches konnten sie ihre Attacken unmöglich so lange aufrecht halten, wie noch zu Beginn. Ihr Brüllen endete in einem erschöpften Röcheln und das Blitzgewitter endete.

    „Einfach unfassbar. Dieses Duell hat noch immer keinen Sieger hervorgebracht. Aber jetzt ist Despotar bewegungsunfähig und Fuller wittert seine große Chance!“

    Allein diese Analyse Cays ließ die Massen schon wieder aufschreien. In erster Linie die Anhänger des Trainers aus Einall, die ihn voranpeitschten. Der Sieg war zum Greifen nahe. Er lag vor ihm auf dem Silbertablett. Er musste nur zugreifen!

    Terry agierte nicht sofort. Einmal kurz Luft holen erlaubte er sich noch und sogar einige weitere Worte mit Ryan zu wechseln.

    „Ihr habt gut gekämpft.“

    Der Blonde reagierte herauf nicht im Geringsten. Obwohl es durchaus angemessen wäre, das Lob zumindest im Stillen zu würdigen – immerhin hatte Terry bislang nur Spott für ihn übrige gehabt. Aber weder war er auf dieses angewiesen, noch akzeptierte er, dass man mit ihm wie mit dem Verlierer sprach. Obgleich jetzt vermutlich kaum noch jemand auf ihn wetten würde, da Despotar schwer keuchte und sich kaum auf den Beinen zu halten vermochte. Es bereitete gar Mühe, den Kopf oben und den Gegner weiter im Auge zu behalten.

    „Ihr alle drei“, konkretisierte Terry gar. Noch immer keine Antwort.

    „Aber jetzt ist Schluss“, stellte er sodann klar und hob eine Hand hoch in die Luft. Sein Partner grollte in freudiger Erwartung des nächsten Befehls. Er kannte seinen Trainer lange genug, um zu wissen, was nun folgte. Dies entlockte Ryan dann doch eine Reaktion. Ein Mundwinkel zuckte nach oben und er straffte seine Haltung. Die Felsechse vor ihm baute sich ebenfalls nochmals zu voller Größe auf und stieß einen protzigen Atem aus seinen Nüstern.

    „Gebt euer Bestes“, riet, nein, verlangte er bloß. Nichts anderes hatte Terry vor. Wer glaubte, er habe mit Drachenpuls sein stärkstes Geschütz aufgefahren, würde nun eines Besseren belehrt.

    „Maxax…“

    Der erhobene Arm wurde nach vorn geworfen.

    „Draco-Meteor!“

    Die orangefarbene Lichtkugel, die sich im Maul des Drachen sammelte, war nicht gerade die größte oder beeindruckendste. Dennoch war Ryan und Despotar gewahr, dass nun der härteste Schlag folgen würde. Und vor diesem Angriff konnten sie weder fliehen noch etwas entgegenwerfen. Es galt, ihn auszusitzen und irgendwie zu überstehen. Nein, nicht irgendwie. Mit im wahrsten Sinne felsenfester Entschlossenheit und unbeugsamer Zähigkeit. Einfach nicht in die Knie zwingen lassen. Einfach nicht fallen. Ja, es war doch so einfach. Und dann wieder so schier unüberwindbar schwer.

    Maxax schoss den Energieball kerzengerade empor. Er erreichte fast die Höher der obersten Sitzreihen und schien für eine Sekunde in der Luft stillzustehen. Ein gewisser Stadionsprecher schwitze vor Anspannung ganze Kaskaden und fiel beinahe die Brüstung herunter, so weit lehnte er sich nach vorn.

    „Oh oh, gleich knallt´s, Freunde. Alles festhalten.“

    Auf den Rängen wurde sich ebenso nach vorn gelehnt und keiner wagte einen Ton zu machen. Alles schwieg und stand still. Bis die Bombe platzte.

    Was dort oben in der Luft detonierte, mutete erst wie ein Feuerwerkskörper an. Aus einem Lichtpunkt wurden zirka zwei Dutzend. Nur war es kein Pulver oder Leuchtstaub, sondern nicht weniger als ein Meteoritenhagel, der sich fast über das gesamte Kampffeld ausbreitete. Eine deutliche Mehrzahl ging in Despotars Hälfte runter. Er knurrte, als könne er das glühende Gestein damit abschrecken und dazu bringen, anderswo einzuschlagen. Sie blieben jedoch gnadenlos, kompromisslos. Und sie würden Boten der Zerstörung sein. Jeder einzelne erzeugte einen orangefarbenen Lichtkegel, der tiefe Löcher in den Boden schlug und die oberste Schicht and Sand, Lehm und Festboden darunter wütend aus dem Weg sprengte. Ryan schlug von allem zentnerweise entgegen, ebenso wie ein Trommeln aus Donnerkeilen. Mit jedem davon grunzte und brüllte Despotar erzürnt, energisch, aber allen voran gepeinigt. Jeder einzelne Schlag fühlte sich an, wie eine Drachenpuls Attacke aus nächster Nähe von Maxax. Obgleich er nur wenige direkte Treffer hinnehmen musste, waren selbst die Explosionen in wenigen Metern Entfernung noch brutal und brannten auf seiner Haut. Die Einschläge zogen Rauchsäulen nach sich, die zwei Mal so hoch ragten, wie er selbst. Der Körper des Gesteinpokémons wart schon nach zwei, drei Einschlägen nicht mehr zu sehen.

    „Das ist doch blanker Wahnsinn, was die da unten anstellen“, meinte Cay nur noch und fasste sich an die Stirn. Diesen Grad an Zerstörung während eines einzigen Matches hatte der Summer Clash in seinem fast zwanzigjährigen Bestehen noch nicht gesehen.

    „Der Draco-Meteor war echt die Krönung. Kann Despotar das noch überstanden haben?“

    Die Art und Weise, wie Cay diese Frage in den Raum warf, zeigte eine deutliche Tendenz zu Nein. Vor dem Kampf hätte er quasi jedes Pokémon abgeschrieben, das von so einem Bombardement getroffen wurde, aber die da unten hatten ihn bereits mehrfach überrascht und verblüfft. Fast als wollten sie einfach nur Beweisen, dass er falsch alg. Immer und immer wieder. Irgendwann musste es jedoch enden.

    Der Rauch begann sich langsam zu lichten. Während Terrys Hälfte des Kampffeldes vom Erdbeben gezeichnet war, bestand Ryans nun aus diversen Kratern, manche kleiner, manche größer. Es ließ nicht sehr viel Interpretationsspielraum offen, was hier geschehen sein musste. Die Zuschauer tuschelten und murmelten, in einigen Menschengruppen machte sich raunen breit. Sie hielten die Anspannung nicht aus. Da! Da kam eine Silhouette zum Vorschein.

    „Despotar steht noch!“, jaulte der fassungslose Stadionsprecher und löste sowohl Jubel als auch Verzweiflung auf den Rängen aus. Zumindest in ihrer Fassungslosigkeit waren sich beide Lager einig. Wie in aller Welt konnte man nach diesem Meteorhagel noch stehen? Dieser Zinkgrüne Berg auf Beinen hatte sich nicht vom Fleck bewegt. Er stand tiefer, da der Boden unter den Meteoren nachgegeben hatte und der gesamte Körper war von Schrammen und Brandwunden übersäht. Das Hinsehen allein tat schon weh. Despotar selbst zuckte jedoch nicht einmal. Er stand stramm und eisern, selbst die Atmung – ruhig und gleichmäßig. Man wollte glatt meinen, er wirke entspannter als zu Beginn. Sein Blick ginge hinauf zum Himmel. Da oben war sie. Von dort sah sie ihm zu. Wie gern würde er ihr nun direkt in die Augen sehen. Hier, Ruby. Hier und jetzt wirst du Zeugin dessen, was wir zu leisten vermögen. Sein Körper war fast vollständig taub. Er beschrie zu jeder Sekunde, dass es genug war und wollte so unbedingt zusammenbrechen. Doch er gehorchte dem Befehl Despotars, der ihn zum Weitermachen zwang. Und die Flammen des Lavados sollten erlöschen, wenn dieser felsenfeste Wille nicht für alles ausreichen sollte, was die nahe Zukunft bereithielt. Eher fiel der Silberberg in sich zusammen, anstatt dass er sich noch einmal geschlagen gab. Egal wo, egal wann, egal wem. Das Maß an Hingabe, das Despotar in das Kämpfen steckte, würde selbst Rayquazas Liebe zu ihr und all ihren Blutsverwandten in den Schatten stellen. Das Brutalanda gab sich keine Blöße, zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt. Aber auch nicht spöttisch oder geringschätzig, was bei ihr sicher schon als Kompliment durchging. Natürlich verfügte sie über eine größere Zerstörungskraft als dieses Maxax. Aber es war durchaus bemerkenswert, was, dort unten gekämpft wurde. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

    Terrys Kiefer spannte sich an. Er war sicher gewesen, das Match in der Tasche zu haben und das entrüstete Schnaufen seines Drachenpokémons verriet ähnliche Gedanken. Sei es drum. Despotar war am Ende. Es bewegte sich gar nicht mehr. Sein Verstand war der Ohnmacht vermutlich so nahe, dass es nicht einmal mehr begriff, wo es war oder was gerade passierte. Dieser abwesende, fast träumerische Blick hinauf zum Himmel…

    „Geben wir ihnen den Rest“, entschied er trocken. Maxax fragte sich lediglich, worauf sie hier noch warteten. Er wollte es beenden. Das hier ging zu lange. Am Ende kam noch jemand auf die Idee, seinen Rang als stärkstes Pokémon auf diesem Kontinent anzufechten.

    „Drachenstoß!“

    Der Befehl klang diesmal deutlich nüchterner. Der Sieg war bereits nichts weiter als Formsache. Die Würfel waren gefallen. Maxax hüllte sich in ein himmelblaues Licht, das ihm Flügel verlieh. Eine leuchtende Gestalt imitierte sein Kampfgebrüll und katapultierte ihn nach vorn. Das bröckelige Gestein gab unter seinen Füßen nach und brach in sich zusammen, kaum dass er abgehoben war. Despotar war völlig abwesend. Womöglich bereits außer Gefecht. Diesem zähen Brocken auf zwei Beinen würde man es durchaus zutrauen, die Ohnmacht stehend zu überdauern. Doch er verdiente nicht, ihn Ehren unterzugehen. Maxax wollte ihn zu seinen Füßen im Staub liegend sehen, während er zum Sieger ausgerufen wurde.

    Ryans Augen wurde schmaler. Despotar konnte sich nicht mehr bewegen. Jeder Schritt könnte nun den berüchtigten Tropfen darstellen, der das Fass zum Überlaufen brachte und sie ihn somit zum Verlierer abstempelte. Sie konnten einfach nur standhaft bleiben.

    „Nochmal Fluch.“

    Eine sanfte Druckwelle ging von dem Gesteinpokémon aus, die das letzte Bisschen an Sand in seiner unmittelbaren Nähe fortwehte. Ein grau-violetter Schleier schien seinen Unterleib hinaufzuklettern, verschwamm aber in der Körpermitte, sodass ab hier nur Luftschlieren übrig blieben. Dieses dunkle Farbenspiel wurde dann völlig von leuchtendem Blau überlagert. Maxax ging mit dem Schädel voran, schien seine Beilkiefer in Despotars Brust versenken und den Panzer aufbrechen zu wollen. Das Licht seiner Drachenstoß-Attacke erhellte den gesamten Innenraum des Stadions. Eine zweite Druckwelle folgte auf die erste und übertraf deren Kraft um ein Zehnfaches, mindestens. Der Wind schlug den Zuschauern in den vorderen Reihen entgegen, sodass deren Anfeuerungsrufe vorübergehend verstummten. Die beiden Kämpfenden wurden schlagartig von Rauschwaden umhüllt, die der Einschlag, diese Kollision zweier Energien verursacht hatte. Das Gebrüll von Maxax war verklungen. Der Gegner machte ohnehin keine Laute mehr. Für die Dauer von Cays nächster Tirade über die unglaubliche Kraft und unnatürliche Zähigkeit blieb die Sicht auf das Geschehen mal wieder verhüllt.

    Langsam lichtete sich der Qualm. Zwei große Silhouetten schienen eng ineinander verkeilt, hatten sich aber mehrere Meter bewegt. Obwohl sie nur noch auf festem Stein und Lehm gingen anstatt auf Sand, zeichnete eine deutliche Spur den Pfad ab, den Despotar von Maxax entlanggestoßen worden war. Unmöglich auszumachen, was genau geschehen war, doch allein die aufrechte Gestalt beider Pokémon veranlasste die Menge zu fassungslosen und zumindest auf der einen Seite erleichterten Aufschreien. Cay schien trotz der Entfernung einer der ersten zu sein, die genaueres erkennen konnten.

    „Das war es noch immer nicht! Despotar hat sich mit Knirscher in Maxax Oberarm verbissen!“

    „Was?!“

    Terry konnte nicht glauben, was er da sah. Vorhin noch war die Felsechse mehrere Meter durch die Luft befördert worden. Wie und wieso hielt Despotar jetzt, nach dem Bombardement mit Draco-Meteor diesem Angriff noch stand? Das ergab keinen Sinn. Lag es an der wiederholt verstärkten Abwehr durch Fluch? War das angesichts von Maxax´ Attacken wirklich noch plausibel?

    Die beiden Pokémon blickten Auge in Auge. Genau wie zuvor Hundemon hatte Despotar eine ungeschützte Stelle erwischt, von der nun Blut herabtropfte. Sie grollten, fauchten, jeder Muskel in ihren Körper war zum Zerreißen gespannt. Der Drache vermochte nicht, sich loszureißen!

    Ryan ballte eine Faust und setzte einen Fuß vor.

    „Vorwärts, Eisenschädel!“, brüllte er wild und ungezügelt und reckte die Faust so stark nach vorn, dass er sich fast dem Arm auskugelte. Despotar verstärkte den Biss nochmals. Seine Kiefer schmerzten und sicher verlor er bei diesem Knirscher ein paar Zähne. Doch die würden nachwachsen. Ihr Verlust war vergänglich. Dieser Sieg, den er so unbedingt wollte, würde ewig Bestand haben. Und Maxax wog noch immer weniger als Ruby.

    Eben dieses wurde nun niedergedrückt und sank mit einem Knie auf den Boden. Seine Klagerufe waren nicht länger zu unterdrücken. Der Biss dieses Monstrums quälte ihn. Mit einem kräftigen Ruck befürchtete er gar den Arm zu verlieren. Seine Standhaftigkeit war dahin. Er verlor das Gleichgewicht, war nun Despotars erschütternder Kraft ausgeliefert. Der holte mit dem gesamten Körper Schwung und schleuderte Maxax schließlich einfach fort. Zwei Beine von der Stämmigkeit eines Mammutbaums hasteten ihm direkt nach, und rammten den Drachen mit der Kraft eines Güterzuges in den Unterbauch. Wie von einem solchen erfasst wurde er einige Meter mitgerissen, ehe Despotar das Haupt hinaufwuchtete und den Drachen damit über das halbe Feld schleuderte.

    „Woaahh, Despotar rennt Maxax einfach über´n Haufen. Was stellen die noch alles an?“, fragte sich der Stadionsprecher. Er war mittlerweile kurz davor, sich alle Haare zu raufen. Nicht wenige auf den Tribünen empfanden ähnlich. Der schwarze und olivgrüne Körper flog einem Moment fast waagerecht, bevor die Schwerkraft an ihm zu zerren begann und er infolgedessen wild über den Boden polterte. Maxax wurde in den Bereich zurückgeworfen, den das Erdbeben völlig verwüstet hatte und wo er mit heraustretenden Spitzen und Kanten im Gestein kollidierte und diese seinen Körper malträtierten. Die meisten davon wurden ohne viel Federlesen zertrümmert, sodass der Sichtkontakt zu Maxax kurzzeitig verloren ging und man nur noch ein undefinierbares Geschoss, verhüllt in einem Schleier aus braunem Staub, durch das Geröll wüten sah. Es kam erst zu Stillstand, als sich eine Steinplatte von der Größe eines Bollterus in dessen Weg stellte, die schräg aus dem Boden ragte und welche Maxax direkt im Kreuz traf. Der Oberkörper dehnte sich so weit zurück, dass man annehmen konnte, sein Rückgrat wäre gebrochen. In dieser unnatürlichen und schmerzhaften Position hing das Drachenpokémon einige Sekunden fest und vermochte sich, allen motivierenden Rufen seines Trainers zum Trotz, kaum zu bewegen. Die Krallen suchten vergeblich nach irgendeinem Halt, als sei er orientierungslos. Beim Anheben des Kopfes – nur ein paar Zentimeter, mehr schaffte er nicht – protestierten geschundene und versehrte Halswirbel und Muskelstränge. Die plötzliche Entfernung zu Despotar wollte er kaum wahrhaben. So weit war er geschleudert worden? Der Gegner schien nun, da es vor seinen Augen langsam düsterer wurde und alles vor ihnen zu verschwimmen begann, nur noch ein zinkgrüner Stein in der Ferne. Sein kurzes, dafür jedoch bis ins Knochenmark spürbares Gebrüll vernahm er jedoch sehr wohl. Umgeben von zwei weiß leuchtenden Lichtringen wuchtete er seinen Körper herum. Die waren aber rasch wieder fort.

    Er sah die Steinkante nur schleierhaft auf sich zukommen. Dutzende Geschosse zielten nach ihm und prügelten ihn gnadenlos weiter, tiefer in das herausgebrochene Gestein. Ein paar Querschläger trafen den ein oder anderen Felsen auf dem Weg oder verfehlten Maxax und zerschmetterten an eben jener Steinplatte, an der er noch lehnte. Die mangelhafte Präzision war ein deutliches Zeichen für Despotars Erschöpfung, aber der brüllte und feuerte einfach weiter. Schon war Maxax wieder in einer Wolke aus Staub und Schutt verschwunden, doch die Felsbrocken hagelten weiter unaufhaltsam auf ihn ein.

    „Despotar schlägt abermals mit aller Härte zurück! Maxax sitzt fest und ist total wehrlos!“

    Terry sowie alle seine Fans wollten fassungslos in die Knie gehen. Wollten ihren Augen nicht glauben. Was im Namen von Arceus war denn nötig, damit dieses Despotar endlich liegen blieb? So stark war es bei der Silberkonferenz bei weitem nicht gewesen. Terry rief nach seinem Partner. Er musste jetzt so laut und deutlich für ihn da sein, wie er nur konnte. Allein die Stimme seines Trainers zu hören konnte im Kampf gegen die Ohnmacht den entscheidenden Unterschied bewirken. Und er spürte ganz plötzlich, dass er nach jedem Strohhalm greifen musste. Das war so ungewohnt für ihn geworden. Seit Teak City hatte er keinen Kampf mehr verloren, was nun ein ganzes Jahr zurücklag. Und ironischerweise hatte er diese Niederlage gegen Ryan kassiert. Eben der Ryan, der ihm in dieser Sekunde gegenüberstand und doch wie ein ganz anderer Mensch wirkte. Natürlich hatte Terry den ein oder anderen Schlag hinnehmen müssen, aber zu keiner Zeit hatte er seinen Sieg in Gefahr gesehen. Und auf einmal stand er hier mit dem Rücken zur Wand – im wahrsten Sinne, wenn man es auf Maxax übertrug – und wusste nicht weiter. Was sollte er gegen diese Zerstörungskraft denn auch groß unternehmen?

    Der Trainer aus Einall schüttelte hektisch mit dem Kopf und versuchte, diese überflüssigen Gedanken loszuwerden. Wer war er denn, dass er sich während eines laufenden Matches in alten Erinnerungen oder Fragen, auf die sich ohnehin keine Antwort finden ließ, verlor? Nur Anfängern entglitt mitten im Kampfrausch ihr Fokus und ließen sich von Belanglosigkeiten ablenken.

    Für den Augenblick musste er zittern und bangen und darauf vertrauen, dass Maxax den Angriff überstand. Sobald sich der Staub gelichtet hatte, musste er schnell und clever handeln. Urplötzlich war es leise geworden. Die Steinkante hatte geendet. Despotars Oberkörper neigte sich erschöpft nach vorn, während die Felsechse tief keuchte. Beinahe fragte man sich, wie er denn bei dieser Haltung das Gleichgewicht wahren konnte, aber mittlerweile hatte auch der größte Zweifler eingesehen, dass dieses Pokémon die Grenzen seines Körpers längst verschoben und nahezu Unmögliches geleistet hatte. Nicht wenige Menschen stuften Terry Fullers Maxax als fast unbesiegbar ein. Hier und jetzt jedoch sägte Despotar in seinem Thron.

    Ryan dahinter zwang sich unter allergrößter Mühe zu einer regelmäßigen Atmung und schärfte seine Sinne. Er achtete auf jedes verräterische Geräusch, dass Maxax von sich geben und somit seinen Zustand verraten konnte, noch bevor die Sicht wieder frei würde. Das war ob seines donnernden Herzschlags jedoch äußerst schwierig. Selbst den Lärm von den Rängen hatte es unlängst übertönt. Nun, da die Massen schwiegen und ebenso angespannt warteten, war Ryan gar der felsenfesten Überzeugung, dass jeder im Stadion seinen Herzschlag vernehmen konnte.


    Zwei krallenbestückte Füße stampften auf den Boden. Ein dunkles Grollen, wie das eines fernen Donners, der ein aufziehendes Gewitter ankündigte, legte sich über das Kampffeld und entlockte dem Publikum ein angespanntes Raunen. Despotar atmete geräuschvoll aus und richtete sich wieder zu voller Größe auf. Ein Pärchen Rot glühender Augen durchstach die Staubwolke, gefolgt von der Silhouette einer aufrechten Echsengestalt. Es wagte jedoch keiner, die Stimme zu erheben, bevor Maxax nicht endgültig daraus hervortrat. Selbst Cay schwieg. Einzig und allein Despotar begrüßte den Drachen mit seinem bebenden Gebrüll. Maxax holte tief Luft für eine lautstarke Antwort. Mit Feuer in seiner Iris, das die Pupillen verschlungen hatten, reckte sich sein Kopf gen Himmel und schien ihn in seiner unendlichen Weite erschüttern zu wollen. Die Kampfschreie beider Pokémon vermochten die gesammelten Stimmen von zehntausenden Menschen zu übertönen. Die Stimme am Mikrofon eingeschlossen. Viele schützten ihre Ohren oder pressten bei dem Lärm malmend die Kiefer zusammen oder kniffen ein Auge zu. Nur die beiden Trainer ließen alles an sich abprallen. Ryan streckte mit einem flotten Ruck die Arme ein Stück vom Rumpf und fing eine Windböe auf, die seine offene Weste und sein Shirt flattern ließ. Terry ballte beide Fäuste bei dem Anblick und schnaufte, wie ein Boxer, der einen unerwartet harten Schlag hatte einstecken müssen. Geschüttelt, aber nicht gebrochen und absolut gewillt, den Schmerz zurückzuzahlen. Er holte ebenso tief Luft, wie Maxax es gerade getan hatte.

    In jenem Moment versagte das Gebrüll seines Drachenpartners und wurde zu einem kratzigen Röcheln. Die Arme sanken, bis sie nur noch lasch herabhingen und der Körper fiel auf die Knie. Terry atmete erschrocken aus. Auf der anderen Seite blinzelten Ryan und Despotar einmal und verboten sich jeglichen Laut sowie jedwede Bewegung. Das gesamte Prime Stadium hielt den Atem an. Melody lehnte sich abermals gefährlich weit über die Mauer und wagte kaum, ihren Augen zu trauen.

    Ein letztes Jauchzen. Dann fiel Maxax geradewegs vornüber und landete auf dem Kinn, zertrümmerte dabei glatt einige angebrochene Felsen unter sich und sackte in eine aufgewühlte Mulde ab.

    „Maxax ist am Boden!“

    Cay schien es nicht fassen zu können. Ein Teil von ihm hatte sich fast damit abgefunden, dass die beiden dort bis Einbruch der Nacht weiterkämpfen würden. War es das? War es vorbei? Die Frage stellte man sich überall auf und neben dem Feld. Beantworten konnte sie nur einer. Der Schiedsrichter musste seine Position gar verlassen, um Sichtkontakt zu Maxax herzustellen und ein unumstößliches Urteil fällen zu können. Terry war verstummt. In eine Schockstarre geraten, die nur ein leises Zittern seiner Hände erlaubte. Das konnte nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein!

    Eine Fahne wurde erhoben und Richtung Westkurve des Prime Stadiums geschwenkt.

    „Maxax ist nicht fähig, den Kampf fortzusetzen. Das Match geht an Ryan Carparso!”

    Eine Hälfte der Zuschauer sprang mit hochgerissenen Armen und frenetischen Freudenschreien auf. Die andere ließ sich resignierend in ihre Sitze fallen. Griff sich fassungslos an die Stirn oder fuhr sich niedergeschlagen mit den Händen durchs Gesicht. Melody würde glatt auf der Mauer zu tanzen beginnen, doch da Audrey sie vorsichtshalber am Oberarm packte und auf den Rängen hielt, wurde sie kurzerhand in eine glückselige Umarmung gezogen und man jubelte gemeinsam zum Himmel hinauf.

    „Es ist vorbei! Carparso schlägt Fuller in einem absolut unglaublichen Match und zieht ins Finale ein!“, mühte sich der losgelöste Stadionsprecher, für alle deutlich und verständlich zu bleiben, was im Angesicht der schieren Ekstase, die glücklicherweise nur bei der Hälfte des Publikums eingesetzt hatte, schwer genug war.

    „Was war das nur für ein irres Match? Verdammt nochmal, ich zitter‘ hier am ganzen Körper. Carparso und Fuller haben echt alle Erwartungen in den Boden gestampft, oder was meint ihr?“

    Der Zuspruch war eindeutig und selbst die ernüchterte Hälfte der Zuschauer meldete sich, um das zu bejahen. Diverse Fans verließen ihre Plätze und drängten sich ganz nach vorne an die Mauern, damit ihre Begeisterung Carparso so laut und deutlich wie möglich erreichte. Der warf rudernd beide Arme in die Luft – so stark, dass er glatt etwas vom Boden abgehoben war – und rannte sodann nur noch geradeaus zu seinem Partner. Despotar vermochte noch nicht, den Triumph auszukosten. Er ließ die Anspannung von sich fallen und mit ihr war die Kraft der Entschlossenheit, dank der er so lange durchgehalten hatte, dahin. Er fiel auf die Knie und stützte sich mit beiden Armen, die unter der Last allerdings gefährlich zitterten. Seine Wunden, seine Lungen, jeder Muskel protestierte und sämtliche Glieder schmerzten so sehr, dass er fast ohnmächtig wurde. Der schwere Atem bereitete ihm so fürchterlichen Schwindel, dass er würgte und ächzte. Als strebe alles in seinem Körper danach zu fliehen, das sinkende Schiff zu verlassen. Hastige Schritte drangen an sein Ohr, wie ein ferner Schall in einer Kluft, waren aber binnen weniger Herzschläge schon bei ihm angekommen und trugen eine vertraute Stimme heran.

    „Despotar!“

    Diese Stimme klang überglücklich, sorgsam und unsagbar stolz. Ryan schlitterte so rasch durch den Sand, dass er beinahe gestürzt wäre und griff den massigen Schädel fest mit beiden Armen. Despotar spürte, wie sich die Stirn seines Trainers an seine drückte und dieser den Augenkontakt suchte. So glaubte das siegreiche Pokémon zumindest. Vor ihm war alles ein noch verschwommen. Er blinzelte einige Male, ehe der Schwindel nachließ, doch die Worte, die Ryan sprach, drangen selbst durch diesen Hindurch. Sie waren energisch und verbissen, als versuche er, sie ihm regelrecht einzuprügeln.

    „Du hast es geschafft, mein großer! Du hast es allen gezeigt! Uns allen, hörst du!“

    Ihnen Allen?... Ja und weiter? All diese Menschen um sie herum konnten ihm doch vollkommen egal sein. Er hatte nie für das Ansehen der breiten Masse gekämpft. Lediglich für das seines Trainers und derer, die er als würdig einstufte, zu seinen persönlichen Rivalen zu zählen. Und da dämmerte es Despotar, dass Ryan eben all jene meinte, auf die das zutraf. Maxax, der ihn einst geschlagen hatte und nun ohnmächtig in einer Felsspalte lag sowie dessen Trainer, der den regungslosen Körper noch immer anstarrte, als könne er nicht begreifen, was gerade geschehen war. Ruby, dort oben am Himmel, die ihn ebenfalls besiegt und zur Feststellung seiner Stärke zugesehen hatte. Und nicht zuletzt ihn, Ryan, sowie seine Freunde, die aus der Ferne zusahen. Ja… so behielt sein Trainer doch Recht. Für einen einzigen Kampf waren das sehr viele, deren Anerkennung ihm etwas bedeutete. Zweifellos war sein Ansehen bei jedem von ihnen gestiegen. Und am allerwichtigsten – sein eigener Stolz war nun ein wenig mehr verheilt. Despotar war kein selbstgefälliges Pokémon, aber in diesem Moment durfte er sich wohl ein gewisses Maß an Zufriedenheit erlauben.

    Unter müdem Keuchen rang er sich zu einem Lächeln durch und nickte Ryan zu. Der half Despotar so gut er konnte. Selbstverständlich würde er nicht einmal sein halbes Gewicht stemmen können, doch er konnte es diesem tapferen Kämpfer immerhin ein kleinwenig leichter machen. Der junge Trainer nämlich, befand – so wenig Despotar der Beifall um ihn herum auch tangierte –, dass er sich dem Publikum wenigstens noch ein einziges Mal erhaben und aufrecht präsentieren sollte. Und wenn schon nicht für sie, dann für Ruby.

    „Leute, Leute, ich weiß ich verlang das oft, aber bitte, bi-tte gebt allen da unten nochmal einen kräftigen Applaus, damit keiner sagen kann, hier in Hoenn wäre das Publikum nicht voll dabei!“

    Despotar reckte sein Haupt gen Himmel. Von allen Seiten und für dieses letzte Mal einstimmig prasselte der Beifall auf ihn ein. Ob es Ryans Anhänger waren oder Terrys, spielte nun keine Rolle mehr. Sie beide hatten famos gekämpft. Der Blonde applaudierte seinem treuen Partner selbst, drehte sich nacheinander zu allen Seiten, zu allen Tribünen und pushte die Massen zu mehr Lärm, mehr Begeisterung. Sobald er mit den Reaktionen und der Lautstärke zufrieden war, deutete er vehement Richtung Despotar und reckte auch selbst noch eine triumphierende Faust. Die Felsechse selbst registrierte das kaum. Obwohl er gestehen musste, dass sich dies hier, so egal ihm diese Leute eigentlich auch waren, nicht schlecht anfühlte. Allerdings ging sein Blick stur in die Höhe. Der Punkt da oben, den nur die schärfsten Augen als ein mächtiges Brutalanda zu erkennen vermochten, kreiste in diesem Augenblick völlig offen über dem Stadion, ohne sich in den Wolken zu verbergen. Alle Aufmerksamkeit galt den Akteuren auf dem Feld. Despotar sah Ruby aus scharfen Augen an, grinste allerdings bloß triumphal, anstatt sie herausfordernd anzuknurren. Sie hielt dem Blick stand. Recht gelassen sogar. Dennoch war sie… beeindruckt? Ja, doch. Wenigstens ein bisschen. Dieses Maxax wusste ansatzweise, wie man kämpfte, so ihre Einschätzung nach der Schlacht. Dass dieser wandelnde Berg einen der stärkeren von ihren zahlreichen Blutsbrüdern hatte schlagen können, war des frenetischen Jubels, der dort unten herrschte, zwar noch immer unwürdig, aber es genügte, um ihren Respekt zu verdienen. Ein wenig davon zumindest.

    Kapitel 57: Zwischen Strategie und Leidenschaft


    Selten wart einmal so viel geballte Schlagkraft auf einmal zum Kampf gerufen. Vier Lichtblitze und vier Gestalten, die kaum unterschiedlicher hätten sein können. Dort sah man eine schwarze, fast echsenartige Gestalt auf zwei Beinen, die von olivfarbenen Panzerungen geschützt wurde. Der längliche Körper ragte annähernd zwei Meter in die Höhe und wurde von einem muskulösen Schweif ausbalanciert. Die scharfen Klauen glänzten rot, als seien sie noch von Blut überzogen, genau wie die absurden, mörderischen Klingen, die sich vom Kiefer bis zu den Schläfen zogen. Natürlich wählte Terry sein übermächtiges Drachenpokémon – da spielte es keine Rolle für wie überlegen er sich hielt. Mit Maxax griff er seinen Rivalen nicht nur auf dem Feld an, sondern auch mental. Mit ihm war er ständig in seinem Kopf und rief Erinnerungen an das Finale der Silberkonferenz. Ryans scharfer Blick und das Anspannen seines Kiefers rührten allerdings nicht daher, sondern auf dem letzten Treffen mit diesem Pokémon. Da hatte es nämlich noch versucht, ihn umzubringen.

    Die blutroten Augen verrieten, so wagte Ryan mit überraschend großer Sicherheit zu erkennen, dass des Drachens Abscheu und eventuell sogar die Intention eines weiteren Versuchs nicht verflogen waren, jedoch nicht hier und jetzt erfolgen würde. Vor all diesen Leuten wollte Maxax kein Gemetzel veranstalten. Auch seinem Trainer zuliebe. Er würde dafür seine unmittelbaren Gegner den Preis für die Torheit ihres Trainers bezahlen lassen.

    Nebst diesem schickte er eine gelbe Tarantel in den Kampf, die man Voltula nannte. Die riesigen Spinnenkiefer und glänzenden Facettenaugen mussten regelrecht eine Gänsehaut bei einigen Zuschauern hervorrufen. Käferpokémon genossen nicht unbedingt die größte Beliebtheit.

    Vor Ryan stand ein Koloss. Ein Berg auf Füßen und noch eine Elle größer als Maxax. Zinkgrün, mit dornigem Panzer und wuchtigem Körper samt schwerem Schweif. Daneben ein schwarzer Schattenhund mit knöchernem Muster auf dem Rücken, an den Fußgelenken und nicht zu vergessen der markante Totenschädel auf der Brust. Der spitze Teufelsschweif peitschte eifrig und zeugte von Tatendrang. Er sah nur nach vorn und wollte gleich wild werden. Die Lefzen wurden hochgezogen und entblößten eine Reihe fletschender Zähne. Beim letzten Mal hatten sie beide gegen Terrys Pokémon verloren, was an sich schon eine Schande war, aber gegen diesen Menschen hasste Hundemon es ganz besonders. Despotar kannte die lange Vorgeschichte der zwei Trainer nur vom Hören, hatte Ryan ihn doch als kleines Larvitar erst auf dem Silberberg gefangen. Denn nirgends sonst lebte diese Gattung. Somit war er Terry nur ein einziges Mal gegenübergestanden, aber bedingt durch die Schmach, welche mit diesem Maxax verbunden war, noch sehr gut in Erinnerung.

    „Wohoha, was für eine Aufstellung. Carparso greift zum ersten Mal auf routiniertere Pokémon zurück. Das Hundemon dort ist eins seiner bekanntesten und dieses Despotar – für alle die´s verpasst haben – hat die Silberkonferenz komplett aufgemischt.“

    Und wie er das hatte. Es kam noch heute, wenn man analytisch darauf zurückblickte, einem Durchmarsch gleich. Keiner hatte sich mit ihm messen, niemand seiner zerstörerischen Kraft trotzen können. Das Stadion selbst, so hatte man befürchten müssen, würde nach dem Turnier in Trümmern liegen. Er und Impergator hatten schlichtweg unaufhaltsam gewirkt. Und dennoch hatte die Felsechse ihren Meister gefunden. Hatte sich geschlagen geben müssen. Und zwar niemand geringerem als diesem, als Terrys Maxax.

    Selbstverständlich musste Cay dies noch hervorheben, obwohl es sicher niemanden hier gab, dem er damit etwas Neues erzählte. Dann hob endlich der Schiedsrichter seine zwei Fahnen und wechselte seinen Blick einmal mit den Trainern. Der Mann war deutlich älter als der Durchschnitt, der die Qualifikation sowie die ersten K.O.- Runden geleitet hatte. Für die wichtigsten Kämpfe hatte man wohl auf den erfahrensten Unparteiischen setzen wollen. Stimmgewaltig war er allemal, da man im auf dem Feld trotz all des Lärms um sie herum noch laut und deutlich hörte.

    „Der Kampf lautet Maxax und Voltula gegen Hundemon und Despotar“, rief er fest und strikt. Ryan suchte noch einmal den Augenkontakt zu seinen Schützlingen und achtete darauf, dass Terry den Wink nicht bemerkte.

    „Also, wie besprochen“, bläute er ihnen noch einmal ein. Sie unterließen ein Nicken aus Angst, enttarnt zu werden, aber Ryan erkannte, dass sie verstanden hatten. Tatsächlich war es Terry nicht gänzlich entgangen, dass er was vorhatte. Irgendetwas musste er haben. Von irgendwoher würde seine Zuversicht garantiert nicht angeflogen kommen.

    Und wenn schon. Er wusste genau, wie Ryan kämpfte, wie er dachte und das Match stets zu lenken versuchte. Er wollte die erste Druckphase überstehen und die Lücken in seinem Angriffsmuster finden. Und war diese Masche erst einmal aufgedeckt, hatte es sich mit dessen Strategie erledigt. Terry war kein blutiger Anfänger, wie Ryan sie hier zuvor besiegt hatte.

    Schritte drangen an Andrews Ohr. Ein gleichmäßiger Takt näherte sich ihm und ließ sehr bald eine Frau als Ursprung vermuten. Bella schielte nur ganz kurz zu ihr herüber, ahnte aber sofort, dass ihr die Genugtuung eines Augenkontakts verwehrt bleiben würde. Ihre Richtung war sicher die letzte, in welche die ausgeschiedene Trainerin blicken wollte. Auch Andrew neigte nur sehr dezent den Kopf, als Sandra sich neben ihm aufbaute und die Hände in die Hüften stemmte. Von der vorherigen Enttäuschung war nichts mehr zu sehen. Sie sah einfach bloß konzentriert auf den Bildschirm, kratzte eventuell noch alle Informationen zusammen, die sie über beide, besonders aber Terry, zusammenklauben konnte. Viel war es nicht, das sie über den amtierenden Champ wusste. Das meiste hatte sie noch während des Turniers beobachtet.

    „Du hast dich ein Mal mit ihm unterhalten, richtig?“, fragte sie geradeaus. Andrew beantwortete das nicht, doch genügte es bereits, dass sein Blick kurz gen Boden sank, als gestehe er einen Fehler ein. Dabei war seine Konversation mit Bella ein viel größerer gewesen.

    „Was denkst du, wer hat die besseren Karten?“

    Er könnte so vieles darauf antworten. Aber weder war ihm nach Reden – das trat selten genug bei ihm auf – noch war seine Meinung über den Trainer aus Einall gefestigt oder frei von Zweifeln. Daher antwortete er einfach dasselbe, wie Stunden zuvor, als sie über Ryans Geheimnis spekuliert hatten, das sich in Form von Sumpex geklärt hatte.

    „Schätze wir warten. Gleich sind wir schlauer.“

    Andrew sagte es deutlich leiser und platter, fast als könne er eine ungute Vorahnung nicht zurückdrängen. Sandra schenkte ihm noch einen Seitenblick. So angespannt hatte sie ihn nur in den Wäldern vor der Stadt erlebt. Und da war es um mehr gegangen als in diesem Match. Sie widerstand jedoch dem Impuls, das hervorzuheben und besah sich des Schiedsrichters, der gerade von den Kameras fokussiert wurde. Sein Kopf schwenkte einmal nach links und nach rechts. Die Trainer waren soweit. Die Fans und Cay waren es längst.

    Endlich wurden die Fahnen herab geschwenkt.

    „Beginnt!“

    „Los Hundemon!“

    Das Echo des Schiedsrichters war noch nicht einmal verklungen, da setzte der Schattenhund zum Vollsprint an. Der Trainer aus Einall schluckte verdutzt und blinzelte, als sehe er nicht richtig. Ryan ergriff die Initiative? Aber was hatte er vor? Wahrscheinlich Voltula ins Visier nehmen.

    „Maxax, Drachenklaue!“

    Das Drachenpokémon trat vor seinen Teampartner und ließ die gebogenen Krallen blau aufleuchten. So flink war Hundemon dann doch nicht, dass er so einfach an ihm vorbeikäme. Der Gegner setzte gerade zum Sprung an, als Ryan Finte befahl, während er Despotar einfach bloß zunickte. Keiner auf der Gegenseite hatte ihn im Blick. Auch nicht, als zwei sich überkreuzende Lichtringe seinen gewaltigen Körper umspielten, aus denen sich spitze Gesteinsbrocken lösten.

    Maxax war bereit, das Hundemon aufzuschlitzen. Der lechzte danach, ihm etwas abzubeißen. Doch war der Schattenhund urplötzlich verschwunden. Binnen eines Wimpernschlages einfach in Luft aufgelöst. Die Klaue sauste ins Leere. Stattdessen sah er sich urplötzlich einem Hagelsturm aus Gestein gegenüber. Gnadenlos und so stark, dass der Aufprall einen jeden davon zertrümmerte und nur Kiesel zurückließ. Die ersten paar trafen böse den Rumpf und den Schädel, doch Maxax fing den Rest der Steinkante energisch mit den Armen ab oder ließ sie an seiner Panzerung abprallen, bewahrte zudem seinen Kameraden vor weit verheerenderem Schaden. Aber Voltula kam trotz des aufopferungsvollen Einsatzes nicht besser davon. Hundemon erschien nun wieder aus seiner Finte. Direkt in der eigenen Flanke und in sicherer Distanz zu den Felsgeschossen.

    „Flammenwurf-Attacke!“

    Jetzt schützte hier niemand mehr die verwundbare Tarantel vor den lodernden Flammen, die bereits aus der Kehle züngelten als besäßen sie einen eigenen Willen und wollten eilig ausbrechen. Kaum hatte das Team aus Einall den Kopf nach Hundemon gedreht, fegte die Feuerbrust in die offene Seite beider Pokémon. Diesmal trug jedoch Voltula eindeutig den größeren Schaden davon. Sie wurde auf den Rücken geworfen, alle Beine zappelten panisch und sie wälzte sich im Dreck, versuchte die Flammen zu ersticken. Maxax war relativ feuerfest, aber der unerwartete Treffer erwischte auch ihn auf dem falschen Fuß, sodass er mit einem Knie auf den Boden sank und sich in kauernder Position die Attacke ausharrte.

    Cay war nicht minder überrascht ob dieses Auftakts als der Rest innerhalb des Prime Stadiums, beobachtete aber geistesgegenwärtig haargenau.

    „Boah! Carparso tritt das Gaspedal sofort durch und legt eine klasse Kombo hin!“,

    Das Publikum war ebenfalls augenblicklich zur Stelle. Jene, die Ryan die Daumen drückten, sprangen auf und ab, ballten Fäuste und applaudierten den gelungenen Erstschlag. Melody war bei all diesen Dingen Vorreiterin.

    Hundemon hätte am liebsten sofort nachgesetzt und alles vor seiner Nase verbrannt. Aber er blieb trotz seiner Kampfeswut bedacht und zügelte sich, hielt sich an den Plan. Mittels eines lauten Pfiffes beorderte Ryan ihn wieder zu sich und befahl Despotar in der Zwischenzeit Steinpolitur. Der legte daraufhin den Kopf weit in den Nacken und schloss die Augen. Der sonst raue und matte Panzer glänzte auf einmal auf wie poliertes Metall, sodass man die Sonne darin spiegeln zu sehen meinte. Der Anblick wirkte fast meditativ, als würde die Felsechse in sich kehren und seine Kraft mit Bedacht und Konzentration sammeln. Das entspräche nicht gerade der Natur dieser Gattung. Wut und Zerstörungskraft nannte er für gewöhnlich seine Waffen. Es war jedoch allgemein bekannt, dass diese gleichzeitig auch die größte Schwäche darstellten. Ryan kämpfte gerne überlegter und kontrollierter.

    „Hat damit irgendeiner gerechnet? Scheinbar hat Carparso seine gewohnte Strategie über Bord geworfen und Fuller mit einem temporeichen Start überrascht. Allerdings hat sich Hundmeon gleich wieder zurückgezogen. Jetzt warten wir auf die Antwort der Gegenseite“, kommentierte Cay, der nach diesem aufreibenden Tag langsam aber sicher etwas heiser wurde. Er schien sich etwas zu wundern, warum Ryan nicht sofort nachsetzte, aber er kannte Terry nun mal nicht so gut. Man durfte gegen ihn nicht zu gierig werden. Nicht zu lange auf Angriff preschen. Das Überraschungsmoment war geglückt und verstrichen. Indem er durch Steinpolitur Despotars Tempo erhöhte, übte er nun zusätzlichen, mentalen Druck auf Terry aus. Nicht nur hatte er den ersten Schlag wegstecken müssen, sondern sah nun auch ein Despotar vor sich, das seiner größten, natürliche Schwäche – der Schwerfälligkeit – entgegenwirkte.

    Sei´s drum. An Voltula reichte seine Schnelligkeit noch nimmer heran und gerade ihre Käfer-Attacken würde es brauchen, um das Vieh zu Fall zu bringen. Maxax würde im eins-gegen-eins jedes von Ryans Pokémon schlagen, doch gegen zwei würde es verflucht schwierig werden. Und natürlich würde Ryans Fokus darauf liegen, Maxax in Schach zu halten, während er das verwundbarere Voltula aus dem Spiel nahm. Die war sowohl gegen die Feuer-, als auch Gestein-Attacken furchtbar anfällig und brauchte die Deckung des Drachen.

    Die Tarantel hatte die Flammen ersticken können und rollte sich wieder auf ihre acht Beine. Ihr Partner erhob sich langsam aus der knienden Position und schenkte den zwei Kontrahenten ein finsteres Aufflackern aus seinen blutroten Augen. Dieses Maxax war nicht so arrogant zu glauben, er müsse in diesem Kampf nicht selber etwas einstecken. Dafür aber war er furchtbar herrschsüchtig. Er war das stärkste Pokémon auf diesem Kampffeld – jetzt und für immer. Und diese Position wollten das Despotar und das Hundemon ihm streitig machen. Die Nüstern stießen wütend Luft aus. Das winzige Aufflackern einer bläulichen Flamme konnte darin beobachtet werden. Maxax hievte den Schädel in die Höhe, seine Klauen blitzten in der prallen Sonne. Ein Mark und Bein durchdringendes Gebrüll erfüllte das Prime Stadium, das einige Zuschauer dazu veranlasste, die Hände schützend auf die Ohren zu drücken. Voltula verfügte nicht über solch beeindruckende Drohgebärden, doch ließ sie ihren Gefährten wissen, dass sie an seiner Seite war. Mit raschen Schritten war sie neben ihn geeilt und ließ einige Blitze um den Hinterleib zucken. Terry fasste die ganze Zeit über nur Ryan ins Visier. Ob das sein großer Plan war? Seine Meisterstrategie, mit der er ihn zu schlagen gedachte? Unerwarteterweise auf Tempo setzen und ihn so überraschen? Selbst ihm hätte er mehr zugetraut.

    „Wir sind am Zug“, äußerte er nüchtern, was seine Pokémon dazu veranlasste, die Beine etwas zu spreizen und in eine tiefe Kampfhaltung zu gehen.

    „Voltula, Elektronetz. Los.“

    Von zuckenden Blitzen begleitet, öffneten sich die riesigen Spinnenkiefer und spien einen Klumpen aus knisternder Energie auf den Sand. Sie breitete sich schnell über Ryans gesamte Hälfte des Kampffeldes aus, wie Feuer, das entlang einer Ölspur entflammte und bildete ein beeindruckend präzises Muster eines Spinnennetzes. Eine der Linien verlief genau unter den Füßen Hundemons und Despotars und versetzte ihnen einen stechenden Schlag. Letzterer ließ es einfach über sich ergehen und ignorierte den Schmerz so gut es ging, während der Schattenhund alarmiert aufsprang und eine sichere Distanz zu Voltulas Falle wahrte. Das elektronische Gebilde blieb nur für einige Sekunden für das Auge sichtbar. Danach verebbten die Blitze, doch lag fortan ein surrender Klang in der Luft. Hundemon schnüffelte misstrauisch in der Luft. Unter ihren Füßen kribbelte es weiterhin. Ryan fuhr mit seiner Zunge nachdenklich an der Unterlippe entlang. Terry hatte also vor, ihn auszubremsen. Das Tempo, welches man von Hundemon und nun auch von Despotar hatte erwarten dürfen, zu drosseln. Na schön.

    „Feuerwirbel auf Maxax“, entschied er konzentriert und beobachtete den Gegner akribisch mit verengten Augen. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als gerade einmal einen Meter vor ihm einen Flammenstrahl entfacht wurde, der das Drachenpokémon zunächst einmal umkreiste und dann in einen turmhohen Tornado aus Feuer einhüllte. Es war hinter dieser Wand fast vollkommen verschwunden. Nur eine verzerrte Silhouette war mit Mühe auszumachen.

    „Nach diesem rasanten Beginn tasten sich beide Trainer nun etwas ab. Scheint als wollten sie einander ausbremsen“, analysiert Cay den Verlauf. Er würde nicht wagen, seine Augen nur einen Moment vom Kampfgeschehen fort zu lenken. Die Angst, er könne etwas Wichtiges verpassen, war trotz des abrupt gesunkenen Tempos zu groß. Doch allein von der Atmosphäre glaubte er sich bestätigt, dass der Löwenanteil der Zuschauer angespannt den Atem anhielt und nur auf das Feuerwerk wartete.

    Ryan spielte allerdings nun wieder voll auf Geduld und befahl Despotar, Fluch einzusetzen. Terry runzelte die Stirn. Wozu hatte er dann vorhin noch Steinpolitur gewählt? Somit war die gewonnene Geschwindigkeit gar völlig dahin, auch wenn dafür seine Kraft gesteigert wurde. Hatte Ryan nur aufgrund von Elektronetz seine Strategie gewechselt?

    Er wischte mit einer Hand eine Strähne aus dem Gesicht, was ein Klackern seiner Armreife bewirkte. Wenn ihm der Tempo-Vorteil nicht länger streitig gemacht wurde, dann nutzte er ihn eben aus. Aber nicht so stumpf, wie Ryan es vermutete.

    „Okay, jetzt Fadenschuss und dann Schlitzer auf Hundemon.“

    Die Tarantel spie den klebrigen Faden nicht aus dem Hinterleib wie es verwandte Käfer-Typen taten, sondern aus einer Drüse unter den Kiefern. Geistesgegenwärtig sprang der Schattenhund jedoch zur Seite. Trotz des gelungenen Ausweichmanövers zogen sich Ryans Brauen zusammen. Das war viel zu einfach gegangen. Als Hätte Voltula gar nicht wirklich nach ihm gezielt. Recht hatte er mit der Vermutung. Ohne, dass ein weiterer Befehl ihres Trainers nötig war, zog die Stromspinne den Faden, der nun am Boden klebte, ein. Dies resultierte in einem rasanten Sprung, gleich einer Schleuder. Die Distanz war binnen einer einzigen Sekunde überwunden in die aufblitzenden Vorderläufe schlugen in Hundemons Seite, wo sie gemeine Schnitte in Fell und Fleisch hinterließen. Die Rippenartige Knochenpanzerung schützte glücklicherweise vor verheerenderen Wunden. Voltula befand sich nun direkt hinter ihren Gegnern und zog damit für einen Moment ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich. Genau, wie Terry es erwartet hatte. Er befahl lautstark einen Drachenpuls. Maxax´ Gebrüll allein schien den Feuerwirbel bereits zu brechen. Als dann schließlich ein blau- violetter Drachenkopf, der einen gleichfarbigen Energiestrahl hinter sich herzog, glatt hindurch stieß, verpufften die Flammen, wie ein ausgeblasenes Streichholz.

    Ryan ordnete an, die Attacke mit Steinkante abzuwehren. Hundemons Flammenwurf würde dem Drachenpuls nicht Einhalt gebieten können, selbst wenn er ihn rechtzeitig ausführen konnte. Despotar positionierte sich vor seinem Partner und umgab sich mit weißen Lichtringen. Maxax´ Attacke traf, noch bevor sich daraus Felsbrocken hatten materialisieren können. Die rasante Rotation verhalf dennoch, die Energie zu beiden Seiten abzulenken. Ein wenig zumindest.

    Ryans Pokémon knirschten beide mit den Zähnen. Sie mussten sich in zwei Richtungen orientieren. Nicht gerade eine wünschenswerte Konstellation. Es war zwar durchaus Teil des Plans, von hier an mehr zu reagieren, als proaktiv anzugreifen, aber aus dieser Zwickmühle sollten Ryan schleunigst einen Ausweg finden.

    „Aufrecht halten“, befahl Terry knapp und wechselte den Fokus rasch wieder zu Voltula.

    „Schnell, Donner!“

    Die zuckenden Blitze um den Spinnenleib sorgten dafür, dass sich Ryans Nackenhaare aufstellten. Seine Haut kribbelte. Dem Angriff Voltulas musste unbedingt ein Riegel vorgeschoben werden, sonst würde es böse enden. Er konnte bereits jetzt die irrsinnige Kraft erahnen, die sich zu entladen im Begriff war.

    „Flammenwurf dagegen!“

    Hundemon war in der Ausführung tatsächlich schneller. Sein Feueratem schlug noch in der Drehung wild um sich und züngelte wütend, als hätten die Flammen ein Bewusstsein und suchten nach Futter. Voltula war erledigt!

    Ein elektrisches Surren erklang für einen Sekunden Bruchteil. Ein knallgelbes Objekt huschte an ihnen vorbei. Die Flammen verfehlten ihr Ziel. Fanden nichts zum Verbrennen. Der Schattenhund drehte ungläubig den Kopf und sah seinen Gegner urplötzlich zu seiner Rechten. Dann blitzte es auf und seine Augen wurden geblendet. Was danach folgte, war ein hundsgemeiner, stechender, brennender Schmerz, die seine Muskeln lähmte und ihn an Ort und Stelle erstarren ließ. Ryan schluckte einen Fluch herunter.

    „Woah, wie ging das denn? Voltula konnte den Flammen ausweichen und jetzt wird Hundemon da unten gegrillt!“, staunte Cay. Noch mitten im Satz hatte der Stromschlag einen wuchtigen Knall erzeugt, der Hundemon durch die Luft warf. Despotar, der noch immer von Drachenpuls in Schach gehalten wurde – wie lange konnte Maxax das denn aushalten, verflucht? – wurde nach vorn geworfen, spürte das elektrische Stechen in seinem Rücken. Er stemmte einen Fuß voraus und fing sich ab, um nicht zu fallen. Das war lange nicht genug, um ihn nieder zu ringen. Jedoch brach nun der Schild aus Steinkante und er bekam die volle Kraft der Drachenattacke zu spüren. Seine raue Felshaut fühlte sich kalt an, während sein Inneres zu glühen begann. Ein heißer Schmerz breitete sich in der Brust aus und erschwerte ihm das Atmen. Ein kehliger Schrei ging hinauf zum Himmel. Allerdings nur sehr kurz, da Despotar rasch einen Punkt oben in den Wolken erspähte. Richtig, Ruby sah ja zu…

    Der gepanzerte Schrank schüttelte sich einmal und brüllte befreiend, womit er sich aus seiner Starre löste. Drachenpuls endete, als Maxax erkannte, dass er damit keine weitere Wirkung erzielen würde. Darüber rümpfte er angestachelt die Schnauze. Widerspenstiger Felsklotz.

    Despotar hatte sich geschworen, Ruby beim nächsten Mal zu schlagen. Wichtiger noch, er hatte es ebenso ihr geschworen. Wenn er hier diesem Maxax unterlag, das so viel schwächer als sie war, würde er sein Gesicht verlieren und die Schande vermutlich nie wieder abwaschen können. Er könnte weder seinem Trainer noch der Drächin wieder unter die Augen treten, geschweige denn sie herausfordern.

    „In den Nahkampf! Drachenklaue!“, hallte es von der anderen Seite. Die blutroten Krallen waren an und für sich gar nicht wirklich beeindruckend, doch als sie auf einmal in einem kräftigen Blau aufleuchteten, schienen sie um das Dreifache zu wachsen. Wie stellte das Vieh das an? Mit wildem Kampfgebrüll stürzte er sich auf Despotar, während Voltula den Befehl erhielt, eben ihn in Schach zu halten. Hundemon war für einen Moment aus dem Spiel, brauchte seine Zeit, um die zuckenden Muskeln unter Kontrolle zu kriegen. Daher konnte Terry sich ganz auf die Felsechse konzentrieren, von der hier sicher die größere Gefahr – wenn man es so nennen konnte – ausging. Klebrige Spinnenfäden wurden um seine Beine gespuckt und schließlich unter Strom gesetzt. Verletzen würde diese Methode ihn auch nach hundert Versuchen nicht, aber es genügte, um ihn an Ort und Stelle zu halten. Maxax hatte leichtes Spiel.

    „Eisenschädel!“

    Despotar bedurfte keiner Bewegungsfreiheit. Wohl war Terry davon ausgegangen, dass Ryan genau diese durch Steinpolitur unbedingt hatte gewinnen wollen. Er kämpfte gar am besten, wenn er einfach die Stellung halten und den Gegner kommen lassen konnte. Das gezackte Haupt wurde in die Luft gehievt, wobei Despotar allerdings sehr schwerfällig und langsam wirkte. Man musste davon ausgehen, dass es an der Lähmung durch Voltula lag. Maxax beugte sich weit vor, setzte zu einem großen Schritt an und fixierte eine der Lücken in der zinkgrünen Rüstung.

    Urplötzlich ging ein von Metall überzogener Schädel wie ein Dampfhammer auf Maxax nieder, traf ihn genau auf die markanten Beilkiefer und schmetterte ihn auf den Boden, sodass sich unter dem Sand Risse im Festboden bildeten. Den Stromstoß hatte Despotar einfach von sich geschüttelt, als spürte er ihn gar nicht. Sowohl der Schlag Kopf an Kopf als auch der darauffolgende Aufprall wurden von einem dumpfen und kurzen Echo begleitet, das die Beine beider Trainer erzittern ließ und an ihrer Standhaftigkeit rüttelte, als sei ein Stahlträger mit etwas kollidiert, das ebenso wenig nachgeben wollte, wie dieser.

    Maxax knurrte und fluchte in seiner Sprache. Dass sich dieser wandelnde Berg noch so gut hatte bewegen können war nicht zu erwarten gewesen. Gleiches galt für die immense Kraft, mit welcher er ihn niedergeschmettert hatte.

    Ryan hatte das Blatt wenden können, aber er musste mehr Druck erzeugen, musste Situationen wie diese voll ausschöpfen. Es war unwahrscheinlich, dass es noch viele davon geben würde. Er befahl mit Fuchtler nachzusetzen, wobei das in diesem Fall eher so aussehen würde, als wolle Despotar den Gegner einfach niedertrampeln. Natürlich hatte Terry etwas dagegen.

    „Nochmal Donner, diesmal auf Despotar!“

    „Unterbrechen mit Finte!“, wies Ryan aus heiterem Himmel dagegen an. Hundemon war keineswegs vergessen worden. Lediglich die kurze Dauer, die es zum Aufraffen gebraucht hatten, war verblüffend. Das Biest war ebenfalls zäh. Und es kam aus dem toten Winkel – war noch aus der Deckung bestehend aus Despotars massigem Körper verschwunden und kam ganz plötzlich von oben herangesprungen, landete auf Voltulas Kopf und kratzte gefährlich nahe an den empfindlichen Augen. Sofort wich sie zurück und schlug mit den Beißzangen um sich, um den Schattenhund abzuwehren. Die meisten Pokémon hätten hier die Donner-Attacke wohl abgebrochen, aber nicht dieses Voltula. Der Stromstoß wurde trotz der Behinderung geladen. Allerdings nicht auf Despotar, wie ursprünglich befohlen. Das Ergebnis war viel mehr ein unkontrolliertes Blitzgewitter, das Voltula gänzlich umgab und alles in seinem Umfeld einen Schlag versetzte. Dafür eben nur in einem sehr kleinen.

    Hundemon hatte sich clever und geistesgegenwärtig rasch aus dieser Reichweite entfernt und hörte erneut den Befehl um Flammenwurf. Den hätte er diesmal gar nicht gebraucht. Mit zwei Sätzen gewann er den sicheren Abstand, schlug einmal aus und sprang in die Luft. Er richtete sich in einer fließenden Bewegung aus und sammelte züngelnde Flammen in seinem Maul. Die Feuerbrunst wütete wie eine zerstörerisch heiße Faust, just als Voltula die gesammelte elektrische Ladung entlud, die bei einem erneuten Treffer für Hundemon garantiert das Aus bedeutet hätte. Der fruchtlose Abwehrmechanismus verebbte ebenfalls, als die Haare an Beinen und Körper versengt wurden. Voltula sprang panisch zurück, schlug um sich, zappelte, jammerte. Terry biss wütend die Zähne zusammen, als er seine Partnerin beobachtete, wie sie ein zweites Mal die Flammen zu löschen versuchte. Er durfte diese Treffer nicht zulassen! Voltula war nicht gerade eine robuste Gattung. Im selben Augenblick grunzte auch Maxax erbärmlich und wurde über den Sand geworfen. Despotar kam gerade aus einer Drehung, die dem geschulten Auge verriet, dass er Maxax mit dem muskulösen Schweif getroffen hatte.

    „Was ein Konter! Das Ding wird hier hin und her gerissen!“, kommentierte Cay die erneute Wendung. Es war tatsächlich schwer, dem Verlauf zu folgen, passierte doch immer an zwei Punkten gleichzeitig etwas.

    „Carparso hat das Ruder nun wieder in die Hand genommen und kann beiden von Fullers Pokémon üble Treffer beibringen. Es ist ein Kampf Kopf an Kopf.“

    Und nicht gerade der typische Doppelkampf. Gerade weil das Geschehen sich meist auf zwei Situationen aufteilte, die sich abseits voneinander abspielten. Normalerweise versuchten die Trainer beide Pokémon dicht beieinander zu behalten und als Einheit kämpfen zu lassen. Mit herkömmlichen Strategien würde man aber weder Terry Fuller noch Ryan Carparso in Verlegenheit bringen.

    Letzterer schnaufte einmal erleichtert. Wäre Hundemon hier zu spät gekommen oder hätte nicht schnell genug den nötigen Sicherheitsabstand gewonnen, hätte Ryan nun einen Weg finden müssen, das Match allein mit Despotar zu gewinnen. Das wäre wohl fast unmöglich. Nun war die Situation genau wie zum Beginn des Kampfes. Beide von Terrys Pokémon hatte einen üblen Schlag wegzustecken und für ihn ergab sich die Chance, weiter nachzulegen. Und genau wie zu Beginn des Kampfes tat er es nicht.

    „Geduldig bleiben. Despotar, nochmal Fluch. Hundemon, Ränkeschmied.“

    Die Blicke der beiden schärften sich und sie atmeten äußerst scharf Luft ein. Um die Felsechse herum bildete sich ein dunkelgrauer Kreis auf dem Boden, von dem sich eine rauchartige Energieschwaden lösen und um den zinkgrünen Leib tanzten. Daneben war der Rauch, der sich um Hundemon bildete, hell, ja fast weiß und wurde vom Körper gen Himmel abgestoßen, als entspringe er einem flackernden Feuer. Cay war deutlich anzumerken, dass er das anders gemacht hätte. Doch selbst er sah ein, dass es mehr als einen Grund gab, warum er hier oben in seiner Kabine war und die Jungs da unten auf dem Kampffeld.

    „Interessante Strategie. Carparso will´s wohl möglichst schnell beenden. Die Luft wird dünner für Fuller.“

    Verbessern tat sich seine Ausgangslage jedenfalls nicht. Aber er war weit entfernt von der Niederlage. Er schnalzte einmal mit der Zunge und stieß einen kurzen, wütenden Atem aus. Die meisten Trainer wären hier wohl ihrem Frust erlegen, doch Terry war routiniert genug, sich von solchen Rückschlägen mental zu erholen. War fähig, auf der Stelle zu akzeptieren, dass er Ryans momentane Stärke unterschätzt hatte und sich auf einen längeren, zäheren Kampf einstellen musste als zunächst angenommen. Aber das war okay. Ein Sieg war umso köstlicher, wenn der Gegner eine echte Herausforderung darstellte.

    „Schön“, flüsterte er sich selbst zu und nickte äußerst knapp. Er prüfte noch den Zustand seiner beiden Pokémon. Maxax war augenscheinlich unverletzt. Voltula allerdings wies Brandwunden an den Vorderbeinen und der linken Gesichtshälfte auf. Er musste ihre Attacken unbedingt klüger einsetzen. Sie würde nicht mehr viel einstecken können.

    „Dann verlassen wir mal die Komfortzone.“

    Seine Beine spreizten sich ein wenig und sein Kopf ging in eine tiefere Position. Wenn er jetzt noch die Fäuste anhob, würde er glatt aussehen, wie ein Boxer. Ryan wischte sich einmal unter der Nase und verengte die Augen. Terry hatte ihn noch auf die leichte Schulter genommen. Dieser Vorteil seitens des Johtonesen war nun vorüber.

    „Mach Tempo Voltula. Maxax, du gibst es Despotar mit Drachenklaue.“

    Die Stromspinne machte einen Satz nach vorne. Danach wirkte es wieder, als würde sie auf Schienen fahren. Mit unglaublicher Geschwindigkeit, sodass Ryan ihr kaum folgen konnte. Allerdings versuchte sie diesmal nicht, ihre Gegner zu flankieren, sondern blieb Maxax' Schatten. Zischte zunächst vor ihm hin und her, ließ sich dann nach hinten fallen, als warte sie darauf, dass das Drachenpokémon den Weg freimachte.

    „Ausbremsen mit Finsteraura!“, wies Ryan an und warf einen Arm nach vorn. Hundemon positionierte sich direkt zu Despotars Füßen und ließ dunkel Energieschwaden um sich wabern. Sie sammelten sich zu einer Welle aus Schwarz und Violett und überrollten alles auf ihrem Weg. Ein zog ging ihr voraus, wie das ziehende Wasser vor einer Flutwelle. Und wie genau so eine würde sie gnadenlos und vernichtend sein. Hundemon besaß schon so eine immense Zerstörungskraft. Verstärkt durch Ränkeschmied könnte er hiermit vermutlich ein kleines Haus niederreißen. Die Finsteraura deckte fast die gesamte Breite des Kampffeldes ab, sodass ein Ausweichen unmöglich war. Terry grinste zum ersten Mal seit Beginn des Kampfes. Mit seinen Abwehrmaßnahmen war Ryan schon einmal kreativer gewesen. So langsam schienen ihm die Optionen auszugehen. Zumal alle bisherigen von bestenfalls mäßigem Erfolg waren. Finsteraura stellte keine Ausnahme dar.

    „Geh mit Drachenstoß direkt rein!“

    Das blaue Licht, das die Klauen von Maxax umhüllt hatte, ging auf seinen gesamten Körper über. Es reflektierte bald ein übergroßes Abbild seines eigenen Körpers und gab sogar noch ein Paar Flügel hinzu. Von diesen getragen schoss er direkt durch die Finsteraura. Sie teilte sich vor ihm, als sei er sie ein Fluss und er selbst ein trotziger Felsen, unbeeindruckt und unbeugsam im Angesicht der Gewalt, die ihn zu brechen versuchte. Voltutla blieb dicht hinter ihm und somit von der Welle aus Dunkelheit vollkommen verschont. Sodann hörte sie, wie ihr Käfergebrumm befohlen wurde. Da schlug sie wieder aus und positionierte sich diesmal – blitzschnell wie eh und je – in der rechten Flanke. Das Surren erinnerte entfernt an einen Bibor-Schwarm, war aber tiefer und im Gegensatz zu dem der verwandten Käferpokémon tatsächlich gefährlich. Hundemon schaffte den Sprung aus der Gefahrenzone heraus, aber Despotar wurde gnadenlos von Käfergebrumm erfasst. Ein Stoß ging durch seinen Körper als habe ein Zug ihn gerammt und wart geradeso zu Stillstand gekommen. Von seinem Rücken löste sich Sand und an einigen Stellen brach Kies aus seiner Panzerung.

    „Jetzt ist Fuller wieder am Drücker!“, schallte es aus den Stadionlautsprechern.

    „Das Tempo von seinem Voltula ist einfach unglaublich, wie zur Hölle stellt er das an?“

    Just in diesem Moment kam Ryan die Erleuchtung bezüglich genau dieser Frage. Wie er Despotar aus der Gefahrenzone bekommen sollte, blieb allerdings ungelöst. Maxax schlug als himmelblauer Meteor direkt vor den Füßen der Felsechse ein, kaum dass Voltulas Angriff geendet hatte. Die Drachenenergie blitze auf und sandte eine Druckwelle über das Kampffeld. Eine Furche, in der man Ryan bis zum Hals versenken könnte, wurde in das Erdreich gerissen. Die Gesteinsbrocken, die dafür herausgebrochen wurden, besaßen die Größe eines Forstellka und verteilten sich zu beiden Seiten, sorgten für ein Bombardement, das einem Steinhagel gleich kam. Hier musste der Schattenhund seine besten Reflexe aufbringen, um nicht erschlagen zu werden. Ein besonders gewaltiger zielte mit seiner Flugbahn gefährlich nahe in Ryans Richtung. Der allerdings rührte sich keinen Schritt. Sah stattdessen verbissen in das blendende Licht und knirschte mit den Zähnen. Vergleichbares hatte nur ein einziges Pokémon jemals mit Despotar angestellt. Und jenes sah gerade aus erhöhter Position zu. Dieses verfluchte Maxax.

    Direkt vor seinen Füßen schien ein Kleinwagen zu landen. Er spürte die Erschütterung bis in die Fingerspitzen. Despotar wog locker 300 bis 400 Kilo und war dennoch so fortgeschleudert worden. Einfach unfassbar. Und der Verursacher befand sich nur wenige Schritte entfernt in der Hocke, keuchte, war jedoch unübersehbar zufrieden mit seinem Werk. Nun hatte er es der Felsechse aber gezeigt.

    „Oh mein Gott, was war das denn!?“, fragte Cay zweifellos rhetorisch. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihm irgendjemand hier erklären konnte, was sie alle gerade gesehen hatten.

    „Dieses Maxax ist eine Maschine, sag ich euch. Ein Berg ist bestimmt leichter zu bewegen, als dieses Despotar und seht es euch an!“

    Sie alle sahen. Manche mit Staunen, manche mit Entsetzen und jene, die auf Terry Fullers Seite standen, mit Jubel. Jener befeuerte das Drachenpokémon direkt zum Weitermachen. Diese Attacke reichte noch nicht. Nie und nimmer! Er musste mehr machen, mehr zuschlagen, mehr zerstören. So lange, bis sich der Gegner nicht mehr bewegte. Allerdings gab es da einen Weiteren.

    „Hundemon!“

    Als ob der Befehl seines Trainers wirklich notwendig wäre, wenn sein Kamerad Hilfe brauchte. Hundemon hielt bereits einen Spukball in einem Maul, knisternd und pulsierend, als könne er ihn kaum kontrollieren. Er traf Maxax direkt an der Schläfe, erwischte ihn unerwartet und brachte ihn ins Wanken. Schwarz-violetter Rauch hüllte seinen Kopf ein, was er mit wütenden Rundumschlägen und erbostem Gebrüll quittierte. Davon völlig unbeeindruckt kam der Schattenhund heran gesprintet und setzte zu einem beherzten Sprung an.

    „Oho, da gefällt jemandem gar nicht, was Maxax macht. Jetzt wird’s chaotisch, Leute. Und schonungslos, aber das war dieses Match eigentlich schon von der ersten Minute an“, beobachtete Cay aufmerksam. Tatsächlich war er nur einer von sehr wenigen, die Hundemon nach diesem verwüstenden Angriff überhaupt auf dem Schirm gehabt hatten. Terry wollte es natürlich stoppen und alarmierte sein Voltula, doch dieser eine Moment, den er gezögert hatte, besiegelte ihre Machtlosigkeit. Hundemon war auf den geneigten Schultern des Drachen gelandet und verbiss sich in den Nackenbereich. Dahin war der Wutschrei. Dieser hier entsprang einzig und allein Schmerz. Terry pfiff Voltula zurück. Jeder ihrer Angriffe würde nun sein eigenes Pokémon treffen. So sicher er auch war, dass Maxax eine Donner-Attacke noch überstehen würde – was er von Hundemon nicht erwartete – kam diese Option für ihn nicht in Frage. Das wäre inhuman und ungerecht. Das konnte er Maxax nicht antun. Es käme einem Vertrauensmissbrauch gleich.

    So war er zum Zusehen verdammt, bis der Schattenhund abgeschüttelt werden konnte. Die olivfarbene Panzerung war an Hals sowie den Gelenken alles andere als lückenlos. Mit diesem Knirscher traf er somit einen durchaus wunden Punkt. Die spitzen Reißzähne bohrten sich mühelos durch die ledrige schwarze Haut, sodass Hundemon auf der Stelle Blut schmeckte. Allerdings konnte er dem Toben und Wüten des Drachen nicht lange stand- oder sich in diesem Kontext eher nicht länger festhalten. Er wurde über die Schulter gewuchtet, richtete sich aber gekonnt aus und landete fest auf den Füßen, schlitterte lediglich einen Meter durch den Sand. Hundemon positionierte sich schützend vor Despotar, der gerade einen Fuß in den Boden stemmte und Maxax mit boshaften Blicken traktierte. Diese Aufsässigkeit wollte der umgehend im Keim ersticken.

    „Abstand, Maxax!“

    Dieser Befehl gefiel ihm überhaupt nicht. Dessen war sich Terry auch wohl bewusst, aber wenn er Maxax jetzt mit dem Kopf durch die Wand rennen ließ, würden sie verlieren. Genau darauf steuerten sie hier nämlich zu. Von solch einem unkoordinierten Kampfstil konnte, wenn überhaupt, nur Ryan profitieren.

    Tatsächlich zögerte das verwundete Drachenpokémon für eine Sekunde, in denen seine scharf verengten Augen ein Versprechen vermittelten. Nämlich, dass es mit dem nächsten Schlag vorbei sein würde. Hierauf wandte sich Maxax ab und kehrte an Voltulas Seite zurück.

    „Eine ganz seltene Verschnaufpause für beide Seiten. Ist das ein Zeichen, dass ihnen die Kräfte ausgehen?“, fragte sich Cay, was von beiden Trainern mit Spott belegt worden wäre, würden sie ihm noch Gehör schenken. Solange der Wille da war, war es auch die Kraft. Und der Siegeswille war an beiden Enden des Kampffeldes unermesslich. Dazwischen sogar noch größer. Ryan beobachtete, wie Hundemon sich unter Despotars Arm drängte und versuchte, ihm aufzuhelfen. Ein sinnloses Unterfangen, ohne Zweifel. Aber die Felsechse sah mit ehrfürchtigem Respekt auf ihren Partner herab. Der demonstrierte damit seine Hingabe und seinen aufopferungsvollen Teamgeist, der selbst vor einer unmöglichen Aufgabe nicht zurückschreckte. Diese Geste wurde hoch angerechnet.

    Ryan sah sie mit grenzenlosem Stolz. Das war es, was er vorhin gemeint hatte. Die Kameradschaft und Opferbereitschaft in einem Doppelkampf. Das gegenseitige Unterstützen und beschützen. Es war essenzieller Bestandteil ihrer Stärke. Das war jedoch nicht der einzige Grund, warum Ryan so heiter lächelte. Warum seine Mundwinkel trotz der Rückschläge immer wieder nach oben zuckten. Er genoss den Kampf. Und wie! Er war weder härter noch brisanter als die früheren Duelle, aber spürte er über seine Dauer hinweg nicht den Unmut, ja er wollte schon sagen Hass, der die Geschichte dieser beiden Trainer zu oft geprägt hatte. Von all den Gefühlen in seiner Brust war keines darunter, das er mit etwas so negativem in Verbindung brachte. Da war nur Adrenalin und Siegeswille. Und von der Gegenseite spürte er ebenfalls keinen Hass. Keine gehässigen Provokationen, keine schmähenden Kommentare oder Beleidigungen. Es wurde einfach nur gekämpft. Hart, aber fair.

    So nahm sich Ryan gar heraus, die kurze Feuerpause zu nutzen, um das Wort an Terry zu richten.

    „Das Elektronetz“, rief er zunächst ohne Weiteres hinüber. Sein Rivale blinzelte einmal verblüfft. Mehr über die Absicht, sich zu unterhalten, als den Inhalt an sich. Das hatten sie sonst nie getan. Keiner von beiden. Und nun, da es zum ersten Mal geschah, spürte Terry seltsamerweise kein Verlangen, dem auszuweichen. Er fing einfach den Blick der marineblauen Augen auf und horchte.

    „Du hast Voltula beigebracht, auf dem Elektronetz zu laufen, stimmts?“

    Beim letzten Angriff der Tarantel hatte er ein sehr feines Funkenmuster unter ihren Beinen beobachten können, das identisch mit dem Angriff gewesen war, den Voltula zu Beginn des Kampfes über das gesamte Feld gelegt hatte. Außerdem war ihm aufgefallen, dass sie sich immer in weiten Bögen, ja scheinbar festgesteckten Bahnen und nie willkürlichen Pfades um Desptar und Hundemon herumbewegt hatte. Sie war exakt dem Muster des Netzes gefolgt. Das schränkte ihre Bewegungen zwar etwas ein, aber was machte das schon, wenn man so schnell vom Fleck kam? Es war fast unmöglich, darauf zu reagieren, wenn man den Ort, an dem Voltula zum Stillstand kommen würde, nicht kannte.

    Terry ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er antwortete. Ihm war durchaus bewusst, dass die Technik, die er mit Voltula ausgearbeitet hatte, Spuren hinterließ. Anfangs waren diese noch weitaus deutlicher gewesen. Zunächst war das Netzmuster jedes Mal in Gänze aufgeglimmt, sodass jeder Idiot dahintergekommen wäre. Durch langes – sehr langes! – Training hatte die Stromspinne gelernt, sich vorsichtiger, überlegter und effizienter darauf zu bewegen, weshalb heute kaum noch etwas sichtbar blieb. Der Typ musste ja echt die Augen eines Bluzuk haben. Oder eines Gottes – um mit einer Prise Missmut auf seinen Spitznamen zurückzukommen.

    „Ich geb´s ungern gern zu, aber deinen Titel hast du wirklich verdient.“

    Das war mit Abstand das Netteste, was Terry zu Ryan gesagt hatte, seit sie sich in Hoenn getroffen hatten. Mindestens seit dem und wahrscheinlich noch eine ganze Weile davor. Hierüber nachzudenken, würde den Bogen der Verschnaufpause allerdings überspannen.

    „Raffiniert“, gestand der Blonde seinerseits mit einem ebenso nüchternen Tonfall, wie sein Rivale. Die Frage, was er dagegen ausrichten konnte, musste er sich gar nicht erst stellen. Es lag auf der Hand, war aber mit hohem Risiko verbunden. Genaugenommen musste man die Idee, welche gerade wie ein aufdringliches Nebulak in seinem Kopf herumspukte, als zweischneidiges Schwert bezeichnen. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde er sich zumindest ein wenig ins eigene Fleisch schneiden. Wie Bauern bei einem Schachspiel wollte Ryan seine Pokémon keineswegs behandeln, aber er wurde den Gedanken einfach nicht los. Er drängte sich ihm vehement auf, als sei er der einzige Weg, um das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden.

    In diesem Moment wandte Despotar, der nach wie vor mit Hundemons Unterstützen gegen die Schwerkraft ankämpfte, leicht und möglichst unauffällig den Kopf, gewann die Aufmerksamkeit seines Trainers mit einem dezenten Grollen. Er bewegte nur die Augen, hielt sich ansonsten unverändert geradeaus gerichtet, damit niemand die Kommunikation bemerkte. Das zinkgrüne Gesteinpokémon stampfte ein paar Mal sachte mit einem Fuß auf den Sand. Aus der Ferne würde man das vermutlich als Aufstehversuch interpretieren. Ryan aber wusste ganz genau, was er zu sagen versuchte. Er hatte also bereits denselben Gedanken gehabt. Und er wollte es. Despotar wollte die Attacke einsetzen.

    Ein prüfender Blick richtete sich noch auf den Schattenhund, der nun endlich wieder kein Gewicht außer seinem eigenen tragen musste. Ein knappes Knurren, dann wandte er sich wieder nach vorn und stieß einen Hauch Flammen aus seinen Nüstern. Er war sowas von dabei.

    Ryan hatte sowohl vor als auch während des Kampfes mit sich gerungen, ob er zu diesem Manöver greifen wollte. Und vermutlich hatte er es aus einem ähnlichen Grund nicht getan, aus dem Terry eben noch darauf verzichtet hatte, Voltulas Donner einzusetzen. Aber wofür hatten sie denn so hart daran gearbeitet? Wofür hatte er in den Wäldern so oft den natürlichen Hürdenlauf über Bäume, Wurzeln, Felsen und Gräben geübt? Wenn es einen Moment gab, in dem sich das auszahlen könnte, dann jetzt. Und wenn nicht? Dann war´s das. Dann verlor er vermutlich das Match und gab sich der Schande preis.

    Schande vergeht, so sagte er sich im Geiste, während er den Verschluss eines Lederhandschuhs öffnete. Die Frage, was geschehen wäre, hätte er in diesem entscheidenden Moment nicht gezögert, würde auf ewig ungeklärt bleiben. Unumstößlich und unveränderbar. Und lieber bereute er das Eingehen eines Risikos, als die Tatsache, nicht alles versucht zu haben.

    „Also gut. Schluss mit lustig.“

    Der Handschuh landete unbeachtet neben ihm auf dem Boden. Der zweite gesellte sich rasch dazu. Oben auf den Rängen blinzelte ein süßer Rotschopf verblüfft und suchte Rat bei ihrer Sitznachbarin. Audrey fing das nur mit einem Seitenblick auf, bedeutete aber mit einem knappen Nicken, einfach weiter zuzuschauen. Am Ende verpasste sie noch das Beste. In den Katakomben war der Ablauf ein sehr ähnlicher. Nur war Andrews Grinsen deutlich breiter, als Sandra das Ausziehen der Handschuhe hinterfragte.

    „Hat er das in deiner Arena nicht getan?“, erkundigte er sich, noch bevor er eine Erklärung lieferte. In der Tat erinnerte sich die Drachenmeisterin just in diesem Moment. Als sie beide bereits mit ihrem letzten Pokémon gekämpft hatten und gerade das Zauberwasser Amulett zerbrochen war, das Impergator damals getragen hatte. Da hatte sich Ryan ebenfalls seiner Handschuhe entledigt und es damit begründet, dass er ja die verlorene Kraft des Amuletts irgendwie kompensieren müsse. Erst jetzt, Monate später, verstand sie die Bedeutung dahinter. Er legte alle Zügel und Ketten ab. Von sich selbst sowie von seinen Pokémon. Er kämpfte mit offenem Visier und fuhr seine schwersten Geschütze auf. Jetzt war die Zeit. Seine Zeit!

    Hi, Rusalka,


    ja, die beiden haben eine Vorgeschichte. Oder eher mehrere Vorgeschichten. Und ich wollte, dass der Leser das versteht und sich in beide Parteien reinversetzen kann. Was den nun folgenden Kampf angeht, bin ich sicher, dass er deine hohen Erwartungen erfüllen wird. Der ist nämlich bereits niedergeschrieben.

    Mit diesem wird das Verhältnis von Ryan und Terry in dieser Geschichte auch noch nicht enden, so viel verrate ich.


    Ruby ist ein anderes Thema, an das Ryan erst angefangen hat, sich heranzutasten. Hinter ihren Beobachtungen der Kämpfe steckt aber nichts allzu Großes. In erster Linie sollte sie während des Turnier-Arcs nicht vergessen werden. Aber auch sie wird ihre Beziehung zu Milas Gefolgschaft im Allgemeinen und Ryan im Besonderen erarbeiten.

    Kapitel 56: For the love of the game


    Ryan und Andrew verbrachten die einstündige Unterbrechung vor den Halbfinals fast in Gänze mit Audrey und Melody. Man hatte sich kollektiv mit Fressalien und Getränken eingedeckt und vertilgte selbige an einem runden Stehtisch unweit der Buden, an denen man sie ergattert hatte – ein anderes Adjektiv wäre unangemessen gewesen, da alle, aber auch wirklich alle Stände in der Pause regelrecht überrannt wurden. Sandra hatte sich diesmal entschuldigt und war spazieren gegangen. Sie hatte die jungen Trainer davon überzeugen können, dass sie keineswegs aus Verbitterung die Einsamkeit suchte. Ihr war nach der zurückliegenden sowie angesichts der anstehenden Aufregung einfach nach einem Moment der Ruhe, so ihre Erklärung.

    Andrew philosophierte ein bisschen über seine Trainingsmethoden vor sich hin, während die Mädels interessiert zuhörten. Er gab sogar zu, dass er im Gegensatz zu vielen anderen Trainer keine besonderen Methoden verfolgte oder gar eigene entwickelt hatte, um seine Pokémon stärker zu machen. Er setzte mehr auf allgemein Bewährtes. Gut kopiert war bekanntlich besser als schlecht erfunden. Aber noch wichtiger – er setzte sich keine bestimmten Ziele, die es an einem Trainingstag oder auch binnen eines festgelegten Zeitraumes zu erreichen galt. Das fühlte sich dann nämlich mehr an, wie ein Ultimatum, setzte ihn und seine Partner mehr unter Druck, anstatt sie anzuspornen. Er arbeitete strikt die Punkte ab, die er bei seinen Pokémon zu verbessern hatte und zog nie etwas in die Länge. Er vertrat die Meinung, dass es ab einem gewissen Punkt gut zu sein hatte. Dass es die regelmäßigen Pausen genauso brauchte. Egal, ob man kurz sich vor einem Durchbruch befand oder Kraft und Motivation noch reichlich vorhanden waren. Erholung und vor allem Belohnung waren genauso wichtig, wie die Anstrengung. Da tickte Ryan anders, wie alle am Tisch wussten. Während Andrew die untergehende Sonne als Zeichen selbiger sah, das man heute genug gearbeitet hatte, suchte der Blonde einfach nach einer anderen Lichtquelle. Er war ein Arbeitstier und hin und wieder mutete er sich auch etwas zu viel zu. Seine – besseren! – Resultate bei großen Turnieren bestätigten diese Methoden jedoch unbestreitbar. Obwohl Andrew fast sicher war, dass dies mehrere kleine Gründe hatte, anstatt bloß dieses einen. Ihm entging es nebenbei nicht, dass Audrey und Melody öfters mal zu Ryan rüber schielten. Vielleicht wunderten sie sich über seine Wortkargheit? Er steuerte nämlich mit Abstand am wenigsten zur Unterhaltung bei.

    „Weißt du Andrew, für so einen quirligen Zeitgenossen, scheinst du mir ein überraschend bodenständiger Trainer zu sein“, kommentierte die Trainerin aus Rosalia zwischenrein und erntete dafür fast so etwas wie Entrüstung. Allerdings eindeutig gespielte. Sie beide machten nur wieder ihre Faxen.

    „Bitte? Ich glaube, ich muss in der nächsten Runde mal das Stadion abreißen, um dir das Gegenteil zu beweisen.“

    „Versuch erst mal nur zu gewinnen. Das sollte für´s Erste reichen“, bremste Melody ihn und stieß ihren Ellenbogen in seine Seite. Tatsächlich zuckte er ein bisschen.

    „Solange ich das nicht bin“, warf Ryan noch ein, mimte dabei den Gelangweilten. Gegen Andrew vor so einer Kulisse zu kämpfen wäre entgegen seiner momentanen Erscheinung ein absolutes Traumszenario. Der Alptraum, in dem er sich gegenwärtig befand und der dank des Turniers nur temporär etwas in die Ferne gerückt war, machte es ihm jedoch unmöglich, das voll zu genießen. Selbst ein mögliches Match gegen Terry würde nichts davon vergessen machen können. Und sollte er gegen Bella selbst kämpfen müssen, so wäre der Alptraum gar plötzlich wieder unfassbar nah.

    Bodenständig lass ich jedenfalls nicht auf mir sitzen“, wetterte Andrew mit einem Fingerzeig, aber auch einem stichelnden Grinsen Richtung Audrey. Melody drückte seine Hand immer wieder runter und versuchte ihn dezent zu beschwichtigen, aber der nahm einfach die andere, um die Geste aufrecht zu halten. Ungeachtet seiner Trainingsmethoden und vor allem -zeiten, ackerten er und seine Partner härter als hart und ließen es dafür auf dem Kampffeld umso mehr krachen. Scheinbar musste er ihr das mal ganz unmissverständlich vormachen. Wenn Audrey jedenfalls glaubte, sie habe schon alle gesehen, dann irrte sie sich schwer. Schwerer als ein vollgefressenes Relaxo. Diese schmunzelte mit einem Seitenblick in Ryans Richtung, der daraufhin ein Kichern unterdrücken musste. Die hatte wirklich Spaß an seiner Persönlichkeit. So lebhafte Zeitgenossen konnte sie gut leiden.

    „Gleich steht ein Doppelkampf an, hm?“, wechselte Melody das Thema nach einem Blick auf die Uhr, die verriet, dass es in wenigen Minuten weitergehen würde. Hatte sie Anlass, sich Sorgen zu machen? Bestimmt nicht. Ryan und Andrew hatten gewiss schon unzählige solcher Kämpfe ausgetragen. Aus unempfindlichen Gründen war ihre Nervosität jedoch um das Doppelte angestiegen und dabei hatte der Kampf noch gar nicht angefangen. Nicht einmal die Paarungen standen fest.

    „Ist bestimmt schwer, zwei Pokémon gleichzeitig zu steuern.“

    „Vergiss nicht, dass es beim Gegner auch noch eins mehr im Auge zu behalten gilt“, erinnerte Audrey, und richtete ihre Sonnenbrille – die auf der Nase – neu. Die ganze Zeit schon trug sie diese tief und schaute über den Rand hinweg.

    „Aber das klingt schwerer als es ist.“

    Melody lachte trocken auf. Mit Sicherheit untertrieb Andrew da zumindest ein bisschen. Klar spielten beim Trainieren und Kämpfen generell Gewohnheiten und Automatismen eine wichtige Rolle, aber es gab Grenzen für die Menschliche Wahrnehmung. Ihre eigene wart in den letzten Matches bereits ein ums andere Mal überfordert.

    „Na du hast leicht reden. Ich bin ja bei manchen Kämpfen schon mit dem Zusehen kaum hinterhergekommen. Wie soll das erst mit vier Pokémon laufen?“

    „Diese vier kämpfen nicht alle für sich“, stellte Ryan ganz plötzlich und äußerst fest klar. Er zog damit die Aufmerksamkeit von allen dreien auf sich.

    „In einem Doppelkampf willst du als Einheit auftreten. Ein gut eingespieltes Team wird in neun von zehn Fällen gewinnen, selbst wenn die andere Seite individuell stärker ist.“

    Kurz wanderten Ryans marineblaue Augen umher, als überdachte er seine eigenen Worte. Und tatsächlich entschied er sich, sie umzuformulieren.

    „Andererseits kann man auch immer einen Doppelkampf mit zwei Pokémon gewinnen, die vorher noch nie nebeneinander gekämpft haben.“

    Andrew und Audrey musste er das nicht weiter erörtern. Die wussten selbst, wie das Doppel zu funktionieren hatte. Melody aber konnte seiner Argumentation noch nicht ganz folgen.

    „Wie denn das?“

    Ryan wollte jetzt nicht den Lehrer spielen, wie gestern noch bei Cody. So entschied er sich, die Sache abzukürzen und vor allem von den Grundlagen zu sprechen, die er selbst befolgte. Die Dreistigkeit, für alle Trainer zu sprechen, brachte er nicht auf. Nicht einmal für alle an diesem Tisch.

    „Alles was ich sehen will ist, dass jeder für seinen Partner in die Bresche springt und auch mal einen für ihn wegsteckt. Egal ob Hundemon, Guardevoir, Sumpex oder Despotar – wenn man sich für den anderen einsetzt, wird jeder von ihnen sich sagen: Das war stark, das war mutig, das will ich für dich auch machen.“

    Jetzt redete er irgendwie doch länger als geplant. Man täte ihm einen Gefallen, wenn ihn jemand bremsen würde, aber tragischerweise hörte Melody ihm viel zu gespannt zu und nur wegen ihr wagte keiner, ihn abzuwürgen.

    „Eine Einheit ist immer stärker als die Summe ihrer Teile, sagt man ja. Und das ist schon mehr als die halbe Miete. Ob du´s glaubst oder nicht, so einfach kann man Teamkämpfe gewinnen.“

    Es klang wirklich etwas zu einfach. Ein gute Portion Können, Kraft, Geschick und natürlich Grips gehörten schon dazu, wie in jedem Match. Doch der Zusammenhalt war der Kern, um den diese Attribute herumgebaut wurden und ohne die keines davon wahren Wert besaß. Das schien Melody auch rasch zu begreifen. Es war ja im Grunde auch ganz simpel. Anschließend formten ihre Lippen ein zuversichtliches Lächeln.

    „Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen.“

    Sie hatte den Jungs in den letzten Tagen oft genug beim Training zugesehen, um sich ihres Teamspirits gewahr zu sein. Ob die langjährigen Weggefährten oder die jungen Neuzugänge Sumpex und Guardevoir, hatte zu keinem Zeitpunkt eine Rolle gespielt. Sie alle hatten sowohl einander gegenüber als auch Schulter an Schulter gestanden. Hatten gemeinsam geschwitzt, sich angespornt und im Rahmen von gesunder Konkurrenz sogar gelitten. Sie quälten sich regelrecht, um stärker zu werden. Das schweißte zusammen. Sie waren Kameraden, Freunde. Mehr sogar. Sie waren eine Familie.


    Über die Stadionlautsprecher ertönte eine spannungsaufbauende Musik. Nicht die epische Schlachtenmelodie wie beim Einlauf der Trainer, sondern etwas Anstachelndes, Dramatischeres. So wart schon in der letzten Pause darauf aufmerksam gemacht, dass selbige in wenigen Minuten enden würde. Für Ryan und Andrew war dies das Zeichen, sich in die Katakomben aufzumachen. Obwohl sie die Ankündigung lieber mit den Mädels gemeinsam verfolgen würden, mussten sie bereit sein, falls sie schon im ersten Semifinale kämpfen sollten. Das würde nämlich unmittelbar nach der Bekanntgabe starten und dann blieb keine Zeit mehr, um sich durch den halben Rundlauf des Prime Stadiums zu kämpfen. Sie tauschten einen vielsagenden Blick aus. Kein Nicken, Lächeln oder sonst was. Einfach nur Feuer. Sie waren bereit.

    „Zeigt´s ihnen“, meinte Audrey knapp und hielt abwechselnd beiden Jungen ihre Faust vor, die daraufhin bei ihr abklopften. Darum brauchte sie nicht erst bitten.

    „Und wenn sie gegeneinander antreten müssen?“, warf Melody ein. Fast im Flüsterton, als sei ihre jede Paarung recht außer dieser und sie befürchte fast, das Schicksal herauszufordern, indem sie es nur aussprach. Sie erntete darauf nur ein Schulterzucken und ein schiefes Grinsen. Man mochte meinen, Audrey war auf diese Konstellation sogar richtig heiß.

    „Dann zeigt´s euch gegenseitig.“

    Sehr gerne. Aber das wollten sie am liebsten im Finale. So weit schaute aber noch keiner voraus, denn der Weg dorthin führte über einen geradezu höllisch schweren Doppelkampf. Das stand als einziges bereits fest.

    Ryan und Andrew gingen nebeneinander als würden die das nächste Match als Duo bestreiten. Natürlich war ihnen jedoch bewusst, dass das genaue Gegenteil eintreten konnte. Was nützte es, darüber zu grübeln? Am Ende mussten sie es nehmen, wie es kam. Die langsam an ihre Plätze zurückkehrenden Zuschauer, die sie passierten, drehten sich alle nach ihnen um, als könnten sie es kaum fassen, dass sie wie ganz normale Menschen hier langspazierten. Auf dem Weg die Treppe hinab teilten sich die Massen vor ihnen fast ehrfürchtig. Hier und da wünschten manche ihnen Glück und Erfolg. Einige wenige klopften ihnen auf die Schulter. Aber nichts von alldem löste eine Reaktion bei ihnen aus. In Gedanken waren sie bereits im Tunnel Richtung Innenraum, Richtung Kampffeld. Ryan ging voraus und hallte die Hände in den Handschuhen zu Fäusten geballt. Die marineblauen Augen leuchteten ernst und entschlossen. Ganz gleich, welcher Gegner ihn in ein paar Minuten erwarten würde, er würde kämpfen als ginge es um sein Leben. Er hatte sich längst damit abgefunden, dass er dies in Bälde ohnehin tun musste. Und sollte er tatsächlich das Finale erreichen, würde er gar noch eine Schippe draufpacken. Dann würde er kämpfen, als ginge es um das Leben aller.

    Andrew dagegen schlurfte lässig durch die Gegend als stünde eine Routinearbeit an und hatte die Hände in den Taschen seiner Jeansjacke vergraben. Das euphorische Lächeln hätte in keinem größeren Kontrast stehen können. Er war sich der Aufgabe sehr bewusst. Natürlich würde es gleich verflucht hart werden. Es würde ein Gegner warten, der seine bisherigen weit in den Schatten stellte. Einer, der ihm und seinen Pokémon alles abverlangen und ihr Können auf Herz und Nieren prüfen würde. Mit aller Gewalt und aller Macht. Genau solche Kämpfe waren das Allergeilste. Völlig egal, was nach dem Turnier sein würde – er wollte das hier genießen. Arceus, er tat es schon jetzt, bevor es überhaupt los ging.

    Mit dem Erreichen des Erdgeschosses waren die Menschenmassen plötzlich weg. Hier unten gab es nebst den Wegen zum Kampffeld nur Räume, die ausschließlich für das Personal zugänglich waren. Aber in diesem Augenblick hätte keiner von ihnen einen Unterschied zum Obergeschoss festgestellt. Ob Personen, Geräusche oder sonstige Einflüsse – das befand sich in einer Nische ihrer Wahrnehmung, die kaum noch registriert wurde. Es gab jedoch Ausnahmen. Wie zum Beispiel die beiden Trainer, die im Aufenthaltsraum bereits warteten. Doch ging Ryan zielstrebig geradeaus, passierte Terry Fuller dabei desinteressiert und ließ sowohl seine Blicke als auch die der schwarzhaarigen Agentin auf der Bank, die sich beim Anblick der zwei Johtonesen glatt die Lippen leckte, an sich abprallen. In Andrews Augen las sie dagegen ein feindseliges, ja geradezu verachtendes Blitzen. Wirklich süß. Das ließ Bellas Herz höher schlagen, obgleich ihr schleierhaft war, wie sie nach dem gestrigen Gespräch zu dem Vergnügen kam.

    Ryan suchte sich eine weiter entfernte Bank, die genau zwischen zwei Säulen platziert worden war. Er nahm im Schneidersitz darauf Platz und lehnte mit dem Rücken an einer davon, währen die Arme verschränkt und der Kopf auf die Brust gebettet wurde, als wolle er schlafen. Er kehrte noch einmal in sich und befreite seinen Geist. Von Mila, von Rayquaza, Team Rocket, dem Krieg. Von einfach allem. Zumindest soweit es menschenmöglich war. Das alles spielte im kommenden Match keine Rolle und würde sich während diesem nicht beeinflussen lassen. Jetzt war hier, hier war Halbfinale. Alles andere kam danach. Von nichts würde er sich ablenken lassen. Nicht einmal von einem Krieg. Er wollte einfach gewinnen.

    Andrew steuerte bereits den Flur an, der zum Tunnel und schließlich zum Innenraum des Stadions führte. Er lehnte sich in einiger Entfernung an die Wand, behielt die Hände in den Taschen. Von befand sich nicht mal einer der Bildschirme in seinem Sichtfeld, sodass er die Bekanntgabe der Paarungen gar nicht würde sehen können. Es reichte auch vollkommen, sie zu hören. Cay las ja wirklich alles, was von Bedeutung war, nochmal extra vor. Sein Platz war bewusst in einiger Entfernung zu Ryan gewählt worden. Mit dem Betreten dieses Raumes hatten sich die Schwerpunkte zwischen ihnen kurzweilig verschoben. Ab jetzt waren sie zuerst Rivalen und erst danach Freunde. Ohne Argwohn und Zwietracht, dafür mit gleichermaßen ausgeprägtem Siegeswillen. Zumindest fast. Dieser Sieg kam zu jenen, dessen Wille das berüchtigte Quäntchen stärker war. Bella sah abwechselnd zu beiden, hatte das Kinn auf eine Hand gestützt und schien sich in Gedanken mehrere Szenarien auszumalen, die dort draußen gleich Realität werden könnten. Natürlich war sie währenddessen mal wieder am Trinken. Hier musste sie das vor niemandem mehr verstecken. Ryan und Andrew wussten ja bereits um ihre Liebe zu Hochprozentigem und sie sollte verflucht sein, wenn sie wegen diesem Fuller trocken blieb.


    Die Musik im Innenraum wurde lauter, schneller, reit dringlich zur Eile mit der Rückkehr an den Sitzplatz. Ein ungeduldiges Raunen ging durch die Massen auf den Tribünen und Cay kündigte euphorisch wie immer die Fortsetzung des Turniers an.

    „Oho, schaut nur, wie spät es ist. Die Uhr sagt, es ist Halbfinal-Zeit! Ab auf die Plätze zurück, aber fühlt euch nicht zum Hinsetzen gezwungen, denn mich hält ab jetzt auch nichts mehr auf dem Stuhl.“

    Tatsächlich nahmen die wenigsten wirklich Platz, wie Audrey mit einem sporadischen Rundblick feststellte. Sie und Melody stellten fast schon Ausnahmen dar, aber letztere rutschte auf ihrem Sitz so weit nach vorn, dass sie fast runterfiel und krallte sich angespannt, in ihren Rock. Ihr breites Lächeln bestätigte die Vermutung, dass diese Anspannung freudiger Natur war.

    „Was für ein geiler Tag war das bislang?“, fuhr Cay fort und ließ erahnen, wie er übers ganze Gesicht grinste, während er einige Matches in Gedanken im Schnelldurchlauf nochmals abspielte.

    „Ganz im Vertrauen, ich mach das hier schon eine Weile, aber so einen bombastischen Summer Clash hab ich noch nicht erlebt.“

    Das Publikum vergeudete keine Zeit, seine Meinung kund zu tun und sich mit Jubel und begeisterten Pfiffen Cays Auffassung anzuschließen. Der Lärm war elektrisierend. Wenn sich tausende Stimmen vermengten, sodass man sie nicht nur hörte, sondern auch spürte.

    „Was noch bleibt, sind vier Trainer, drei Kämpfe und ein Sieger. Doch wie sieht die letzte Hürde vor dem großen Finale aus?“

    Streng genommen standen vier weitere Matches an, da auch der dritte Platz ausgefochten wurde. Verständlicherweise war der aber von geringerem Interesse und irgendwo auch nur ein Zeitfüller, damit den Finalisten Gelegenheit gegeben war, vor dem Höhepunkt nochmal durchzuschnaufen. Genau das tat der Stadionsprecher jetzt schon jetzt, als auf den riesigen Bildschirmen die vier Gesichter von Ryan, Andrew, Terry und Bella auftauchten, um seiner Anspoannung Luft zu machen.

    „In wenigen Sekunden wissen wir´s!“

    Die Bilder wurden umgedreht und zeigten eine gemusterte Rückseite wie bei einem Kartenspiel. Sie wanderten erst zueinander, dann übereinander als mische man sie durch und teilten sich schließlich in zwei Paare. Irgendwie lag ein richtiger Trommelwirbel in der Luft, obwohl keiner über die lautsprecher abgespielt wurde. In den Katakomben war Terry der Einzige, der gefesselt auf den Fernseher starrte. Sein Erzrivale schielte scheinbar kaum interessiert aus dem Augenwinkel rüber, hatte aber immerhin den Kopf angehoben. Andrew schloss in seiner Position an der Wand lehnend die Augen und stellte sich bildlich das vor, was nun verkündet würde. Bella nahm ohnehin alles mit einem feisten Lächeln hin.

    Die Karten wurden umgedreht. Die Paarungen standen fest.

    „Boom, da sind wir!“ jaulte Cay und sofort gab es euphorische Aufschreie auf den Rängen, sodass er die Stimme weiter anheben musste.

    „Das erste Match ist die Neuauflage des Johto Liga Finals. Terry Fuller kämpft gegen Ryan Carparso!“

    „Jaa!“

    Eben der sprang von seiner Bank auf, schmiss diese dabei fast um und ballte triumphierend die Faust. Der energische Ausbruch wäre ihm glatt peinlich, wenn in seinem Verstand noch Platz für solche Belanglosigkeiten existieren würden. Er holte tief Luft, stieß sie aber glatt sofort wieder aus und ging den Raum einmal in ganzer Länge hektisch auf und wieder ab, hatte dabei die Fäuste geballt. Natürlich hatte er sofort alle Blicke auf sich gezogen. Bella grinste sich mal wieder eins. Diese Leidenschaft, dieser Ehrgeiz. Wirklich süß. Der seitens Terry dagegen war mit den scharf verengten Augen deutlich weniger erbaut, hatte er sich doch gewünscht, dem Penner diesmal ausweichen zu können. Aber… wieso eigentlich? Ryan bemerkte das feindselige Funkeln seines Rivalen nicht einmal. Genauso wenig wie das irritierte hin und her wandern seiner Pupillen, die offenkundig von Verwirrung zeugten. Verwirrt daher, warum er nicht einfach das Los akzeptieren und einen leichten, geradezu geschenkten Sieg annehmen wollte. Die wahre Herausforderung würde im Finale schon noch kommen. Egal, wer es gewinnen sollte. Und Ryan einen erneuten Dämpfer zu verpassen, war an und für sich auch nie etwas Verkehrtes. Wieso also?

    Terry hätte in Flammen stehen oder ein Chelterrar durch die Decke brechen können - Ryan hätte es nicht gemerkt. Überhaupt nichts und niemand in seinem Umfeld erhielt Aufmerksamkeit. Es war kein Platz neben der surrealen Botschaft, die eben verkündet worden war. Es war eingetreten. Er hatte es kaum zu hoffen gewagt. Er bekam ein weiteres Match auf großer Bühne gegen seinen erbittertsten Gegner. Jener, der letzten Monat noch so auf ihn herabgesehen hatte und dem er sich nicht hatte stellen können. Er und Terry. Hier beim Summer Clash. Dies als wahrgewordenen Traum zu bezeichnen, wäre des Guten etwas zu viel, aber dieses Los machte ihn verdammt glücklich.

    „Die gnadenlose Bella Déreaux tritt folglich gegen Andrew Warrener an.“

    Bei der Erwähnung ihrer beiden Namen, lenkte die Agentin den Blick zu ihrem zugelosten Gegner. Was sie dort sah, ließ ihr ersoffenes Herz vor Freude springen. Könnte er sich jetzt noch die rubinrote Farbe ausleihen, würde sie glatt glauben, Sheila vor sich zu sehen. Andrews Augen waren du Dolchen geworden und stießen vehement auf sie ein. So einen Ausdruck hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Aber sie war hocherfreut, ihn zu finden. Genau denselben Willen hatte sie auch bei Sandra beobachtet und ihr später gestohlen. Sie hätte durchaus Lust, dies ein zweites Mal zu tun.

    „Genug gewartet, es wird Zeit, den Laden zum Kochen zu bringen…“, begann Cay mal wieder die Menge anzupeitschen und lotste dann die ersten zwei Trainer gen Innenraum. Ryan ging weiterhin auf und ab, inzwischen aber gemächlicher. Noch immer waren beide Fäuste geballt, als wolle er sie gleich in die Luft reißen und einen Siegesschrei ausstoßen. Dann blieb er vor dem Flur abrupt stehen, neigte den Kopf etwas, um Andrews Blick aufzufangen. Fast als wundere er sich, dass der überhaupt anwesend war. Es war nur ein ganz kurzer Kontakt. Aus dem Augenwinkel heraus, ehe sich der Fokus wieder geradeaus richtete. Beide ballten aus Faust und schlugen mit dem Rücken aneinander.

    Terry wartete noch, bis Ryan außer Sicht- und Hörweite war. Es war nicht so, dass er etwas vorhatte, was dieser nicht mitbekommen durfte, aber er wollte ihm nicht noch einmal dort im Tunnel begegnen. Auf eine zweite Runde mit seinen Psychospielchen hatte er keinen Bock. So ließ er seinen Blick ziellos durch den großen Raum wandern und konnte, bedingt durch das, was vorhin passiert war, nicht vermeiden, sich einmal nach Bella zu drehen. Die schenkte ihm nur einen Seitenblick und hob das Kinn an, als frage sie still, ob es noch was zu klären gäbe.

    „Eine ganze Menge“, würde die Antwort lauten. Er selbst schätzte Ryan mit Abstand als den Schwächsten hier ein. Sie dagegen drückte ihm diesen Stempel auf und würde ihr Geld sogar auf den Johtonesen setzen, wenn es um den Turniersieg ging. Wie in aller Welt konnten ihre Meinungen nur so weit auseinander gehen? Und warum gerieten seine eigenen Ansichten so ins Wanken, obwohl er Ryan Carparso doch so viel länger und besser kannte? Tat er das denn wirklich? Über ihn selbst schien Bella ja auch geradezu unheimlichen präzise Bescheid zu wissen.

    Es gab so einiges, dass er sie gerne fragen würde, aber er zweifelte stark daran, dass er brauchbare, geschweige denn ehrliche Antworten bekommen würde. Doch ab morgen musste ihn das auch nicht mehr kümmern. Er hatte interessantere Menschen als sie getroffen und vergessen. Wenn er erst einmal festgelegt hatte, dass sie ihn nicht länger kümmerte, dann konnte er auch wieder befreit kämpfen. So machte er kurzerhand hier und jetzt seinen Seelenfrieden damit, dass sie ihm ein Rätsel bleiben würde. Und vor allem damit, dass dies für ihn okay war. Um nicht zu sagen uninteressant. Der Trainer aus Einall zeigte die kalte Schulter und schlenderte Richtung Flur. Bella nahm es mit einem weiteren Schluck Scotch hin. Der von Willam war einfach immer noch der beste.


    „Freunde, Freunde, wer hätte gedacht, dass ich mal so eine Begegnung beim Summer Clash ansagen darf? Ich ganz sicher nicht, so viel sei verraten.“

    Mittlerweile war wirklich jeder Zuschauer an seinen Platz zurückgekehrt. Nur saß wirklich kaum einer auf ihm. Auch wenn sie diese vier Teilnehmer, die gleich die Semifinals bestreiten sollten, schon mehrfach in Aktion gesehen hatten, war die Atmosphäre gleichwiegend mit der Bedeutung des Kampfes eine ganz andere. Die Vorfreude stieg proportional dazu und verwandelte das Prime Stadium jetzt schon in einen Hexenkessel. Audrey war wohl die Einzige, die zumindest noch die Hände stillhalten konnte. Ihre Arme waren vor der Brust verschränkt und sie lächelte ganz gelassen, als kenne sie bereits den Ausgang und war über ihn sehr erfreut. Melody war dagegen so aufgekratzt, dass es für sie beide langte. Man musste fast befürchten, dass sie gleich über die Mauer fiel. Sie stemmte sich bereits mit einem Fuß darauf und musste von einem der vielen in Signalwesten gehüllten Ordner, die in der vordersten Reihe positioniert waren, gebändigt werden. Irgendwo hinter ihr erklangen stetig lauter werdende Sprechchöre, die Ryans Namen skandierten, dem sie sich mit allem, was ihre Stimmer hergab anschloss und dabei eine Faust reckte. Anderswo forderten die Zuschauer, Terry sehen zu dürfen. Im ganzen Stadion gab es mehrere solcher Gruppen für beide Parteien.

    „Und ohne weitere Umschweife – hier kommt jemand, der sich innerhalb von gerademal drei Jahren einen Namen in jeder Region gemacht hat, die eine Pokémon Liga hält. Und das, ohne die Hälfte davon überhaupt betreten zu haben.“

    Die Musik von der Bekanntgabe setzte wieder ein. Ein Trommelwirbel lag in der Luft. Der Blick ins Innere des Tunnels, der bereits von buntem Scheinwerferlicht erleuchtet wurde, wart jedoch verhindert, da nun ab dem Halbfinale ein künstlich erzeugter Rauchschleier die Schwelle verhüllte.

    „Er war der große Sieger in der letzten Silberkonferenz und hat bereits inoffizielle Kämpfe gegen ein paar von Einalls Top Vier-Mitgliedern gewonnen. Manche nennen ihn momentan einen der stärksten Trainer der Welt.“

    Melody, klappte bei dieser Info glatt die Kinnlade runter und sie suchte ungläubig nach Bestätigung suchend den Blick von Audrey. Die nickte nur bitter. Sie hatte es nicht mit eigenen Augen gesehen und es war zwar nur von einem eins-gegen-eins sowie einem drei-gegen-drei die Rede, aber Freunde und Bekannte schworen bei all ihren Pokémon darauf. Von den betreffenden Mitgliedern der Top Vier hatten die Medien nie ein Statement ergattern können, aber sie schätze, dass eine weitreichende Falschmeldung dieses Formates unverzüglich dementiert worden wäre. Wenn schon nicht von den Top Vier selbst, dann von deren Managern, PR-Beratern oder dem Liga Komitee. Bester Trainer der Welt war in Audreys Augen dann doch übertrieben, aber manche Fans neigten zu so etwas.

    „Ich gebe euch Terry Fuller!“

    Da änderte sich die Akustik wieder schlagartig. Die heroische Schlachtenmelodie löste den Trommelwirbel ab und der angekündigte Trainer trat durch die Rauchwand ins Freie. Wie schon in den letzten Runden verzichtete er jedoch auf Show und Prahlerei. Er hielt kurz, um sich umzusehen, die Reaktion der Menge zu begutachten. Die konnten es von den Tribünen aus nicht erkennen, aber die Atmosphäre ließ seine Mundwinkel minimal nach oben zucken. Dieser Lärm hatte schon was. Obwohl er tatsächlich die Einsamkeit der Wildnis bevorzugte. Bei einem Kampf zählten nur die Trainer und ihre Pokémon. Alles andere war überflüssig. Im schlimmsten Fall sogar ein Störfaktor. Aber das hier… das waren keine ungeladenen Zaungäste. Kein Dutzend stalkender Teenies, die irgendwie spitzgekriegt hatten, wann und wo er mal wieder einen Arenakampf bestritt, um sich ungefragt auf die Tribünen zu begeben. Dies waren keine schaulustigen Passanten, die sich irgendwo im Park aufdringlich an den Rand seines provisorischen Kampfplatzes drängten, weil ihre eigenen Angelegenheiten nicht spannend genug waren. Das hier war Energie. Das war Ektase. Das war Bühne. Seine Bühne! Fast traurig, dass er sie mit Ryan teilen musste.

    Terry marschierte, den Blick nun eisern geradeaus gerichtet, zum Kampffeld. Sporadisch wurde der Nacken etwas gedehnt und die Arme gelockert. Die Anspannung und die Trägheit, die in erster Linie diese Bella Déreaux zu verantworten hatte, konnte er nun wirklich nicht brauchen. Bevor er durch die Rauchwand getreten war, hatte er entschieden, die Frage nach Ryans Form völlig zu begraben. Ob es nun das leichteste oder schwierigste Turniermatch werden würde, spielte keine Rolle. So oder so würde er es angehen, wie alle anderen. Seine größten Waffen waren Einschüchterung und Unantastbarkeit. Niemand reichte an ihn heran, niemand konnte ihm was und wenn er einen Kampf erst einmal begonnen hatte, wusste Terry, dass er ihn gewinnen würde. Und seine Gegner wussten das in der Regel auch.

    Nicht so dieser hier. Ryan wartete hinter der Nebelwand als wolle er sie gleich rennend durchbrechen. Den Kopf hatte er gesenkt, sodass das blonde Haar sein Gesicht vollkommen verhüllte. Nicht, dass ihn gerade jemand sehen könnte. Noch, dass es ein Problem dargestellt hätte. Das Gegenteil war der Fall. Er wollte da raus. Wollte, dass ihn alle sahen. Dass sie ihm zusahen!

    „Ihm gegenüber steht jemand, den sowohl er auch ihr bestens kennt“, fuhr Cay endlich fort, nachdem Terry seinen vorgewiesenen Platz erreicht hatte und ein zweites Mal der Trommelwirbel einsetzte.

    „Er legte in seiner Trainerkarriere den wohl krassesten Raketenstart aller Zeiten hin. Schon in seinem ersten Jahr triumphierte er auf dem Indigo Plateau und stand Fuller bei der Johto Liga im Finale gegenüber. Heute will er die Revanche!“

    Revanche? Lächerlich. Selbst wenn dies das Finale der Hoenn Liga wäre, so würde ein Sieg über Terry die Rechnung nicht begleichen. Ryan war in seiner Heimatstadt geschlagen worden. Hatte sich die Krone des Silberberges von seinem größten Rivalen stibitzen lassen. Hatte zusehen müssen, wie er an seiner Stelle die Trophäe in den Nachthimmel stemmte, unter dem er sich heimisch fühlte. Das ließe sich nur am selben Ort vergelten. Aber um Revanche ging es hier auch nicht.

    „Hier kommt der mit dem göttlichen Auge, Ryan Carparso!“

    Der erste Schritt hinaus wurde noch in derselben Körperhaltung getätigt, die der eines benebelten Schlafwandlers gleichkam. Doch schon sowie er mit dem zweiten Fuß nachzog, breitete er mit einem tiefen Atemzug die Arme aus und sah zum Himmel hinauf. Ein Sturm aus Stimmen prallte an ihm ab. Wenn er wollte, könnte er sie alle übertönen, so viel Energie pulsierte gerade in seiner Brust. Er wollte sie hinausschreien und Terry mit dessen Gewalt zurück in den Tunnel, ach was, direkt nach Einall fegen.

    Er sparte sie. Verbot sich das stumpfsinnige Getue. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden seine Partner die Stimme ihres Trainers – genauer gesagt die Energie darin – noch bitter benötigen. Außerdem wollte er sich der Drachendame dort oben nicht so undiszipliniert präsentieren. Wobei die schließlich selbst sehr stimmgewaltig war und das auch während des Kämpfens mehrfach demonstriert hatte. Keiner auf der Tribüne hatte Anlass, nach oben zu sehen. Und selbst wenn, so ließ sich die Gestalt des Brutalanda mit bloßem Auge kaum ausmachen, selbst wenn sie einmal kurz hinter den Wolken hervorbrach. Nun, da der Junge namens Ryan Carparso für dieses laut umworbene Match das Feld betreten hatte, würde sie sich kaum noch verstecken müssen und konnte unbehelligt zusehen, was er und seine Pokémon dort trieben. Sie hatte bereits Sumpex´ und Guardevoirs Siege beobachtet, doch handelte es sich bei keinem von beiden um einen Triumph, auf den man besonders stolz sein sollte. Mit einem einzigen Schlag hätte Ruby sie niedergestreckt, ohne wirkliche Mühe aufzuwenden. Jetzt aber schien endlich ein Gegner von würdigem Format zu warten und sie war sehr gespannt, wie Ryan sich behaupten würde.

    Die Drächin schnaubte verblüfft. Hatte sie den jungen Mann gedanklich gerade beim Namen genannt? Sie überlegte tatsächlich einen Moment lang sehr angestrengt. Ja, doch. Genau das hatte sie. Merkwürdig. Normalerweise machte sie sich nichts aus Namen von Menschen. Selbst bei Mila und ihrer Partnerin hatte es seine Zeit gedauert, bis sie wirklich verinnerlicht worden waren. Und nur die Priesterin selbst nannte sie heute noch bei diesem.

    Ruby schüttelte diese lästigen Gedanken ab. Es war nicht die Zeit zum Grübeln. Schon gar nicht, über ihn zu grübeln. Über ihren… Trainer. Allein dies zu denken fühlte sich noch immer unsagbar befremdlich an. Genaugenommen hatte sie ihn auch nicht als solchen akzeptiert. Würde sie vermutlich auch nicht. Er und seine sogenannte Familie wurden bis auf weiteres toleriert. Dabei wollte sie es für den Augenblick gerne belassen.


    Ryan ließ alle ungewöhnlich lange warten. Man könnte es nicht verübeln, wenn ihm jemand unterstellte, er würde polarisieren. Sollten sie doch. Das kümmerte ihn gerade kein Bisschen. Er setzte dennoch seinen Weg alsbald fort, um nicht ungewollt andere Blicke hinauf zu Ruby zu lenken. Dass dieses Bilderbuch Brutalanda zum Publikum zählte, ging niemanden etwas an und blieb besser ein Geheimnis. Stattdessen wischte er seine Haarpracht zurück, um sein Sichtfeld frei zu machen und Terry zu fixieren. Er sah ihn während der folgenden Schritte allerdings nicht auf dem Kampffeld des Prime Stadiums. Sie beide befanden sich im berühmten Knofensa-Turm von Viola, flankiert von einem alten Mönch im Kimono, der ihnen kryptische Denkanstöße über die Beziehung zu ihren Pokémon gegeben hatte und nun mit eigenen Augen beobachten wollte, ob sie mit ihren Partnern wirklich Eins waren. Auch wenn der Mann stellenweise sehr abwesend wirkte und mehr mit sich selbst, als mit den beiden Trainern zu reden schien, war es wahnsinnig demütigend gewesen, vor seinen Augen zu verlieren. Hätte nur noch gefehlt, dass er sich Terrys Geprahle von dessen ach so überlegener Bindung zu seinen Partnern anschloss, was zum Glück nicht eingetreten war. Eine Schmach war es für Ryan dennoch gewesen.

    Dann sah er ihn im Unterholz des Steineichenwaldes, direkt vor dem alten Schrein aus fein geschnitztem Holz. Alt und zerbrechlich, weder groß noch beeindruckend, aber vielleicht verlieh gerade diese Einfachheit ihm seinen mythischen Charme. Dies und die makellose Stille, die ihn umgeben hatte. Jene war von seinem verhassten Rivalen gestört worden, als Ryan für eine Minute hatte in sich kehren und diesen Ort hatte würdigen wollen. Jedes Mal, wenn er an Schreinen, Ruinen oder anderen sagenumwobenen Bauten vorbeikam, suchte er dort einen Moment der Ruhe, um jene auf sich wirken zu lassen. Um zu realisieren und auch ein wenig zu träumen, wer auf diesem Fleckchen Erde gestanden haben oder was vor vielen Jahren hier passiert sein mochte. Welche Geschichten diese Bauten ihm erzählen könnten, wären sie nur fähig zu sprechen. Terry hatte jeglichen Respekt dafür vermissen lassen und ihn ausgerechnet hier gestört, um seine – so hatte er damals geglaubt – in Stein gemeißelte Überlegenheit erneut zu demonstrieren. Ryan hatte sich letztlich dazu breitschlagen lassen. Allerdings nicht, um zu beweisen, dass er besser war, sondern um ihn für seine Takt- und Respektlosigkeit zurechtzustutzen. Er hatte mit dem alten Schrein im Rücken gekämpft und selbst heute könnte er noch darauf schwören, von einem Rückenwind getragen worden zu sein. Als sei der Schrein auf seiner Seite gewesen. Nie wieder hatte ein Match zwischen ihnen so einseitig ausgesehen.

    Anschließend standen sie am Strand von Anemonia City. Ryan war in dem Glauben gewesen, Terry ausgewichen zu sein, indem er von Dukatia City ein kleines Transportschiff dorthin genommen hatte. Die meisten reisten nordwärts Richtung Teak. Dass sie beide exakt denselben Gedanken gehabt hatten, war ihnen extrem übel aufgeschlagen. Zugegeben, die gesamte Fahrt hätten sie sich dadurch nicht gleich verderben brauchen, aber auf so kleinem Raum war es grundsätzlich schwierig, sich aus dem Weg zu gehen. Besonders für Rivalen. So hatte sich auf dem Weg in die kleine Küstenstadt einiges an Unmut aufgestaut, welchem nach ihrer Ankunft Luft gemacht werden musste. Allerdings hatte Ryan sich von seinen Emotionen zu stark einnehmen lassen. Meist war das etwas Gutes, aber nicht, wenn es sich um so negative Emotionen handelte. Terry hatte die zu jener Zeit viel besser im Griff gehabt, daher weit besonnener gekämpft und schlussendlich gewonnen. Was war das für ein gebrauchter Tag für Ryan gewesen.

    Das bis dato wichtigste ihrer Duelle hatte wenig später beim Strudel-Cup stattgefunden. Ein Turnier für Wasserpokémon, an dem auch Audrey teilgenommen hatte und bei welchem dem Sieger ein seltenes Amulett winkte, das jeden Vertreter dieser Gattung stärkte. Es war das erste Mal gewesen, dass sie einander bei einem offiziellen Kampf gegenübergestanden hatten. Dementsprechend groß war der Ehrgeiz gewesen, dieses Amulett zu gewinnen. Es sollte zu einem Symbol ihrer Rivalität werden und immer an diesen Tag erinnern. Impergator hatte es mit sehr viel Stolz getragen – und sich ebenso geschämt, als es während des zweiten Arenakampfes mit Sandra zerbrochen war.

    Im Tanztheater von Teak war Ryan ebenfalls Sieger gewesen. Bis heute war es das einzige Mal, dass sich ein Ausgang zwischen ihnen wiederholt hatte und als objektiver Beobachter musste man einfach festhalten, dass Ryan zu dieser Zeit schlicht der Bessere gewesen war. Damals wollten sie die fünf Tänzerinnen herausfordern, für die diese Stadt unter anderem berühmt war, doch da sich beide Parteien kindischer Weise geweigert hatten, sie unter sich aufzuteilen, hatten das Recht des Stärkeren den Herausforderer bestimmt. Terry hatte somit einen weiteren Tag auf die Chance, gegen die vielen Weiterentwicklungen von Evoli zu kämpfen, warten müssen. Das war an sich nicht weiter tragisch, schon gar nicht in einer geschichtsträchtigen Stadt wie Teak City, die mehr als genug Möglichkeiten bot, die Zeit totzuschlagen. Die damit verbundene Niederlage war es dagegen durchaus.

    Der See des Zorns stellte ihren letzten Schauplatz dar, bevor die Silberkonferenz begonnen hatte. Ein stürmischer Tag war es gewesen. Kaskaden hatten sich aus dem Himmel ergossen und waren gefühlt fast waagerecht auf sie eingeprasselt. Dem Wind war kaum standzuhalten gewesen. Die Vernunft war da aber schon über Bord geworfen worden und keiner hatte den Vorschlag machen wollen, das Duell zu vertagen. Es war eine ihrer hitzigsten Schlachten gewesen und mit Abstand die schmutzigste, was leider nicht nur am Wetter gelegen hatte. Obendrein war es bis heute der einzige ihrer Kämpfe, der unentschieden geendet hatte. Zumindest in einem offiziellen Kampf. Nach den Straßen-Regeln hätte Ryan verloren, da Terrys Admurai erst eine Sekunde später zu Boden gegangen war.

    Und dann war das noch das Finale der Johto Liga. Vor einigen Wochen noch hätte Ryan sich eher selbst verprügelt, anstatt sich diesen Tag in Erinnerung zu rufen. Damit hatte er sich schließlich tagelang gequält und sich selbst runtergezogen. Hatte das Gefühl gehabt, nicht mehr aufstehen zu können. Dass alles vorbei sei. Aber das lag hinter ihm. Die Schmach und die Enttäuschung existierten zwar nach wie vor, doch ging er unterschiedlich damit um, empfand anders. Letztendlich war es doch nur ein weiterer von wahrscheinlich vielen Akten gewesen, den die beiden noch durchspielen würden. Zugegeben, es war bislang der größte und genau deshalb würde Ryan dies korrigieren und irgendwann selbst die Krone des Silberberges aufsetzen. Ob Terry mit von der Partie wäre, war dabei zweitrangig. Wenn sich eine weitere Gelegenheit bieten sollte, ihn auf großer Bühne zu bezwingen, dann umso besser. Falls nicht, war´s auch egal. Es ging schließlich nicht um Revanche. Es ging um das Spiel. Und das Spiel hörte niemals auf.


    Ryan hatte seine Kampfposition erreicht. In seinen Augen brannte ein marineblaues Feuer. Nein, das war unpassend für diese Augen Lugias. Eher tobte ein Sturm darin. Einer der in der Lage wäre, das ganze Stadion niederzureißen. Das ließ Terry zumindest nach außen hin jedoch völlig unbeeindruckt, aber der Blonde war sicher, dass er bloß pokerte. Entweder dies oder er war wirklich so naiv und sah in ihm weiterhin einen gebrochenen Trainer, einen Schatten seines früheren Selbst, der für ihn kein Hindernis darstellte. Ryan würde es schon merken, wenn er tatsächlich nicht ernst genommen werden sollte, aber eigentlich hielt er Terry nicht für so dumm. Nicht auf dieser Ebene zumindest.

    „Boah Leute, ich kann die Luft bis hier oben knistern hören. Für alle, die´s nicht wissen – die Jungs da unten sind nicht grade beste Kumpels. Hier wird nicht nur ein hochklassiges Match ausgetragen, sondern eine erbitterte Rivalität fortgesetzt“, erklärte Cay, während der Schiedsrichter die Regeln darlegte. Ein Doppelkampf ohne Wechsel. Erst wenn beide Pokémon einer Seite kampfunfähig waren, stünde der Sieger fest. Ryan hatte sich für jedes mögliche Los eine Option ausgedacht und da das Schicksal ihm nun Terry gegeben hatte, brauchte er gar nicht zweimal überlegen. Gleichzeitig schmunzelte er über die Wortwahl des Stadionsprechers und war damit absolut auf seiner Seite. Fortsetzung traf es sehr gut. Die Mentalität des Neuanfangs, den er einst angestrebt hatte, war längst umgeschrieben worden. Er war kein Anderer. War niemand Neues. Er war wieder er selbst und knüpfte da an, wo er unterbrochen hatte.

    „Bereit für die nächste Runde?“

    Er versprach sich von der Frage nicht wirklich etwas. Ryan hatte lediglich das Bedürfnis, etwas zu sagen, bevor es los ging. Selbst wenn er dafür nur Hohn oder Schweigen ernten sollte. Tatsächlich las er bei dem Trainer aus Einall eher dezente Verwunderung. Das erkannte er an den geschürzten Lippen und der hochgezogenen Braue.

    „Du rechnest dir wirklich noch Chancen aus, oder?“

    War es noch immer nicht deutlich genug? Dann eben absolut unmissverständlich.

    „Ich werd dir den Arsch aufreißen“, versprach Ryan mit einem euphorischen Grinsen und breitete die Arme ein Stück aus, als präsentiere er sich als seine Nemesis. Terry reagierte nur mit unverständlichem, geradezu bemitleidendem Kopfschütteln. Er war sich seiner Sache scheinbar genauso sicher und benahm sich, als stünde ein Geisteskranker vor ihm. Das konnte nur noch mit einem trockenen Auflachen quittiert werden, aber Terry musste noch einen draufsetzen.

    „Dir sollte mal klar werden, wie die Rollen hier verteilt sind. Ich bin der amtierende Champ von Johto...“

    „Und ich bin Ryan Carparso!“, stellte er felsenfest klar und sprach von seinem Namen in deutlich höheren Tönen als von der Liga. Er hätte gar die Möglichkeit, auf seinen Siegeszug vom Indigo Plateau hinzuweisen, der von Cay bereits erwähnt worden war. Bei diesem war Terry auch im Stadion gewesen, allerdings vor dem Finale gescheitert und hatte Ryan nicht gegenüber gestanden. Überhaupt hatten sie sich damals noch gar nicht gekannt. Doch das lag lange zurück und damit zu prahlen war eh nicht Ryans Stil. Er definierte sich nicht durch einen Titel. Sondern durch seinen Charakter. Und sein Charakter war definitiv stärker als Terrys Goldmedaille!

    Die Erklärung hierzu sparte er sich. Taten sprachen deutlichere Worte als seine Stimme es vermochte. Seine Taten würden laut sein. Würden schreien und toben und Terry hier und heute niederringen. Daraufhin würde der wiederum neuen Ehrgeiz finden und bissiger, hungriger zurückkehren. So lief das immer zwischen ihnen, zwischen Rivalen.

    Der Rotschopf zückte nun zwei Pokébälle und rümpfte die Nase als hätte sein Gegenüber etwas Offensichtliches, vielleicht sogar Überflüssiges gesagt. Ein Uneingeweihter würde davon ausgehen, dass genau dies der Fall war. Aber es war nur die Geringschätzung, die aus ihm sprach und die Worte so auslegen wollte, als untermauerten sie sein eigenes Argument.

    „Ich weiß“, meinte er nur. Womit er das Gegenteil bewies.

    „Du weißt überhaupt nichts.“

    Ryan langte in die Balltasche an seine Gürtel. Er nahm die beiden vordersten. Die jener Pokémon, die den Sieg über diesen Gegner gar noch mehr wollten als er selbst. Genau daher wählte er sie ja.

    In den Katakomben hatte Andrew sich an eine Säule gelehnt, von der aus er Bella, die wie immer ganz hinten im Raum saß, zumindest noch aus dem Augenwinkel heraus beobachten konnte. Eigentlich verspürte er gar keinen Wunsch, eben das zu tun, aber ein Gefühl sagte ihm, dass es deutlich klüger war. Sollte sie sich einmal davonstehlen, wenn er gerade nicht hinsah, würde er sich sofort die schlimmsten Möglichkeiten ausdenken, was sie nun tun könnte. Und sollten sich derartige Befürchtungen dann bewahrheiten, würde er sich das vermutlich nie verzeihen. Jedoch machte sie ganz und gar nicht den Eindruck, auf irgendeine Gelegenheit zu lauern. Nirgendwo anders wollte sie jetzt sein. Nichts Anderes tun. Sie fing nicht einmal Andrews Blick auf, um ihn verschmitzt anzulächeln und damit mal wieder zu verhöhnen. Sie schien selbst sehr interessiert an dem Match von Ryan und Terry. Gerade hob die Agentin ihren Flachmann, als wolle sie mit den beiden durch das Fernsehbild anstoßen und murmelte leise Worte, die außerhalb der Hörweite des jungen Trainers blieben.

    „Jetzt wirst du´s ja sehen, Terry.“

    Kapitel 55: Verwundeter Stolz


    „Es ist aus. Bella hat das Ding echt mit 2 zu 0 gewonnen und Johtos stärkste Arenaleiterin eliminiert!“

    Das Absol Weibchen ließ sich daraufhin regelrecht erlöst in den Sand fallen. Es war vorbei. Es war geschafft. Sie hatte gesiegt. Dafür hatte sie seit Jahren nicht so sehr quälen müssen. Aber auf genau einen solchen Kampf war sie von ihrer Trainerin eingeschworen worden. War von ihr ausdrücklich gewarnt und entsprechend vorbereitet worden. Selbst die Möglichkeit einer Niederlage sollte sie in Betracht ziehen, so wart ihr noch geraten. Dies hatte das Unlichtwesen jedoch abgelehnt, obgleich ein Sieg über sie ohnehin noch lange keinen Sieg über Bella bedeutet hätte.

    Eben deren Schatten legte sich grade über Absol. Im Gegenlicht der Sonne konnte sie nicht gleich feststellen, ob sie zufrieden war. Sie war zwar keines der Pokémon, die nur kämpften, um das Lob ihrer Trainer zu erlangen oder gar einzig dafür lebten, ihnen zu gefallen. Dennoch befand sie, dass sie für diese Leistung Anerkennung verdiente. Sie allein hatte zwei Pokémon der sogenannten Drachenmeisterin geschlagen und selbige aus dem Turnier geworfen. Ohne Auswechslungen und ohne fremde Hilfe. Es spielte keine Rolle, dass noch jemand anders für sie in die Bresche hätte springen können. Sie kämpfte, um zu siegen! Und sie war siegreich.

    Eine Hand legte sich sachte auf ihr Haupt und strich vorsichtig darüber. Die Berührung war fast wie die eines zaghaften Kindes, das dem Geschöpf, welchem es gerade gegenüberstand, noch nicht gänzlich traute, sich vielleicht sogar etwas fürchtete und es dennoch fühlen wollte.

    „Du Ärmste. Sieh dich an“, wisperte Bella schließlich. Und nun erkannte Absol traurige Augen, sowie ein mitfühlendes Lächeln, das immensen Stolz verriet.

    „Meine süße Kleine. Was hast du dich quälen müssen.“

    Sie strich weiter durch das schneeweiße Fell. Es war verklebt und verklumpt von Schweiß und Dreck und an einigen Stellen von Drachenfeuer versengt worden. Absol hatte für diesen Triumph ihre ganze Anmut eingebüßt. Da stellte sich durchaus die Frage, ob es das wert gewesen war.

    „Nur keine Sorge. Du wirst bald wieder strahlen und glänzen, wie eine Lady.“

    Das Absol schnaubte. Eine Lady? Das war sie ganz sicher nicht und auf Bella traf das nebenbei genauso wenig zu. Nicht selten hatte sie diese Bezeichnung mit Nachdruck abgelehnt. Die beiden waren ganz und gar aus demselben Holz geschnitzt. Sie waren Schönheiten, das stimmte. Zierden ihrer jeweiligen Art, die stets Blicke auf sich zogen. Und doch würde man kaum wagen, ihnen auch nur nahe zu kommen. Es sei denn, der Überlebensinstinkt versagte beim Gegenüber. Denn in erster Linie waren sie Kämpfer. Räuber. Und Überlebenskünstler.

    Trotz dieses Schnaubens schmunzelte Absol jedoch. Ihr Wohlergehen und ihre erhabene Erscheinung waren in den Augen ihrer Trainerin tatsächlich wichtiger als das Resultat dieses Matches. Überwogen den Kampf, vermutlich gar das gesamte Turnier. Manchmal war sie wirklich einfältig. Aber man musste sie für derlei Eigenarten einfach lieben.

    Bella kraulte sie unter dem Kinn und deutete einen sanften Kuss auf ihrem Kopf an, ehe sie erschöpfte Schritte neben sich registrierte. Sandra sah sie nicht einmal an. Sie hockte sich zu ihrem Dragonir und nahm ihren Kopf in beide Hände, damit sie sie ansah. War sie wütend? Bestimmt war sie das. Als einer der großen Titelkandidaten im Viertelfinale auszuscheiden, ohne auch nur ein gegnerisches Pokémon schlagen zu können, grenzte an Majestätsbeleidigung. Fast zumindest. Immerhin gab es hier mehrere Trainer, die alle schon einmal bewiesen hatten, dass sie gar noch stärker waren als sie. Und wie eine Königin reagierte sie auch nicht. Eher, wie eine untröstliche Untergebene einer solchen.

    „Verzeih mir“, so bat sie schließlich ihre Partnerin. Das Drachenpokémon schreckte fast auf und wollte sehr offensichtlich protestieren, wollte mindestens eine Teilschuld auf sich nehmen. Wenn sie gewannen, gewannen sie gemeinsam. Heute hatten sie gemeinsam verloren und Dragonir trug zu beidem stets einen Teil bei. Ganz gleich, wie das Ergebnis auch lautete. Schon das leichte Aufbäumen ließ jedoch einen stechenden Schmerz in der Brust aufflammen, der stattdessen ein Husten und Zittern forcierte. Dies reizte nur noch mehr verwundete Stellen ihres Körpers.

    „Sshhh, ruhig. Ruhig“, hauchte sie äußerst zart und beschwichtigend.

    „Gräme dich nicht. Der Vorwurf liegt allein bei mir.“

    Erneut wollte Dragonir widersprechen, was diesmal aber von Sandra unterbunden wurde. Selbst dabei war sie zartfühlend und vorsichtig.

    „Hör auf. Denk nun an dich. Ruh dich aus“, meinte sie nur und obwohl es nicht danach klang, war es mehr Befehl als Ratschlag oder gar Erlaubnis. Das erkannte die Drachenschlange daran, dass sie direkt im Anschluss an diese Worte in ihren Pokéball zurückgerufen wurde. Dabei hätte sie ihr noch so gern zu verstehen gegeben, dass keine Vorwürfe im Raum standen.


    Cay beendete gerade seine überschwängliche Begeisterungsrede zu diesem Kampf und richtete gleich den Blick voraus ins Halbfinale. Bei diesem Stichwort begann Sandra ihren Abgang. In diesem hatte sie nun nichts mehr verloren. Sie war raus. Das war an und für sich okay. Wenn sie das Match ehrlich beurteilte, so hatte unbestreitbar die Bessere gewonnen. Aber bei dem Gedanken, um wen es sich dabei handelte, kam ihr glatt die Galle hoch.

    „Hey, Sandra.“

    Und nun von ihr noch aufgehalten, vielleicht sogar verhöhnt zu werden, machte es nun wirklich nicht besser. Setzte ihrer Schmach eher noch die Krone auf. Dennoch hielt sie an und blickte über die Schulter. Allerdings machte Bella nicht den Eindruck, sie verspotten oder ihren Sieg weiter auskosten zu wollen. Genaugenommen beschlich Sandra rasch der Verdacht, dass sie gar nichts zu sagen gedachte. Dass sie sich lediglich über den sofortigen und vor allem wortlosen Abgang wunderte. Nur, warum sollte Sandra etwas Anderes tun? Hatte sie Bella denn etwas zu sagen? Sie selbst hatte die Agentin zuvor noch herausgefordert und war nun die Unterlegene. Was für eine Scheiße. In so einer Position schwieg man besser.

    Nicht in Verbitterung versinken. Nicht zu lange mit Vergangenem aufhalten. Es war vorüber, das Ergebnis niedergeschrieben und die Tinte getrocknet. Aber… eine Sache gab es da noch zu erledigen. Nicht seitens Bella, sondern von Sandra.

    „Gut gekämpft. Ich gratuliere.“

    Während Absol die Brauen zusammenzog, hob ihre Trainerin eine an. Logisch klang die Drachenmeisterin angesäuert und frustriert, was ganz natürlich und keinesfalls verwerflich war. Bella selbst würde nun sehr ähnlich aussehen, wenn sie verloren hätte.

    „Ihr beide“, fügte sie dann noch hinzu, wobei sie ihnen nur noch einen Seitenblick aus dem Augenwinkel schenkte. Damit war dem Anstand aber auch genüge getan und Sandra marschierte endgültig von dannen. Sie ließ eine zufrieden schmunzelnde Bella zurück. Ihr Kopfnicken deutete im Ansatz fast schon eine leichte Verbeugung an. Wohl wissend, dass ihr Respekt der Arenaleiterin keinen Pfifferling wert war.

    Der Weg zurück in den Tunnel war viel zu lang. Und obwohl sie verloren hatte, spürte Sandra doch eine Vielzahl, gar die Mehrzahl aller Augen auf sich ruhen. Der letzte Gang, ein letzter Blick auf eine große Persönlichkeit in der Szene, die an jemandem gescheitert war, den gestern noch kein Mensch hier gekannt hatte. Aber sie wurde nicht angesehen, wie eine Verliererin. Vereinzelt applaudierten die Leute ihr sogar. Und Cay schien sich gleich dazu berufen, diese Geste auszuweiten.

    „Ladys and Gentleman, ich darf um einen letzten Applaus bitten. Wie gut hat euch Sandra heute gefallen? Na los, was ist?“

    Die Massen legten ihre Schüchternheit ab und spendeten ihr Beifall als sei sie die Siegerin. Begeisterte Pfiffe und sogar Sprechchöre, die ihren Namen skandierten, ertönten vereinzelt. Und sie? Sie blickte nur geradeaus. Nicht stur oder verbissen, sondern als würde sie die Menschen um sich herum gar nicht hören. Zumindest ein bisschen zwang sie sich dazu, verbot sich eine dankende Geste oder irgendeine Form von Abschied. Sie ging einfach weiter. Und war dann schließlich weg. Im Tunnel verschwunden und würde dieses Kampffeld nicht mehr betreten.

    „Über achtzig Trainer und Trainerinnen sind gestern Vormittag hier angetreten und wir kennen jetzt die vier besten unter ihnen: Terry Fuller, Ryan Caraprso, Andrew Warrener und Bella Déraux. Und ehrlich gesagt trau ich mich nicht, einen Tipp abzugeben. Die könnten hier alle das Ding gewinnen“, fasste der Stadionsprecher die Ausgangslage zusammen. Ja, wenn man diese Namen vorlas, blieben wenig Wünsche offen. Zumindest für den neutralen Zuschauer, der Bellas Identität nicht kannte und sich allein von ihrem Können hatte begeistern lassen. Das war allerdings auch absolut vertretbar.

    „Wir machen nun eine weitere Pause. Das Kampffeld wird erneut gerichtet und dann sehen wir uns in genau einer Stunde wieder zur Auslosung der Halbfinals.“

    Wie schon zwischen den letzten beiden Runden wurde den Zuschauern etwas Freilauf gestattet, was diese dankend annahmen. So packend die Kämpfe auch waren, musste man hin und wieder mal weg von seinem Sitz. Audrey und Melody gehörten jedoch zu den wenigen, die sich keinen Zentimeter von den ihren wegbewegten. Während sich die Rothaarige noch immer vorgebeugt hatte, als würde der Kampf noch laufen – wobei der Blick sowie die vor den Mund geschlagene Hände ihre Enttäuschung verrieten –, hatte Audrey sich sprachlos in die Lehne fallen lassen und wirkte ganz simpel formuliert geplättet. Sandra hatte so gut gekämpft, so tapfer Paroli geboten und so brillante Attacken gezeigt. Am Ende hatte es nicht einmal für Bellas erstes Pokémon gereicht. So sehr man sich gegen die Möglichkeit, dass sie hier auch verlieren könnte, gesträubt und sie zu verdrängen versucht hatte, war sie immer da gewesen. Aber selbst dann hätte keine von ihnen jemals ein eindeutiges Ergebnis erwartet. Es war unter den gegebenen Umständen und ihrer Leistung sowie der von Shardrago und Dragonir zum Trotz nicht gerade leicht, das Wort „Demütigung“ zu umgehen. Aber davon würde sie sich nicht unterkriegen lassen. Sie war nicht irgendwer und das hatten die Menschen auf den Rängen ihr bestätigt. Sie war fantastisch gewesen. Eine würdige Vertreterin für die Johto-Region und alle Drachentrainer.


    Die Stimmen der Menschen hallten von Innenraum aus noch immer in den Tunnel. Oder erklang ihr Echo nur in Sandras Kopf? Was riefen sie noch gleich? Sandra… Sandra…

    Sie war gerade weit genug, sodass niemand mehr von draußen sie sehen konnte. Und ungesehen wollte sie in diesem Moment auch sein. So wie jetzt hatte sie bestimmt nie irgendjemand in diesem Stadion erblickt. Mit angezogenen Schultern und hängendem Kopf, die Fäuste vor Wut geballt, sodass sie zitterten. Der Stoff ihrer Handschuhe protestierte und drohte zu reißen. Schließlich machte sie ihrem Ärger Luft, indem sie gegen die Mauer schlug. Ihre Handkante pochte vor Schmerz und sie keuchte als habe sie einen Sprint hingelegt. Ein Schweißtropfen rann ihre Schläfe hinab und sie lugte unter verschwitztem Haar hervor, das ihr wild ins Gesicht fiel, ohne wirklich etwas anzusehen.

    Welch eine Schande. Wäre die Agentin lediglich ihre – Sandras – Feindin, so könnte sie diese Schmach ertragen. Aber gegen eine Trainerin verloren zu haben, die auf der Seite jener kämpfte, welche den Krieg der Drachen zu entfachen drohten…, das verhöhnte nicht nur sie, sondern alle Drachentrainer. Ihre Ahnen würden sich in ihren Gräbern umdrehen und die Priester daheim in Ebenholz sich vermutlich in den Teich der Drachenhöhle stürzen, wenn sie davon wüssten. Gar spürte Sandra das Verlangen, genau dasselbe zu tun. Aber das durfte sie nicht. Drachen gaben sich nicht geschlagen. Sie kehrten zurück, um ihren verlorenen Besitz, ihr Territorium, ihren Schatz und allen voran ihre Ehre zurückzugewinnen. Niemals konnte sie das auf sich beruhen lassen. Jede ihrer Zellen schrie nach Vergeltung. Und bei Rayquaza, sie würde sie bekommen.


    Eine Stunde galt es die Ungewissheit, wie die Paarungen im Halbfinale aussehen würde, zu ertragen. Ein unübliches Gefühl. In den meisten Wettkämpfen wurde mit Beginn der K.O. Phase ein Turnierbaum erstellt, sodass der nächste Gegner immer sofort feststand. Beim Summer Clash schätze man anscheinend einfach die Überraschung. Und aus Gründen der Sportlichkeit war es gar nicht mal so verkehrt, die Hürde erst dann zu kennen, unmittelbar bevor sie sich vor einem aufbaute.

    Ryan und Andrew dachten noch kein bisschen an die nächste Runde. Obwohl jeder erfahrene Trainer – und auch sie selbst – in diesem Augenblick raten würden, unnützen Gedanken an beendete Kämpfe keine Aufmerksamkeit zu schenken. Schon gar nicht, wenn sie nicht einmal selbst gekämpft hatten. Aber ebenso würde jeder, wenn er jetzt in ihrer Haut stecken würde, es dennoch nachvollziehen können. Würde verstehen, dass es unmöglich war, so rasch wieder nach vorn zu sehen und das Match zwischen Sandra und Bella einfach zu vergessen. Schon allein seiner Brisanz und seiner Spannung wegen. Und beides wurde noch weit in den Schatten gestellt von der Bedeutung dieses Kampfes. Abseits des Stadions verstand sich. Bella hatte mit ihrem Sieg eine Kampfansage an Milas Gemeinschaft gesandt. Hatte eines ihrer Mitglieder geschlagen und offengelegt, dass die Drachenmeisterin nicht in der Lage war, sie und Team Rocket aufzuhalten.

    Dies ließ sich durchaus so interpretieren, aber Ryan hielt die Agentin eigentlich nicht für so naiv und blasiert. Wann, wo und unter welchen Umständen auch immer sie in Zukunft miteinander kämpfen mochten, würden die Gegebenheiten in keiner Weise vergleichbar sein. Und unter anderen Voraussetzungen wäre Sandra sicher auch imstande, sie zu schlagen. Ohnehin war es noch sehr verfrüht für Überheblichkeit. Hier standen noch zwei Trainer aus der Gemeinschaft, die Sandra ebenfalls schon geschlagen hatten und in der Szene definitiv als die Stärkeren galten. Bevor sie nicht auch diese beiden ausgeschaltet hatte, blies sie besser nicht zu stark ins Horn.

    Andrew gewann Ryans Aufmerksamkeit, indem er lasch mit dem Handrücken gegen seinen Oberarm schlug und lenkte sie dann gleich den Flur runter. Sandra erschien genauso vor ihnen, wie sie den Innenraum verlassen hatte. Mit geraden, gleichmäßigen Schritten setzte sie ihren Weg fort. Nichts ließ ihren Frustausbruch von gerade eben erahnen, doch zeugte ihr Blick durchaus von Niedergeschlagenheit. Enormer Niedergeschlagenheit, musste man betonen. Und Verbissenheit, als wolle sie sofort eine Revanche, um ihren verwundeten Stolz zu pflegen. Sie schien gar nicht zu realisieren, was sich vor ihr befand oder wohin genau ihre Füße sie überhaupt trugen. Dessen vermochte sie auch nicht entgegenzuwirken und war daher froh, dass sich die meisten Teilnehmer bereits aus den Katakomben verzogen hatten. Da Terry während der Pausenunterbrechung wohl anderswo verweilte, war sie mit Ryan und Andrew sogar allein. Schon seltsam, wie still und leer es hier auf einmal war. Und wie schnell es sich geändert hatte. Vor nicht mal 24 Stunden war hier die Hölle los gewesen.

    Sandra stoppte. Etwas drückte sich gegen ihre Schulter und brachte sie zum Halten. Sie sah erst an sich herunter, fast überrascht, bevor sie wirklich nach vorn sah und das Hindernis erkannte. Wobei die behandschuhte Hand es eigentlich schon verriet. Ryan gefiel es überhaupt nicht, die Arenaleiterin von Ebenholz City so zu sehen. Es sah ihr überhaupt nicht ähnlich und da sie beide nun eine gewisse Zeit zumindest Teile eines jeden Tages in ihrer Nähe verbracht hatten, meinten sie auch absolut, dies auch wahrhaftig beurteilen zu können.

    Bloß was konnten sie jetzt sagen, das ihre Wunden zu salben vermochte? Das Turnier war für sie am Ende des Tages uninteressant, wenn man das große Ganze betrachtete. Die Niederlage gegen eine Feindin – nicht etwa so etwas Banales wie eine Rivalin – wog dafür umso schwerer. Es brachte sie regelrecht um den Verstand! Dessen waren sich die beiden Trainer auch bewusst. Ebenso der Tatsache, dass es jetzt keine Worte gab, die das ändern würden. Aber vielleicht tat es ja ein Blick. Eine stille Geste. Ryan klopfte ihr auf die Schulter und lächelte. Nicht mitleidig oder tröstend. Weder aufbauend noch die Niederlage herunterspielend. Es war schlicht und einfach ein kameradschaftliches Lächeln. Eines das sie daran erinnerte, dass die Stärke von Milas Gemeinschaft eben in der Gemeinschaft lag. Dass der nächste Kampf vereint geführt werden und dann auch garantiert ein Sieg gelingen würde. Um ihre Ehre als Drachenmeisterin wiederherzustellen. Zwischen ihr und Bella würde sie dann wohl noch immer als die Schwächere gelten, doch das konnte sie verkraften. Die Schande abzuwaschen war ihr um ein Vielfaches wichtiger. Und das würde sich auch in der Gemeinschaft bewerkstelligen lassen. Vielleicht sogar nur in dieser, bedachte man, wer der Feind war.

    Andrew ging einmal um Sandra herum und boxte sie kumpelhaft in die Seite. Normalerweise war ihre Haltung stramm und fest, aber jetzt musste er fast befürchten, sie damit zu Boden zu bringen.

    „Versprich mir was“, forderte er schroff und lehnte sich zu ihr vor. Er wirkte irgendwie unerwartet euphorisch. Und er wartete auch nicht ab, bis Sandra ihr Einverständnis gab.

    „Irgendwann will ich gegen dein Shardrago kämpfen.“

    Nicht nur Ryan, sondern natürlich auch er hatte während ihrer Zeit in den Wäldern ausgiebig mit dem Höhlendrachen trainiert, aber nun, da Andrew ihn zum ersten Mal in einem offiziellen Match beobachtet hatte, war er Feuer und Flamme dafür, diesem Pokémon einmal ernsthaft gegenüberzustehen. Und ganz nebenbei konnte er Sandra somit auf andere Gedanken bringen. Welche, die ihre Kampfgeister kitzelten und die Vorfreude anheizten. Er wusste mittlerweile ganz gut, wie sie tickte.

    Und tatsächlich erwiderte sie sowohl Ryans Lächeln als auch die heißblütigen Augen Andrews. Beides nicht ganz so intensiv, aber immerhin.

    „Du weißt, wo du mich findest“, meinte sie daraufhin nur. Er hatte über die vergangenen Tage längst beschlossen, der Stadt Ebenholz künftig bei jeder Gelegenheit einen Besuch abzustatten. Die letzte Woche hatte das Trio enorm zusammengeschweißt und mit Sicherheit würde ihr Band noch stärker werden, bis alles vorbei war. Und vielleicht war es ja gar keine schlechte Idee, ein paar Pläne zu machen. Sich etwas festzulegen, dem man nachkommen konnte, wenn man Team Rocket und den drohenden Krieg einmal hinter sich hatte. Es bekräftigte die Überzeugung, dass es wirklich gelingen und vor allem, dass das Leben danach weitergehen würde.


    Bella hatte ihren Flachmann erst kurz vor dem Viertelfinale neu befüllt und nun leerte sie ihn schon wieder. Fast in einem Zug. Dennoch hielt das Brennen in ihrem Rachen nicht ansatzweise lange genug an. Es wurde noch immer von dem in ihrer Brust in den Schatten gestellt. Genau das war es, was sie sich von Milas Verbündeten versprochen hatte. Heiße Kampfeslust und ein Feuerwerk der Zerstörung in einem Hexenkessel aus zehntausenden Stimmen. Ein Tanz mit brutaler, erbarmungsloser Gefahr. Der Einsatz – die eigene Gesundheit.

    Letzteres traf zumindest aus der Sicht der Pokémon zu. Und in diesem Kontext musste man festhalten, dass beide Seiten teuer bezahlt hatten. Absol hatte lange kein Pokémoncenter mehr von innen gesehen. Es war nie nötig gewesen und sie mochte die Ärzte sowie deren Pokémon-Assistenten auch nicht besonders. Nach diesem hitzigen Gefecht führte allerdings kein Weg daran vorbei. Ohne eine anständige Behandlung würde sie mehr als eine Woche brauchen, um sich gänzlich zu erholen. Das angestrebte Zeitfenster lag bei ein paar Stunden! Im Halbfinale musste eine oder eher zwei – da ihr ein Doppelkampf bevorstand – Alternativen her. Naja, war ja nicht so, dass ihr keine zur Verfügung standen. Dennoch hoffte sie, dass Joy ihrem Ruf gerecht würde, sodass Bella in einem möglichen Finale wieder auf ihr Schätzchen zurückgreifen konnte.

    Im Augenblick schlenderte sie den Weg vom Center zurück Richtung Prime Stadium. Der Haupteingang war von den Türen des Centers nur einen Steinwurf entfernt. Vielleicht sollte sie noch schnell einen Abstecher in eine der Nebenstraßen machen, um ihren Alkohol Vorrat aufzustocken. Ein Scotch, das wär´s jetzt. Der rauchige vom alten Willam, der dort seinen Laden hatte.

    Aus diesem Vorhaben wurde leider nichts. Gerade mal ein paar Schritte hatte sie getan, da stand plötzlich ein junger Mann vor ihr. Schätzungsweise in Ryan Carparsos Alter und ebenso wie dieser, ein Halbfinalist des Summer Clash. Er hatte beide Hände in den Taschen seiner betongrauen Jacke vergraben und dennoch erkannte sie deutlich, dass sie zu Fäusten geballt waren. Nicht nur diese, die gesamte Körperhaltung war angespannt. Geradezu herausfordernd. Und der Blick erst. Die Augen lugten unter etwas zerzaustem, blassrotem Haar hervor, als lägen sie auf einer Feindin. Dabei war er es hier nicht, der Grund hätte, sie als solche zu betiteln. Dazu war den Johtonesen aus Milas Gruppe weit mehr Anlass gegeben.

    „Woher kommst du?“, verlangte Terry Fuller ohne ein Wort der Begrüßung zu wissen. Bella hob darauf eine Braue, als signalisiere sie, die Herausforderung anzunehmen. Aber nicht, ohne sich ein bisschen zu amüsieren.

    „Hast du kein Benehmen? Man grüßt zunächst einmal anständig.“

    Sie konnte sich das verschmitzte Schmunzeln nicht verkneifen, woran Terry gleich erkannte, dass sie keine echte Scharade spielen wollte. Zumindest nicht ernsthaft. Insgeheim aber stieß das Auslassen einer Begrüßung durchaus Antipathie bei ihr an. Die Chance auf einen guten Ersteindruck hatte er damit schonmal vergeigt.

    „Spiel keine Spielchen mit mir. Ich bin nicht wie die Pfeifen, die du sonst so triffst.“

    Er war es nicht gewohnt, so minder ernst genommen zu werden. Für gewöhnlich – besonders seit seinem Sieg in der Johto Liga – begegneten ihm andere Trainer mit enormem Respekt. Manche gar mit Ehrfurcht. Wüsste er doch nur, dass vor ihr keine gewöhnliche Trainerin stand, sondern eine tödliche Agentin. Jene zog nun auch die zweite Braue hoch.

    „Und du weißt, wen ich sonst so treffe?“

    Das wagte sie doch sehr stark zu bezweifeln. Selbst die Harmloseren in ihrem Bekanntenkreis würden einen wie ihn noch vor dem Frühstück durch den Fleischwolf drehen.

    „Muss ich nicht wissen.“

    Na, wenn er meinte. Dass er es nicht tat, war eh klar gewesen.

    „Jetzt antworte auf meine Frage“, forderte Terry erneut, achtete aber zumindest darauf, sich in der Lautstärke nicht so sehr zu vergreifen, wie im allgemeinen Ton. Da musste man sich schon fragen, wer dem hier Manieren beigebracht hatte. Oder hätte beibringen sollen.

    „Woher kommst du?“, wiederholte er etwas langsamer und deutlicher. Wenn er Bella einzuschüchtern gedachte, musste er schon mehr auffahren. Viel mehr.

    „Aus dem Pokémoncenter.“

    „Verarsch mich nicht!“

    Laut wurde er noch immer nicht, aber eindeutig ungeduldiger und er riss die Fäuste aus den Taschen, als wolle er sie zum Einsatz bereithalten. Es war so einfach, dass es schon fast keinen Spaß mehr machte. Aus der Ferne hatte die Agentin ihn gar nicht so grob und anstandslos eingeschätzt.

    „Ich kauf dir deine Masche nicht eine Sekunde ab, also raus mit der Sprache.“

    Sie gab zugegebenermaßen wenig auf gutes Benehmen oder Etikette, gönnte sich hier lediglich einen kleinen Spaß mit einem nicht allzu sympathischen Fremden. Aber überrascht war sie ob dieses Auftretens durchaus. Vielleicht war er normalerweise gar nicht so und diese Attitüde besaß einen konkreten Ursprung. Und sie war durchaus neugierig, weshalb Terry Fuller ihr hier so auf den Zahn fühlen wollte. Daher beschloss sie, die Spielchen zurückzustellen.

    „Du willst wissen, wo meine Heimat liegt? Was mich hierher verschlägt? Solche Sachen?“

    Bella wurde etwas ernster, verbannte sogar ihr Schmunzeln und verschränkte die Arme unter der Brust. In einer übermäßig ausfallenden Bewegung wechselte sie das Standbein.

    „Ich will wissen, wer du bist.“

    Der Trainer aus Einall schwor sich, wenn sie jetzt einfach mit ihrem Namen antworten sollte, würde er zuschlagen. Unwissend, dass er sich selbst damit weit mehr gefährdete als sie.

    „Ich bin auf drei Kontinenten unterwegs gewesen und kenne quasi jeden, der Rang und Namen in der Trainerszene hat.“

    Er kam einen kleinen Schritt näher an sie heran, doch sie rührte sich nicht einen Millimeter. Warum sollte sie auch? Selbst wenn er gewalttätig werden würde, könnte sie ihn niederschlagen, ohne sich vom Fleck zu bewegen.

    „Deinen hab ich aber noch nie gehört und im Rival Check gibt´s nicht mal ´nen Eintrag zu dir.“

    Beides hatte seinen Grund. Nur wieso stachelte ihn das so an?

    „Und so jemand kommt hierher, marschiert einfach so durch das zweitwichtigste Turnier von ganz Hoenn, als absolut Unbekannte. Und dann ziehst du so eine Show ab?“

    Daher wehte der Wind. Terry Fuller war misstrauisch. Konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie mehr war als bloß eine äußerst talentierte, aufstrebende Trainerin. Und das stimmte natürlich. Doch warum sollte Bella ihm ihre Tarnung preisgeben? Da drehte sie den Spieß lieber um.

    „Wenn ich mich recht entsinne, ging es dir damals ganz ähnlich.“

    Terry neigte den Kopf etwas zur Seite und verengte die Augen. Verlangte nach genauer Erklärung. Glücklicherweise bekam er die auch, allerdings gefiel es ihm überhaupt nicht, wie diese Déreaux ihn auf einmal ansah. Wie scharf ihr Blick plötzlich geworden war. Ihm stockte glatt der Atem. Und wie sie auf einmal um ihn herum ging, als treibe sie ihn in die Enge, gefiel ihm noch weniger.

    „Ein Junge aus einfachen Verhältnissen, aufgewachsen in einem verschlafenen Vorort ohne Verbindung zu irgendjemand Wichtigem in der Trainerbranche.“

    Terry wollte sich mit ihr drehen. Eigentlich ihr Pirschen gänzlich unterbinden, um sich nicht einschüchtern zu lassen. Er fand seine Füße jedoch gänzlich paralysiert vor. Als seien sie festgewachsen und keine menschliche Muskelkraft konnte sie befreien. Was für eine Wendung nahm das hier plötzlich?

    „Dir wurde nichts in die Wiege gelegt. Nein, nein.“

    Sehr langsam schritt sie in einem engen Kreis um Terry herum, der sich zunehmend verletzlich fühlte. Er neigte den Kopf zu ihr, wagte aber aus unergründlichem Anlass nicht länger, sie anzusehen. Auch nicht, als sie wieder vor ihm stand.

    „Als Sohn von zwei Beamten, die von der Pokémon-Aufzucht nicht halb so viel verstanden, wie sie allen weiß machten, hast du es nicht nur auf die höchsten Trainerschulen geschafft, sondern dort brilliert. Manche Professoren wollten dich sogar als Assistenten, was du natürlich abgelehnt hast. Jemand wie du arbeitet nicht für andere, stimmt´s? Du brauchtest etwas Forderndes, wobei du selbst die Fäden in der Hand hältst und dich beweisen kannst.“

    Sie sagte die Wahrheit. Er kam nicht aus einer Trainerfamilie. Hatte auch keine Freunde oder Verwandten, die ihn dahin bewegt hatten. Es hatte sich halt alles irgendwie ergeben. Es hatte einfach gepasst. Terry Fuller war nicht abergläubisch, doch das Einschlagen dieses Weges hatte sich fast wie Schicksal angefühlt.

    Aber… wieso wusste Déreaux all das?

    „Und man wollte meinen, du warst das Gewinnen schon sehr bald quasi gewohnt.“

    Der junge Trainer gab sich größte Mühe, ihrem Blick nicht auszuweichen. Streng genommen tat er das auch nicht, aber sein gesenkter Kopf lenkte die leeren Augen gen Boden, sodass der Blickkontakt dennoch nicht hergestellt werden konnte.

    Woher er kam oder wie er in seinen ersten Arenakämpfen und später Turnieren abgeschnitten hatte – das waren keine Geheimnisse. So etwas konnte man aus mehr Quellen als nur dem Rival Check entnehmen. Der ein oder andere Vertreter aus der Presse wusste vielleicht sogar über einige Details seiner Schulbildung oder den Beginn seiner Trainerkarriere Bescheid. Die Typen besaßen ja Verbindungen zu allen möglichen Instanzen und Einrichtungen im gesamten Gewerbe. Es war manchmal richtig gruselig, was sie alles herausfanden. Aber diese Dinge wusste normalerweise keine dahergelaufene Trainerin. Ganz zu schweigen von seinen Eltern und der Tatsache, dass sie die Klappe gerne mal etwas zu weit aufrissen, wenn es um ihre Pokémon ging. Das konnte doch eigentlich niemand wissen, der seine Eltern nicht persönlich kannte.

    „Stimmt das heute immer noch?“, erkundigte sich Bella und ging mit dem Oberkörper weit nach vorn, sodass sie aus tiefer Position nun doch in Terrys abwesende Augen blicken konnte. Der hatte kaum realisiert, wie sich sein Kopf gesenkt hatte und fing ihren Blick mehr reflexartig als gewollt auf.

    „Bist du das Gewinnen noch immer gewohnt?“

    Er starrte ein paar Sekunden lang stumm in die zwei glänzenden Bernsteine, welche in ihren Augenhöhlen saßen. Hatte sie schon immer diese raubtierartige Iris besessen? Oder ließ sie gerade eine Fassade fallen und zeigte ihm zum ersten Mal ihre wahre Natur?

    Das Ausbleiben einer Antwort würde normalerweise als Unhöflichkeit aufgefasst und somit zu einem bereits stolzen Stapel solcher addiert werden. Bellas Schmunzeln vermittelte jedoch, dass sie mit der Reaktion sehr zufrieden war. Sie legte die Arme auf den Rücken und tänzelte an Terry vorbei, wirkte auf einmal verspielt und unschuldig.

    „Ich kann das sehr gut verstehen. Gewinnen macht Spaß, nicht?“

    Und so wie sie die Zügel der Konversation locker ließ, legte sich auch die Anspannung. Seine Stirn dafür aber in Falten. Er wagte gar wieder, sich umzudrehen, sah sie jedoch mit gekehrtem Rücken. Sie hakte bezüglich ihrer Frage nicht weiter nach, was die Vermutung bekräftigte, dass sie rhetorischer Natur war. Dafür erntete er einen verschmitzten Blick aus dem Augenwinkel. Die Bernsteine wirkten auf einmal wieder völlig harmlos. Dafür aber ein klein bisschen spöttisch.

    Und somit gewann der Rotschopf auch wieder an Selbstsicherheit, erinnerte sich daran, dass er derjenige gewesen war, der auf sie zugegangen war und nicht umgekehrt. Er wollte die Kontrolle über das Gespräch zurück.

    „Du klingst als kennst du das Gefühl gut.“

    Bei dieser These war er sich sogar äußerst sicher. Sie ließ sie allerdings unkommentiert. Das würde er ohne Zweifel ändern, sollten die beiden gleich aufeinandertreffen. Endlich drehte er sich nun wieder ganz zu ihr um.

    „Ich sag dir was. Wenn ich erst einmal dich geschlagen hab, dann werd ich sagen: Ja, ich bin´s absolut gewohnt, immer zu gewinnen.“

    Nun war es wiederum an ihr, die Stirn zu runzeln. Nach wie vor, ohne ihm ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken.

    „Mich?“

    Was sollte denn jetzt die Frage? Wer sonst?

    „Mit wem rede ich denn gerade?“

    Sie neigte das Haupt wieder ein Stück zu ihm, schaute aber über den Vorplatz des Prime Stadiums, als würde sie noch immer nach einer Antwort suchen.

    „Hast du vor mir etwa am meisten Angst? Verschafft mir das dieses zweifelhafte Vergnügen?“

    In ihren Augen war das noch eine sehr schmeichelhafte Beschreibung für dieses Gespräch. Und natürlich fasste Terry dies als Hohn auf. Er konnte ja nicht wissen, dass Derartiges unter ihrem Niveau war.

    „Steck dir deine Angst sonst wo hin“, giftete er zurück. Selbst wenn er befürchten müsste, wirklich mal einen Pokémonkampf zu verlieren, so war das am Ende des Tages nichts, was es zu fürchten galt. Höchstens zu hassen. Besonders, wenn er gegen Trainer verlor, die er nicht ausstehen konnte und so langsam begann sich Bella Déreaux in diese Riege einzureihen.

    „Nur die Ruhe, ich habe es nicht nötig, dich zu provozieren“, beschwichtigte die Agentin mit bestenfalls halber Mühe.

    „Wenn du´s genau wissen möchtest, kümmerst du mich überhaupt nicht.“

    Mit diesen Worten bewirkte sie fas Gegenteil zu den vorherigen. Übergangen zu werden schmeckte Terry glatt noch weniger als verhöhnt zu werden. Und an dieser Front war ihm Ryan bereits bitter genug aufgestoßen. Dennoch atmete er tief durch und zwang sich mit einer gehörigen Portion Selbstbeherrschung zur Entspannung. Den Umständen entsprechend zumindest. Die Hände versanken wieder in den Jackentaschen.

    „Bist du einfach arrogant oder hast du bloß noch nicht erkannt, dass ich dein härtester Konkurrent bin?“

    Endlich wandte sich Bella ihm wieder zu. Zumindest halb. Allerdings sah sie ihn an, als hätte sie selten so eine irrsinnige Aussage vernommen und sowohl ihre Wortwahl als auch ihr Tonfall entfernten sich ganz plötzlich weit von dem bisherigen.

    „Wie kommst´n jetzt auf den Trichter?“

    Terry blinzelte einige Male und erwiderte den verdutzten Blick. Einerseits durch den wechselnden Tonfall. Primär aber, da sie ihn so niedrig handelte.

    „Du bist von uns vier übrigen Trainern doch definitiv der Schwächste.“

    Jeder der Terry Fuller nur ein bisschen kannte, wäre in diesem Augenblick in Deckung gegangen. Nicht einmal wegen der Behauptung an sich, sondern wegen der Selbstverständlichkeit, mit der sie ausgesprochen wurde. Er hatte die letzten Jahre nicht so hart geschuftet, sich selbst und seine Pokémon immer und immer wieder zu Höchstleistungen angespornt und die Silberkonferenz gewonnen, um für irgendwen die zweite Geige zu spielen. Schon gar nicht die vierte! Diese beiden Johto-Deppen und auch Bella – wo immer sie jetzt auch herkam – waren bestenfalls da entlang gekrochen, wo er schon entlang marschiert war. Wo her Spuren hinterlassen hatten, die man in zehn Jahren noch wiederfinden würde, hatten sie nur aus der Distanz hingeschielt.

    Seltsamerweise und auch zu seiner eigenen Verwunderung blieb der Sturm aus. Kein entrüstetes Brüllen, kein rot anschwellender Kopf, nicht mal ´ne hervortretende, wütende Ader oder dergleichen. Terry blieb das Wort im wahrsten Sinne im Hals stecken. Das schien Bella jedoch völlig zu ignorieren und redete unbeirrt weiter. Nur war ihre nächste Behauptung kaum weniger überraschend.

    „Und übrigens bin ich auch nicht diejenige, vor der du die meiste Angst haben solltest.“

    Trotz des erneut verwendeten Reizwortes Angst starrte der Trainer aus Einall hierauf einfach nur ins Leere. Zwar in Bellas Richtung, aber doch irgendwie durch sie durch. Erst merkte nicht sofort, dass er den Atem angehalten hatte.

    „Wer sonst?“, fragte er dann und würde sich schon in wenigen Minuten selbst wundern, warum er es so leichtfertig hinnahm, dass sie ihn als Schlusslicht der letzten vier Teilnehmer abstempele. Das konnte er doch eigentlich nicht so stehen lassen. Geschweige denn, ihre Aussage auch nur ein bisschen für voll nehmen. Es hatte noch kein Trainer einen anderen nur durch Worte davon überzeugt, dass er chancenlos war. Warum fiel es ihm dann aber so schwer, sich ihrer Einschätzung nicht anzuschließen?

    Bella schwieg. Ihm das zu verraten, erschien ihr viel zu langweilig. Stattdessen wanderten ihre Mundwinkel sehr langsam sehr weit auseinander zu einem breiten Grinsen. Ebenso langsam setzten sich ihre Füße in Bewegung und trugen sie mit tänzelnden Schritten die Straße entlang. Sie ließ Terry einfach stehen. Darüber müsste er sich im Normalfall ebenso entrüsten, tat es aber genauso wenig, wie im Angesicht ihrer Geringschätzung. Sie winkte ihm noch süffisant als wünsche sie ihm viel Spaß auf der Suche nach der Antwort sowie im weiteren Turnierverlauf – wissend, dass er an keiner Front welchen haben würde. Jetzt konnte Bella kaum schnell genug in den Schnapsladen kommen. Ihr Durst war auf einmal noch viel stärker.

    Kapitel 54: Katz und Maus Drache


    „Es ist eigentlich schade, dass wir dieses Wahnsinns-Duell schon jetzt im Viertelfinale sehen werden. Schaut man sich den Turnierverlauf an, könnten die zwei Ladys da unten genauso gut das Finale austragen.“

    Bella schnaubte etwas abfällig, aber mit etwas Belustigung angehaucht. Vermutlich war es das erste Mal, dass Cays Kommentare ihr überhaupt eine Reaktion entlockten. Es war aber auch zu komisch. Erst am Vorabend hatte sie Pete in der Bar dasselbe gesagt, was sie nun in Richtung des Stadionsprechers dachte. Sie war vieles, aber sicher keine Lady.

    Eine ungewöhnlich starke Windböe fing ihr Haar auf, das sie sodann ein wenig zügeln musste. Auf der anderen Seite des Kampffeldes schlug dagegen ein himmelblauer Zopf ungebändigt um sich und ein dunkler Umhang schloss sich mit einem wilden Flattern an. Die Besitzerin zuckte im Gegensatz zu Bella jedoch nicht einmal mit der Wimper. Auch während sie die Agentin, ihre Gegnerin, ihre Feindin herausfordernd musterte, blinzelte sie nicht ein Mal. Sie befand sich in einem mentalen Tunnel. Alles um sie herum war schwarz und still. Nur der Wind pfiff in ihren Ohren und peitschte den Sand vom Kampffeld auf. Selbst über und unter ihnen – nichts als schwarz. Nur die Linien des Kampffeldes ließen erahnen, dass sich fester Boden unter ihren Füßen befand. In diesem abgeschotteten Raum verlief alles langsamer als in der realen Welt. Die Stimmen der Leute aus selbiger drangen bestenfalls gedämmt wie durch eine dicke Glaswand zu ihr durch. Wenn überhaupt. Dagegen kam ihr der tiefe Atemzug, den sie gerade einsog, so laut vor, als könne sie einen Sturm entfesseln, sobald die Luft wieder ausgestoßen wurde.

    Nur sehr langsam wich dieser tranceartige Zustand und Sandra kehrte zurück in die Wirklichkeit. Der Lärm der Zuschauer wurde lauter, die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut wärmer. Schließlich hörte sie auch wieder die Stimme des aufgedrehten Stadionsprechers im Normaltempo. Der lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Schiedsrichter, welcher sich der Bereitschaft beider Trainerinnen versicherte. Bella nickte mit einem süffisanten Zwinkern. Die Arenaleiterin schenkte dem Unparteiischen dagegen gar keine Beachtung und griff nach dem ersten Pokéball. Er wurde regelrecht unter ihrem Umhang hervor gewuchtet, als sei er aus Blei. Vermutlich würde sie ihn hier und jetzt sogar noch Bella an den Kopf schmettern können, so groß war ihre Motivation, diesen Kampf zu gewinnen.

    „Shardrago, los geht´s!“, rief sie dermaßen entschlossen, als ginge es um Leben und Tod. Ganz so dramatisch war dieses Match zwar nicht, aber für sie ging es hier noch immer um ihre Ehre als Arenaleiterin und Drachenmeisterin. Und diese junge Frau dort hatte sich zur Feindin der Drachen erklärt.

    „Absol, Zeit zum Spielen.“

    Sie ging eindeutig mit einem anderen Ernst an die Sache heran. Um nicht zu sagen mit gar keinem. Meinte sie etwa, das hier sei ein Spiel? Dass Sandra nur ihrer Belustigung diente? Eben die mahnte sich, ihren Emotionen ungezügelten Lauf zu lassen, obwohl ihr Ehrgeiz durch diese respektlose Dreistigkeit nochmals gesteigert wurde. Bella würde bestimmt versuchen, sie zu provozieren, ihre Konzentration zu stören und vom Kampf abzulenken. Aber sie war keine Anfängerin. Sie war die stärkste Arenaleiterin Johtos. Die Drachenmeisterin von Ebenholz City.

    Tatsache war allerdings – entgegen Sandras Empfinden –, dass Bella nicht das geringste Interesse daran hatte, ihre Gegner mit Psychospielchen zu sabotieren. Zumindest nicht in einem Pokémonkampf. Bei der Arbeit war dies schon um einiges amüsanter und lohnender. Sie genoss es wirklich, endlich einem starken Gegner gegenüberzustehen und würde ihren Zwist mit Sandra in vollen Zügen genießen, da war sich Andrew sicher. Sie war keine von der Niederträchtigen Sorte. Naja, zumindest nicht von dieser Art Niederträchtigkeit. Außerdem hatte sie das gar nicht nötig.

    Das Auftreten der beiden Pokémon war genauso unterschiedlich, wie die Ausstrahlung ihrer Trainer. Während Shardrago offenkundig Mühe hatte, nicht sofort loszustürmen und seinen Gegner zu zerreißen, stand die schneeweiße Raubkatze gelassen und erhaben da. Fast als wüsste sie, dass das Drachenpokémon sich schon in wenigen Momenten unterwerfen würde. Natürlich war diese Annahme absolut lächerlich. Willentlich würde er sich nur seinem Vater und vielleicht noch den Zwillingsdrachen unterordnen. Niemandem sonst. Gezwungenermaßen musste er jedoch noch Ruby als die Überlegene von ihnen beiden anerkennen.

    „Die erste Runde lautet Absol gegen Shardrago. Beginnt!“

    Und wie Sandra beginnen würde. Stürmisch und entschlossen, wie es sich für einen Drachen gehörte.

    „Vorwärts, Drachenstoß!“

    Aber mit Vergnügen. Der kobaltblaue Körper wurde von einer hellen Energie in ähnlicher Farbe umhüllt. Wie eine blaue Rakete schoss Shardrago absolut waagerecht voraus und wirbelte Unmengen an Staub an seinem Ausgangspunkt auf. Seine Trainerin ignorierte es völlig, dass sie förmlich damit zugeschüttet wurde. Während des kurzen Fluges nahm die Drachenenergie markantere Formen an, sodass sich Flügel, Schweif und gar ein massiger Drachenkopf abbildeten, der sein gewaltiges Maul vor Absol öffnete.

    „Doppelteam.“

    Bella klang sehr nüchtern, lächelte aber voller Schalk und Heimtücke. Drachenstoß blitzte auf wie ein Wetterleuchten, als die Gestalt Absols erfasst wurde. In haargenau demselben Moment war jene Gestalt jedoch verschwunden. Shardrago riss eine tiefe Furche, nicht nur in den Sand, sondern auch den festen Boden darunter. Dreck, Lehm und Geröll wurden gewaltsam ausgegraben und durch die Luft gewirbelt, wo einige Klumpen jedoch von dieser wahnsinnigen Kraft zu Pulver zermahlen wurden. Während der Höhlendrache die Füße in die Erde grub und den Angriff beendete, erschienen über ein Dutzend Kopien des Absol-Weibchens wie aus dem Nichts über das gesamte Kampffeld verteilt.

    „Wow, Sandra beginnt sehr stürmisch, aber Bella ist nicht leicht zu überrumpeln, wie wir inzwischen wissen…“, begann Cay und verwies auf die bisherigen Matches der Agentin im Verlauf dieses Turniers. Seine Erklärungen brauchte es nun wirklich nicht, um Bellas Stärke zu begreifen.

    „Jetzt Schwerttanz.“

    Das Unlicht Wesen senkte zunächst den Kopf etwas, was bewirkte, dass die Trugbilder zum Original zurückkehrten und rief dann ihren Namen laut zum Himmel empor. Wie schon zuvor bei Scherox formten sich aus diversen Lichtpunkten leuchtende Schwerter. Diesmal geschah jedoch noch mehr. Selbst die Luftströmungen schienen Absol zu umkreisen und schlossen sie fast in einer Windhose ein. Sogar auf den Rängen war diese Kraft spürbar.

    Bella machte also doch ernst. Sonst würde sie es nicht für nötig halten, ihr Pokémon zu stärken. Absol besaßen schon von Natur aus eine immense Zerstörungskraft, die man auf den ersten Blick nicht erwarten würde. Dank Schwerttanz würden sich die schwarzen Krallen nun vermutlich selbst durch Granit ihren Weg bahnen können.

    Und wenn schon. Sandra ließ sich nicht leicht beeindrucken. Sie ordnete Steinhagel an, woraufhin Shardrago mit seinen Dornenbesetzten Schweif durch die Furche im Boden pflügte und Gesteinsbrocken in der Größe von Medizinbällen hervorbrachen.

    „Unsere Lieblings Drachenmeisterin dreht richtig auf – und nimmt dabei das halbe Kampffeld auseinander. Scheint sie wenig zu interessieren, dass da später auch noch andere kämpfen müssen.“

    Wie ein Meteoritenschauer regnete die Attacke auf Absol. Diese Spezies war zwar flott auf den Beinen, doch hier bräuchte es schon die Schnelligkeit ihres Ninjask, um ihnen ausweichen zu können. Und sie zu zertrümmern, konnte ob dieser Menge ebenfalls nur misslingen.

    Die Trainerin schmunzelte allerdings nur und rümpfte fast spöttisch die Nase. Ein Befehl war nicht nötig. Absol kämpfte schon sehr lange unter Bellas Führung und wusste, was sie in diesem Fall zu tun hatte. Sie ging erst in eine tiefe Stellung und hastete vorwärts, um unter den ersten Felsen hindurch zu hechten. Dann richtete sie sich jedoch in einer fließenden und anmutigen Bewegung wieder auf und sprang auf einen der Brocken, wobei sie einen weiß- silbrigen Lichtschweif hinter sich herzog.

    „Seh ich da richtig?“, fragte sich Cay bestimmt nicht als einziger, als sich das Katzenwesen in Windeseile von mehreren Felsen nacheinander abstieß und weiter in die Luft beförderte. Tatsächlich verschwamm ihr Abbild durch das enorme Tempo und den Lichtblitz stark, sodass man kaum ein Pokémon erkennen konnte. Zumindest für circa zwei Sekunden. Mit Ablauf jener stand Absol nämlich einen Moment lang über den Felsbrocken in der Luft. Audrey schaute fasziniert zu und lehnte sich nach vorn. Sich mit Ruckzuckhieb aus diesem Bombardement herauszuwinden war eine clevere Idee gewesen, doch so gewitzt sie auch war, bedurfte es dennoch immensen Könnens seitens des Pokémon. Absol waren durchaus flink, aber das war eine andere Hausnummer. Diese Faszination wurde ironischerweise sofort erlöschen, hätte sie nur eine Ahnung, wer Bella wirklich war. Melody, die von all den spektakulären Kämpfen und Pokémon mindestens doppelt so begeistert gewesen war, schloss sich diesmal der Verblüffung nicht an. Wobei sie selbst mit dem Wissen um Bellas Identität gestehen musste, dass sie von ihr und ihrem Absol äußerst beeindruckt war. Selbst die Trainerin aus Rosalia staunte nicht schlecht über dieses Geschick und das sollte aussagekräftig genug sein. Das war weit jenseits dessen, was man dieser Pokémongattung ohnehin schon großzügig zutraute.

    Letztlich blitzten dann auch die Krallen auf und zerschmetterten einen der Brocken, verarbeiteten ihn zu grobem Kies. Die Klauen eines Absol, so wusste Audrey, waren trotz der Schärfe keine Präzisionswaffen. Sie besaßen kaum Krümmung und waren im Ansatz sehr dick. Daher wurde Hindernisse selten sauber durchtrennt, sondern gewaltsam vernichtet. Ganz ähnlich also wie bei Shardrago.

    Absol befand sich noch in der Luft, als dann wie aufs Stichwort plötzlich ein gewaltiger Schädel mit rauem Schuppenmuster von blutroter Farbe vor ihr erschien. Shardrago hatte nicht bloß begeistert zugesehen, sondern war ihr mit kräftigen Schlägen seiner Flügel entgegengekommen und hatte dabei den eigenen Steinhagel als Deckung genutzt. Ryan war sich der unnatürlichen Agilität des Höhlendrachen durch das Training längst bewusst. Bella sollte hiermit sicher auf falschen Fuß ertappt worden sein.

    „Drachenklaue!“

    „Psychoklinge.“

    Während die Krallen des Drachen hellblau leuchteten, glimmte das schwarze, geschwungene Horn an Absols Schläfe in einem kräftigen Violett. Beide holten weit aus, als würden ihre natürlichen Waffen eine Tonne wiegen und begleiteten die Bewegung mit einem energischen Kampfschrei. Die Lichtklinge löste sich gerade noch von dem Horn, ehe sie auf Shardragos Klaue traf, womit Absol einem Schlag auf die Schädeldecke um Haaresbreite entgangen war. Als die Energien kollidierten, blitze es so hell auf, dass die Zuschauer bis in die hinteren Reihen für eine Sekunde geblendet wurden. Als würde man ganz unerwartet direkt in einen Fotoblitz schauen. Jeder musste einige Sekunden blinzeln. Nur die beiden Trainerinnen widerstanden dem Impuls, obwohl es den Augen sicher schmerzte. Noch bevor der leichte Anflug von temporärer Blindheit abgeklungen war, hallte ein wehklagender Schrei durch das Stadion. Es erklang der Schmerzensschrei Absols.

    Die weiße Raubkatze hatte eine böse Wunde in dem buschigen Brustfell davongetragen und war geradewegs bis vor die Füße ihrer Trainerin geschleudert worden. Shardrago landete dagegen fest und sicher auf beiden Füßen, stemmte dazu eine Faust in den Sand und grollte sodann triumphierend. Hatte dieser Flohzirkus ernsthaft geglaubt, einen direkten Kräftevergleich für sich entscheiden zu können? Lachhaft.

    Absol kämpfte sich zittrig wieder auf die Pfoten. Sie senkte den Kopf und röchelte, als müsse sie Blut husten. Dieser Ausgang, dieser fast schon fatale Schlag löste fast schon Entsetzen bei einigen aus.

    „Die Drachenklaue hat voll gesessen!“ stellte Cay fest und klang nicht weniger überrascht. Bellas Absol hatte über das gesamte Turnier quasi noch keinen Schlag einstecken müssen. Daran tat man auch gut, wenn man mit diesem Pokémom kämpfte, da sie zwar sehr gut austeilen, dafür aber kaum einstecken konnten.

    „Shardrago scheint Absol in Sachen Stärke eindeutig überlegen zu sein, trotz des Einsatzes von Schwerttanz. Bella muss sich wohl zur Abwechslung mal was einfallen lassen.“

    So eindeutig, wie der Kräfteunterschied ausgesehen hatte, war er leider nicht. Das erkannten aber lediglich die Kontrahenten. Nicht einmal Ryan, Terry oder Audrey hatten bemerkt, wie lädiert die linke Klaue des Drachenpokémons war. Shardrago besah sich eben dieser und versuchte prüfend, eine Faust zu ballen. Es war fast unmöglich. In der Handfläche lag ein heißer Schnitt. Die dicke, raue Haut war tief gespalten. Fast glühte die Wunde noch und machte seine Linke fast unbrauchbar.

    Ein durchstechender Blick fixierte das Absol Weibchen. Und wenn schon. Er konnte sie ebenso mit der rechten treffen. Und sollte dies ebenfalls unmöglich werden, griff er eben mit seinem brutalen Maul an. Würden die Zähne stumpf, schlug er eben mit seinem dornenbesetzten Schweif. Versagte dessen Kraft erst einmal, nutzte er seinen ganzen Körper. Wie oft würde sie ihm überhaupt noch trotzen können, so jämmerlich, wie sie sich gerade noch aufzubauen schaffte?

    Sandra traute dem Scheinerfolg keine Sekunde. So überzeugt sie doch war, diesen Kampf zu gewinnen, würde es niemals so einfach sein können, Bella Déreaux zu schlagen. Klar brauchte es nicht sonderlich viel, um ein Absol zu fällen. Dennoch würde sie nicht eher nachlassen, ehe ein K.O. verkündet würde. Solch eine Naivität hatte sie seit Jahren abgelegt.

    Hinzu kam Bella selbst. Die strahlte Gelassenheit und Gleichgültigkeit aus, als kämpfe sie noch immer gegen unbeteiligte Anfänger. Allerdings lächelte sie breit und hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt. Ihre bernsteinfarbenen Augen suchten den Blickkontakt zur Arenaleiterin und verengten sich etwas.

    „Nicht schlecht“, schnurrte sie. Oh, diese Füchsin. Sandra und Shardrago fingen gerade erst an.

    „Absol steht wieder. Und ich sag euch was Freunde, diese Bella schreibt man besser niemals ab.“

    Da gab Cay ausnahmsweise mal etwas Weises zum Besten. Nur ließ sich mit Vorsicht ein Gegner dieses Kalibers nicht besiegen, sondern nur durch entschlossenes Handeln. Sandra streckte die flache Hand voraus.

    „Shardrago, Kraftkoloss!“

    Nun wurden beide Klauen des Höhlendrachen robust in die Erde gestampft und der Kopf sank tief zwischen die angewinkelten Arme. Fast sah es so aus als hindere eine unsichtbare Kraft Shardrago daran, auf seinen Gegner loszustürmen und alles auf seinem Weg zu verwüsten. Der rau geschuppte Körper zuckte und pulsierte, während ein geradezu lächerliches Muskelspiel unter der Haut sichtbar wurde. Und dann gab diese unsichtbare Kraft plötzlich auf, entfesselte Shardragos ungezügelte Zerstörungswut. Mit allen Vieren sowie seinen Flügeln katapultierte er sich in einem Tempo vorwärts, das man wohl kaum einem Drachenpokémon zugetraut hätte. Er zog gar eine Staubwolke hinter sich her. Cay kommentierte den Ansturm nur mit einem perplexem „Wow“. Bellas Mundwinkel zuckten,

    „Scanner, meine Süße.“

    Nur ein kurzes Aufblitzen in Absols Augen. Dann bewegte sich die Welt für sie wie in Zeitlupe. Mit einer weit ausholenden Bewegung zielte Shardrago auf ihre Schläfe, doch er konnte noch so schnell, noch so rasend sein – gegen Scanner würde ihm der Treffer verwehrt bleiben. Für den Höhlendrachen sowie die Zuschauer musste die Reaktion übernatürlich aussehen. Sicher tat es das, denn genau dies war der Fall. Die Ausweichbewegung ging dem Schlag des Angreifers gar voraus. Sprich, die Raubkatze reagierte noch bevor ihr Gegenüber agierte. Nicht nur bei diesem Schlag, sondern auch beim nächsten und übernächsten. Shardrago wütete und fuchtelte wild mit Armen und Schweif, aber dennoch nicht unbedacht auf Absol ein. Die betrieb stets nur den Minimalaufwand, um den Schlägen zu entgehen, duckte sich sprang hoch oder hechtete aus der Reichweite ihres wütenden Gegners. Lange konnte Bella das jedoch nicht so weiterspielen. Scanner würde nach zu häufiger Anwendung wirkungslos.

    Glücklicherweise eröffnete das Drachenpokémon ihr gerade ein Fenster, um in die Offensive zu wechseln. Schon im Ansatz erkannte die Agentin, dass der kommende Schlag der letzte dieser Angriffswelle sein würde. Shardrago holte viel weiter aus und sammelte deutlich sichtbar alle Energie, die er mit Kraftkoloss noch aufbringen konnte. So konnte sie bedenkenlos einen Sprung nach hinten anordnen, ohne befürchten zu müssen, dass der Gegner doch erneut nachsetzte. Shardrago wuchtete seine geballte, unverletzte Faust über den eigenen Kopf als hielte er einen Morgenstern. Wie ein solcher Schlug er dann ein – leider nur in den Boden. Wieder daneben. Die Erde zitterte ehrfürchtig vor seiner Kraft, Sand wurde aufgeschlagen und im darunterliegenden Festboden taten sich Risse auf.

    „Nochmal Psychoklinge!“, hallte es von der anderen Seite über das Schlachtfeld. Gerade gab der Sand die Sicht auf eine schneeweiße Gestalt wieder frei, die nach ihrem Sprung noch nicht einmal gelandet war. Dennoch konnte sie in eine fließende Bewegung übergehen und ihren Kopf für den Angriff nach vorne werfen. Im gleichen Atemzug stellte sich heraus, dass Bella sich zum ersten Mal geirrt hatte. Da Shardrago das Fellknäul langsam einschätzen konnte, war noch nicht einmal ein Befehl von Sandra nötig. Er grub eine Klaue tief in den bröckeligen Boden zu seinen Füßen. Mit nur einer Hand brach er einen Felsbrocken heraus, der noch größer als Absol, ach was, als er selbst war und wuchtete ihr diesen ohne viel Federlesen entgegen. Selbst nach all ihren Trainingsstunden hatte Ryan nicht gewusst, dass Shardrago Stärke beherrschte.

    Auf halbem Weg traf das Gestein dann mit einer lilafarbenen Energieklinge zusammen. Die Drachenmeisterin musste weiter proaktiv bleiben. Absol war bereits schwach und würde ihren Attacken nicht mehr lange entgehen können. Sie schaffte es geradeso, ihres Tatendrangs und der Verlockung der Gelegenheit zum Trotz, nicht kopflos zu werden und zu forsch zu agieren. Ihr Partner hatte für diesen kurzen Moment den Vorteil des festen Standes und konnte somit schneller agieren. Wenn sie jetzt…

    Eine lilafarbener Lichtblitz blendete Sandras Augen und beendete ihr Taktieren. Nach einem Blinzeln erkannte sie auf einmal zwei Felsen in der Luft. Nein, das war falsch. Jener, den Shardrago noch auf Absol geschleudert hatte, war einfach in der Mitte zerteilt worden. Sauber und ohne Risse. Und nach dem nächsten Blinzeln bohrte sich die verursachende Klinge in Shardragos Torso. Der beugte den massigen Schädel nach vorn und röchelte einen wütenden, aber gleichzeitig erbärmlichen Schmerzensschrei. Er war an seiner empfindlichsten Stelle getroffen worden. Psychoklinge hatte in die weichen Bauchschuppen geschnitten und ihre Energie sich tief in das darunterliegende Fleisch sowie die Organe entladen. Die daraus resultierende Pein war grausam, kam einem glühenden Messer gleich, das den Körper öffnete. Dem Einschlag folgte zudem eine dichte Rauschschwade und Sandra entwich ein entsetztes Keuchen.

    „Meine Fresse, was geht da ab? Die Ladys eskalieren ja komplett! Und Absol gewinnt mehr und mehr an Boden!“

    Das Aufschreien der Menge pflichtete dem Stadionsprecher bei. Wie die da wüteten, konnte einem ja Angst machen. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, da unten lief nicht länger ein Wettkampf, sondern eine persönliche Fehde. Tja, in der Tat besser wusste das nur eine Handvoll im Stadion.

    „Ich hab´s ja gesagt – niemals Bella abschreiben!“, erinnerte Cay mit einen merklichen Maß an Genugtuung. Shardrago hielt sich die getroffene Stelle, umklammerte den eigenen Torso regelrecht, um den Schmerz niederzukämpfen, während Absol zwar mit stark eingebüßter Anmut, dafür aber unbeschadet direkt vor ihrer Trainerin landete.

    „Die Arenaleiterin hat auf die Entscheidung geprescht und ist bitterböse bestraft worden. Ist das hier die Wende?“

    Selbige knirschte mit den Zähnen. War sie letztlich doch zu forsch gewesen? Hatte ihr Urteilsvermögen sie im Stich gelassen?

    Bella wirkte sehr zufrieden, aber von Erleichterung, neu gewonnener Euphorie oder wachsender Zuversicht – irgendetwas, das vermuten ließe, sie habe sich nicht all die Zeit in Sicherheit gewogen, suchte man vergeblich in ihren bernsteinfarbenen Augen. Ihr Absol, wirkte allerdings weniger souverän. Sie war definitiv angeschlagen, doch lange nicht besiegt. Der Spieß war umgedreht. Nun würde sie ihn in Sandras Brust stoßen.

    „Machen wir weiter mit Klingensturm“, befahl Bella mit einem Fingerschnippen. Wieder wurde das schwarze Horn geschwungen. Diesmal allerdings umspielte eine Windböe den felinen Körper der Unlichtkatze. Sie schloss sich den diesmal in Perlweiß erstrahlenden Lichtklingen an als sie gen Shardrago gesandt wurden. Sandra biss sich auf die Unterlippe. Auf einmal wart sie hier in die Defensive forciert und musste einen Weg finden, Absols Angriffe zu unterbinden. Die Kräftigung durch Schwerttanz war von dauerhafter Natur und würde die ohnehin starken Attacken unerbittlich machen. Noch einen weiteren Treffer des Kalibers von gerade eben musste sie unbedingt vermeiden. Ruhig bleiben. Erstmal galt es Zeit zu gewinnen. Nicht zu weit vorausdenken. Der nächste Zug, immer nur der nächste und vielleicht übernächste Angriff – mehr zählte gegenwärtig nicht.

    „Abwehren mit Drachenklaue!“

    Zu ein Ausweichmanöver war der kobaltblaue Drache gerade nicht imstande, aber seine Krallen konnte er immer einsetzen, sofern er noch in der Lage war, aufrecht zu stehen. Wenn auch die linke nur sehr bedingt. Sei es drum, dann wehrte er eben ein paar der Klingen mit dem Handrücken ab. Mit einem energischen Grollen ließ Shardrago seine Primärwaffen von einer blauen Energie ummanteln und spreizte die Beine rasch. Klingensturm überwand die Distanz schnell. Aber etwas war noch schneller.

    „Mit Ruckzuckhieb auf das Standbein.“

    Inmitten des Wirbels, der auf Shardrago zuhielt, preschte auf einmal Absol voran, hechtete durch den eigenen Klingensturm hindurch und zog dabei einen Schleier hinter sich. Das menschliche Auge konnte kaum folgen. Geschweige denn, dass Sandra darauf zu reagieren vermochte. Bella hatte sie kalt erwischt. Ein Schlag auf das Knie ließ selbiges einknicken, sodass es zu Boden ging, während Absol an ihm vorbei hastete. Shardrago wollte sich gern umdrehen und den Schmerz vergelten. Ihr am liebsten das Fell abziehen! Dazu gab es keine Gelegenheit, denn schon einen Herzschlag später prasselten gleißende Lichtklingen auf ihn nieder. Er wurde unbarmherzig malträtiert, als schlugen fünf Feinde gleichzeitig auf ihn ein. Klingensturm war allerdings nicht stark genug, um seine dicke Haut zu durchdringen. Stattdessen detonierte jede einzelne von ihnen auf seinem Schädel, seinen Gliedmaßen, den Flügeln und vor allem auf dem verwundeten Torso. Vor dieser Zerstörungskraft gab es kein Entkommen, kein Verstecken und keine Zuflucht. Mit jedem Schlag, den Shardrago einstecken musste, wich er einen Schritt zurück und hasste sich für jeden davon selbst ein bisschen mehr. Aber er konnte diesem Klingenhagel einfach nicht standhalten.

    „Was sind Bella und Absol für zwei Schlitzohren? Der Abwehrversuch von Shardrago wurde gekonnt durchbrochen und jetzt kassiert er die volle Breitseite!“

    Einige im Publikum jubelten, anderen raunten erstaunt und verblüfft und wieder andere schlugen fast entsetzt eine Hand vor den Mund. Cay übersah in seiner Begeisterung selbst die tragische, zu brechen drohende Willenskraft des Höhlendrachen, der sich verzweifelt auf den Beinen zu halten versuchte. Die meisten Pokémon wären längst wie ein Blatt im Wind davon gefegt und einer gnädigen Ohnmacht übergeben worden. Aber er war nicht wie die meisten. Er war besser, stärker. Und doch nicht stark genug.

    Sandra rief nach ihm, tat ihr Möglichstes, dass er ihre Anwesenheit, ihren Beistand spürte, damit er an Sicherheit zurückgewann. Nur was würde es nützen, stand Absol doch im toten Winkel ihres Drachenpartners, der in diesem Moment als Schild gegen ihre eigene Attacke diente und obendrein seine ungeschützte Rückseite entblößte. Bella schmunzelte und ließ sich zum ersten Mal in diesem Turnier zu einer euphorischen Geste hinreißen. Sie hob einen Arm und warf eine flache Hand mit gespreizten Fingern nach vorn, als wolle sie einen Schlag mit Absols Pranke imitieren. Genau in diesem Moment traf die letzte Klinge direkt auf Shardragos Kinn. Er taumelte ein weiteres Mal. Doch nun fand er mit seinen Beinen keine Balance mehr. Er fiel.

    „Nachthieb!“, raunte die Agentin unheilvoll, als habe sie nur darauf gewartet, dies anordnen zu können. Ihre Partnerin machte einen kurzen Satz und sprang anschließend im hohen Bogen über Shardrago. Eine Klaue wurde von reiner Dunkelheit umhüllt. Ein Hauch, ein Flüstern, so glaubte der ein oder andere, lag in der Luft. Es mochte Einbildung sein oder doch real – niemand wusste es zu beantworten. Niemand außer Shardrago. Der vernahm das unheilvolle Versprechen einer finsteren Macht, dessen er sich später nicht mehr erinnern würde, dass er leiden würde. Er befand sich bereits in Rücklage, als Absol die Pranke auf seinem Schädel platzierte. Das Drachenpokémon wurde mit solcher Gewalt gen Boden geschmettert, dass er nach dem Aufprall zusammen mit aufgeschlagenem Sand nochmals durch die Luft wirbelte, wie eine Sprungfeder. Viele waren sich in diesem Augenblick sicher, das Brechen von Knochen vernommen zu haben. Shardragos Augen rollten in den Kopf, sodass nur noch Weiß darin zu erkennen war. Der Kiefer hing weit offen, als ob er schreien wollte, doch die Ohnmacht kehrte zu schnell ein, sodass er stumm blieb. Als der kobaltblaue und blutrote Körper schließlich im Sand liegen blieb, rührte sich wahrlich nichts mehr. Kein Zucken, Zittern, Grollen oder Jammern. Er war besiegt. Zum ersten Mal, seit er seinen Weg mit Sandra teilte. Das Resultat wurde offiziell gemacht und Cay hielt es lautstark fest.

    „Shardrago ist K.O., Absol gewinnt! Was war das für ein Comeback von Bella Déreaux!?“


    Ryan schürzte die Lippen und quittierte das Ergebnis mit einem Stoßseufzer. Weder er noch irgendjemand sonst im Stadion hatte diese Wende zu irgendeinem Zeitpunkt kommen sehen, obwohl gerade gegen jemanden wie Bella immer mit der Gefahr gerechnet werden musste. Dass sie nach einem so schweren Erstschlag nicht nur in das Match zurückfinden, sondern es so dominieren konnte, ohne einen weiteren Treffer einzustecken, hätte er ihr nicht zugetraut.

    „Bitter“, kommentierte Andrew bloß ernüchtert. Es hatte nicht viel gefehlt. Nur ein weiterer, vergleichbarer Treffer wie zu Beginn hätte wohl seinerseits Absol auf die Matte geschickt. Doch Bella hatte das überlegene Geschick ihres Pokémons clever ausgespielt und offengelegt, dass es Shardragos Kraft doch nicht so unterlegen war, wie man anfangs beim Aufeinanderprallen von Drachenklaue und Psychoklinge hatte vermuten dürfen. Ob Bella sie alle bewusst getäuscht hatte?

    „Alles gut, sie packt das“, beschwor Ryan sogleich und verschränkte die Arme. Das Ergebnis ward zur Kenntnis genommen und musste hiermit unverzüglich abgehakt, hinter sich gelassen werden. Zu hadern würde Sandra nur schaden statt helfen. Sie musste sich darauf besinnen, was sie bis hierhin erreicht, beobachtet und gelernt hatte. Hoffentlich befand sich unter diesen Dingen auch der Schlüssel zum Sieg über dieses verdammte Absol.

    Sein Blick war jedoch nur begrenzt zuversichtlich. Eher lag darin eine Konzentration, als ob er selbst kämpfen würde. Dies war natürlich nicht der Fall, aber war das Match für ihn dennoch unsagbar wertvoll. Entgegen seiner eigenen Worte wusste Ryan nämlich ganz genau um die Möglichkeit, dass er ihr selbst ebenfalls noch gegenüberstehen könnte. Auch nach dem Turnier! Für diesen Fall wollte er so viel von wie möglich von ihr gesehen haben. Von ihren bisherigen Kämpfen hatte man lediglich lernen können, dass sie immens stark und skrupellos war. Mindestens eines davon hatte jeder von ihnen ohnehin voraussetzen sollen.

    So er am Vorabend zwar noch den Wunsch nach genau diesem Kampf geäußert hatte, hoffte er nun dennoch, nein, vertraute darauf, dass Sandra ihrerseits dieses letzte Viertelfinale nochmals herumreißen würde.


    In den ersten Momenten nach Shardragos Niederlage dachte die Drachenmeisterin nicht eine Sekunde an den weiteren Verlauf des Matches. Auch wie sie weiterkämpfen sollte oder wie ihre Chancen ab hier standen waren absolut irrelevante Fragen. Um ein Haar hätte sie dem Impuls nachgegeben, auf das Kampffeld zu treten, um nach Shardrago zu sehen. Jedoch hielt sie sich zurück, noch bevor sie überhaupt einen Fuß erhoben hatte. Sie wusste selbstverständlich, dass bei solchen Turnieren das Verlassen ihrer Trainerzone unweigerlich in Disqualifikation mündete. Eine unnötige wie gefühllose Regelung, wie tatsächlich nicht wenige in der Szene befanden – sie selbst eingeschlossen. Ihr Drachenpartner hatte sehr aufopferungsvoll gekämpft und verdiente höchste Anerkennung. Mehr als diese auszusprechen, wollte Sandra jedoch um Vergebung bitten.

    Es war ihr Versagen. Ihres allein. Sie hätten Absol besiegen können. Alle Vorteile hatten sich bei der Arenaleiterin befunden. Es hatte in ihrer Hand gelegen. Doch ihr Urteil war getrübt, ihre Strategie fehlerhaft und ihre Entscheidungen schlicht und einfach falsch gewesen. Der erste Kräftevergleich hatte sie in dem Glauben gewogen, Absol jederzeit überwältigen zu können und somit zu einer Frontal-Taktik verleitet. Aber die Schattenkatze war einfach flinker und geschickter und Bella zudem cleverer gewesen. Sie hatte ihre Fehler gnadenlos bestraft. Dass Shardrago die Quittung dafür erhielt, war alles andere als gerecht, doch dafür würde sie sich erst später entschuldigen können. In den Klauen der Ohnmacht wären die Worte fehlplatziert. Sandra sprach sie dennoch zumindest in Gedanken und rief das geschlagene Pokémon zurück. Einmal eingesogen verstärkte sich ihr Griff und den Ball, verkrampfte beinahe. Sie hatte alle Karten in der Hand gehabt und war am Ende dennoch unterlegen. Aber Shardragos Arbeit würde nicht umsonst gewesen sein. Sie würde sich nicht entmutigen lassen, sondern aus seinem Opfer Kraft schöpfen. Genug Kraft, um Bella zehn Mal zu schlagen.

    „Bella Déreaux kann selbst mit Johtos stärkster Arenaleiterin mithalten und liegt nun sogar vorn. Für die ist das natürlich ein gewaltiger Dämpfer, nachdem sie den Kampf zunächst diktiert hatte. Die Frage ist, mit welchem Pokémon will sie das jetzt nochmal rumreißen?“

    Überflüssig war diese Frage. Da gab es für sie nur eine Wahl. Der Pokéball wurde durch einen anderen ersetzt. Sandra bewegte sich so kraft- und schwungvoll, dass ihr Umhang aufschlug und den Wind einfing. In ihrer Arena hatte sie niemals und ihre Herausforderer nur höchst selten mit so viel Energie ein Pokéemon befreit. Eine längliche Gestalt entsprang dem grellen Lichtschein und schraubte sich wie von einer Windböe getragen in die Höhe. Als das blau- weiße Schuppenkleid präsentiert wurde, sang sie ihren Namen, als habe sie seit Ewigkeiten keine frische Luft mehr geatmet und streckte sich anmutig im Sonnenlicht.

    „Dra-go-nir“, echote es durch das ganze Stadion, wie vom Klang einer Triangel begleitet.

    „Sandra hat sich für ihr bekanntestes Pokémon entschieden. Das will ich sehen, wie Absol in seinem Zustand noch so einen Gegner kleinkriegen will“, kommentierte Cay und lehnte sich so weit vor, dass er fast auf die Sitzränge unter ihm zu stürzen drohte. Der Schiedsrichter warf einen prüfenden Blick in Richtung der Schattenkatze. Er war in Momenten der Unvernunft seitens der Trainer bemächtigt, ein Pokémon für kampfuntauglich zu erklären und den Trainer zu zwingen, es zu ersetzen. Eine radikale Regel, die bei falscher Anwendung den Ausgang eines Matches weitreichend beeinflussen konnte. Daher war man äußerst vorsichtig mit diesem Urteil und zeigte diese Konsequenz sehr selten.

    Absol war schwach und geschunden, stand aber auf sicheren Beinen und hatte keine offenen Wunden zu beklagen. Daher entschied der Unparteiische auch in diesem Fall, von dieser Regel keinen Gebrauch zu machen und eröffnete die zweite Runde.

    „Absol, noch einmal Schwerttanz!“

    Sandras Brauen waren sicher nicht die einzigen im Stadion, die sich skeptisch und alarmiert zusammenzogen. Bella wollte wohl den Druck erhöhen und mit einer Einschüchterung verhindern, dass die Drachenmeisterin Tempo machte. Unter Berücksichtigung von Absols Zustand war dieser Zug mehr als vertretbar. Allerdings war Dragonir nicht darauf angewiesen, in den Nahkampf zu gehen. Genaugenommen würde sie ihn sogar meiden. Selbst ohne eine weitere Stärkung von Schwerttanz könnte bereits ein Angriff desselben Kalibers wie dieser Nachthieb von gerade eben ausreichen, um Sandra aus dem Turnier zu werfen. Ließ sie Bella gewähren, so war dies ganz sicher. Es gab keinen Grund, das zuzulassen.

    „Unterbrich Absol mit Drachenpuls!“

    Mehr als das erhoffte sie gar nicht zu erreichen. Die Agentin hatte mit Sicherheit eine Kontertaktik zurechtgelegt. So entblößt und ungeschützt würde sie niemals einfach so Schwerttanz befehlen.

    Vor Dragonirs Maul wuchs ein Energieball von blau- violetter Farbe heran. Man konnte meinen ein von Blauflammen verziertes, alptraumhaftes Abbild seiner selbst materialisierte sich daraus und raste mit weit geöffnetem Schlund auf die Raubkatze zu. Gerade hatten sich die Lichtschwerter um diese gebildet, doch die Kräftigung hatte noch nicht eingesetzt. Bella musste abbrechen. Das tat sie allerdings schmunzelnd, statt zähneknirschend.

    „Kraftreserve.“

    Die Schwerter zerstreuten sich in feinen Lichtstaub. Gleich darauf sammelte sich jedoch eine andere Energie um das Absol. Faustgroße Energiekugeln lösten sich aus ihrem schneeweißen Fell, begannen um sie herum zu tanzen und glimmten dabei in einem eisigen Blauton. Sandra ahnte Böses.

    In rotierender Ringformation wurde die Kraftreserve dem Strahl aus Drachenenergie entgegengeschleudert. Dieser wirkte sporadisch um ein Vielfaches zerstörerischer. Umso größer war die allgemeine Verblüffung als die Lichtkugeln einen Stoß durch das gesamte drachenartige Gebilde sandten, der es binnen weniger Sekunden vom Kopf beginnend bis zu seinem Ursprung von diversen dumpfen Knallern zerfetzt wurde. Mehrere Löcher wurden in den „Körper“ gesprengt, die den Drachenpuls buchstäblich in Stücke rissen und die Überreste einfach verpuffen ließ, wie ein erstickendes Feuer, das ein letztes Mal aufflackerte.

    „Was ist denn da los?“; fragte Cay völlig baff. Der ahnte ganz offensichtlich nicht, was Sandra ahnte.

    „Drachenpuls wurde im Keim erstickt. Das ist doch nicht normal.“

    Nein, das war es sicher nicht. Es sei denn…

    Sandra rümpfte die Nase und besah sich der äußerst zufrieden wirkenden Bella.

    „Die Kraftreserve war vom Typ Eis, richtig?“, erkundigte sie sich fast gänzlich nüchtern. Nur ein winziger Hauch Frust war darin erkennbar. Die Agentin zuckte bloß schmunzelnd mit dem Schultern. Das reichte ihr als Antwort. Kraftreserve war nicht unbedingt das, was man schweres Kaliber nannte. Allerdings konnte die Energie, welche diese Attacke ausstrahlte von wirklich jedem Pokémon-Typen sein. Ganz gleich, welchem der Anwender angehörte. Da Drachenpuls derart zerstreut wurde, musste es sich in Absols Fall um eine Eis-Kraftreserve handeln.

    Bella hatte sie sehr bewusst als Konter zu Dragonirs Angriff gewählt, obwohl sie damit gerechnet haben musste, dass sie zwar genügen würde, um eben diesen zu negieren, aber auch nicht mehr. Um selbst einen Treffer zu landen, musste dann doch schon mehr her. Dennoch stellte diese Demonstration Sandra vor neue Probleme. Drachenpuls war nach Hyperstrahl die stärkste Attacke, die Dragonir aufbieten konnte. Letzteren konnte sie nicht einfach so ohne Weiteres anordnen, da Bella jederzeit mithilfe von Scanner entkommen und obendrein einen absolut verwundbaren Gegner vorfinden würde. Zudem wurde Sandra das Gefühl nicht los, dass sie gar noch mehr als Scanner zu überwinden hatte. Dass Drachenpuls nun ebenfalls ganz einfach ausgehebelt werden konnte, schränkte die Arenaleiterin in sehr unangenehmem Maße ein. Das schien auch Cay zu realisieren.

    „Sandra muss sich schleunigst was einfallen lassen. Absol aus sicherer Distanz zu beschießen scheint schon mal nicht der Weg zu sein. Aber ob´s so schlau wäre, in den Nahkampf zu gehen?“

    Ganz bestimmt nicht. Diese brutalen Klauen könnten mit ein paar Versuchen Dragonirs Körper in der Mitte durchtrennen, wenn die Raubkatze es darauf anlegte. Allerdings schien Bella nicht vorzuhaben, weiter passiv zu bleiben, bis die zündende Idee gekommen war. Sie machte eine elegante Geste, die sie glatt von Ryans Guardevoir abgeschaut haben könnte und warf einen Arm nach vorne.

    „Absol Schätzchen, Klingensturm los!“

    Ein scharfer Wind pfiff den Trainerinnen sowie den Zuschauern in den vorderen Reihen um die Ohren. Er hatte das geschwungene Horn des Unlichtpokémons zu seinem Zentrum gemacht. Mit einer Schwungvollen Kopfbewegung formte der Wind sich zu mehreren Klingen, die auf Dragonir hagelten. Nun war es Sandra, die verschmitzt grinste.

    „Schnell, hüll dich in Windhose!“

    Auch die Drachenschlange wuchtete den Kopf erst zur Seite und anschließend in die Höhe. Wie schon gegen Audrey umgab sie sich schützend mit der eigenen Attacke. Doch im Angesicht von Absols Kraft würde sie hier mehr Feingefühl benötigen.

    „Jetzt vorwärts, stoß direkt dazwischen!“

    Bei diesem Befehl schlug Sandras Herz bis zum Hals. Das war noch gewagter als die Kombination aus Drachenwut und Nassschweif. Wenn sich Dragonir hier nur um Zentimeter verschätzte, würde das böse enden. Vielleicht sogar mit dem endgültigen Aus. Aber sie würde diesen Zug nicht anordnen, wenn sie ihr den Erfolg nicht zutrauen würde. Sie vertraute sogar fest darauf.

    Bellas Augen wurden schmaler und sie entschied diesmal, abzuwarten. Absol war nicht mehr in dem Zustand, in dem sie dem Gegner ganz nach Belieben in die Parade fahren konnte. Außerdem war sie neugierig, was die Drachenmeisterin vorhatte.

    Die Windhose schlängelte sich gerade rechtzeitig in eine horizontale Position, folgte jeder feinen Muskelbewegung Dragonirs überaus präzise. Die Klingen zischten scharf an ihr vorbei, verfingen sich ein Stück weit in dem Wirbel und änderten ihre Richtung. Eine wurde geradewegs gen Himmel geschossen, während die nächsten beiden fast senkrecht in den Boden einschlugen. Die nächsten drei, vier Stück jedoch nahm Dragonir noch enger, noch riskanter, neigte zudem den Körper etwas weiter in eine höhere Flugbahn. Und so fing Windhose den Klingensturm gänzlich auf, ließ ihn in einem Wahnsinns Tempo um ihren Körper rotieren.

    „Jetzt seht euch das an!“, riet Cay sehr laut und wie immer äußerst begeistert. Bei den Kunststückchen, die diese zwei Trainerinnen hier aus dem Hut zauberten, war das aber absolut nachvollziehbar.

    „Dragonir hat den Klingensturm aufgefangen hält ihn unter Kontrolle! Wie krass ist das denn?“

    Zur Hälfte richtig. Sandra erkannte jedoch rasch, dass die Klingen nicht wirklich von der Drächin beherrscht wurden, sondern sich diese ganz einfach im Wind verfangen hatten. Sie könnten jeden Moment wieder entgleiten und zu gefährlichen Querschlägern werden. Tatsächlich blieb es nicht beim Konjunktiv – die Ausrichtung, die ihre Freundin mit ihrem länglichen Körper gewählt hatte, sorgten für einen gefährlichen Beschuss direkt in Absols Richtung. Die würde es ebenso wenig eingestehen, wie ihre Trainerin, aber beide erschraken fast, als die Luftklingen plötzlich auf sie zu schossen. Dennoch war dieser Zufallsangriff – mindestens zur Hälfte war es einer – zu unpräzise und das Unlichtpokémon konnte ohne größere Schwierigkeiten ausweichen. So würde das nichts werden. Also entschied Sandra sich für den direkten Weg.

    „Jetzt Drachenrute!“

    Der schlangenartige Körper streckte sich gerade, um ja nicht unbedacht weitere Luftklingen von sich zu stoßen. Ihre ungezügelte Kraft war gerade viel zu wertvoll. Dragonir schoss auf die weiße Raubkatze zu und ließ bereits ihren Schweif blau aufglimmen. Trotz der geradlinigen Flugbahn lösten sich weitere Klingen und schossen unberechenbar über das Kampffeld – zwei davon zufällig gefährlich präzise in Absols Richtung. Bella befahl einen Ausweichsprung, wollte Scanner hierfür noch nicht verwenden. Es gelang gerade so. Der aufgeschlagene Dreck schlug ihr noch entgegen und der Beschuss ließ ihr nicht allzu viel Bewegungsfreiheit. Das ließ der Agentin nur eine Option.

    „Schlag zurück mit Nachthieb!“

    Schattenenergie waberte wie ein Nebel um die tödlichen Klauen. Ein Schlag wie zuvor gegen Shardrago würde garantiert nicht gelingen, aber zumindest dagegenhalten konnte sie hoffentlich. Sie war niemals von so einer Attacke getroffen worden – vermutlich war das noch nie irgendjemand – und konnte daher die Kraft dahinter nur schwer einschätzen.

    Dragonir vollführte einer Rolle, ähnlich wie bei der Wasserrad Variante ihres Nassschweifes. Die beiden Kristallkugeln am Schwanzende gingen auf Absol nieder wie eine Peitsche. Die Schattenkatze wuchtete ihre Pranke empor und schlug direkt dagegen, während Luftklingen, die sie vor wenigen Momenten noch eigens auf Dragonir geschleudert hatte, haarscharf an ihr vorbeizischten. Der Aufprall bot ein Lichtgewitter aus Blau und Schwarz. Obwohl der aufgefangene Klingensturm verfehlt hatte, bekam Absol die Druckwelle unter sich zu spüren. Jede einzelne sandte einen Stoß durch den ungeschützten Bauch und malträtierte die Organe. Ihre Klaue brannte. Die Gelenke protestierten mit höllischen Schmerzen gegen den Kraftakt, mit dem sie sich gegen an Angreifer stemmte. Dragonir fühlte sich unterdessen, als habe sie in einen Scheiterhaufen geschlagen und jaulte gepeinigt. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Luft und trennte die Kontrahenten voneinander. Das Drachenpokémon konnte sich in der Luft ohne Weiteres neu ausrichten, doch brannten ihre Muskeln auf einmal enorm. Absol wurde wild durch die Luft geschleudert, landete aber dank seiner ausgezeichneten Instinkte fest auf den Pfoten. Der linke Hinterlauf knickte jedoch ein und sie jammerte gequält. Der Körper hatte seiner Grenzen fast erreicht.

    „Durchhalten, meine Süße“, wisperte Bella gerade laut genug für ihre und auch nur ihre Ohren. Das gesamte Becken zitterte und fühlte sich an als könnte es gleich zerbrechen wie Glas. Doch bislang war es nur gesprungen, nicht zersplittert. Zusammenreißen, konzentrieren. Wo war Dragonir? Um sie herum nur Rauch und aufgewirbelter Staub. Die Sichtweite war fast Null.

    „Drachenwut!“, hallte es aus der Ferne und mitten aus der Rauchwand tauchte plötzlich ein blauer Kopf mit einem spitzen Horn aus, um blaue Flammen auf sie zu speien. Absol sprang aus eigenem Reflex, versuchte dem zu entgehen. Sie konnte ihre eigene Trainerin nicht finden und diese folglich auch den Gegner nicht sehen. In solchen Momenten musste sie eigenmächtig reagieren und das wusste sie genau. Die Drachenwut streifte ihre Flanke nur ein wenig, doch direkt darauf folgte eine flotte Drehung, dank der eine weitere Drachenrute genau auf diese Stelle platziert werden konnte. Dem Unlichtwesen wurde die Luft aus dem Körper gestoßen und sie selbst über den Sand gefegt. Das hätte ebenso ein rollendes Geowaz gewesen sein können, dessen Bahn sie unvorsichtigerweise gekreuzt hatte. Es war mehr einer Portion Glück als ihrer Zähigkeit zu verdanken, dass sie auf den Pfoten landete und rasch den Gegner erneut fixieren konnte. Wenn sie Dragonir nochmal aus den Augen verlor, wäre das ihr Ende.

    Wobei jenes nicht unbedingt daran geknüpft sein musste. Die Drachenschlange war bereits wieder direkt vor ihr und ließ einen Wasserschwall um ihre Schweifspitze peitschen. Im Normalfall wäre es aus Sandras Sicht unklug, den Nahkampf zu suchen, aber hier bot sich die Gunst der Stunde. Absol würde den Schlägen Dragonirs nicht lange standhalten können und das musste auch Bella klar sein. Folglich war sie zu eben jenem Befehl, den sie nun erteilte, geradezu gezwungen.

    „Scanner!“

    Ohne den Einfluss dieser Technik wäre die Schattenkatze nie im Leben noch zu diesen Bewegungen fähig. Sie duckte sich grazil unter dem Schweif, der erneut auf die Flanke zielte, hinweg und setzte in einer fließenden Bewegung zu einem Sprung an, um einem nachgezogenen Wasserschwall, der wütend nach ihr schlug, auszuweichen.

    Immer wieder kreischten mal vereinzelte Zuschauer und mal die große Masse auf, wenn die befürchteten, dass jetzt der entscheidende Schlag zwischen diesen beiden Pokémon fiel. Aber diese Entscheidung wurde weiter und weiter hinausgezögert und irgendetwas sagte Sandra, dass Scanner hier nicht einmal als Rettungsanker hätte herhalten müssen. Sie musste das übervorsichtige Denken unterbinden. Sie hatte die Zügel in der Hand. Und sie war es, die hier auf die Entscheidung, der man hier so entgegenfieberte, preschte. Wenn sie so weiter alles zerdachte, geriet sie nur ins Zögern, wenn Mut gefragt war. So etwas nannte man im Volksmund gerne Angst vor dem Gewinnen. Nur hatte Sandra die noch nie zuvor gefühlt. Die Spannung könnte der Grund sein. Die war für den gemeinen Zuschauer mittlerweile gar nicht mehr auszuhalten. Besonders für Stadionsprecher Cay nicht.

    „Déreaux ist gewaltig unter Druck. Absol kann nur noch ausweichen, aber wo ist die Lücke, um nochmal zurückzuschlagen?“

    Die würde Bella vergeblich suchen. Stattdessen sah nun die Drachenmeisterin auf der Gegenseite ihre Chance, jetzt, da Scanner aufgebraucht war und für kurze Zeit nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Wann wenn nicht jetzt sollte sie ihr schwerstes Geschütz auffahren? Die ballte die Faust und schien damit geradewegs auf Bella eindreschen zu wollen.

    „Dragonir, Hyperstrahl!“

    Nur ein klein wenig ließ sie sich zurückfallen, um einem möglichen Angriff Absols zu entgehen. Noch während sie Abstand gewann, wuchs ein goldener Energieball an der Hornspitze. Es dauerte nur wenige Sekunden bis er die nötige Größe erreicht hatte, woraufhin Dragonir in der Luft einen Looping vollführte, um sich wieder zum Gegner auszurichten. Die Kraft hinter ihrem Hyperstrahl ward bereits mehrfach beobachtet und bestaunt worden und dennoch verblüffte er die Menge noch wie beim ersten Mal. Die Lichtstrahlen der Sonne hatten sich gebündelt und brannten entlang ihres Weges alles und jeden nieder, der unglücklich genug war, im Weg zu sein. Wer direkt hineinsah, drohte zu erblinden. Zumindest fühlte es sich so an. Selbst von den Rängen aus.

    Eben dem sah sich Absol nun gegenüber. Und was konnte sie schon tun, um dieser Gewalt zu entrinnen? Scanner war in diesem Augenblick keine Option und ein Ausweichmanöver wäre jetzt so aussichtsreich, wie der Versuch, den Hyperstrahl fortzuwünschen.

    Und dennoch konnte und wollte sich Sandra keine Sekunde sicher fühlen. Das durfte man gegen Bella einfach nicht. Und im selben Moment, in dem der Befehl ertönte, erinnerte sie sich endlich.

    „Doppelteam!“

    Wie hatte die Arenaleiterin das vergessen können? Zu Beginn dieses Matches hatte Absol bereits einmal Doppelteam genutzt, um Shardrago auszuweichen. Dessen hätte sie sich erinnern, hätte es berücksichtigen müssen. Wann war ihr zuletzt ein solcher Fehler unterlaufen? Aber vielleicht…

    In Sandra keimte noch die Hoffnung auf, dass es bereits zu spät war, dem Hyperstrahl zu entkommen. Dass Absol zu erschöpft war und die Konzentration versagte. Einen Herzschlag lang glaubte sie ihre Vermutung sogar bestätigt, als die schneeweiße Gestalt in einem gewaltsamen Strom aus Licht verschwand. Doch dann tauchten plötzlich Ebenbilder dieser Gestalt auf. Zu ihrer Linken, dann zur Rechten. Manche standen in der Luft als habe man in einem Sprung die Zeit angehalten. Der Abstand zu Dragonir wurde verkürzt.

    „Bella Déraux hat ihren Kopf nochmal aus der Schlinge gezogen. Kommt jetzt der Gegenangriff?“, fragte sich Cay und schien fast darauf zu hoffen. Die Zähigkeit, die sie hier unter Beweis stellte, hätte ihr vermutlich niemand zugetraut. Doch, dass sie nebst der bisher gezeigten Dominanz auch einem ebenbürtigen Gegner so vehement Kontra zu geben vermochte, schien Sympathien zu wecken. Und das nicht nur bei Cay. Auch im Publikum schien es nicht wenige zu geben, die Absol anfeuerten, ihr Kraft zuriefen.

    Hyperstrahl erstarb. Er ließ ein keuchendes, fast bewegungsunfähiges Dragonir zurück. Bella könnte sich die Lippen lecken, so sehr freute sie sich hierauf.

    „Los, Nachthieb“, hauchte sie diesmal, wie ein flüsternder Geist, der sein Opfer verfluchte. Sandra war zum hilflosen Zusehen verdammt. Ihre Verteidigung lag nun völlig brach. Die Trugbilder Absols setzten sich allesamt in Bewegung und preschten auf die Drachenschlange zu. Die hielt sich jetzt schon müde und schwach gerade so über dem Boden und verengte die Augen scharf. Das würde nun sehr wehtun.

    Sowie die zahlreichen Absol zum Sprung ansetzten, schienen die falschen Exemplare zu verschwimmen und lösten sich gänzlich in Luft auf. Dafür hüllte eine schwarze, rauchige Energiemasse die Pranken des Originals ein.

    „Oh, ja, er kommt wirklich. Das ist Bellas große Chance. Achtung, hier kommt Absol!“, grölte es durch die Lautsprecher. Die eine Hälfte der Zuschauer befeuerte dies mit lauten Rufen, während die andere gar nicht hinsehen wollte. Melody schlug glatt eine Hand vor den Mund und auch Audrey neben ihr verzog mitfühlend die Miene als täte schon das Zusehen weh.

    Die Schattenkatze machte sich nicht die Mühe, auf den Kopf zu zielen. Die Energie wendete sie lieber dafür auf, diesen Schlag so stark und brutal wie möglich zu gestalten. Dragonir wurde in der Körpermitte getroffen und hinweggefegt, als habe ein unsichtbarer Zug sie erfasst, an dem sie noch einige Sekunden hing.

    „Dragonir!“, rief Sandra schockiert und besorgt. Ihre Freundin wurde über die Kreidemarkierung des Kampffeldes hinausgeschleudert, sodass die Drachenmeisterin sich nach ihr drehen musste. Sie zitterte jämmerlich und an der getroffenen Stelle klaffte gar eine Fleischwunde. Glücklicherweise schien die bei sporadischer Betrachtung nicht sehr tief. Die Strapazen hatten Absol anscheinend zu viel Kraft gekostet. Dennoch zog sich bei dem Anblick in der Magengegend etwas zusammen.

    „Au, das sah böse aus. Dragonir hat gewaltig eins abgekriegt.“

    Selbst Cay fuhr sich nach dieser Aktion und vor allem ihrem Resultat mit einer verkrampften Hand durch die Haare. Natürlich gehörte so etwas irgendwie dazu oder war zumindest eine Möglichkeit, mit der man rechnen musste. Ebenso selbstverständlich war es dennoch, dass keiner solche Wunden gerne sah.

    „Langsam wird das hier zum erbittertsten Match im bisherigen Summer Clash, aber von den beiden will einfach keiner nachgeben.“

    Da sagte er was. Auch jetzt wollte das niemand. Dragonir hatte den Kopf wieder erhoben und behielt Absol genau im Auge, während sie ihre verbliebenen Kräfte sammelte. Noch einmal. Nur noch einmal aufraffen. Der nächste Versuch würde gelingen und dann… dann würde Bellas zweites Pokémon auf sie warten.

    Daran verschwendete sie jedoch nicht einen Gedanken. Die unmittelbare Aufgabe stand noch vor ihr. Genaugenommen rannte sie. Geradewegs auf sie zu. Bella wollte sie gar nicht erst zu Atem kommen lassen und endlich das Ende erzwingen. Denn ihr eigenes Pokémon würde selbst nicht mehr lange durchhalten. Es war mehr als beachtlich, dass es überhaupt so lange gelungen war. Allerdings verleitete dieser Übereifer nicht selten zu Fehlern. Vielleicht war eben das wiederum Sandras Chance, Absol endlich zu schlagen.

    „Schnell, Nassschweif!“

    Dragonir war zwar noch am Boden, hatte lediglich das vordere Körperdrittel aufrichten können, schaffte es aber dennoch, den Schweif herum zu wuchten und mit einer Wasserpeitsche zuzuschlagen. Das Unlichtwesen war gezwungen, darüber hinweg zu springen. Der Kampf nahm nochmal Tempo auf. Es war der Schlussspurt, wie jedem mittlerweile klar war.

    Bella realisierte rasch, dass ihre Partnerin in der Luft überaus anfällig für Drachenwut oder gar Drachenpuls war und wollte zu diesem Zeitpunkt nicht den Konter mit Kraftreserve riskieren. Bei Absols derzeitigem Erschöpfungsgrad war die Gefahr eines Misserfolges zu hoch, weshalb sie sich für einen proaktiven Einsatz von Doppelteam entschied. Das Drachenpokémon war binnen weniger Sekunden vollständig von den Kopien umstellt.

    „Schraub dich hoch und nimm Drachenwut!“, wies Sandra an und hievte die Hand empor, als wolle sie Dragonir dirigieren. Die Wortwahl war keinesfalls willkürlich gewesen. Tatsächlich erhob sich der geschuppte Körper in Blau und Weiß in einer Spirale, sodass blaue Flammen sie ummantelten und einen Ring um sie herum auf dem Sand bildeten, als sie herabregneten. Gut die Hälfte der Trugbilder wurde davon verschlungen und verschwand im Nichts. War das echte Absol tatsächlich auf Abstand geblieben?

    „Und jetzt Drachenrute auf den Boden!“

    Dragonir verstand die Intention sofort. Sie überschlug sich mehrere Male in der Luft, deutete im Ansatz die Körperhaltung des Wasserrades an, das sie zuvor mithilfe von Nassschweif gezeigt hatte. Dabei musste sie ihren Körper so vehement zwingen, dass sie beide Augen zusammenpresste. Er war so schwer. Die Schwebe allein fühlte sich an, als hing ein Stahlos an ihr. Die Schweifspitze wurde von Drachenenergie umhüllt, flackerte für einen Moment aber bedenklich. Erst als die sonst so gesangsgleiche Stimme für einen bis ins Mark vordringenden Kampfschrei erhoben wurde, leuchteten die beiden Kristallkugeln in einem kräftigen Licht und wurden schließlich ins Zentrum des Flammenrings geschmettert. Das Ergebnis war eine Eruption in Blau. Das Feuer schlug in alle Richtungen, wurde zu einer vernichtenden Flammenwalze, die fast das gesamte Kampffeld überrollte. Sandra wandte den Blick ab und schützte die Augen mit dem Unterarm. Bella erhob sogar beide.

    „Sandra packt nochmal in ihre Trickkiste und schlägt fulminant zurück! War´s das jetzt?“

    Einige Klumpen Drachenfeuer flogen durch die Luft und regneten sanft auf den Sand des Kampffeldes. Die Abbilder Absols waren allesamt verpufft. Alle? Das war nicht richtig. Da stimmte was nicht. Dragonir und Sandra sahen sich gleichermaßen verwirrt um. Es fehlte jede Spur.

    Dann schob sich plötzlich etwas vor sie Sonne. Die Arenaleiterin blinzelte und sog scharf Luft ein, richtete ihren Blick aufgeschreckt nach oben. Da!

    „Über dir!“

    Auf der anderen Seite nur ein unheilvolles Grinsen.

    „Psychoklinge“, befahl Bella seelenruhig. Dragonir sah auf. Im Licht der Sonne erkannte sie nur die Silhouette einer sich herabstürzenden Raubkatze. Sie überschlug sich mehrfach, doch wirkte es keinesfalls panisch oder unkontrolliert. Sie sammelte lediglich so viel Kraft, wie sie aus dem Sturz mitnehmen konnte. Das Horn blitzte lilafarben auf. Die bekannte, schwungvolle Bewegung wurde diesmal nicht nur mit dem Kopf, sondern dem gesamten Körper vollzogen. Die Drächin schrie auf, bis eine sichelartige Klinge in die Luft gezeichnet wurde und sie auf der Brust traf. Da versagte ihre Stimme. Absols Landung erzeugte eine Druckwelle, die sämtliche verbliebenen Flammen um sie herum aufflackern oder gar erlöschen ließ. Doch nun brach auch sie zusammen. Die schmalen Beine knickten einfach weg und sie polterte über den schwarz verbrannten Boden. Der Lichtblitz schien sich in Dragonirs Schuppen zu brennen und zog einen heißen Knall nach sich.

    „Dragonir ist getroffen. Absol ist der Kombination aus Drachenwut und Drachenrute entkommen und Bella hat sogar noch die Lücke für den Angriff gefunden!“, hielt Cay fast schreiend fest. Schreien musste er auch, da nun wirklich jeder auf den Rängen seiner Stimme laut erhob. Ganz gleich, wer hier wem die Daumen drückte, diese Angriffsketten und kreativen Konter waren einfach spektakulär. Nur war das Zittern und Bangen – vor allem für Ryan und Andrew – noch immer nicht beendet. Der letzte Impact hatte eine Rauchwolke erzeugt, die nun beide Pokémon gänzlich einhüllte.

    „Oh Mann, oh Mann. Freunde mein Puls ist so hoch, ich brauch hier oben gleich ´nen Arzt und bitte schickt ihn rechtzeitig, bevor wir wieder was sehen können!“, scherzte Cay nur bedingt. Man hörte sehr deutlich, dass er mit den Nerven fast am Ende war. Es würde kaum verwundern, wenn er hier mehr schwitzte als die beiden Trainerinnen.

    Eben die sahen ironischerweise aus, als würde sie das Geschehen auf dem Kampffeld mit am wenigsten tangieren. Scharfe Blicke versuchten durch den dichten Rauch hindurch zu spähen, während die Atmung flach, aber rhythmisch blieb. Bella ging in diesem Moment jedes mögliche Szenario, jeden denkbaren Ausgang im Kopf durch, während Sandra dagegen an der Überzeugung festhielt, dass Dragonir wohlauf und Absol letztlich doch der Erschöpfung erlegen war. Die Schattenkatze hatte so viel einstecken müssen und sich dann obendrein noch zu diesem Kraftakt gequält. Es war kaum vorstellbar, dass sie jetzt noch…

    „Dragnonir ist kampfunfähig. Absol gewinnt!“, verkündete plötzlich der Schiedsrichter. Der war an der Seitenlinie dem Geschehen am nächsten und dennoch wollte die Drachenmeisterin ihm nicht glauben. Er musste sich irren, musste ein voreiliges Urteil gefällt haben.

    Die Sicht wurde klarer. Ein länglicher Körper in königsblauem und perlweißem Schuppenkleid stach heraus. Er lag völlig entkräftet am Boden und rührte sich nicht mehr. Daneben stand Absol mit zerzaustem Fell auf zittrigen Beinen und schwerer Atmung. Aber sie stand.

    „Somit geht das Match an Bella Déreaux!“

    Die eine Hälfte der Zuschauer jubelte frenetisch. Die andere blieb weitestgehend stumm, applaudierte aber für beide Parteien – für Bella und ihr unermüdliches Absol sowie für den Kampfgeist und die atemberaubende Show von Dragonir und der Drachenmeisterin. Der geschlagenen Drachenmeisterin.

    Hi Rusalka,


    schön, dass die Kämpfe noch immer gefallen. Es ist bei so vielen aufeinanderfolgenden Matches gar nicht leicht, sie immer spannend und abwechslungsreich zu halten. Vor allem, da die heißesten noch kommen werden und ich mich ja bis zum Finale stetig steigern will.


    Der Plot um Team Rocket sollte mit der zweiten Hälfte dieses Kapitels quasi nochmals ins Gedächtnis gerufen werden. Die Charaktere haben die potenzielle Gefahr ständig im Hinterkopf, aber ich wollte sie mal wieder präsenter für den Leser machen. Aber vorher gibt es noch einige Kämpfe auszutragen.


    LG

    Kapitel 53: Pulverfass


    Melody ließ sich seufzend in ihren Sitz fallen, als sei es das erste Mal am heutigen Tage, dass sie ihre Beine entlasten konnte. Das mit dem breiten Grinsen gepaarte Schnaufen kam einem Sprinter gleich, der stolz auf seine eben erbrachte Leistung war. Stolz durfte man auf Ryan und Andrew allemal sein, aber Audrey erachtete die augenscheinliche Erleichterung als überflüssig. Beide hatten ihren Viertelfinalkampf weitestgehend sehr souverän über die Bühne gebracht und sich keine erkennbaren Fehler geleistet. Wobei man anmerken musste, dass ihre Gegner auch nicht wirklich viele Fehler erzwungen hatten.

    „Schon aus der Puste?“

    Sie hatte viel gejubelt, aber nicht so viel, dass es tatsächliche Erschöpfung rechtfertigte. Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr Zopf zappelte und die Strähne über der Stirn in ihr Gesicht fiel. Letztere musste sogleich wieder hochgestrichen werden.

    „Im Gegenteil. Ich könnte den ganzen Tag hier sitzen.“

    Na, den Eindruck machte sie nicht gerade. Die Kämpfe, die Atmosphäre, dieses ganze Event schien sie wirklich über alle Maßen zu begeistern und mitzureißen, um es mit einem letzten Hauch Vorsicht auszudrücken. Diese Art der Begeisterung konnte in extremen Fällen gar Schwindel verursachen. Da vergaß man schon einmal das Atmen.

    Audrey schmunzelte. Wenn das so war, sollte sie besser niemals ohne medizinische Betreuung eine nationale Liga besuchen, wo die Stadien die doppelte oder gar dreifache Größe besaßen und Trainer von Ryans und Andrews Kaliber zu dutzenden antraten.

    „Ich versteh inzwischen vollkommen, warum so viele Menschen Pokémontrainer werden wollen. Der Wettbewerb letztens war schon spitze, aber das hier…“, schwärmte sie weiter und sah sich weitläufig im Stadion um. Man blickte ausnahmslos in strahlende Gesichter. Jeder genoss die Zeit. Und natürlich die Kämpfe.

    „Ich hab noch nie so was Berauschendes miterlebt“

    Audrey lächelte amüsiert. Melody war sehr begeisterungsfähig und das wirkte durchaus charmant. Sie hatte keine präzise Aussage erhalten, als sie nach ihrem Verhältnis zu Ryan gefragt hatte. Wenn er allerdings nur ähnlich fühlte, wie sie es für ihn tat, sah die Sache absolut klar aus. Zu behaupten, sie habe ein Auge auf in geworfen, wäre eine freche Untertreibung. Das erkannte selbst ein Blinder.

    „Dann ist das dein erstes größeres Turnier?“, erkundigte sich Audrey und legte die Arme hinter den Kopf, um sich etwas zu strecken. Je weiter besagtes Turnier fortschritt, desto mehr wurmte sie es, nicht mehr mitmischen zu können. Dafür sollte sie sich bei Sandra unbedingt revanchieren. Vielleicht, indem sie ihr ihren Orden abknöpfte?

    „Das, was bei uns als groß gilt, ist im Vergleich hierzu eine verschlafene Krabbelgruppe“, scherzte Melody und winkte ab. Das traf sowohl auf die Größe der Veranstaltung als auch das Niveau der Kämpfe zu. Sie mochte ihre Heimat, aber für solche Spektakel war man dort an der falschen Adresse. Dafür gab es dort andere Annehmlichkeiten und Zeitvertreibe, die man an den meisten Orten verpasste.

    „Dann geht´s bei dir daheim wohl etwas ruhiger zu?“

    Viel ruhiger, wenn man es genau nahm. Das war in solch verhältnismäßig abgelegenen Teilen der Welt nicht unüblich. Selbst die nördlichste der Orange Inseln war noch recht weit ab vom Schuss.

    „Ich komme von einer Inselgruppe im Süden. Ist nicht allzu viel los da, wenn´s um Pokémonkämpfe geht. Vom Festland zieht es nicht sehr viele dorthin.“

    Audrey zog ihre Sonnenbrille ein Stück tiefer – die andere saß mal wieder in ihrem wilden Haar –, sodass ihre Augen darunter hervorblitzten.

    „Und so ein verschlafenes Tropenparadies bringt jemanden wie dich hervor?“

    Sie unterstrich die Spitze, indem sie eine Braue anhob. Auch die Mundwinkel zuckten nach oben. Melody gluckste nur und wischte sich in einem leichten Anflug von Bekenntnis unter der Nase. Wenn Audrey erst wüsste, wie sie vor ein, zwei Jahren noch drauf gewesen war. Damals war sie von den Traditionen und Gebräuchen ihrer eigenen Kultur bestenfalls gelangweilt gewesen. Aber die meisten Teenies hatten wohl derlei Phasen. Heute war sie zwar noch immer mindestens doppelt so lebhaft und weltoffen wie jeder x-beliebige ihrer Landsleute, wurde aber nicht länger als das schwarze Schaf der Familie bezeichnet. Das genügte wohl.

    „Was ist mit dir? Sind in Rosalia City auch alle so taff und rebellisch?“

    „Bin ich das?“, tat Audrey plötzlich ganz unschuldig. Das konnte sie allerdings nicht länger als zwei Sekunden aufrecht halten und grinste sodann kopfschüttelnd.

    „Nein, ich pass da optisch auch nicht so richtig rein. Man sollte meinen so ein idyllisches Fleckchen Erde wär viel zu still für jemanden wie mich. Die meisten jungen Menschen zieht es von dort weg, weil sie Aufregung und Abwechslung suchen. Und reisende Trainer wollen nur weiter zur Arena von Viola City. Bei uns lohnt der Aufenthalt für sie nicht.“

    Die Sonnenbrille wurde wieder gerichtet. Bei dem was sie gleich sagen würde, sollte sie direkten Augenkontakt besser vermeiden. Sonst sah man ihr noch deutlicher die Sentimentalität an.

    „Komischerweise gefällt es mir aber dort, so wie es ist. Die Leute sind nett. Man kennt seine Nachbarn, ständig laden sich alle gegenseitig ein. Und obwohl ich wie eine totale Außenseiterin aussehe, ist nie jemand unfreundlich zu mir gewesen.“

    Ihr Blick verlor sich etwas und sie wandte sich bewusst ein bisschen ab. Sie sollte nicht zu lange von zu Hause sprechen, sonst traf sie das Heimweh noch.

    „Aber trotzdem bist du in der Weltgeschichte unterwegs, genau wie all die Trainer“, stellte Melody dann fest, womit sie subtil nach einem Grund für ihre Abwesenheit fragte. Audrey rümpfte darauf die Nase und schmunzelte.

    „Weil ich Pokémon und das Kämpfen eben liebe. Noch etwas mehr als meine Heimat sogar.“

    Sie legte den Kopf in den Nacken und beobachtete abwesend die wandernden Wolken. So könnte Melody doch von der Seite einen Blick in ihre glänzenden Augen erhaschen. Sie verzichtete jedoch darauf, sie zu bedrängend anzustarren.

    „So simpel ist das. Mehr steckt nicht dahinter.“

    Manchmal wünschte sie sich in solchen Momenten, in denen sie von zu Hause plauderte, sie hätte etwas Spannenderes zu erzählen. Etwas mit Dramatik und einer unerwarteten Wendung. Das Leben schrieb ja die besten Geschichten, so sagte man doch. Aber ihre war so einfach wie schnell erzählt. War im Grunde genauso langweilig wie ihre Heimatstadt.

    „Irgendwann, wenn ich vom Reisen müde bin und genug Erfahrung gesammelt habe, will ich in Rosalia meine eigene Arena aufmachen. Ich will, dass wir wahrgenommen werden. Dass wir als Stadt jemand sind, der in der Welt bekannt ist.“

    Dann würde sie und all ihren Freunden und Bekannten daheim die Herausforderung erwarten, ihre idyllische Heimat beizubehalten und zu verhindern, dass die Stadt zu rasch wuchs und ihre Seele verlor. Aber darum machte sich die Trainerin keine Gedanken. Es war ja nicht so, als habe sie eine Art Plan ausgearbeitet.

    Audrey war keine Person, die für einen Traum lebte. Für ein ultimatives Ziel, mit dessen Erreichen ihrem Leben plötzlich die Richtung verloren ging. Sie lebte einfach nur. Man könnte sagen, für den Augenblick.

    Wie jedoch sollte man dieses Ziel, Arenaleiterin zu werden, sonst betiteln? Darüber machte sich Audrey öfters Gedanken, war aber auf der Suche nach einer Antwort noch nicht fündig geworden. Einen Traum verfolgte man ehrgeiziger, zielstrebiger. Sie jedoch ließ sich alle Zeit der Welt mit ihren Reisen und Kämpfen, ließ alles auf sich zukommen. Sie jagte dem Ziel nicht eifrig nach, sondern ließ sich treiben, um irgendwann, wo auch immer sie dann landen würde, einen neuen Kurs zu setzten, wenn ihr danach war. Sie wartete auf den richtigen Moment, ohne zu wissen, wie dieser aussehen oder woran sie ihn erkennen sollte.

    „Dann wirst du in ein paar Jahren wohl mit Sandra um den Titel der stärksten Arenaleiterin von Johto

    kämpfen.“

    Audreys Blick wurde wieder Richtung Melody gelenkt. Wie die Kleine sie ansah…

    Fast wie eine stolze Mutter ihre Tochter. Sie veralberte die Trainerin nicht und versuchte auch nicht, sich einzuschmeicheln. So glaubte Audrey zunächst, sie interpretierte zu viel in ihren Plan hinein. Überschätzte sie vielleicht sogar. Doch diese funkelnden Augen sprachen – mehr noch als ihre Worte – hier und jetzt eine Weissagung aus. Ein unumstößliches Schicksal, bereits jetzt in Stein gemeißelt, dass Audrey und Sandra als die beiden besten Arenaleiter erneut miteinander kämpfen würden. Und egal wer siegreich daraus hervorging, so würden ihre Namen von Anemonia City bis zum Indigo Plateau in aller Munde sein.

    Audrey musste gestehen, das klang mindestens doppelt so reizvoll, wie ein Match um den Drachenorden. Sie wusste zwar nicht warum, aber sie bremste die aufkommende Euphorie dennoch eiskalt aus. Löschte sie fast. Es würde noch viel zu tun und zu erleben geben, ehe sie überhaupt daran denken konnte, den Antrag für eine Arena zu stellen. So etwas konnte nicht jeder Trainer einfach so machen. Ein Arenaleiter musste neben einem Mindestmaß an Stärke noch viele andere Qualitäten mit sich bringen. Die Herausforderer sollten in mehreren Aspekten und Kriterien gefordert werden. Man kämpfte nicht einfach nur, um zu gewinnen, sondern musste verschiedene Drucksituationen erzeugen und die Strategie sowie auch die Nerven der Trainer auf die Probe stellen. Das Ziel war es schließlich, dass man durch die Kämpfe in den Arenen an sich selbst wuchs. Das verlangte schon nach einer weiterführenden Bildung. Und bevor man sich darüber Gedanken machte, würde Audrey erst einmal an das Geld und die Genehmigung kommen müssen, um ein Grundstück zu erwerben und die Arena überhaupt erst bauen zu lassen.

    Bedenken hatte Audrey viele. Zweifel, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen würde, allerdings keine. Und wenn es eines Tages soweit war, so würde sie Sandra wieder herausfordern. Nicht, damit ganz Johto Gewissheit erlangte, wer von ihnen besser war. Sondern, damit sie selbst es wusste.

    Audrey lehnte sich zurück und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf´s Kampffeld. Der Schiedsrichter hatte erneut Position bezogen, was bedeutete, dass der letzte Viertelfinalkampf nicht mehr lange auf sich warten lassen konnte. Nur mit sehr viel Mühe konnte sie ein breites, hungriges Grinsen zurückkämpfen. Ein Schmunzeln blieb dennoch.

    „Klingt nach ´nem super Plan“, meinte sie nach einer langen Pause sehr leise. Die gesenkte Lautstärke vermochte jedoch nicht, ihre Entschlossenheit, ihn in die Tat umzusetzen, zu verbergen. Melody gefiel dieses Feuer. Der Eifer, den sie ganz plötzlich ausstrahlte. Erinnerte etwas an Ryan, wenn ihn der Ehrgeiz packte. Ansonsten gab sie sich gerne cool und versteckte sich hinter ein paar flotten Sprüchen, ähnlich wie Andrew. Sie hatte also ein bisschen was von beiden. Und nicht nur das. Vielleicht hatte sie hiermit dann doch so etwas wie ihren Traum gefunden.


    Es sah Sandra nicht ähnlich, vor einem Kampf die Einsamkeit zu suchen. Sie war es eigentlich anders gewohnt. Sie hatte in den letzten Jahren selten an einem anderen Ort als in ihrer Arena gekämpft. Wenn sie dort auftrat, war sie für den Gegner die letzte, die ultimative Hürde, die es zu überwinden galt. Der Primus, der Endgegner – wie auch immer man es nennen wollte –, den alle Trainer, die das Ticket für die Johto-Liga lösen wollten, überwinden mussten. Jeder hatte Respekt vor ihr, manch einer sogar Ehrfurcht. Und genauso trat sie dann auch auf. Wie der Drache, in dessen Höhle sich der Gegner gerade gewagt hatte. Dies war ihr Kampffeld, ihre Arena. Das war ihr Reich.

    Sie war lange nicht mehr so weit von ihrem Reich entfernt gewesen. Lampenfieber oder mangelndes Selbstvertrauen würde sie sich nicht vorwerfen lassen, doch spürte sie, dass etwas anders war. Daher war sie bereits vorgegangen, um sich die Blöße vor Ryan und Andrew nicht geben zu müssen. Die Leiterin hatte den Tunnel zum Innenraum noch nicht erreicht, sondern vor der Weggabelung gehalten, an der sich die Pfade der beiden Teilnehmer trennten und einer das Stadion in westlicher Richtung zu einem Viertel umrundete, um das Kampffeld zu erreichen, während der andere es in östlicher Richtung tat. Sie lehnte an der Wand, stützt einen Fuß dagegen und hatte die Arme verschränkt. Der Kopf war leicht gesenkt und die Augen geschlossen. Der ruhige und regelmäßige Rhythmus ihres Atems täuschte über die Anspannung hinweg, die wie ein eingesperrter Bibor Schwarm in ihrem Inneren tobte.

    Der Ort, so schlussfolgerte Sandra nach einigen stillen Minuten, war nicht die Ursache für diese innere Unruhe. Doch nebst diesem gab es ja noch einen weiteren Faktor, der heute anders war. Wenn ein Herausforderer ihre Arena betrat, war er ein Fremder. Ein Name, ein Gesicht, ein Anwärter, der ihren Orden wollte. Sie verband keine Erfahrungen, Befürchtungen, Ahnungen oder Pokémon mit ihm. Mit der Gegnerin, der sie gleich gegenüberstehen würde, verband sie hingegen so einiges. Und nichts davon war gut.

    Bella war eine fantastische Trainerin, so viel hatte sie beobachten müssen. Aber sie war auch skrupellos, hinterhältig und sadistisch. Hatte ihre Gegner nicht nur besiegt, sondern vernichtet.

    Pff, Gegner...

    Opfer waren sie für Bella gewesen, allesamt. Sie hätte jedes Pokémon, das sich ihr gestellt hatte, ohne Weiteres umbringen können, wenn sie gewollt hätte. Dass dies nicht geschehen war, wollte Sandra auch im Hinblick auf ihre eigenen Partner gerne einem kleinen Rest Anstand und Menschlichkeit in ihr zuschreiben, schloss aber nicht aus, dass sie es nur unterlassen hatte, um nicht disqualifiziert zu werden.

    Sanfte Schritte erklangen im Flur. Sandra atmete scharf ein – fokussiert und kampfbereit und nicht schreckhaft oder eingeschüchtert. Sie war nicht irgendein Trainer. Sie war die Drachenmeisterin von Ebenholz City. Sie hoffte nicht auf Gnade, sondern stürzte ihre Widersacher. Zwang jene, sich ihr zu beugen und beanspruchte für sich, was das Recht des Stärkeren ihr zusprach. So machten es Drachen.

    Sandras Blick neigte sich nur sehr leicht zur Quelle der Schritte. Das halbe Gesicht wurde noch von ihrem Haar verdeckt und die Strähne in ihrem Gesicht legte einen Schatten über eines der Augen.

    Bella marschierte zielstrebig, aber keineswegs hastig auf sie zu. Sie lächelte süffisant, erfreut, sie hier noch einmal zu sehen, bevor man sich – so hoffte sie – mit aller Macht, ohne Zurückhaltung und ohne Gnade bekämpfte. Der Blick der Arenaleiterin gefiel ihr. Hatte nicht ganz das, was zuvor bei der Bekanntgabe dieses Matches darin geschrieben war, aber dennoch sehr vielversprechend. Dieses bitterböse Funkeln während ihr das Haar ins Gesicht fiel, erinnerte an einen jagendes Pokémon, das Hunger und Blutdurst nur mit Mühe zurückhalten konnte. Haargenau so wollte sie die Drachenmeisterin sehen.

    Dennoch veranlasste sie dieses angenehm überraschende Aufeinandertreffen nicht dazu, stehen zu bleiben. Bella hatte ihr nichts zu sagen und wollte den Spaß auch nicht weiter hinauszögern. Sie war kein geduldiger Mensch und für einen solchen musste sie bereits viel zu lange auf heißersehnte Begegnungen und Duelle warten. Die Wunde an ihrer Handkante brannte ein wenig, als sie an ihre Favoritin innerhalb dieser Kategorie dachte.

    Unverhofft kam die Agentin dann doch zum Stillstand. Sandra hatte sich von der Wand gestoßen und direkt vor ihr aufgebaut, versperrte ihr den Weg. Sie war etwas größer als Bella und reckte das Kinn ein wenig, sodass sie herabsehen musste.

    War das ein Einschüchterungsversuch? Oho, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Ebenso wie dieses gesamte Treffen war es jedoch alles andere als unerfreulich für die Agentin. Ihre bernsteinfarbenen Augen verengten sich, traktierten Sandra mit herausfordernden Blicken. Beide ließen die Arme hängen, hatten aber die Fäuste geballt. Lange blieb es bei einem stummen Duell. Bella wartete einfach ab. Sandra dagegen wägte ab. Und gelangte zu einem Entschluss. Darüber, ob sie ihr noch etwas zu sagen hatte und auch was das sein sollte.

    „Was jüngst geschehen ist, werde ich niemals verzeihen. Weder dir noch den anderen beiden“, tat sie harsch kund und ob der Schärfe in ihrer Stimme würde wohl niemand den Ernst dahinter anfechten. Ähnlich wie Mila war die Drachenmeisterin auf die Gesundheit ihrer Mitmenschen mindestens so sehr bedacht, wie auf ihre eigene. Vermutlich sogar mehr. Sie hatte schon auf dem Flug nach Hoenn ihren Frieden mit der Tatsache gemacht, dass sie für das Erreichen des großen Ziels würde bluten müssen. Dass sie Leid und Trauer sehen und vermutlich auch am eigenen Leib erfahren würde. Und selbstverständlich auch Schmerz. Doch das hielt sie zu keiner Sekunde auf. Sie hatte keine Angst vor Schmerz. Fürchtete keine Trauer und kein Leid. Und sie sollte verdammt sein, wenn sie Bella fürchtete.

    Die sah einige Sekunden einfach nur zu ihr hoch, hatte auf diese Kundgebung lediglich den Kopf leicht geneigt. Sie prüfte die Entschlossenheit hinter dieser Aussage und schätzte die Kraft ab, die sie aufbringen konnte, um sie Wirklichkeit werden zu lassen.

    „Ah“, nahm sie schließlich nüchtern zur Kenntnis und nickte. Eine knappere Antwort gab es wirklich nicht, doch war sie deutlich und leicht verständlich. Bella zweifelte Sandras Worte nicht an, sehr wohl aber ihre Stärke. Die würde nicht ausreichen, um sie vor vergleichbaren oder gar schwerwiegenderen Taten abzuhalten. Geschweige denn den Schwarzen Lotus. Eben dies teilte sie auf diesem Weg ebenfalls mit.

    Dass sich die Agentin nicht würde beeindrucken lassen, war zu erwarten gewesen. Dennoch hatte Sandra es ihr dieses eine Mal ins Gesicht sagen wollen. Hatte sie warnen wollen, sich nochmals an der Gesundheit ihrer Freunde zu vergreifen.

    Nun, da dies getan war, wandte sie sich ab, machte dabei in einem weiten Bogen kehrt und ließ ihren wilden Blick so lange wie möglich an Bella haften. Ihre einsilbige Antwort hatte keinen Spielraum gelassen, das letzte Wort für sich zu beanspruchen, weshalb sie sich immerhin die letzte Geste sicherte. Ihr Umhang flatterte, als sie schließlich den Rücken kehrte und um die Ecke bog. Die zurückgelassene Agentin schürzte nochmals nachdenklich die Lippen, welche sich aber gleich wieder in ein breites und erwartungsvolles Lächeln formten. Nun sollte Sandra diesen Tönen auch gerecht werden.


    Pete machte sich selten Sorgen um jemanden. Mila mal außen vorgenommen. Auf die wartete er hier allerdings auch nicht, sondern auf einen simplen Informanten. Entgegen seiner ersten Befürchtung hatte sich noch eine Chance ergeben, die Aussagen des jungen Ex-Rockets, an den er vor einigen Tagen geraten war, zu überprüfen. Zu verifizieren, dass es sich bei dem Laden wirklich um Bellas häufigsten Aufenthaltsort und nicht bloß irgendeine billige Diskothek handelte. Zudem musste Pete, oder konkreter gesagt der Informant, den er bezahlte, sich vergewissern, dass die von Eaves verratene Methode für den Einlass in die Lokalität korrekt war. Ohne diesen Kniff würde man nämlich schon an der Tür scheitern, so hatte er versichert.

    Pete ging in der verwahrlosten Nebenstraße ungeduldig auf und ab. Hier waren lediglich Hintertüren zu einigen, überwiegend leerstehenden Läden sowie Seiteneingänge zu halb zerfallenen Häusern, durch die unerwartet ein Passant treten könnte. Aus offensichtlichen Gründen würde da aber höchstens ein Rattfratz rausgeschlichen kommen. Das hier war mit Abstand das verwahrloseste Viertel von ganz Graphitport. Auf den Straßen war nur Lumpen- und Gangsterpack unterwegs, die Luft stank nach dem Smog des angrenzenden Industriegebietes und die Hälfte aller Gebäude sah nicht besser aus als die, zwischen denen der Barbesitzer wie auf heißen Kohlen wartete. Trotz der sommerlichen Temperaturen hatte er eine schäbige Jacke übergezogen und gar die Kapuze aufgesetzt. Einerseits, um sein Gesicht ein wenig zu verbergen. Andererseits, um durch seine ansonsten adrette Garderobe nicht aus der Masse herauszustechen. Sonst hatte er nebst Team Rocket noch die Straßengauner zu fürchten. Bestimmt zum zehnten Mal in der letzten Viertelstunde sah er auf die Uhr. Pünktlichkeit gehörte normalerweise nicht zu den Tugenden zwielichtiger Laufburschen und Tagelöhner, wie Devon einer war – ebenfalls ein Deckname, wie bei Eaves. Er war allerdings eine Ausnahme, kam für gewöhnlich immer auf die Minute. Noch nie hatte er sich so verspätet. Pete kannte Leute wie ihn in nahezu jeder Großstadt der Hoenn Region, aber hier in Graphitport war er mit Abstand der routinierteste und zuverlässigste. Wieso also brauchte er für so einen simplen Job so lange? Mit jeder Minute erhärtete sich die Befürchtung, dass was schiefgelaufen sein musste. Nur was? Konnte Devon aufgeflogen sein? Wie denn? Es würde keinen Anhaltspunkt geben, dass er für Team Rockets Feinde arbeitete und solange er die aufgetragenen Vorkehrungen getroffen hatte, sollte es auch keine Probleme geben, in den Laden reinzukommen. Es sei denn, Eaves hätte sich geirrt. Oder schlimmer noch, er hätte Pete angelogen. Egal wie oft er jedoch darüber nachdachte, er konnte es sich nicht vorstellen. Es erschien ihm unmöglich, angesichts des flehenden Häufchen Elends, das der Ex-Rocket direkt vor seinen Augen abgegeben hatte.

    Aus einer Gasse hallte auf einmal hektisches Getrampel. Eine einzelne Person, definitiv. Pete sah sich schnell in allen anderen Richtungen um, ging sicher, allein zu sein und marschierte dann schnurstracks dem Lärm entgegen. Keuchende Atemstöße drangen an sein Ohr ebenso wie ein erschöpftes Stöhnen. Als sei die offenkundig männliche Person seit Stunden auf der Flucht. Pete hatte die Ecke gerade erreicht, da stolperte plötzlich Devon direkt in seine Arme. Er wirkte gejagt, gehetzt, außer Puste und orientierungslos. Fast taumelte er zu Boden, sodass Pete ihn an seinem verfilzten schwarzen Hoodie halten musste. Der feste Griff um seinen Oberarm bewirkte aber bloß wachsenden Widerstand bei dem Informanten, als wolle er einen Angreifer abschütteln.

    „Hey, hey. Alles gut, ich bin´s.“

    Devon erstarrte von einer Sekunde auf die nächste und besah sich seines Klienten. Insgeheim nannten sie beide sich ganz gerne Freunde, auch wenn sie ihren Kontakt nicht gerade regelmäßig pflegten. Aber immerhin tat man sich hier und da mal einen Gefallen, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen. Für Männer ihres Schlages genügte das als Freundschaftssiegel.

    „In was für ´ne Scheiße hast du mich da geritten?“, stieß Devon allerdings wenig wohlgesonnen zwischen den Zähnen hervor und befreite sich nun doch. Obwohl fix und fertig, vermochte er nicht eine Sekunde stillstehen, geschweige denn ruhig zu bleiben. Seine Hände verkrampften sich in die verschwitzte, blonde Frisur mit Sidecut, während er zahneknirschend auf und ab ging.

    „Finde raus, ob Bella wirklich dort einkehrt, hast du gesagt. Prüfe, ob der Code zum Einlass funktioniert, hast du gesagt.“

    Seine Stimme wurde lauter, als er direkt vor Pete trat und wütend auf ihn deutete, es aber aus irgendeinem Grund vermied, ihm den Finger direkt auf die Brust zu setzen. Dabei würde er es gerne mit der ganzen Faust tun.

    „Aber was für Gestalten da drinnen warten, das hast du mit keinem Wort erwähnt!“

    „Hey, hey, Devon“, mahnte der Angeklagte sofort mit unterdrückter Stimme und bedeutete seinerseits mit einem Finger, er solle die Lautstärke senken. Selbst wenn Team Rocket ihm nicht auf den Versen war, so brauchte er in diesem Teil der Stadt wirklich niemandes Aufmerksamkeit.

    „Was ist passiert? Bist du aufgeflogen?“

    „Das kannst du glauben!“, spie er ihm sofort entgegen und machte wieder ein paar Schritte zurück, sah sich in den runtergekommenen Straßen um.

    „Die haben mich mit mehr als zehn Leuten bis zu meinem Apartment verfolgt und die Tür aufgebrochen. Bin grade so über die Feuertreppe rausgekommen. Jetzt bin ich seit Stunden auf der Flucht. Ich steh beim ganzen Team Rocket auf der Abschussliste wegen deinem scheiß Job.“

    Wieder wurden die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, verkrampften beinahe. Es hätte Pete nicht schockiert, wenn er sich gleich ein paar Haare ausgerissen hätte. Dass er an einen ganzen Haufen Rockets geraten war, kam allerdings unerwartet. Laut Eaves waren bei dessen Besuch in dem Schuppen vielleicht eine Handvoll Leute, die wirklich zum Team Rocket gehörten. Die Übrigen hatten mit Sicherheit auch keine weißen Westen, seien aber keine Mitglieder gewesen, sondern lediglich mit der angeheuerten Agentin bekannt.

    „Wer verfolgt dich? Bella?“

    Die konnte es eigentlich nicht sein. Zwar war Pete seit heute Morgen nicht mehr mit Mila in Kontakt gewesen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich laut der Drachenpriesterin bereits am Prime Stadium aufgehalten. Und letzte Nacht, als Devon seinen Auftrag begonnen hatte, war sie bei ihm in der Bar gesessen. Das verschwieg er Devon aber besser.

    „Hast du mir nicht zugehört, ich muss verschwinden, und zwar gleich!“

    Mit diesen Worten schickte sich der Informant zum Gehen, wurde jedoch erneut am Arm ergriffen. Was in aller Welt war mit ihm passiert? So hatte Pete ihn wahrlich noch nie erlebt.

    „Warte, ich brauch diese Information.“

    „Leck mich“, fauchte Devon nur und riss sich los, stolperte und ging fast zu Boden. Doch wenigstens hielt er inne und verschob seinen Abgang. Dafür traktierte er seinen Auftraggeber mit verachtenden Blicken. Als sei er derjenige, der ihn verfolgte.

    „Bitte“, war alles, was Pete noch einfiel, um ihn noch zum Einlenken zu bewegen. Er zeigte seine leeren Handflächen und verdeutlichte, dass er seine einzige Chance war. Dass er ansonsten aufgeschmissen war. Er hatte Devon keine Details über seine Klienten verraten. Das tat man prinzipiell nicht. Jedoch erkannte er anhand dieser Geste genau, dass es für ihn um weit mehr, als um Bezahlung ging. Das hier musste wichtig sein.

    Besser war es so. Devon würde glatt den Verstand verlieren, wenn er diesen Dreck für nichts als Taschengeld mitgemacht hätte. Schlimm genug, dass es sich für ihn nicht gelohnt hatte. Eigentlich sollte er hier und jetzt einen höheren Preis verlangen, doch so lief das in diesem Business nicht. Und seine heile Haut war ihm sowieso viel mehr wert als Pete ihm bezahlen konnte. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Hoodies über den Mund und holte tief Luft. Zu keiner Zeit unterbrach er den wütenden Blickkontakt.

    „Der Code stimmt. Ob Ausweis oder irgendein Pass, das ist egal. Es muss nur das Zeichen draufstehen. Der Türsteher kontrolliert mit Schwarzlicht.“

    Hatte Eaves also doch nicht gelogen. Das deckte sich exakt mit dem, was er gesagt hatte.

    „Und Bella?“

    Dieser Pete sollte bloß die Füße stillhalten. Wenn er ihn jetzt noch weiter hetzte, würde er ihm hier und jetzt das Gesicht umgestalten.

    „War sie da?“, hakte er weiter nach. Er reizte es wirklich aus.

    „Nein“, verriet er bissig und brachte Pete rasch zum Schweigen. Er wollte nicht mehr von ihm hören. Kein Wort. Wollte bei Arceus einfach nur weg.

    „Aber alle anderen.“

    Pete legte die Stirn in Falten und hoffte, dass er das missverstanden hatte. So naiv war er lange nicht mehr gewesen, wie Devon gleich deutlich bestätigte.

    „Von ihr abgesehen haben die sich alle dort versammelt. All ihre Leute, alle Handlanger… und sogar der Schwarze Lotus.“

    Pete klappte glatt die Kinnlade runter. Er blinzelte ungläubig, wollte dieser Nachricht eigentlich misstrauen. Doch sie würde Devons Verhalten nicht bloß erklären, sondern absolut plausibel machen.

    „Bist du sicher?“

    Ein bitteres Nicken. Es war unübersehbar, dass der Mann Angst vor dieser Frau hatte. Und nach allem, was der Barbesitzer inzwischen über sie wusste, konnte er das nicht verurteilen. Sollte wirklich alles stimmen, was er so über sie gehört hatte, würde er sich dem glatt anschließen.

    „Wieso? Wieso jetzt?“

    Ihm brannten noch diverse W-Fragen auf der Zunge, doch Devon ließ keine weiteren zu. Das Maß war voll bei ihm. Auf den Job und auf Pete bezogen.

    „Die Rücken aus, die haben was vor. Pete, ich muss verschwinden, am besten gestern!“

    „Mann, reiß dich zusammen.“

    So wütend er auch auf ihn war, dafür, dass er ihn auf diesen Job angesetzt hatte, klang er gerade jedoch fast flehend, endlich in Ruhe gelassen zu werden. Was auch immer Pete für Probleme erwarteten, sie waren nichts im Vergleich dazu, womit Devon zu rechnen hätte, wenn er eingeholt würde. Nur zu einer letzten Information ließ er sich dank dessen penetranter Sturheit noch hinreißen.

    „Ich weiß nicht, was sie planen. Irgendwas Großes, in aller Öffentlichkeit. Es hieß man zeige sich Hoenn nun unverhüllt. Vermutlich heute Nacht.“

    Petes Brauen zogen sich zusammen und er ging erneut einen Schritt auf ihn zu und griff nach seinem Kragen.

    Vermutlich?“

    Es klang als wolle er ihn verarschen. Als sei das ein Witz. Mit so einer vagen Info konnte er nun wirklich nicht arbeiten. Wenn man sich auf solche verließ, lief man höchstes Risiko, geradewegs ins offene Messer zu rennen. Und das konnten sich Mila und ihre Leute beim besten Willen nicht leisten.

    „Mehr war nicht rauszukriegen, ohne sich das Fell abziehen zu lassen“, stellte Devon klar und riss sich rüde los. Pete sollte inzwischen längst kapiert haben, dass seine Probleme ihm mittlerweile echt egal waren. Er hatte jetzt genug eigene, dass es für das ganze Jahr reichte.

    „Worauf du dich genauso einstellen kannst, wenn die dich mit mir finden.“

    Womit für ihn der Schlusspunkt gesetzt war. Sein Auftraggeber setzt noch zu einer Erwiderung an, wollte eine Hand nach ihm strecken, sah die Aussichtslosigkeit aber unter Verbitterung und Frust ein. Die Chance war verstrichen. Mehr war nicht rauszuholen. Devon ging ein paar Schritte rückwärts, beobachtete, ob ein weiterer Versuch unternommen würde, ihn aufzuhalten. Pete ließ es jedoch bleiben.

    „Ich verschwinde aus der Stadt. Solange Team Rocket nicht endgültig von der verdammten Insel verjagt wurde, ist Devon ein Geist. Und Hoenn ist die Welt, die er verlassen hat.“

    Er drehte sich und eilte so schnell ihn seine müden Beine noch trugen, auf die Hauptstraße. In den Menschenmassen dort würde er leichter untertauchen und schwieriger angegriffen werden können. So schwer Pete heute auch von Begriff schien, so hatte er – hoffentlich – verstanden, dass sein Alias und somit sein Job als Informant hiermit der Vergangenheit angehörten. Zumindest in dieser Gegend. Er konnte jederzeit unter einem neuen Decknamen woanders anfangen. Team Rocket operierte nicht in Sinnoh, Kalos oder Einall. Doch ehe er nicht den Boden von einem dieser Kontinente unter seinen Füßen spürte, würde er keine ruhige Minute haben. Und Pete konnte bleiben, wo der Pfeffer wuchs.

    Eben der sah Devon lange hinterher. Dieser Missmut, den er von ihm empfangen hatte, war mit nichts vergleichbar, was er jemals von irgendeinem Informanten geerntet hatte. Er vergab nur selten gefährliche Jobs und selbst wenn, war alles immer verhältnismäßig glimpflich ausgegangen. Aber das hier…

    Devon war seit vielen Jahren im Geschäft. Wenn ihn das, was und vor allem wen er gesehen und gehört hatte, so aus der Fassung brachte, waren sie, also Mila und die anderen, eindeutig zu wenige. Und er selbst nun vermutlich um einen Freund ärmer. Wenn Team Rocket selbst das Rampenlicht der Öffentlichkeit nicht länger scheutr, so würde die ganze Stadt zu einem Pulverfass, das lediglich auf ein entzündendes Streichholz wartete. Und selbst das wäre in Ordnung, würde es hier nur um die schwarz gekleideten Gangster gehen. Doch Latios und Latias waren nun ebenfalls in relativer Nähe. Was zur Folge hätte, dass die Explosion dieses Pulverfasses niemand geringeren als ihren Vater auf den Plan rufen könnte.