Kapitel 65: Schattenspiele
„Jetzt hat´s mir glatt kurz die Sprache verschlagen. Hundemon ist echt kompromisslos. Hat es sich doch glatt selbst gebissen, um die Verwirrung abzuschütteln? Kann man das überhaupt trainieren?“
Ryan hatte es nie versucht. Auf die Idee war er durchaus schon gekommen, aber wie er es anstellen sollte, darauf hatte er keine Antwort. Er vermutete einfach, dass Hundemon einen kurzen Moment der Besinnung erlebt hatte – er Effekt von Konfustrahl hielt nicht kontinuierlich, sondern nahm immer wieder zu und ab, schwankte also ein bisschen -, in dem er verblüffend schnell eine Entscheidung hatte treffen können und nicht gezögert hatte, sie umzusetzen. Obwohl sie so radikal war.
„Jetzt ist die Frage, was Carparso noch mit Hundemon ausrichten kann. So ganz fit sieht es überhaupt nicht mehr aus, ich sag´s wie´s ist“, äußerte Cay seine Skepsis und tatsächlich würden in diesem Moment wohl die wenigsten Zuschauer ihr Geld auf ihn wetten. Aber das war okay für den Johtonesen. Ihren Glauben brauchte der Schattenhund auch nicht. Nur den seinen.
„Dann drehen wir mal etwas auf“, meinte Ryan und straffte seine Körperhaltung. Jetzt musste er auf´s Gas treten. Und zwar bis zum Boden!
„Finte, los!“
Hundemon hechtete nach vorn, doch noch bevor seine Vorderpfoten den Sand wieder berührten, schien er sich in Luft aufgelöst zu haben. Wer zufällig geblinzelt hatte, konnte den Moment des Verschwindens verpasst haben. Bella wusste aber natürlich ganz genau, wie Finte funktionierte. Und auch, wie man sie aushebeln konnte.
„Doppelteam.“
Mehrere Nebelfetzen lösten sich aus Kryppuks Geisterkörper und wuchsen zur Größe des Originals heran. Eine Sekunde später öffneten sich giftgrüne Augen und ein breiter, gezackter Mund grinste voll Heimtücke und Hinterlist. Das ganz im Zentrum verpuffte wie eine Illusion, als Hundemon buchstäblich aus dem Nichts auftauchte und sich darauf stürzte. Er knurrte frustriert und drahte den Kopf, versuchte das echte Kryppuk zu finden. Er fand sich selbst wie in einem Geisterhaus vor. Keiner der Trugbilder sah zu ihm. In alle Richtungen schauten sie, außer in seine. Und sie regten sich nicht. Da war keine einzige Bewegung und auch kein Befehl seitens Bella. Für einen kurzen Augenblick vergaß Hundemon beinahe, dass er sich hier in einem Kampf befand. Was hatte das zu bedeuten? Was war los? Ryans Augen huschten hektisch hin und her, versuchten fieberhaft einen Anhaltspunkt zu erkennen, der das echte Pokémon von den Kopien unterschied. Aber selbst er war hier auf verlorenem Posten.
Dann regten sie die vielen Kryppuks doch. Allesamt gleichzeitig. Langsam drehten sie sich zu Hundemon. Ein Schatten lag über ihrer aller Augen und das Grinsen war so breit und unheilvoll wie nie zuvor. Als hätten sie alle die Gewissheit, dass der Gegner gerade in sein unvermeidbares Verderben rannte und sie mit süßen Schmerzensschreien beschenken würde.
Da neigte sich Hundemons Kopf etwas auf die Seite. Das Knurren und Grollen war fort. Kein Bellen und kein Fletschen der tödlichen Zähne. Seine Augen schienen die Farbe zu ändern. Da war kaum noch Weiß. Alles schien dem Rot zu weichen. Dem Rot der Hölle, dem Rot des Blutes und vor allem dem Rot der Leidenschaft. Nichts liebte der Schattenhund so leidenschaftlich gerne, wie den Kampf. Und wenn der Gegner so mächtig war, so schmeckte der Sieg umso besser. Er wollte ihn kosten!
Sollte Kryppuk doch die Finsternis über ihn hereinbringen. In dieser fühlte er sich zu Hause. Er selbst würde dafür die Hölle über den Geist heraufbeschwören!
Ein Stich bohrte sich in Ryans Brust und versetzte seinem Herzen einen Sprung, wie ein elektrischer Schlag. Er spürte, wie sehr Hundemon es wollte. Wie sie beide es wollten. Er holte tief Luft. Eine Faust ballte sich.
„Finsteraura!“, schrie er nun mit aller Gewalt aus tiefer Bauchstimme. Sicher hörte selbst jeder in der letzten Reihe noch seinen Befehl. Schwarze und dunkelviolette Schattenenergie löste sich aus dem Boden und tanzten um Hundemon. Selbst aus seinem Fell quoll sie hervor, als verbreite er die Pest. Eine Energiewelle türmte sich auf und überflutete das gesamte Kampffeld mit der Nacht. Nicht bloß die Hälfte und nicht bloß in eine Richtung. Nein, in alle verteilte er seine verheerende Unlicht Energie. Vor diesem Angriff gab es kein Entkommen. Für keines von Kryppuks Trugbildern. Ihnen allen wurden das widerliche Grinsen aus der Visage gewischt. Ach was, ihr Antlitz wurde im wahrsten Sinne davongefegt. Die Geisterkörper zerstreuten sich in alle Winde – bis auf einen. Klang es sadistisch, dass es sich gut anfühlte, Kryppuk endlich einen Schmerzensschrei entlockt zu haben?
Ryan blieb gar keine Gelegenheit, darüber zu spekulieren, ob er Freude empfinden sollte. Die wäre sogleich wieder verflogen, als sich ein dunkler Energiering aus dem Boden erhob und Hundemon einschloss. Der Schattenhund beachtete diesen gar nicht, sondern fixierte stur und zielstrebig das Geistpokémon vor ihm, das sich gerade noch schüttelte und fluchte. Der tatsächliche Fluch lag aber auf Hundemon und entlud weitere Schattenblitze in seinen Körper.
„Hundemon hält sich echt wacker und kann selbst in dem Zustand noch übel austeilen. Trotzdem muss sich Carparso was aus dem Ärmel leiern. Die Uhr tickt!“
Und zwar nicht gerade führ ihn. Hundemon hatte schon keine Luft zum Schreien mehr. Er knurrte bloß noch gegen die Schmerzen an. Aber seine Beine zitterten immer stärker. Der nächste Schlag könnte bereits seine Muskeln lähmen und das endgültige Aus bedeuten.
Gegenwärtig fiel Ryan jedoch nicht viel mehr ein als den Druck aufrecht zu halten. Die Reaktion eben verreit, das Kryppuk ebenfalls langsam müde wurde. Er benötigte weit mehr Zeit, um Hundemons Attacken wegzustecken.
Er befahl rasch Flammenwurf. Setzte darauf, dass er noch immer das schnellere Pokémon auf seiner Seite hatte.
„Schattenstoß!“, rief Bella hierauf mit einer wegwischenden Bewegung. Langsam hatte sie echt genug. Der Kampf ging ihr bereits zu lange.
Einer wütende Feuerbrust ging ins Nichts. Das Ziel war im Boden verschwunden und schoss mit rasanter Geschwindigkeit auf seinen Gegner zu. Hier sog der blonde Trainer auf der Gegenseite rasch Luft ein. Dieselbe Angriffsbahn wie vorhin!
„Achtung, es kommt von links!“
Sein göttliches Auge ließ ihn wirklich nie im Stich. Hundemon war nicht mehr in der Lage, dem Angriff auszuweichen, konnte aber seinen Körper drehen und vermeiden, erneut an der verwundeten Flanke getroffen zu werden. Stattdessen kam es zu einem bizarren und wortwörtlichen Kopf an Kopf. Kryppuk stieß auf ein Paar gebogener Hörner. Einen guten Meter vermochte er Hundmeon zu bewegen und vor sich her zu schieben. Doch der fuhr die Krallen aus und fand Hand im weitestgehend lockeren Untergrund und hielt stand.
„Jetzt Knirscher, los!“
Und auf einmal war Kryppuks Gaskörper durchaus greifbar. Um nicht zu sagen angreifbar. Der Schattenhund biss auf etwas Zähes, Geschmackloses. Und sofort wurde dies mit wütenden Klagelauten quittiert. Seine Kiefer schmerzten. Dennoch biss er nach, zerrte, malmte. Der Kampf artete in rohe Gewalt aus. Auf den Rängen schien man sich nicht einig, wie man über den Anblick zu empfinden hatte. Hier jubelte man, dort schlug man die Hand vor den Mund und wieder woanders schlug man die Hände über dem Kopf zusammen. Cay schwieg zu Abwechslung. Wohl zum ersten Mal in diesem Finale.
Nicht nur Hundemon, auch Bella knirschte mit den Zähnen. Das Biest war weit zäher als sie gedacht hatte. Zum ersten Mal kamen ihr Zweifel, ob Kryppuk diese Runde überstehen würde. Unabhängig davon, ob sie den Gesamtsieg in Gefahr sah. Und da musste sie mit ansehen, wie sich ein Fetzen blassvioletter Geistermasse vom Körper löste, als habe Hundemon es herausgebissen. Sofort löste es sich zwischen seinen Zähnen auf, als habe er nach Nebel geschnappt. Kryppuk ging dagegen zu Boden und zappelte, versuchte sofort wieder Höhe zu gewinnen, doch kam er im ersten und auch zweiten Versuch bloß auf Kniehöhe.
Das würde Bella nicht vergessen. Erst Absol und jetzt Kryppuk. Der junge Trainer schien vor nichts mehr zurückzuschrecken und war sogar bereit, ihre Pokémon schwer zu verletzen. Verurteilen tat sie das nicht. Konnte sie auch nicht. Auf sie selbst traf das ja ebenfalls zu. Jedoch musste sie gestehen, dass sie Carparso falsch eingeschätzt hatte. Sie hatte geglaubt, er würde starker an seinen Prinzipien festhalten. Leider würde das noch nicht ausreichen. Nicht für sie und schon gar nicht für alles, was sehr bald folgen würde.
„Jetzt reicht´s aber“, wisperte sie aufgescheucht, angestachelt. Rache war etwas für Menschen, die ihre Emotionen nicht im Griff hatten. Seit Jahren hatte sie das Prinzip hiervon aus ihrem Leben verbannt. Aber sie sah kein Problem darin, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, um einen Sieg zu erringen. Und Kryppuk musste sie – das war gewiss – nicht weiter motivieren. Der verfluchte Geist drehte sich. Seine Augen schienen von Giftgrün zu Höllenrot zu wechseln. Nicht buchstäblich, sondern umgangssprachlich. Aber keineswegs weniger furchterregend. Die Zeit der Spielchen war aus. Bella fand bereits ihr Lächeln wieder, doch war es nicht dasselbe wie zuvor. War deutlich bestialischer.
„Spukball, bring ihm das Fürchten bei.“
Furcht? Vor der Dunkelheit? Vor der Hölle? Vor Kryppuk? Nicht mit ihm. Nicht mit Hundemon.
„Die können uns nichts beibringen“, spie Ryan aufmüpfig, was mit einem Schnauben des Schattenhundes befürwortet wurde.
„Deinen Spukball dagegen!“
So mündete dieser stürmische, gnadenlose Kampf nach all seinen Wendungen und seiner Dramatik in einen offenen Schlagabtausch. Ein Kräftemessen zweier Kreaturen der Nacht. Beide erschufen einen dunklen Energieball und füllten ihn mit all er Finsternis, die ihre Körper noch hergeben konnten. Die schwarzen Blitze, die sie umspielten, zuckten und knisterten lauter als eine Hochspannungsleitung. Unter den kämpfenden Pokémon vibrierte der Boden. Die Trainer fühlten ein erdrückendes Surren in der Brust, wie ein paralysierendes Beben. Keiner konnte mehr einen Schritt machen oder einen Ton sagen. Selbst die Luft hielten sie an.
„Oh, Achtung. Da unten knallt´s gleich richtig böse!“, ahnte Cay bereits und verwies auf die Größe der Spukbälle als könne er seinen Augen nicht trauen.
Kryppuk war für Ryan kaum noch zu sehen. Die Energiekugel verdeckte seinen Körper fast vollständig. Hundemon stand dem aber in nichts nach. Bei dem Anblick wünschte Melody sich zum ersten Mal, etwas auf Abstand gehen zu können.
Sie feuerten gleichzeitig. Die Vibration brachte die Erde tatsächlich zum Erzittern. Schattenblitze schlugen auf ihrem Weg in den Boden und sprengten ihn auf wie Landminen. Die Kollision erfolgte genau in der Mitte des Feldes. Ein Lichtschwall fegte durch das Stadion, doch blieb die erwartete Detonation sowie die Druckwelle aus. Fast sah es so aus als zogen sich beiden Energiemassen gegenseitig an, würden sich vielleicht gar vereinen. Doch die Trainer hatten keine Geduld mehr. Der große Knall stand bevor und er würde das Prime Stadium in seine Grundfesten erschüttern.
„Hitzekoller!“
„Finsteraura!“
Das war Ryans und Hundemons letzte Chance. Wenn dieser Hitzekoller Kryppuk nicht das Handwerk legte, würde es keine von seinen Attacken mehr schaffen. Auf der anderen Seite war man sich ebenfalls bewusst, dass der Groschen hier und jetzt fallen würde. Es wurde nichts mehr zurückgehalten. Kryppuks Körper sonderte solche Massen an dunkler Schattenenergie ab, dass er darin fast ertrank. Er schien mit ihr zu verschmelzen. Wütende Böen kündigten das Chaos an. Wenn Darkrai je eine Hölle erschaffen hatte, dann würde man sie sich so vorstellen. Ein schwarzer Sturm – anders war das nicht zu betiteln. Dagegen stand ein regelrechter Vulkanausbruch. Gleißend wie die Sonne und zumindest dem Empfinden der Anwesenden nach auch annähernd so heiß, feuerte Hundemon seine letzten Reserven ab und erhellte das Kampffeld. Ungesehen und unerkannt von alle den Leuten zeichnete sich ein dunkelvioletter Lichtring am Boden ab. Dieser entlockte ihm nicht mal ein Blinzeln oder Zucken. Man könnte glatt annehmen, er bemerke ihn gar nicht. Doch Hundemon konzentrierte sich einfach nur stur auf den Angriff. War fast wie von Sinnen. Seine Pupillen waren verschwunden und man könnte nur schwer beurteilen, ob das Rot in den wilden Augen seines war oder der flammende Schein um ihn herum bloß trog. Selbst als der Ring schwarze Blitze auf ihn schoss, entlockte es keine Reaktion seitens des Schattenhundes. Einfach nur Feuer speien und dem Sturm der Nacht standhalten, der ihn zu verschlingen versuchte. Nein, ihn niederbrennen wollte er!
Ein Flammenmeer und eines aus schwarzer Pest preschten aufeinander. Uneins und vor allem uneinsichtig, wessen Macht zerstörerischer war, hielten sie sich die Waage. Und genau dazwischen drohten die Spukbälle zu detonieren. Wie in aller Welt konnte das eigentlich noch nicht geschehen sein? Um das eventuell beantworten zu können, müsste man sie erst einmal sehen können. Selbst Ryan und Bella vermochten das nicht länger. Sogar ihre eigenen Pokémon sahen sie nicht mehr. Sie waren blind und machtlos, konnte ab hier lediglich ihre Hoffnungen und ihr Vertrauen in die Stärke ihrer Partner setzen.
„Ich pack´s nicht, woher nehmen die zwei noch diese Kraft?“, hörte man gerade so noch einen fassungslosen Stadionsprecher staunen, obwohl der aus voller Kehle schrie. Jetzt hieß es warten und bangen. Für Zuschauer und Trainer.
Allzu lange musste man jedoch nicht auf den unausweichlichen Knall warten. Hundemon und Kryppuk verließen fast gleichzeitig die Kräfte. Der Angriff endete auf beiden Seiten. Für eine einzige Sekunde wirbelten Schatten und Flammen um die aneinanderhaftenden Spukbälle, als würden sie aufgesogen. Dann wurde die Luft von einem ohrenbetäubenden Knall zerfetzt. Eine Bombe musste in der Mitte des Kampffeldes gelegen haben. Ein jeder Zuschauer wurde in den Sitz gedrückt und ein Stoß ging durch die Brust als sei man kerzengerade auf den Rücken gefallen. Das tat richtig weh. Ryan und Bella mussten sich gegen die Druckwelle stemmen und die Augen schützen. Es war schlicht nicht möglich, den Blick aufrecht zu erhalten. Noch weniger als in einem Blizzard oder einem Sandsturm. In den Ohren piepte es alarmierend. Das Trommelfell klagte erbost und empört über den Lärm.
Und nichts von alldem war von irgendeiner Bedeutung für die Finalisten. Sobald es nur wieder irgend möglich wurde, musste das Kampffeld inspiziert werden. Es war die reinste Verwüstung. Sand sah man längt keine mehr. Der war weitestgehend bis zur Unkenntlichkeit zerstreut worden. Lediglich am Fuß der Betonmauer sah man noch ein paar Häufchen. Der Lehmboden, auf dem man hier nun stand, war porös und rissig, hatte diverse Schlaglöcher und Spalte davongetragen und in der Mitte hatte sich eine schwarze Mulde gebildet, in der man bis zu den Knien einsinken würde.
Am Rande dieser fand man zwei dunkle Geschöpfe vor. Einen blassvioletten Geisterkörper auf der einen Seite, der… der tatsächlich stöhnend und röcheln in die Schwebe über ging. Sichtlich geschunden, wankend und unsicher. Brandspuren zierten seinen Leib, von dem noch immer Asche sowie losgelöste Fetzen von Geisteressenz herabrieselten. Als würde sein Körper zerfallen. Der Anblick war geradezu erbärmlich. Und doch grinste er schwach, fast benebelt, mochte man meinen.
„Da ist Kryppuk! Es ist noch nicht am Ende!“
Und auf der anderen Seite sah man ein schwarzer Hund mit zwei gebogenen Hörnern auf den Kopf. Dieser lag jedoch kraftlos auf dem Boden, das Maul geöffnet und die Zunge schlaff heraushängend. Schwarze Blitze zuckten noch um seinen Torso und violetter Rauch löste sich aus dem Fell. Die Spuren von Kryppuks Geist sowie Unlicht Energie. Etwas in Ryans zog sich unangenehm zusammen und er biss sich so stark auf die Unterlippe, dass sie fast blutete.
„Hundemon…!“
Cay blieb das Wort im Hals stechen. Als könne er es genauso wenig glauben, was seine Augen ihm weißmachen wollten. Doch es war Tatsache. Einige im Publikum begannen – noch vorsichtig und verhalten – zu jubeln. Bis der Schiedsrichter es amtlich machte.
„Hundemon ist kampfunfähig. Die Runde geht erneut an Kryppuk!“
„Ich glaub´s ja nicht, Déreaux dreht das Ding und geht in Führung.!“
Da brach der lauteste Beifall des gesamten Tages los. Kryppuk hatte tatsächlich wieder gewonnen und Bella somit in Führung gebracht. Bestimmt trugen auch einige von Ryans Fans einen Teil dazu bei. Hier musste einfach jeder Einsatz, jeder Angriff und jedes strategische Geschick beklatscht werden, selbst wenn es von der Gegenseite kam. Egal für wen man hier hoffte und Daumen drückte – längst hatten beide Finalisten den Respekt aller Zuschauer.
Wer jedoch in bitterem Schweigen festsaß, das waren Audrey und Melody. Das letzte Aufbäumen Hundemons, sein tapferer finaler Angriff, er war nicht belohnt worden. Er hatte verloren und die Trainerin aus Rosalia kannte dieses Pokémon gut genug, um zu wissen, wie sehr das an ihm nagen würde, wenn er im Pokémoncenter wieder zu sich kam. Vergebens sollte sein Einsatz aber nicht bleiben. Eher würde der Schattenhund Eis statt Feuer speien, als dass Ryan seinen Einsatz nicht zu würdigen wusste.
Eben dieser sprach bloß in Gedanken einige Worte der Dankbarkeit. Honorierte der Leistung im Stillen. Es waren nur wenige Worte, doch so aufrichtig, wie man sie nur meinen konnte. Vor Bella wollte sich Ryan jedoch nicht die Blöße geben, zu lange im Moment des Rückschlages festzusitzen, sondern ihr zeigen, dass er noch immer nach vorne blickte, nach vorne ging und an den Sieg glaubte.
„Carparso hat nur noch ein Pokémon in Petto. Jetzt bin ich gespannt, mit wem er dieses Kryppuk auf die Bretter schicken will.“
Es gab keine große Auswahl mehr. Am allerliebsten hätte er auf Rubys Kraft zurückgegriffen, doch hier galt es erst einmal, ihr seine eigenen und die seiner Partner zu demonstrieren. Und zu beweisen, dass er ihrer Unterstützung auch würdig war.
Er ließ seine Hand einige Sekunden in der Pokéballtasche an seinem Gürtel verweilen. Er schien mit ihnen zwischen den Fingern zu spielen, während er mit scharfen Augen Kryppuk musterte. Nein, nicht den Geist sah er an, sondern Bella. So meinte zumindest die Agentin zu erkennen. Sie wusste den Blick allerdings nicht einzuordnen. Wenn er sich kein anderes Pokémon in Center angefordert hatte, gab es eigentlich nichts mehr bezüglich seines letzten Kämpfers zu grübeln. Was überlegte er also? Was ging ihm durch den Kopf? Er neigte den Kopf leicht zur Seite, Bella merkte er nach einigen Sekunden, dass sie der Geste folgte. Sie blinzelte verdutzt. Fast hätte sie sich geschüttelt, um ihre Gedanken zu sortieren, beließ es aber bei einem möglichst dezenten und unauffälligen Durchatmen. Ryan richtete sich wieder gerade auf. Mit einer flotten Bewegung aus dem Handgelenk zog er eine Ballkapsel aus der Tasche und vergrößerte sie.
„Hier kommt es!“, johlte Cay bereits voller Vorfreude, wie im Moment des ersten Falls bei einer Achterbahnfahrt. Obwohl der Johtonese es arg hinausgezögert hatte, blieb eine Überraschung aus. Die weiße Silhouette, die dort unten erschien, war erst zusammengekauert, wie im Schlaf während einer kalten Nacht. Langsam erhob sie die humanoide Gestalt, grazil und anmutig, bis sie plötzlich so hoch wie Ryan ragte. Das Licht schwand. Der schlanke Körper drehte sich einmal auf der Achse und die ebenso schmalen Arme schwangen elegant mit, wie bei einer Tänzerin. Dann vollführte sie einen Knicks, um alle hier Anwesenden zu grüßen. Dann sang sie laut ihren Namen.
„Es ist Guardevoir!“, brüllte Cay offenbar sehr erfreut über den Anblick. Die Mehrzahl der Zuschauer schloss sich an. Sie alle hatten bereits viel Freude an diesem Pokémon gehabt, hatten sogar bei ihrer Weiterentwicklung zugesehen. Die Psychodame war selten in erste Bedrängnis gerate, doch nun würde sie ihrem mit Abstand stärksten Gegner entgegentreten.
„Das Duell lautet Guardevoir gegen Kryppuk“, kündigte der Schiedsrichter gewohnt routiniert an. Der Stadionsprecher erklärte noch kurz, wie die Typenverhältnisse aussahen. Besonders mit seinen Geist-Attacken würde Kryppuk seiner Gegnerin sehr übel mitspielen können, musste sich aber gleichzeitig vor allen Angriffen des Typs Fee enorm in Acht nehmen. Wobei eigentlich jede Attacke nun sein Aus bedeuten könnte. Seines erschöpften Zustandes ungeachtet grinste der Geist aber wieder breit und hinterlistig. Wie ein wahnsinniger, der vergessen hatte, dass er zu Boden gehen konnte – und bald auch würde.
Aber so weit war Hundemon auch schon gewesen. Ryan durfte nicht den Fehler machen, sich hier bereits als Sieger zu sehen und auf einen raschen Sieg zu drängen. Nicht zu sehr, wenigstens. Er kämpfte hier nicht gegen irgendjemanden. Immer nur den nächsten Schritt, nicht den gesamten Weg bedenken.
„Beginnt!“, ertönte es laut von der Seitenlinie. Bella spreizte die Beine und nahm eine ausbalancierte Kampfposition ein, als würde sie selbst gleich auf das Feld sprinten. Das hatte sie vorher noch nie getan.!
„Vorwärts, Spukball!“
Kryppuk ließ sich diesmal weit weniger Zeit. Registrierte, dass seine Trainerin Druck ausüben und Tempo machen wollte. Die Kugel aus dunkler Geisterenergie erreichte daher durchschnittliche Größe, doch knisterten die Schattenblitze so laut wie bei dem gewaltigen Geschoss davor. Ryan reagierte darauf unerwartet passiv, ordnete monoton Gedankengut an. Guardevoir atmete tief ein, führte die Fingerspitzen aneinander als wolle sie beten und schloss in aller Seelenruhe die Augen. Eine irrwitzige Idee angesichts was dort auf der anderen Seite des Kampffeldes wartete.
Oder eher zum Angriff blies. Mit dem Warten war es aus. Auf eine rasche Korrektur Bellas hin, die Ryan nicht so einfach gewähren lassen wollte, ging Kryppuk in ein regelrechtes Dauerfeuer über und feuerte eine ganze Salve von Spukbällen ab. Woher nahm dieses Monster noch die Energie dafür? Wie ging das überhaupt in dem Tempo? Andrew hatte das mit Magnayen andauernd geübt und war nicht einmal nahe an das herangekommen, was Guardevoir da entgegenflog. Doch die Psychodame schien das nicht einmal zu bemerken. Ihr Umfeld war völlig ausgeblendet. Ebenso der Lärm. Nur ein einziges Geräusch erklang in ihren Ohren. Der eines einzelnen, unscheinbaren Wassertropfens, der in einen stillen See fiel. Er verursachte keine Welle.
Der erste Spukball zielte genau auf den Kopf. Wer die tänzerischen Fähigkeiten dieses Pokémons noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte, hätte den Treffer bereits für unausweichlich befunden. Im allerletzten Moment ging sie jedoch in eine tiefe Position und bildete ein wahnsinniges Hohlkreuz. Das sah fast unnatürlich aus. Als habe sie nicht einen Knochen im Torso. Selbigen warf sie gleich zur Seite und ruderte mit den dünnen Beinen, die so selten unter dem Körperschleier hervorschauten, schwungvoll nach, um den nächsten Beiden auszuweichen und die Position zu wechseln. Dies war ein deutlich temperamentvollerer Tanz als man es von ihr gewohnt war. Aber der Gegner war ja auch nicht wie die vorherigen.
Zwei Spukbälle flogen noch. Guardevoir nahm den Schwung aus dem Ausweichmanöver mit und ging in eine elegante Drehung. Was sie nun vollführte, war weder von Ryan befohlen noch von ihm trainiert worden. Geschweige denn hätte irgendeiner hier das, was sie da tat, für machbar gehalten. Nicht bei diesem Kryppuk. Ein Arm wurde ausgestreckt. Direkt in die Flugbahn der knisternden Energiekugel hinein. Das filigrane Psychopokémon riss sie mit sich auf die Seite und absorbierte den Druck mit ihrer telekinetischen Kraft. Sofort fuhr sie den anderen Arm auf und fing auch den nächsten. Eine weitere Drehung nahm sie noch mit, ehe Guardevoir stoppte und auf einmal stand sie mit Kryppuks Spukbällen in den Handflächen da.
„Was war das denn? Das hab ich ja noch nie gesehen!“, ächzte Cay heißer, nachdem ein ehrfürchtiger Moment der Stille vergangen war. Zuschauer sprangen auf, applaudierten – Melody mal wieder als erste und am lauteste –, sahen sicherheitshalber ein zweites und drittes Mal hin. Die hatte den Angriff doch nicht ernsthaft einfach so aufgefangen?
Demonstrativ rotierte Guardevoir die Geisterenergie in ihren Händen und glitt elegant über das verwüstete Kampffeld. Diese dunklen Energien nannte auch sie selbst ihre Waffen. Und sie hatte bereits lange bevor Ryan ihr Trainer wurde, damit geübt. Tag für Tag.
Ryan konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Hätte er nur einen Moment lang Augen für Bella gehabt, wäre es wohl so breit geworden, dass seine Wangen bis morgen schmerzen würden. Die Agentin sah aus als habe man ihr einen furchtbar schlechten Witz erzählt. Die konnte tatsächlich nicht fassen, was sie da sah. Doch der Blonde nahm sich ein Beispiel an seinem Pokémon und wahrte die Konzentration. Der Moment war zu kostbar, die Chance zu groß, um ihn an sie zu verschwenden.
„Zurück zum Absender, Guardevoir.“
Den ersten warf sie ansatzlos auf dem Handgelenk. Den zweiten nach einer weiteren Drehung, dafür mit mehr Wucht. So holte er zum ersten auf und beide würden zur selben Sekunde ihr Ziel finden. Wenn das Ziel denn mitspielen würde.
„Schattenstoß!“
Gerade rechtzeitig, keinen Sekundenbruchteil später als Guardevoir eben noch, wich Kryppuk gen Boden aus und flitzte dort als schwarzer Schatten umher. Die gleich darauffolgende Explosion, als die Spukbälle auf dem Feld detonierten, ließ glatt vermuten, dass Kryppuk sie selbst in diesem geisterhaften Zustand spüren müsste. Dem war leider nicht so. Diese Tempo Attacken nahmen Ryan wirklich viel Wind aus den Segeln. Aber zum Stillstand zwangen sie ihn nicht.
„Schutzschild, sofort.“
Der verfluchte Geist war bereits wieder aufgetaucht und hatte seine natürliche Gestalt angenommen – zuzüglich den schwarz-violetten Schleiers um seinen Gaskörper –, noch bevor die schützende Lichtkuppel erschaffen worden war. Ein Blinzeln war lang und träge im Vergleich zu der Zeit, die für deren Errichtung benötigt wurde. Kryppuk prallte an dem naturgrün schillernden Schild ab, wie an einer Betonwand und überschlug sich rückwärtig.
„Jetzt Magieflamme!“
Guardevoir griff nicht übermütig von vorne an. Das viele Training in den Wäldern hatte ihr ein sehr gutes Gespür für den sogenannten Rhythmus eines Kampfes verliehen, von dem Ryan bereits in ihren ersten Trainingsstunden gepredigt hatte. Und dieser hier verriet ihr, dass sie in Bewegung bleiben, aus den kritischen Winkeln heraus zuschlagen musste. So tänzelte sie mit zwei sehr flinken Schritten an Kryppuk vorbei und ward plötzlich hinter ihm, einen Arm ausgestreckt, sodass er ihn fast berührte. Nur eines ihrer Augen lugte und dem blauen Haar hervor und blitzte klug und scharfsinnig auf. Ein kurzer, fast tadelnder Laut, als wolle sie den Gegner belehren, verriet dem Geist, dass er ohne den Schattenstoß langsam wurde. Zu langsam. Aus ihrer Handfläche sprühte ein violetter Funke. Die Farben der Dämmerung ruhten bei ihr, wurden zu tanzenden Flammenzungen und schließlich einer lodernden Feuerbrunst. Das Violett darin machte Kryppuks Körper beinahe unkenntlich, als sie ihn verzehrte.
„Wow, da ist wieder die Konterstärke von Carparso. Kryppuk beißt bei Guardevoir bislang voll auf Granit.“
Hätte dieses verdammte Geistpokémon ihm nicht so übel mitgespielt, würde Ryan glatt etwas Mitleid empfinden. Jämmerliche Klagelaute sowie erschütterndes Gebrüll, wie von einem verwundeten Raubtier hallten aus dem Feuerball. Das Echo machte im ganzen Innenraum des Stadions die Runde. Bella schnaubte missmutig, aber auch schuldbewusst. Was ließ sie ihn auch wieder seine bevorzugte Strategie kämpfen? Carparso brauchte die Kontrolle gar nicht zurückgewinnen. Die Agentin warf sie ihm gerade mit beiden Händen zu. Aber hatte sie denn jetzt noch den Spielraum, um mit Kryppuk die Strategie zu wechseln? Nicht in dem Zustand. Jetzt konnte sie nur noch eine Karte ausspielen. Aber zunächst musste sie sich etwas Luft verschaffen.
„Befrei dich mit Finsteraura!“
Das Wehklagen stoppte. Machte einem energischen und unnachgiebigem Grunzen Platz. Dem Rot und Violet, das seinen Körper verbrannte, mischten sich Schlieren aus Schwarz unter. Weit schwächer und weniger zerstörerisch als zuvor demonstriert, doch es genügte, die Flammen von sich zu stoßen. Sie verpufften in der Luft, sandten eine Welle ihrer Hitze bis zu den vorderen Zuschauerplätzen. Melody war wohl die Einzige, die nicht zurücksteckte. Guardevoir sollte sich mit Lichtschild dagegenstemmen und gab für die Erschaffung dessen sogar ihre anmutige Haltung ein wenig auf. Die musste sich echt dagegenstemmen. Dass sie die Finsteraura selbst jetzt noch durch die schützende Wand hindurch noch so stark spürte… einfach Wahnsinn. Kryppuk nahm eine feste Schwebe ein und drehte sich bereits nach ihr um. Jetzt würde sie bezahlen!
„Schnell, Leidteiler!“
„Volle Kraft jetzt, Mondgewalt!“, beantwortete Ryan die Trumpfkarte Bellas. Ein Dutzend verschiedener Gedanken rasten alle auf einmal durch deren Kopf. Doch ein gehässiges Grinsen nahm seinen Platz auf ihrer sonst so makellosen Visage ein. Das wellige Haar tobte bei der ruckartigen Bewegung ihres Nackens kurz auf. Jetzt würde sie ihn endlich brechen!
Aus Kryppuks Körper krochen Ranken heraus. Sofort waren sie im Anschlag und bereit, sich in ihr Opfer zu bohren. Doch dort, wo eben noch eine goldene Energiewand aufgeblitzt war, fand der verfluchte Geist rein gar nichts. War sie schon wieder zur Seite getanzt? Kryppuk drehte sich weiter. Von hier an nahm er die nächsten Sekunden wie in Zeitlupe wahr. Aus dem Augenwinkel stach eine schlanke, humanoide Gestalt heraus. Er riss den Blick hinauf. Sie war über ihm, jedoch kaum mehr als eine dunkle Silhouette. Sie befand sich im Gegenlicht einer gewaltigen Energiekugel, hell leuchtend wie der nächtliche Vollmond und groß genug, um Ryans Sumpex darin einzuhüllen. Lediglich Guardevoirs Augen blitzen fast ebenbürtig zu ihrer Mondgewalt auf, nur einen Moment, bevor sie selbige auf ihren Gegner wuchtete. Da durchstach auf einmal ein widerlicher Schmerz ihren Torso. Sie wagte nicht, den Blick von ihrem Gegner abzuwenden, doch wusste sie genau, dass eine der Ranken gerade ihren Rumpf durchbohrte und gierig an ihren Kräften zerrte. Genau in diesem Moment verabschiedete sie sich von der Illusion eines tadellosen Tanzes. Diese Darbietung war ruiniert. Ihre Grazie ins Wanken geraten. Ein Fehltritt, der die Perfektion zunichte machte.
Doch zum ersten Mal schob sie die zerbrechliche Attitüde beiseite und machte Platz für ihren Kampfgeist. Hier ging es nicht um Anmut. Wenn man ein Kampffeld betrat, existierten nur Sieg und Niederlage. Und Ryan hatte sie sowie alle anderen siegeshungrig gemacht. Dafür war sie auch bereit, ihre Eleganz aufzuopfern.
Ein bebender Ruf wie bei einer Opernsängerin begleitete ein Einschlag. Die Dämmerung dieses Sommertages wurde unterbrochen. Es herrschte wieder Mittag und die Sonne war der Erde um ein geradezu verheerendes Stück näher gekommen. Ihr Licht legte sich über das Stadion und hüllte alles in Weiß. So stark, dass niemand mehr hindurchzusehen vermochte. Ein piepender Ton lag in Ryans Ohr. Erinnerte ihn ein wenig an das Auftauchen von Latios und Latias, als sie ihn und den Rest von Milas Gruppe aus Bellas Hinterhalt gerettet hatten. Doch hier verflog der Lichtschein viel schneller wieder und hinterließ völlige Stille. Guardevoir landete sanft von ihrem Sprung, wie von einem Windhauch getragen, wo sich normale Tänzerinnen die Knöchel gebrochen hätten. Sie machte eine fegende Bewegung mit beiden Händen und reckte stolz die Brust raus. Hinter ihr lag Kryppuk völlig bewegungslos am Boden. Sowohl Zuschauer als auch Stadionsprecher atmeten bereits tief ein, wagten aber nicht ihre Stimmen zu erheben, bevor der Ausgang offiziell war.
Es brauchte nur zwei Sekunden. Keine Zweifel waren übrig. Eine Fahre wurde in Ryans Richtung gereckt.
„Kryppuk ist kampfunfähig. Die Runde geht an Guardevoir!“
Audrey hatte bereits mehr als einmal geglaubt, den Zenit der Lautstärke dieses Stadions erlebt zu haben. Dieser Jubel toppte es aber nochmal. Melody stand neben ihr auf ihren Sitz, hatte beide Fäuste geballte und sandte scheinbar einen Dank in den Himmel – zu wem auch immer – dafür, dass dieses verfluchte Kryppuk endlich geschlagen war. Und obendrein hatte Ryan es entgegen aller Erwartungen doch schnell geschafft. Damit hatte er nicht einmal selbst gerechnet. Der Lärm allerdings prallte wieder an ihm ab. Es wäre kaum eine Übertreibung, wenn er behauptete, er nahm ihn gar nicht wahr. Sein Blick hing an dem ohnmächtigen Pokémon, das ihn so viel Mühe und in diesem Finale gleich zwei seiner eigenen Kämpfer gekostet hatte. Eine Hand wanderte nochmals vorsichtig an den Gürtel, wo seine Pokéballtasche befestigt war. Klammerte sich durch das feste Material hindurch an den von Hundemon. Sein Einsatz war nicht umsonst gewesen. Ohne seine Vorarbeit wäre Guardevoir niemals so glimpflich an Kryppuk vorbeigekommen.
Dennoch war der Blick unerwartet ausdrucklos. Weder Erleichterung noch Zuversicht las man darin über die Kameras, was Andrew und Sandra verblüffte. Aber auch negative Emotionen, sprich Flüche oder Verwünschungen suchte man vergebens, obwohl man es ihm kaum vorwerfen könnte, wenn er dieses Kryppuk selbst noch einmal zusätzlich verfluchte. Zumindest in einem emotionalen Moment, während man noch auf dem Kampffeld stand, war das vertretbar. Sobald man es verließ und sich das Gemüt beruhigte, war derlei Missgunst verflogen. In der Regel zumindest. Wenn man es mit irgendeinem beliebigen Gegner zu tun hatte. Selbst bei Terry war das immer der Fall gewesen. Aber bei einer Agentin von Team Rocket war das durchaus infrage zu stellen.
Von solchen Spekulationen abgesehen, waren die beiden Johtonesen in den Katakomben dermaßen erleichtert, dass es für Ryan mit reichte. Andrew stützte sich auf die Knie wie nach einem Marathon. Sandra daneben musste all ihre Selbstbeherrschung abringen, um Haltung zu wahren. Aus reiner Selbstdisziplin verstand sich. Doch auch ihr rann der Schweiß die Schläfe herab und ihr Nervenkostüm wurde völlig neuen Strapazen ausgesetzt. Sie fühlte sich, als habe sie gerade stundenlang Holz gehackt, so sehr machte sie das Zusehen fertig.
„Alter“, stöhnte Andrew neben ihr, als er sich wieder aufrichtete und die Hände in die Seiten stemmte.
„Aus welcher Hölle hat die dieses Kryppuk eigentlich ausgegraben?“, fragte er mehr sich als Sandra mit einem abschließenden Gedanken an das geschlagene Pokémon, das eben zurückgerufen wurde. Die Arenaleiterin ordnete die Frage als rhetorisch ein und ließ sie daher unbeantwortet. Lieber richtete sie den Blick nach vorne.
„Absol war schon ein echter Brocken.“
Das hatte sie selbst schmerzhaft erfahren müssen.
„Kryppuk war nochmal ein anderes Level“, fügte sie hinzu und Andrew spürte, wie sie auf etwas hinarbeitete. Er sah sie aus dem Augenwinkel an und wartete geduldig, dass sie ihre Gedanken kundtat.
„Da muss man sich schon fragen, was sie sich bis zum Schluss aufgespart hatte.“
Selbst wenn der Raum noch immer voll von Trainern wäre, würde darin nun vermutlich betretene Stille dominieren. Es war Gewohnheit der meisten Trainer, ihr stärkstes Pokémon bis zum Schluss aufzuheben. Das war fast schon logisch. Und in diesem Fall besorgniserregend. Fast schon beängstigend.
Ryan atmete bereits wieder ruhig, geradezu flach. Dabei hämmerte sein Herz in seiner Brust, sodass es fast schmerzte. Zu keiner Sekunde wollte er zulassen, dass seiner Mauer bröckelte. Seiner Emotionen stellten zwar während eines Kampfes wirksame Waffen dar, aber er durfte nicht zulassen, dass sie ihn und seine Entscheidungen lenkten. Schon gar nicht neben dem Kampffeld. Das war gerade heute leider nicht allzu leicht. Ihm wurde glatt schwindelig, wenn die Kämpfe unterbrochen waren und er somit nichts mehr hatte, woran er sich mit seiner Konzentration klammern musste. Bella würde ihm glatt einen Gefallen tun, wenn sie ihr letztes Pokémon schnell präsentierte, doch sie ließ sich alle Zeit der Welt damit. Was keine große Überraschung war. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sie das ganz bewusst tat, um ihn unter Druck zu setzen. Oder konkreter, um ihn noch länger unter dem Druck, den er sich selbst aufbürdete, leiden zu lassen. Auch auf solche Psychospielchen verstand sie sich und gehörten irgendwo zu so einem Kampf dazu.
„Wir kriegen unser perfektes Finale, Leute. Beide Trainer müssen zu ihrem allerletzten Pokémon greifen. Der Turniersieg hängt an diesem einen Kampf“, rief Cay allen in Erinnerung. Man schien sich uneinig, ob man in Vorfreude auf dieses heiße Duell jubeln oder in angespannter Ehrfurcht schweigen sollte. Sicher war Melody nicht mehr die einzige Person, die hier kurz vor einem Herzinfarkt stand.
Bella reizte die Wartezeit erneut bis zum Äußersten aus. Sogar so lange, dass sich der Schiedsrichter ein weiteres Mal gezwungen sah, sie zu ermahnen.
„Miss Déreaux, ihr letztes Pokémon bitte“, sprach er in haargenau derselben Tonlage wie zuvor, als sie ihr zweites hatte präsentieren sollen. Der Typ spielte echt ein Band ab, wenn er uniformiert war. Selbst hiernach tat die Agentin nur provokant langsam, was von ihr verlangt wurde. Ryan runzelte Stirn, als eine ungewöhnliche Farbe in ihrer Hand aufblitzte. War das ein besonderer Pokéball mit einem anderen Design als das klassische rot-weiß? Auf die Entfernung konnte er sich nicht sicher sein. Bella schien diese Verwunderung zu registrieren und es schien sie sichtlich zu amüsieren. Natürlich gewährte sie keine Chance, den Ball genauer zu betrachten, sondern warf ihn mit Schwung in die Höhe. Das hatte sie zuvor noch nie gemacht. Nicht mit so viel Elan.
„Komm raus, mein Süßer.“
Es blieb nicht bloß bei einem weißen Lichtblitz. Ein regelrechter Funkenregen ergoss sich aus dem Pokéball und weißer Rauch flutete das Zentrum des verwüsteten Schlachtfeldes. Gleich war Ryan klar geworden, was es mit der Farbe auf sich hatte. Bella verwendete eine von diesen Effektkapseln, wie Koordinatoren sie gerne einsetzten, um den Auftritt ihrer Pokémon aufzupeppen. Während des Wettbewerbes, den er zusammen mit Melody besucht hatte, war ihm das ein paar Mal demonstriert worden, auch wenn dieser Trend in Sinnoh weit größere Beliebtheit genoss. Aber warum in aller Welt nutzte Bella so ein Ding? Das machte die doch nicht einfach so zum Spaß! Wollte sie etwas verbergen? Oder einfach Eindruck schinden?
Über all das konnte Ryan höchstens spekulieren, aber eine klare Antwort würde sich nicht finden lassen. Er beschloss einfach, dass der Grund letztlich unwichtig war. Sollte sie doch gleich ein Feuerwerk zünden. Sollte sie nur machen. Alles egal, alles nebensächlich. Er war nicht leicht einzuschüchtern. Stattdessen spähte er in den Rauch und wappnete sich für alles, was gleich hinter dessen Schleier auftauchen mochte. Recht schnell war eine Silhouette erkennbar. Etwas gekrümmt, zusammengekauert, doch erhob sie sich langsam und ruhig in eine stolze, gerade Haltung, strahlte dabei eine enorme Selbstsicherheit aus. Die Gestalt wirkte ein wenig humanoid. Zwei Arme, zwei Beine, verbunden durch einen Torso. Eine lange Schnauze meinte er ebenfalls zu erkennen, sowie zwei spitze Ohren. Amfira war das schon mal nicht. Sondern kleiner und weniger schlaksig. Aber allzu lange spielte das Wesen dieses Spiel aus Geheimniskrämerei nicht. Es zog die Arme an und heulte einmal zum Himmel hinauf, was den Rauch und die Funken vergehen ließ. Es wurde ein raubtierähnliches Wesen enthüllt, das aufrecht stehen konnte. Das Fell war am Körper sandfarben, während Kopf und Gliedmaßen sowie der Schweif eine Mischung aus Kobaltblau und Schwarz darstellten. Arme und Beine endeten in Pfoten und auf dem Kopf zuckten aufmerksam zwei Ohren. Ein eiserner Dorn stach aus der Brust heraus, ebenso wie am Handrücken. Na klasse. Nach Absol und Kryppuk jetzt auch noch das.
„Lucario!“, brüllte Bellas letztes Pokémon und begab sich sofort in eine ausbalancierte Kampfposition. Blutrote Augen blitzten scharfsinnig auf und verrieten einen unglaublichen Siegeswillen.
„Bella zieht nochmal eine Überraschung aus dem Hut. Ein Lucario!“, schien Cay sehr erfreut über die Wahl. Dieses Wesen vom Typ Kampf und Stahl war ein weiterer seltener Gast in Hoenn und sehr berüchtigt unter Trainern. Unter anderen Umständen hätten Andrew, Sandra, Audrey, ja sogar Terry sich durchaus gefreut ein solches Exemplar in diesem Finale zu sehen. Aber es auf Bellas Seite zu wissen, während Ryan auf der anderen Seite stand, war kein Umstand, der ihnen auch nur irgendwie gefallen konnte. Lucario waren bereits von Natur aus besonders zäh und ausdauernd. Sie kämpften mit Herz und Leidenschaft, waren stolz und ehrgeizig. Robust waren sie außerdem und flinker als man von einem Stahl-Typen erwarten würde. Nicht zu vergessen verdammt kräftig. Vermutlich mehr noch als die meisten Kampfpokémon, obwohl der Körper nicht besonders viel Muskelmasse vermuten ließ. Der Schein trog jedoch immens, wie Veteranen wussten.
Ryan fasste also zusammen – Lucario waren schnell, gewieft und wussten sowohl wie man austeilte als auch einsteckte. Nur wenige Gattungen waren von Grund auf so stark veranlagt. Obendrein würden Guardevoirs Spukball sowie ihre Feen-Attacken nahezu wirkungslos sein, was seine Optionen in der Offensive stark einschränkte. Dafür besaß er mit Magieflamme eine sehr effiziente Waffe.
Unabhängig von der theoretischen Auslegung lächelte der junge Trainer herausfordernd. Er war weder übermütig noch leichtsinnig. Auch er vergoss bei dem Anblick einen weiteren von vielen Schweißtropfen. Und trotzdem freute er sich. Wie oft bekam man schon die Gelegenheit, gegen ein Lucario zu kämpfen? Dass es leicht werden würde, davon hatte er nie ausgehen können. Natürlich würde die letzte Hürde eine brutale werden. Darauf war er längst eingestellt. Aber das hier würde ein offener, ehrlicher Kampf werden, in dem nichts weiter als Stärke und Geschick zählten. Ohne die fiesen Tricks eines Kryppuk oder ähnlich unangenehmen Gegnern. War es irrwitzig, dass gerade jetzt Sheilas Worte in seinem Gedächtnis widerhallten, als sie von ihren Prinzipien gesprochen hatte? Den Prinzipien einer Assassine?
„Bereitmachen, Guardevoir.“
Die Psychodame antwortete mit einem edlen Ausruf ihres Namens und nahm ihre Tanzposition ein. Die Arme sachte vom Körper gestreckt, der leicht zur Seite gedreht war und ein immenses Hohlkreuz bildete. Ryan würde erneut versuchen müssen, den Gegner so viel wie möglich auf Abstand zu halten. Lucario waren zwar bei weitem nicht nur auf den Nahkampf beschränkt, aber wenn er diesen erlaubte, war er am Ende.
„Anschnallen, Freunde. Der letzte Kampf des Summer Clash steht auf dem Programm. Und der wird sich lohnen, das könnt ihr glauben“, kündigte Cay nochmals großspurig an. Seine Worte lenkten die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Schiedsrichter. Der wartete diesmal selbst ungewöhnlich lange, sah noch immer zu Bella und Lucario hinüber. Hatte ihn der spektakuläre Auftritt durch die Ballkapsel so überrascht? Man konnte nur spekulieren. Nach einigen quälenden Sekunden hob er dann doch endlich die Fahnen.
„Das letzte Duell lautet Guardevoir gegen Lucario.“
Ein letzter Blick links, ein letzter Blick rechts.
„Beginnt!“