Beiträge von Shimoto

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    Kapitel 33: Curtain Call


    Die ersten Sonnenstrahlen begannen bereits, durch die tiefblauen Vorhänge vor den Fenstern zu scheinen. Dabei war es Melody so vorgekommen, als wäre sie erst vor wenigen Minuten wach geworden. Da es zu diesem Zeitpunkt aber noch stockduster gewesen war, hatte sie wohl einfach ihr Zeitgefühl im Stich gelassen.

    Melody war eine chronische Frühaufsteherin, doch damit hatte nichts Besonderes auf sich. Vermutlich war ihr das von ihren Großeltern vererbt worden.

    Sie zog gar nicht in Erwägung, dass ihr Zeitgefühl nur deshalb so getrübt war, da sie während dieser ganzen Zeit nur in das friedliche Gesicht des noch immer schlafenden Ryan geblickt hatte – obgleich es genau daran lag.

    Nachdem einstimmig befunden worden war, dass es zu gefährlich für sie wäre, alleine in einem Hotelzimmer unterzukommen, hatte die Gruppe kurzerhand umdisponiert und sie in Ryans Zimmer verfrachtet. Andrew teilte sich nun das Gegenüberliegende mit Sandra. Ihr war es zu verdanken, dass Melody bleiben durfte, obwohl sie keine Trainerin war. Wie sie das genau angestellt hatte, wusste Ryan allerdings nicht und vermutlich würde man so einen Gefallen üblicherweise nicht erwarten können.

    Die Gefühle, die sie bei seinem Anblick empfand, waren allerdings furchtbar gemischter Natur. Einerseits war da noch er abklingende Rest von Freude über sein Wohlbefinden und ihn überhaupt wiedersehen zu können. Während sie auf der Suche nach ihm gewesen war, hatte sich jeder Tag doppelt und jede Nacht nur halb so lang angefühlt. Dann war da auf der anderen Seite die Angst vor Team Rocket, vor Rayquaza und – so sehr sie sich gegen dieses Gefühl sträubte – die Angst vor Ryan selbst. Oder konkreter, was Ryan tun würde. Es hallten nach wie vor die melodischen Worte Lugias in ihren Ohren. Währen es nicht die seinen gewesen, hätte sie ihnen nicht eine Sekunde Glauben geschenkt.

    Aber Ryan war doch ein überaus guter Mensch, oder nicht? Wieso zweifelte sie überhaupt daran? Er war einer der tollsten Menschen, die sie je hatte kennenlernen dürfen. Doch was wusste sie schon über ihn? Leider viel weniger, als ihr lieb war. Das bisschen, was sie wusste, stimmte sie aber zuversichtlich und hielt ihr Vertrauen am Leben. Das Vertrauen, dass er die richtigen Entscheidungen treffen würde, sobald es darauf ankam.

    Melodys Augen waren betrübt. In ihnen spiegelte sich ihr Kummer und ihre Sorge. Dennoch lächelte sie. Und mit diesem Lächeln beugte sie sich über Ryans Stirn, um einen sanften Kuss darauf zu geben.

    Sie hatten die Lippen kaum von ihm gelassen, da öffneten sich plötzlich seine Augen und er regte seine Glieder. Hatte sie ihn jetzt geweckt? Verflucht, war das plötzlich peinlich! Wie sollte sie denn erklären, warum sie ihn im Schlaf beobachtete? Hatte er überhaupt geschlafen? Vor Schreck verlor Melody das Gleichgewicht, fiel nach hinten über und musste dabei für einen Moment aussehen, wie ein Schiggy, das auf dem Rücken fiel. Natürlich wurde Ryan von dem Poltern sofort wach. Zunächst noch etwas verwirrt durch seine Schlaftrunkenheit stützte er sich auf die Ellenbögen und sah sich um.

    „Melody? Is was?“

    Er klang noch ziemlich müde. Das entsprach auch der Wahrheit, denn Tatsache war, dass er keine Minute lang geschlafen hatte. Das war ihm in den letzten Tagen bereits öfter so gegangen, dass er zwar mit geschlossenen Lidern im Bett, aber dennoch hellwach lag. Er fluchte für einen Moment innerlich, da sich dies selbst heute, wo er sich doch mental erholen wollte, nicht geändert hatte.

    Die auf dem Boden kraxelnde Melody, von der er von seiner Position aus nur die Knie sehen konnte, welche über die Bettkante lugten, schien das Problem nicht zu kennen. Die war tatsächlich durch ihr peinliches Glotzen, gepaart mit dem plötzlichen „Erwachen“ Ryans geradezu unangenehm munter. Sie reckte bloß den Arm samt erhobenen Daumen empor, um zu signalisieren, dass alles klar war.

    „Nein. Alles gut.“

    Es brauchte ihr ganzes Pokérface, um bloß einen Moment später, in dem sie sich an die Bettkannte gerappelt hatte und sich nun auf beide Ellenbogen stützte, wieder unbekümmert und heiter zu wirken. Als läge der tollste Tag seit langem vor ihr.

    „Morgen.“

    Das machte Ryan unfassbar neidisch. Er fühlte sich gerade eher wie ein Fußhocker.


    Er schätzte das Fassungsvermögen der Halle grob auf vier- bis fünftausend. Die Tribünen waren im Halbkreis um eine noch leere Bühne angelegt, die ehrlich gesagt nach kaum mehr aussah, als der Kampfbereich in einer Pokémon Arena. Solche, die ihres bevorzugten Typs entsprechend Pools, künstlich angelegte Wälder oder Felsplateaus errichtet hatten, selbstverständlich ausgenommen. Es handelte sichbum gabz gewöhnlichen Hallenboden.

    Direkt am Rande der Bühne war ein langer Tisch mit drei unbesetzten Stühlen, die vermutlich später von der Jury gefüllt wurden und ihnen genau gegenüber verbarg ein weinroter Vorhang den Tunnel, durch den die Teilnehmer erscheinen sollten. Die Lichtanlagen über ihren Köpfen erinnerte eher an eine Konzertbühne, als an einen Wettbewerb mit Pokémon.

    Mila hatte ihm eine sehr simple Wegbeschreibung zu Graphitports Eventhalle, deren Namen er vergessen hatte, gegeben. Sie lag unweit des Centers und des Prime Stadiums, in dem bald der Summer Clash stattfinden würde. Als kleiner „Heißmacher“ fand in dieser Halle jedes Jahr noch ein anderer Wettkampf statt.

    „Ich war noch nie auf einem Wettbewerb für Koordinatoren. Du?“
    Ryan schüttelte den Kopf. Er hatte nie einen Bezug zu diesen Wettbewerben gehabt. Er wusste im Groben, wie sie abliefen, hatte aber nie einen Grund gesehen, einmal einen zu besuchen.

    „Jetzt wo wir drin sind, bin ich doch etwas aufgeregt“, gestand Melody und lächelte fast, als sei ihr das wirklich peinlich. Sie erklomm gerade noch einige Treppen und wagte einen Rundblick. Ryan war mit Trainern bekannt, die das vermutlich unterstützen würden. Die Wettbewerbe im Allgemeinen für peinlich hielten.

    „Du hast solche Dinge sonst nur im Fernsehen verfolgt. Ist verständlich“, befand Ryan. Er selbst war noch nicht wirklich von Spannung oder etwas, das dem nahe kam, gepackt. Seine Erwartungshaltung war nicht allzu hoch, doch er beschloss, diesen Nachmittag einfach auf sich zukommen zu lassen. Vielleicht würde er ja positiv überrascht. Und wenn nicht, wusste er zumindest, dass er nichts verpasste, wenn es sein letzter Besuch gewesen sein sollte.

    „Ich frag mich ja schon, warum uns Mila gerade das hier vorgeschlagen hat“, fuhr Melody fort und bog in die Sitzreihe ein, die laut Ticket ihre sein sollte. Beim Summer Clash würde, wie bei allen größeren Turnieren, die sich über Tage zogen, freie Platzwahl herrschen. Man konnte ja schlecht für jeden Tag einen festen Sitz reservieren. Außer man zahlte die Wucherpreise in der VIP Loge. Keine Option für normal Sterbliche.

    „So wie ich sie einschätze…“ Das Wort „kennen“ wollte er noch immer nicht mit ihr verbinden. Er wusste mittlerweile einiges über sie und Sheila. Aber gerade das gestrige Gespräch mit letzterer hatte ihn abermals ermahnt, dieses Wort nicht leichtfertig zu verwenden.

    „… kann sie allen Formen des Wettkampfes etwas abgewinnen. Und mich würd´s nicht sonderlich überraschen, wenn sie Wettbewerbe sogar besser findet, weil sich Pokémon hier seltener verletzen.“

    Das wäre in seinen Augen zumindest eine plausible Erklärung. Die erste Runde, in der die Teilnehmerzahl noch unbeschränkt war, da sich wirklich jeder hierfür eintragen konnte, war eine Art Talentshow, um es etwas plump auszudrücken. Die Pokémon sollten sich mithilfe ihrer Attacken möglichst grazil, elegant oder spektakulär und in jeden Fall beeindruckend in Szene setzen. Es galt hierbei die Jury zu überzeugen und ihnen etwas für´s Auge zu bieten. Die besten acht unter ihnen trugen dann im K.O. System kämpfe gegeneinander aus, die laut Ryans beschränktem Wissen allerdings etwas anders abliefen, als er sie kannte. Soweit er wusste, gab es Punktabzüge, wenn man sich vom Gegner an der Nase rumführen ließ oder auf seine Finten hereinfiel. Ob man dabei tatsächlich einen Treffer einzustecken hatte, war zwar hilfreich, aber nicht ausschlaggebend. Passierte einem dies einige Male, war man raus. Ein kampfunfähiges Pokémon schied selbstredend sofort aus.

    Melody hatte ihren Sitz gefunden und beugte sich, kaum dass sie auf ihm Platz genommen hatte, neugierig vor, als würde es schon in einer Minute losgehen.

    „Hältst du sie echt für so pazifistisch? Ich hatte da einen anderen Eindruck.“

    Wahrscheinlich kannten sie beide, Melody aber im Besonderen, nicht einmal einen Bruchteil dessen, was Milas Vergangenheit ausmachte, was sie zu tun und auf sich zu nehmen bereit gewesen war, um ihre Garde zu führen und den brüchigen Frieden mit den Drachen zu wahren. Mit Sicherheit hatte sie einige Gräueltaten zu verantworten, doch Ryan zweifelte keine Sekunde daran, dass sie sich für jede einzelne davon selbst verfluchte. Sie hatte die Fehler ihrer Mutter einst erkannt und ließ nicht die kleinste Vermutung zu, dass sie diese wiederholen würde. Bislang zumindest.

    „Pazifistisch sicher nicht“, beteuerte Ryan und setzte sich neben den Rotschopf, legte ein Bein auf dem Knie quer und lehnte sich weit zurück.

    „Aber ich bin mir sicher, dass sie Gewalt hasst. Leider kann man die bösen Jungs nur selten mit Worten aufhalten.“

    Klang nicht unwahrscheinlich. Doch beim Gedanken an ihre Partnerin presste Melody mit einem Hauch von Unwohlsein die Lippen aufeinander.

    „Würde das doch bloß für Sheila gelten.“

    Sie hatte noch immer etwas Angst vor ihr. Zwar überzeugt, dass sich eine Drohung, wie die bei ihrer ersten Begegnung – oder das, was danach folgen könnte – nicht wiederholen würde, aber in ihrer Gegenwart konnte Melody einfach nicht entspannen. Obgleich sie das auch in ihrer Abwesenheit nicht konnte, da sie ja nie genau wusste, ob Sheila nicht doch irgendwo hinter oder über ihr mindestens ein Auge auf sie gerichtet hatte. Wenn sie mit Ryan unterwegs war, tat sie das ganz bestimmt.

    „Glaubst du wirklich, das wäre besser so?“

    Melodys Stirn legte sich in Falten und eine Braue wurde skeptisch hochgezogen. Meinte Ryan die Frage ernst? Er begann zu erklären, ohne dass sie diese Worte aussprechen musste.

    „Auch die, die Gutes tun, brauchen ein schwarzes Schaf in den eigenen Reihen. Mindestens eine Person, die bereit ist, Grenzen zu überschreiten und die Regeln zu brechen. Wer sich immer nur an die feine Art hält, kann niemals etwas bewegen.“

    Melody wunderte sich, wie akribisch präzise und fast gedankenverloren Ryan seine Meinung äußerte. Als hätte er sie sich zurechtgelegt und nur darauf gewartet, sie kund zu tun. Tatsächlich hatte er sich gerade in der letzten Woche viele Gedanken um Sheila gemacht, sich gefragt, wie das Zusammenspiel zwischen ihr und Mila überhaupt funktionieren konnte. Aber vielleicht klappte es gerade daher, weil sie so verschieden waren, sich ergänzten und somit immer den richtigen Mittelweg bei ihren Operationen fanden. Aber möglicherweise maß er sich auch zu viel an. Er hatte von beiden zu wenig Ahnung für so viel Meinung.

    Der junge Trainer registrierte ihren Seitenblick und schmunzelte sie leicht an, versuchte die Situation etwas zu lockern. Sie waren schließlich hergekommen, um wenigstens kurzweilig mal abzuschalten. Er sollte das Thema besser bald wechseln.

    „Manchmal muss man sich eben die Hände schmutzig machen, verstehst du?“

    Nun lehnte sich auch Melody zurück, schien nachdenklich zu werden, doch ihre Mundwinkel wanderten nach oben, als hätte sie etwas durchschaut.

    „Siehst du dich selbst denn in dieser Rolle?“

    Ein sehr kurzes, trockenes Auflachen, gefolgt von Kopfschütteln. Das Lächeln wirkte ein bisschen gezwungen und er selbst nicht annähernd so locker und befreit, wie er sich geben wollte.

    „Ich wollte nie so sein.“

    Da war Melody wohl auf eine Landmine getreten. Auf eine recht offensichtliche, wie sie schon in diesem Moment realisierte. Ryan hatte viel bereut, seit Mila sie direkt zu ihm geführt hatte und würde sich vermutlich einen Finger abschneiden, um so manches ungeschehen zu machen. Einen solch uneigennützigen Tatendrang zu unterstellen, wäre einfach nur dumm.

    Das unangenehme Gespräch wurde – auch durch die zunehmende Anzahl an Menschen in ihrem Umfeld – rasch beendet und Ryan hatte sich für einen Moment entschuldigt, um ritterlich mit Erfrischungen für sie beide zurückzukehren. Er gab sein Bestes, um sich unberührt zu geben und Melody erwiderte das dankend. Natürlich konnte man dieses Thema nicht so leicht begraben, aber beide gaben ihr Bestes, um den Schein zu wahren, dass sie es geschafft hätten.

    Allgemein fühlte es sich aber gut an, wieder Zeit mit ihr zu verbringen und gab ihm zudem die Gewissheit, dass ihre Verabredung von neulich kein Einzelfall gewesen war. Sie konnten wirklich zusammen sein.

    Melody nahm mit einem dankenden Nicken den Plastikbecher entgegen und widmete ihre Aufmerksamkeit der Videoleinwand über dem Tunnel, welche im Moment noch einige Werbespots zeigte. Einer davon bewarb den bald beginnenden Summer Clash und ihr Lächeln wurde mit einem Seitenblick auf Ryan wieder sehr breit. Seine Augen hafteten am Bildschirm, wie Magnetilo aneinander, doch der Ausdruck in seinem Gesicht war nicht etwa der eines begeisterten Kindes. Voller Vorfreude, definitiv, doch primär las sie in seinen marineblauen Augen die pure Entschlossenheit. Es flackerte ein kaum sichtbares Feuer darin und genau diese Tatsache – dass Ryan trotz ihrer großen Misere seine Leidenschaft nicht verloren hatte –, erfreute sie unermesslich. Wenn sie so darüber nachdachte, gab es wohl kein Wort, mit dem man diesen jungen Trainer besser beschreibend könnte, als Leidenschaft.

    Während die beiden in doch eher unbedeutenden Small Talk über gingen, füllten sich die Plätze weiter und weiter. Die Fremden Gesichter, die sich auch bald neben dem Pärchen niederließen, wurden ohne Weiteres ignoriert, doch ohne Zweifel hatte der ein oder andere Ryan als Prominenten aus der Trainerszene erkannt. Er registrierte mehrere Menschen, die eifrig in seine Richtung sahen, versuchten einen Blick zu erhaschen, der alle Zweifel beseitigte, ob er es denn wirklich Ryan Carparso war, der dort saß. Manch einer hielt sogar die eigene Begleitung am Arm und deutete in seine Richtung. Und diese Aufmerksamkeit entging auch Melody nicht.

    „Du bist ja richtig berühmt hier“, stellte sie mit einem verschmitzten Lächeln fest, sah sich sporadisch um, auf der Suche nach weiteren Schaulustigen. Jene, die sie erspähte, eilten sich weiterzukommen. Fand sie diese Tatsache jetzt belustigend? Oder anderweitig erheiternd? Ryan hätte nicht unbedingt darauf gewettet, dass sie so empfand, aber er sollte sich wohl eher glücklich schätzen, dass es ihr nicht auf die Nerven ging.

    „Das ist jetzt nichts Neues für mich“, meinte er schulterzuckend.

    „Die Bescheidenheit in Person. Hut ab.“

    Ryan verdrehte die Augen, lachte dabei aber herzlich. Oh, diese Sticheleien von Melody waren wie immer scharf und wunderschön gemein.

    „Du weißt, was ich meine.“

    Das tat sie sehr wohl. So gut kannte sie Ryan, dass er zeitweise diese Aufmerksamkeit genoss, sie aber in Situationen, in denen er nicht im Mittelpunkt stehen wollte, ausblendete. So gut es ging zumindest. Was sie nicht wusste, war wie gut er seinen Ärger verschleiern konnte, wenn er diese Blicke einmal überhaupt nicht gebrauchen konnte, so wie jetzt. In dieser Menschenmasse von Zweisamkeit zu träumen, wäre idiotisch, aber im Zentrum selbiger zu gesehen zu werden, war ihm doch zu viel.

    Melody suchte wieder seinen Augenkontakt, lehnte sich leicht vor und flüsterte gerade nur so laut, dass bloß Ryan sie verstehen konnte.

    „Die munkeln wahrscheinlich, seit wann du so eine hübsche Freundin hast.“

    Sie grinste dabei über beide Ohren und hatte die Augen stechend verengt. Ryan dagegen zog eine Braue hoch.

    „Hab ich die?“

    Es war, als würde für einige Sekunden, die sich mindestens wie eine Stunde anfühlten, der gesamte Saal im Schweigen gehüllt und alles um sie herum und dunkles Grau getaucht.

    Keine von ihnen hatte es jemals ausgesprochen, doch wussten beide, dass sie ein Paar werden wollten. Allerdings gab es da neben dem Kampf gegen Team Rocket und dem bevorstehenden Krieg der Drachen, den es zu verhindern galt, noch ein kleines und doch unfassbar schwerwiegendes Argument, das sie davon abhielt. Sie kannten einander viel zu wenig. Es fühlte sich oft an, als sei ihre erste Begegnung schon Jahre her und sie unheimlich vertraut miteinander. Doch das war lediglich Einbildung, ein Trugschluss, entstanden aus den jüngsten Gefühlen. Sie waren sich nahe, aber im Grunde weit entfernt von dem, wo sie gemeinsam stehen wollten.

    Es wurde Ryan und Melody keine Zeit gelassen, das Thema zu vertiefen. Denn genau wie in ihrer phantasierten Wahrnehmung verdunkelte sich plötzlich der Saal und ein paar grelle Suchscheinwerfer schwankten scheinbar ziellos über die Bühne. Das Publikum wurde laut, euphorisch, dezente Jubelrufe erklangen.

    Ryan blickte kurz durch die Halle und lächelte Melody dann entschuldigend an. Das war bei weitem kein Thema für diesen Ort und diesen Moment.

    „Tschuldige. Ein andern mal“, meinte er knapp, doch seine Augen, die trotz der spärlichen Beleuchtung marineblau zu schimmern schienen, wirkten bedrückt und unschlüssig.

    Im Stillen einigten sich beide darauf, sich so gut es ging von der Show ablenken zu lassen, um diesen kurzen Moment zu vergessen. Eine weibliche Stimme erklang durch die Lautsprecher, strahlte Souveränität und Routine aus, als sie die Zuschauer willkommen hieß.

    „Werte Damen, werte Herren, Fans des Koordinatoren Sports. Wir begrüßen Sie recht herzlich zu unserem heutigen Wettbewerb in Graphitport City.“

    Sie betonte jedes einzelne Wort ein bisschen lauter uns länger als das vorherige, kündigte scheinbar das größte Event des Jahres an und war selbst vor lauter Vorfreude gar nicht zu bremsen. Naja, nicht weniger stand wohl in ihrer Jobbeschreibung. Dem Löwenanteil der Zuschauer war das aber bereits genug, um der Dame mit schallendem Applaus sowie weiteren Freudenrufen zu antworten.

    Während die Suchscheinwerfer nun endlich zum Stillstand kamen und die Ansagerin beleuchteten, sah sich Ryan etwas in der Menge um. Er blendete fast völlig aus, wie sie sich dem Publikum als Miriam vorstellte, nebenbei ein paar Worte über die ach so schöne Hauptstadt verlor und schließlich die einzelnen Jurymitglieder aufrief. Ryan interessierte sich nicht wirklich für sie, umso mehr aber war er positiv überrascht von dem Lärmpegel der Zuschauer. Er hatte eher ein ruhigeres, entspanntes Publikum erwartet. Warum? Vermutlich, weil er Koordinatoren nicht ganz so emotional und energetisch einschätzte wie Trainer und es wäre in diesem Fall naheliegend gewesen, wenn die Fans genauso drauf sind. Doch hier brodelte es ordentlich auf den Rängen. Ein Umstand, den Ryan durchaus willkommen hieß.

    Während sein Blick so über die Tribünen schweifte, war ihm, als hätte er etwas aufblitzen sehen. Er stoppte, hatte den Kopf so weit von der Bühne weg, wie nur möglich geneigt. Ihm wurde keinerlei Beachtung mehr geschenkt. Die Aufmerksamkeit von ausnahmslos jeder Person galt nur der Moderatorin, die jeden von ihnen weiter befeuerte.

    Ryan schüttelte das Gefühl rasch ab. Was sollte da schon gewesen sein? Ein Blitzlicht von einer Foto- oder Handykamera wahrscheinlich. Oder ein paar große Ohrringe von einem der weiblichen Besucher, die das Licht der Strahler reflektiert hatten. Konnte ja nichts Besonderes gewesen sein.

    Scheinbar wurden gerade noch einmal grob die Regeln und Abläufe eines Wettbewerbes erklärt. Dass man so etwas tat, bedeutete wohl, dass es oft, wenn nicht immer Zuschauer gab, die mit den Abläufen nicht vertraut waren. Noch ein Anlass für Ryan, die Wettbewerbe als unpopulärer einzustufen, als die von ihm ausgetragenen Arenakämpfe und Turniere.

    „In der ersten Runde dürfen uns die Teilnehmer die Schönheit und Anmut ihrer Pokémon präsentieren und müssen die Jury von ihrem Talent und Geschick überzeugen.“
    Das deckte sich ziemlich genau mit dem, was Ryan und Melody vermutet hatten. Letztere hing offenbar ähnlich gefesselt an Miriams Worten, wie der Rest.

    „In den anschließenden Kämpfen, die nach dem K.O. System ablaufen, gilt es dann wahres Können und Stärke zu beweisen…“

    Sie lehnte sich nach vorne und blickte verschmitzt in eine der Kameras, was ihr doch arg geschminktes Gesicht übergroß auf der Leinwand präsentierte.

    „…, aber dabei niemals an Eleganz einzubüßen“, meinte sie mit einem Zwinkern. Die Erklärung half Erstbesuchern herzlich wenig. Bekam man nach dem Kampf etwa eine Note für die Performance, wie in Runde eins? Naja, einfach mal abwarten und alles auf sich zukommen lassen, dachte der junge Trainer.

    Nach einer weiteren Minute, in der Miriam die Fans anheizte, ließ sie dann endlich den Start verlauten.

    „Nun, genug der Worte. Es wird Zeit, die Bühne zu räumen. Wir begrüßen unseren ersten Teilnehmer.“

    Flackernde, bunte Lichteffekte muteten leicht an eine Diskothek an, während mehrere Scheinwerfer auf den Tunnel unter dem Bildschirm gerichtet wurden. Der Vorhang wurde von einer Frau, vermutlich Ende zwanzig durchtreten, die sich in ein violettes Ballkleid geworfen hatte. Hierauf meinte Ryan sich zu erinnern, dass mal der Trend aus Sinnoh, sich bei diesen Wettbewerben vornehm in Schale zu schmeißen, weitestgehend von der Szene übernommen worden war. Pflicht war das seines Wissens aber nicht. Wäre auch Schwachsinn, da schließlich die Pokémon bewertet wurden und nicht die Koordinatoren.

    Seine Gedankengänge hatten Ryan die kurzweilige Vorstellung der Person, sprich Name, Herkunft und Werdegang, vollkommen an sich vorbeiziehen lassen. Seine Aufmerksamkeit galt ihr erst wieder, als sie das erhellte Winken in alle Richtungen samt zuckersüßem Lächeln sein ließ und mit einer tänzerisch anmutenden Geste einen Pokéball in die Luft schleuderte. Mit ähnlichen Akzenten trat auch das Wesen daraus hervor, was dem Trainer ein Rümpfen seiner Nase entlockte. Er sah durchaus ein, dass das zur Show gehörte, aber musste man es so auf die Spitze treiben? Wie das Pokémon aus seiner Kapsel trat, konnte wohl kaum großartig in die Endbewertung einfließen, oder? Die Zuschauer um ihn herum hätten jedoch kaum gegensätzlicher reagieren können, denn noch bevor irgendetwas passiert war, ging ein bewunderndes Raunen durch die Masse. Der typische Lichtschein, aus dem sich das Wesen materialisierte, wurde nämlich begleitet von funkelnden Effekten, wie Neuschnee, der im Mondschein glitzerte. Ryan kam nicht umher, sich zu fragen, wie man so etwas denn anstellte.

    Schließlich baute sich eine Gestalt von etwa eineinhalb Meter Größe in einer Art rotem Kleid auf. Es war sehr humanoid, besaß sehr viele menschliche Züge, die eigentlich nur von der etwas zu plumpen Körperform sowie der violetten Haut gestört wurden.

    Ein Rossana sah man nun auch nicht alle Tage, so viel musste man in jedem Fall eingestehen.

    Die Koordinatorin strich sich mit einer auffälligen Bewegung ein paar Strähnen ihres Schulterlangen, glatten Haares hinters Ohr und befahl Weißnebel. Es war ein leicht faszinierender Anblick, die Entstehung eines Nebels einmal zu sehen und beobachten zu können. Unter natürlichen Voraussetzungen dauerte der Vorgang einfach zu lange, als dass man ihn wirklich erkennen konnte. Das Publikum wartete indessen gespannt, was denn damit den Nebelschwaden bewirkt werden sollte.

    „Eissturm“, lautete die nächste Anordnung, wobei wieder ein Tanzschritt erfolgte, den Rossana eins zu eins imitierte und schließlich in eine 360 Grad Drehung über ging. Es knisterte leise in der Luft. Rossana senkte die Temperaturen ihres direkten Umfeldes – aber dankenswerter Weise nicht die Tribüne – auf weit unter null Grad, sodass sich kleine Eiskristalle in der Luft bildeten. Zunächst wurden sie im Wind wild umher gewirbelt, doch als das Wort Psychokinese fiel, gehorchten sie sogleich dem Willen Rossanas. Die kleinen Splitter wuchsen weiter und nahmen die Form von übergroßen Schneeflocken an, die bald in kunstvollen Kreisen ihre Bahnen um das Duo auf der Bühne zogen. Mehrere Ringformationen von verschiedener Größe türmten sich über dem Pokémon auf wie Schichten einer Hochzeitstorte und funkelten im Schein der Bühnenlichter. Je höher das Gebilde wuchs, desto lauter jubelten die Zuschauer und auch Melody applaudierte begeistert.

    Die Vorstellung wurde schließlich zum Abschluss gebracht, indem das Konstrukt mit den Psychokräften auseinander gestoßen wurde und in Sekunden verschwunden war. Einzig ein Hauch des vorangegangenen Glitzers regnete sanft auf Koordiatorin und Pokémon herab, Es brach Jubel aus, als hätte sie gerade einen Kampf gewonnen. Ryan ertappte sich dabei, wie er anerkennend nickte, doch noch bevor er sich eine fertige Meinung zu dem Auftritt gebildet hatte, fiel ihn Melody von der Seite an.

    „Wie cool war das denn? Ich hab noch nie gesehen, dass man Attacken so einsetzen kann.“

    Zugegeben, es gehörte schon mehr dazu, die Techniken so zu koordinieren, anstatt sie einfach auf einen Gegner zu schleudern. Doch er hatte jetzt nichts gesehen, dass er nicht vorher schon für machbar gehalten hätte.

    Er rang ein bisschen nach den richtigen Worten, um seine Meinung zu äußern. Langweilig war das sicher nicht gewesen, aber für ihn persönlich auch nicht super spannend. Und diese sich in Grenzen haltende Begeisterung war ihm offenbar anzusehen.

    „Jetzt sag nicht, du fandest das öde“, warnte sie bereits.

    „Das sicher nicht“, beteuerte Ryan sofort, suchte gleichzeitig noch nach den richtigen Worten.

    „Wie soll ich sagen? War auf jeden Fall schön anzusehen…“

    Er hatte gesprochen, als wolle er noch etwas Negatives äußern und Melody wartete nur darauf, dass er es tat.

    „Aber?“

    Er schürzte nachdenklich die Lippen und entschied dann, dass er einfach das erste aussprechen sollte, das ihm in den Sinn kam. Obgleich es eigentlich etwas zu plump und außerdem so klang, als wolle er sich gar nicht begeistern lassen.

    „Vom Hocker hat´s mich nicht gerissen.“

    Sie lachte trocken auf und ließ sich wieder in ihren Sitz fallen.

    „Mann, bist du anspruchsvoll.“

    „Ich fand das immer wertvoll an mir“, konnte er das seinerseits mit einem Lachen abtun. Währenddessen sprach Miriam einige begeisterte Worte über die Darbietung und rief das Publikum zu einem letzten Applaus auf, unter dem die Teilnehmerin schließlich kehrt machte und im Tunnel verschwand.

    Während der folgenden Vorführungen steigerte sich Ryans Begeisterung für Wettbewerbe nicht unbedingt. Er sah durchaus interessante und kreative Kunststücke, doch dann sah er auch wiederum welche, die ihm das Gefühl gaben, im Zirkus zu sitzen. Die Pokémon, die hier auftraten, wurden zwar wohl kaum zum Mitmachen gezwungen und einige schienen selbst Spaß beim Auftreten zu haben, doch Ryan schlug es dennoch bitter auf, dass diese großartigen Geschöpfe ins Showbusiness gedrängt wurden. Das Kämpfen lag in der Natur eines Jeden unter ihnen, ganz gleich, welcher Rasse sie angehörten. Aber das hier? Mit gutem Willen konnte er das hier als Talentwettbewerb anerkennen.

    Ryan behielt durchaus im Hinterkopf, die Leistung der Teilnehmer und Pokémon nicht zu schmälern oder kleinzudenken – aber er hatte sich einfach etwas Anderes von diesen Veranstaltungen versprochen. Naja, dann kam es eben so, wie von vornherein befürchtet. Er hatte dem einmal beigewohnt und wusste jetzt, dass er nie etwas Besonderes verpasst hatte. So dachte er und nahm einen tiefen Schluck, der seinen Becher leerte.

    Währenddessen betrat ein schlanker Mann in Frack und mit Zylinder die Bühne, der als Jordon Hendricks vorgestellt wurde und mit seinem Partner – einem Pantimos – gemeinsam erschien, anstatt es mit viel Licht und Glitzer aus seinem Ball zu entlassen, wie alle seine Vorgänger.

    „Ein eigenwilliger und definitiv seltener Auftakt. Ob Jordon damit bei der Jury punkten kann?“

    Ryan hatte noch immer keinen blassen, aus wem besagte Jury überhaupt bestand. Es wurde nie ein weiteres Mal ihre Namen genannt und zu hören bekam man von ihnen ebenfalls nichts, um nicht möglicherweise die Entscheidung, wer die nächste Runde erreichte, vorwegzunehmen. Auch erkennen konnte Ryan keinen von ihnen, da ihr Pult ebenso verdunkelt war, wie die Ränge.

    Hendricks und Pantimos gingen noch etwas weiter, als andere Teilnehmer mit ihren Tänzen und synchronisierten Bewegungsabläufen. Diese beiden hier machten gar ein Schauspiel daraus. Sie blickten sich um, als wüssten sie nicht, wo sie sind und was hier passierte. Das Psychopokémon machte unsichere, aber doch neugierige Schritte nach vorne ins Zentrum des Scheinwerferlichts. Dann streckte sein Trainer den Arm nach vorne, als würde er irgendetwas von jemandem erbetteln und befahl mit unglaublich weicher Stimme, Barriere einzusetzen. Die Hände von Pantimos legten sich vor seinem Gesicht übereinander, ehe es die Ränder von unsichtbaren Wänden nachzufahren schien. Was würde das denn werden? Die Zuschauer und vor allem die Jury mussten schon etwas sehen, das sie beurteilen konnten.

    Wie für diese Gattung so üblich und bekannt, tastete Pantimos sein Umfeld ab und machte bald Anstalten, die Wände verschieben zu wollen, was jedoch zum Scheitern verurteilt schien.

    „Sondersensor“, lautete der nächste Befehl.

    Das Pokémon, das sich zunächst resignierend und ratlos umgeschaut hatte, legte die Hände ein weiteres Mal zusammen. In ihnen leuchtete ein kleiner Lichtpunkt auf. Er war schwach, erhellte sein Umfeld keineswegs. Doch selbst um diffusen Licht erkannte man die purpurfarbenen Energiewellen, die er in einem gleichmäßigen Rhythmus ausstieß. Für gewöhnlich richteten sich diese Wellen im Kampf gegen ein anderes Pokémon und versetzten ihm einen Energiestoß, der die meisten durch die Gegend zu schleudern vermochte. Hier jedoch wirkten sie deutlich subtiler und außerdem nicht auf einen Punkt, sondern die gesamte Umgebung konzentriert.

    Ryan lehnte sich neugierig vor. Er hatte gar nicht gewusst, dass ein Pokémon Sondersensor derart beeinflussen und lenken konnte. Was jedoch wichtiger war – die bislang unsichtbaren Barrieren fingen die kaum sichtbaren Wellen auf, woraufhin ihre Ränder im mythischen Blau erstrahlten. Auch das war interessant. Barriere war eine trickreiche Technik, da nur der Anwender wissen konnte, wo sie sich genau befand. Er hätte nicht gedacht, dass man sie mit einer einfachen Psycho Attacke sichtbar machen kann.

    Und nun begann wohl das eigentliche Schauspiel. Pantimos blickte sich ein weiteres Mal in gespielter Verwirrung um, als die leuchtenden Wände langsam auseinanderstoben. Beinahe wirkte es, als seien sie nicht nur schwerelos, sondern frei von jeglichem Einfluss der Pantomime und schwebten langsam, wie Mantax im Wasser, davon.

    Doch plötzlich richtete sich eine davon neu aus. Ein Ende zielte präzise nach Pantimos und schoss dann pfeilschnell auf es zu. Mit einem gewagten Hechten zur Seite sowie einer geschickten Rolle konnte es dem entgehen, doch da schnellte schon die nächste auf es zu. Diesmal entkam es mit einem Rückwärtssalto.

    Jedes Mal, wenn eine schimmernde Energiewand auf das Pokémon zu schoss, raunte es in der Menge und Ryan stellte fest, dass er sich dem zum ersten Mal anschloss. Pantimos wollte hier nicht etwa seine geschickten Manöver oder Körperbeherrschung demonstrieren. Schließlich lenkte es die Barriere selber und konnte genau steuern, wohin sie fliegen würden. Doch es erschuf die Illusion, dass es nach außen hin so wirkte, als sein es wirklich in die Enge getrieben und kämpfte hier gegen einen unsichtbaren Feind.

    Da schien es auf einmal genug vom Ausweichen und Wegrennen zu haben. Eine Hand ballte sich zur Faust und prallte mit der Energiewand zusammen. Pantimos schlug bloß nach Luft. Es gab keinen Einschlag und folglich kein Geräusch, kein Splittern, gar nichts. Doch der Zuschauer beobachtete deutlich, wie die Barriere in dutzende, kleine Scherben zersprang und dann wieder langsam, träge und schwerelos durch den Raum zu schweben begann. Einige davon erreichten die vorderen Reihen der Tribüne, doch als die Menschen danach zu greifen versuchten, lösten sie sich mit einem schwachen, bläulichen Funkeln auf.

    Pantimos fühlte die nächste Wand auf seinen Rücken zielen. Natürlich, es lenkte sie ja selbst. Mit einer Drehung auf dem Fußabsatz wich es aus uns ging flüssig in einen Schlag mit der Handkante über, der die Wand in der Mitte spaltete und weitere, leuchtende Scherben in der Luft zerstreute. Der nächsten ging das Psychopokémon sogar einen Schritt entgegen und ließ sie an seinem Handballen zerschellen. Das Spiel ging noch einige Sekunden so weiter, in der Pantimons jedoch mehr und mehr überfordert schien, da es kein Ende nehmen wollte. Und als es dann für einen Moment doch so schien, als seien alle Energiewände zerschlagen worden, blickte es sich skeptisch um. Nur einen Atemzug später schien die Zeit zurückgespult zu werden und die aber dutzenden Splitter in der Luft nahmen nicht nur wie durch Zauberhand wieder ihre ursprüngliche Form ein, sondern bildeten ein geschlossenes Gefängnis um Pantimons herum. Es mimte das Opfer in der Falle, sah sich nervös um und hämmerte schließlich gegen die Wand, die plötzlich hell aufzuleuchten begann, sodass bald nur noch die Silhouette des Pokémons zu sehen war. Aufgeregtes Raunen durchzog vereinzelt die Massen und alle Augen, selbst die marineblauen von Ryan, hatten scheinbar alles um sie herum ausgeblendet.

    „Teleport“, erschallte es urplötzlich mit der weichen Stimme von Hendricks im Hintergrund. Nur eine Sekunde später zersprang das leuchtende Gefängnis, diesmal mit einem lauten Knall, wieder in Scherben. Doch von Pantimos fehlte jede Spur. Allerdings nur, bis ein einzelner Suchscheinwerfer den bis dato im verdunkelten Hintergrund gebliebenen Koordinator erfasste, der eine ausholende Bewegung vollführte. Pantimos stand genau neben ihm und imitierte diese. Gemeinsam gingen sie in eine Verbeugung über.

    Jubel entbrannte und ohne es im ersten Moment zu realisieren, klatschte auch Ryan durchaus etwas euphorisch in die Hände. Er lehnte sich lächelnd in seinen Sitz zurück und suchte den Blick Melodys, die gar zwei Finger in den Mund nahm, um laut zu pfeifen. Man konnte es dem Publikum ohne weiteres entnehmen, dass Jordon Hendricks bislang eindeutig die beste Show abgeliefert hatte und die Jury bestätigte das rasch. 27 von 30 möglichen Punkten las man an deren Pult.

    Miriam stimmte geradezu frohlockend ein.

    „Wow, wow und noch einmal wow. Eine derart kreative Darbietung mit schauspielerischer Untermalung habe ich lange nicht gesehen. Meine Damen und Herren, Jordon Hendricks und Pantimos – ich darf um Applaus bitten!“

    Dieser hatte noch nicht einmal nachgelassen, doch die Menge legte noch eine Schippe drauf. Das waren schon eher Reaktionen und vor allem Auftritte, die Ryan sich erhofft hatte. Pantimos hatte ihnen allen einen stummen, dramatischen Thriller vorgespielt und dabei wahnsinnige Beherrschung von Körper und Geist gleichzeitig demonstriert. Er war sehr neugierig, wie lange es gedauert hatte, diese Techniken zu erlernen und derart zu perfektionieren. Und auch die von Miriam angepriesene Kreativität verdiente durchaus Achtung.

    Plötzlich spürte Ryan einen geradezu krampfhaft festen Griff an seiner Schulter. Melody stand mit weit offenem Mund und ebenso weit aufgerissenen Augen da und krallte sich in seine Jacke.

    „Mir schlägt das Herz bis zum Hals“, ließ sie ihn wissen. Diesmal pflichtete er jedem ihrer Worte bei.


    Die beiden darauffolgenden Darbietungen vermochten weder das Publikum im Allgemeinen, noch Melody und vor allem Ryan im Besonderen wirklich beeindrucken. Nach dem Auftritt von Hendricks und Pantimos konnte man aber auch fast nur noch abstinken. Sei´s drum, es galt ja bloß noch einen letzten Kandidaten zu ertragen, bevor man sich den Kämpfen widmen konnte. Da die ja etwas anders abliefen, konnte sich Ryan einer gewissen Skepsis nicht entziehen, doch nachdem er hier bis auf wenige Ausnahmen im Großen und Ganzen betrachtet eher schlecht unterhalten worden war, würde nur ein bisschen Action bereits genug sein, um seine Laune zu heben. Das war ein bisschen, als bekäme man ein zähes Steak vorgesetzt, nachdem man sich tagelang nur von Trockenbrot ernährt hatte.

    Miriam, die ihrer Verzückung scheinbar kaum entkommen konnte, kündigte besagten letzten Teilnehmer bereits an. Der junge Trainer fragte sich, ob sie das jedes Mal bloß spielte oder wirklich so begeistert war.

    „…also halten sie sich für ein letztes Mal in unserer ersten Runde gut fest und begrüßen sie mit einem mächtigen Applaus Mila Montéra!“

    Ryan und Melody blinzelten für einen Moment, als hätte man ihnen gerade etwas Unglaubliches, geradezu Wahnwitziges erzählt und sie sich selbst dabei erwischt, wie sie es beinahe doch für voll genommen hätten. Das sollte auch nicht allzu überraschend sein, wenn sie hier, bei einem öffentlichen Wettbewerb unverhofft den Namen Mila hörten. Dennoch war es etwas peinlich und Ryan fuhr sich gleich mit der Hand über die Stirn. Aber es wäre schließlich undenkbar, dass die Drachenpriesterin hier als Teilnehmerin auftauchte. Der Name war zwar nicht allzu sehr verbreitet, doch sicher ließen sich in ganz Hoenn mindestens ein paar Dutzend Frauen mit diesem…

    „Ich glaub ich träume“, murmelte Melody konsterniert. Als Ryan aufsah, war er ziemlich sicher, seinen eigenen Augen selten mehr misstraut zu haben, als in diesem Moment. Sie war es!

    Ein Mensch hätte – aus welchem Grund auch immer – die eleganten Stiefel, den schwarzen Mantel mit dem weinroten Innenfutter und selbst den langen Handschuh am rechten Arm zwar kopieren können. Aber nicht die golden glänzende Haarpracht, die wie ein sanfter Schleier hinter ihr her schwang und den Hüftschwung ihres erhabenen Ganges nachahmte. Kaum war sie in der Mitte der Bühne angekommen, suchten ihre himmelblauen Augen nach ihren beiden. Wobei von einer wirklichen Suche nicht die Rede sein konnte. Es war eher so, dass sie die beiden sofort gefunden hatte und ihnen dieses Lächeln schenkte, das Ryan in der Frühphase ihrer Bekanntschaft so gehasst hatte. Und ja, jetzt gerade wollte es ihm auch nicht gefallen. Er fühlte sich nämlich ein bisschen verhöhnt, da er meinte, sie genieße ihre fassungslosen Blicke. Dabei wusste er genau, dass so etwas unter ihrem Niveau und generell nicht ihre Art war.

    „Die Frau hat sie doch nicht mehr alle“, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, sodass ihn selbst Melody nur geradeso hören konnte. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte, dieses törichte – er lieh sich eines von Sheilas Lieblingswörtern hier sehr bewusst aus – Handeln zu kritisieren. Sicher konnte man jetzt argumentieren, dass es nirgends so sicher war, wie auf einer Bühne mit tausenden Augenpaaren auf sich ruhend, sodass niemand unbemerkt an sie herankommen könnte. Doch so viel verstand selbst Ryan von Attentaten, dass er solche Leute als leichtsinnige Idioten abstempeln konnte. Eben weil alle Augen gerade Mila fixierten wäre es ein Leichtes, von irgendeinem Punkt fern der Aufmerksamkeit aus, auf sie zu zielen. Ryan hatte selbst schon bezeugen müssen, dass manche Mitglieder von Team Rocket Schusswaffen trugen. Unter dem Hallendach war es sehr dunkel und warum sollte irgendein Zuschauer nach oben sehen?

    Doch so dumm und fahrlässig Ryan ihr Auftreten beurteilte, konnte er sich eines bestimmten Gefühls nicht erwehren. Es war da, obwohl er sich vehement dagegen auszusprechen versuchte, sich überzeugen wollte, dass seine erste Meinung dazu die einzig korrekte war. Doch tatsächlich musste er gestehen, dass Mila bislang nie etwas Unüberlegtes getan hatte oder unnötige Risiken eingegangen war. Zumindest nicht soweit er wusste. Er schätzte kurz ein, wie hoch die Chance war, dass Team Rocket ausgerechnet hier einen Angriff auf sie wagen würde, sowie die Chance, dass Sheila hier ungesehen untertauchen und doch rechtzeitig eingreifen konnte. Sein Kopf drehte sich und er inspizierte aus dem Augenwinkel die oberen Ränge. Hatte da war gefunkelt? Etwas Helles, fast Leuchtendes? Moment. Hatte er das nicht vorhin schon einmal gedacht?

    Das Licht erlosch. Mit einem Mal war es finster im Saal. Ryan erschrak ein wenig und befürchtete schon, jetzt würde ein Angriff folgen. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass nichts dergleichen geschah. Mila begann bloß mit ihrer Vorführung. Ein wenig verärgert über das beschissene Timing biss sich Ryan auf die Unterlippe und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Unter diffusen Lichtverhältnissen würde er nichts und niemanden ausmachen können. Doch er war nun fast sicher, dass jemand hier nicht wegen des Wettbewerbes gekommen war.

    Dunkelblaue und violette Lichtstrahlen zogen über der Bühne ihre Kreise und bestrahlten künstlich erschaffenen Nebel. Abwechselnd ließen die mythisch, fast gespenstisch anmutenden Lichter eine menschliche Silhouette in ihm erscheinen. Die Stimmung war plötzlich eine ganz andere. Es war, als stünde ein grausiges Ereignis bevor und keiner wagte, als erster einen Mucks zu machen. Alle hielten den Atem an. Mit zwei festen Schritten trat Mila schließlich aus dem Nebel hervor, ließ den Kopf etwas hängen, sodass ihr Haar das Gesicht verbarg und ließ ihren Mantel ungewohnt lasch über ihren Schultern hängen. Noch hatte sich kein Pokémon zu ihr auf die Bühne gesellt. Ryan konnte seine Neugier, womit sie denn hier antreten würde, kaum in Worte fassen. Besaß sie denn überhaupt ein Pokémon? Im Sinne von: mit einem Pokéball gefangen? Ryan wusste bislang nur von ein paar Exemplaren, die sie Freunde nannte, allerdings in freier Wildbahn lebten und gehen konnten, wohin sie wollten.

    Nun passierte etwas. Mila ließ ihr Haupt einmal kreisen, bis ihr Kopf im Nacken lag und dehnte zusätzlich den Rücken weit zurück. Gleichzeitig wanderte ein Arm nach oben, bis er kerzengerade in die Luft zeigte und ihre Hand nach etwas Unsichtbaren zu greifen schien. Ein verräterisches Zappeln ihres Ärmels ließ bereits erahnen, was sie sich für diesen Auftritt ausgedacht hatte. Ein kleines, schwarzes Etwas entschlüpfte Mila´s Mantel und flog flink ihren Arm wie an einer Spiraltreppe herunter, ehe es für einen kurzen Augenblick hinter ihr verschwand und sich über ihrem Kopf endlich dem Publikum zeigte. Es war das Zwirrlicht, das Ryan bei ihrer ersten Begegnung gesehen hatte. Ein Handballgroßer Geist mit schwarzem Zipfel und einer Totenkopfmaske, in deren Höhlen blutrote Augen glühten.

    Vermutlich war dies nicht ganz, was sich viele der Zuschauer bei dieser aufgebauten Atmosphäre erwartet hatten, doch nach wie vor machte niemand einen Ton. Selbst Miriam hielt kompromisslos den Schnabel und ihre Augen hafteten nicht weniger eisern an dem Geschehen auf der Bühne.

    Der Nebel hatte sich mittlerweile bis über die vorderen Sitzreihen ausgebreitet, war jedoch nicht so dicht, dass er den Blick der dort platzierten Fans behinderte. Mila sagte kein Wort. Ihr einziger Befehl äußerte sich in einer simplen Geste. Mit einer weit ausholenden Handbewegung bedeutete sie ihrem Partner eine Richtung, nämlich geradewegs ins Zentrum der Menschenmassen vor ihnen. Ein alarmiertes Raunen ging durch ihre Reihen, als Zwirrlicht plötzlich im Nebel untertauchte, wodurch nur noch ein dunkler Schatten seine Position mutmaßen ließ. Der schien sich auf einmal zu duplizieren. Erst drei, dann fünf… und dann wurden sie auch noch größer!

    Wahrscheinlich reagierten in den folgenden Sekunden alle Zuschauer gleich – ein skeptisches Runzeln der Stirn, auf welches bis auf´s Äußerste geweitete Augen folgten, da die Schatten wie Tohaido aus dem Wasser die Oberfläche durchbrachen. Jeder von ihnen imitierte schemenhaft die Gestalt von Zwirrlicht und öffnete das Maul unrealistisch weit, als wollten sie dutzende Menschen auf einmal verschlingen. Tatsächlich fielen die allermeisten unter ihnen auf die geisterhafte Illusion herein, da – besonders unter der weiblichen Besucherschaft – teils lautes Gekreische ertönte. Doch die Schatten-Zwirrlichts verpufften wie der Nebel, dem sie entstiegen waren und von dem kleinen Geisterpokémon war nichts zu sehen. Für einen Moment jedenfalls. Die meisten hatten es wohl erst spät bemerkt, dass sich in besagtem Nebel die markante Totenkopfmaskeauf dem Boden abbildete. Jedoch erkannte sie wirklich erst dann jeder einzelne, als der Nebel an zwei Punkten auseinander stob, quasi die Augenhöhlen bildete und in jenen zwei helle, bläuliche und nicht etwa rote, Flämmchen aufflackerten. War das Irrlicht?

    Im Hintergrund erkannte Ryan wirklich nur geradeso und nebenbei, wie Mila erneut mit den Händen gestikulierte, während ihre Augen nach wie vor verdeckt waren. Ihre Hände deuteten etwas an, als greife sie vorsichtig mit je zwei Fingern nach etwas Kleinem und werfe es in die Luft. Daraufhin lösten sich die Irrlichter plötzlich aus den Höhlen und stiegen, flott umeinander kreisend in die Höhe. Waren da Stimmen? Tatsächlich!

    Von dem visuellen Schauspiel ganz und gar eingenommen hatte Ryan sie wahrscheinlich nicht gleich bemerkt und auch wenn er das nicht mit Sicherheit wissen konnte, war er bestimmt nicht der Einzige. Es klang wie ein kindisches, aber doch irgendwie boshaftes Kichern und sowie es unüberhörbar geworden war, zeichneten sich gespenstische Mimiken in den Flammen ab. Zunächst schienen sie nur einander zu beachten, ehe sie sich dann doch, mit einer blitzschnellen Drehung und einem Grinsen, das böse Absichten erahnen ließ, dem Publikum zuwandten. Bevor sie tatsächlich etwas unternahmen, bedeutete Mila allerdings mit einer Hand, die Finger weit gespreizt, dem vernebelten Schädel auf dem Boden, sich zu erheben. Was aus den Schleiern emporstieg war jedoch kein Gebilde aus Nebel, sondern nicht weniger als ein Zwirrlicht, dessen Größe überraschenderweise selbst Ryans Despotar in den Schatten stellte. Es riss, wie die zuvor seine Illusionen, das Maul weit auf und verschluckte die Irrlichter.

    Mila hatte die Hände ineinander gefaltet und riss sie nun gewaltsam auseinander, während ihr Kopf weit nach unten fiel. Gleich darauf schien es, als wollten die blauen Flämmchen aus dem Geisterkörper ausbrechen. Doch warum waren es plötzlich so viele? Auf die Schnelle konnte Ryan die blauen Flammengeister nicht zählen, die sich schemenhaft in dem halbdurchsichtigen Geisterleib tummelten, doch es waren sicher sieben oder acht Stück. Sie durchstießen Zwirrlichts Seiten und waren doch unfähig, sich von ihm zu lösen. Schrien, kreischten, jaulten, wie Gefangene, die in einem Wahn zu fliehen versuchten, doch wurden sie immer wieder in den schwarzen Körper hineingezogen. Im Hintergrund war Mila dazu übergegangen, sich immer und immer wieder auf dem Absatz um die eigene Achse zu drehen, die Arme noch immer ausgebreitet. Zwirrlicht machte es ihr nach. Sein Körper begann zu rotieren und finstere Nebelschwaden abzusondern, die bald einen stürmischen Wirbel um es herum bildeten. Es wehte kein Wind im Saal und es zerrte keine Böe an Kleidern und Haaren. Doch vor ihnen wurden die blauen Flammengeister nun letztlich doch durch diese Macht aus Zwirrlichts Körper gerissen und waren in diesem Strudel aus Schwarz, Blau und Violett gefangen. Unter den Zuschauern war es längst laut geworden. Manche ließen sich noch immer durch das unheimliche Schauspiel und die Illusionen verängstigen. Andere wurden unruhig oder aufgeregt und wieder andere auf eine doch etwas makabre Art fasziniert.

    Mila drehte sich weiter, begann nun jedoch die Arme nach oben wandern zu lassen, während ihr Haar und ihr Mantel durch die Bewegung weite Schwünge machte. Der riesige Geisterkörper zog den Strudel enger, bis er am unteren Ende gar völlig Spitz war und für einen Moment stark an einen Tornado anmutete.

    Und da kam Mila plötzlich zum Stillstand, woraufhin besagter Tornado in Windeseile schrumpfte, schmaler wurde und die Laute der Flammengeister verebbten. Alles zog sich zusammen und versank im noch immer am Boden wabernden Nebel, bis urplötzlich Zwirrlicht – nun wieder in gewohnter Größe – aus ihm entschlüpfte und den Strudel aus seiner eigenen Illusion, der mittlerweile nur noch Armlänge besaß, abermals verschluckte.

    Auf einen Schlag war der Spuk vorbei. Stille. Ruhe. Offenstehende Münder unter den Zuschauern.

    Und Zwirrlicht? Der kleine Geist schien plötzlich so unschuldig, als könne er kein Wässerchen trüben und schraubte sich noch einmal spiralförmig in die Höhe, um dann langsam und sachte auf Mila´s Schulter herabzuschweben, die in eine Tiefe Verbeugung übergegangen war. Beide Beine gestreckt und überkreuzt, den Oberkörper weit und tief nach vorne gebeugt und die Arme vom Körper gespreizt. Das Licht erlosch.

    Für wenige Sekunden war es stockfinster im Saal. Doch noch bevor das Licht ihn wieder erhellte, brach ausnahmslos jeder in tosenden Applaus aus. Jeder, aber auch jeder einzelne auf den Rängen klatschte und jubelte, als habe sich Arceus persönlich ihnen gezeigt. Nur einer stimmte dem etwas später ein – Ryan. Hinterher würde er den Blick, mit dem er auf Mila herabgesehen hatte, wohl als extrem peinlich einstufen. Doch für diesen einen Moment war er ihr allergrößter Fan. Das war… spektakulär gewesen. Brilliant, umwerfend, faszinierend. Ein Kunstwerk!

    Als er aus seiner Starre erwachte, war er der erste, der sich von seinem Sitz erhob und stehend seine Begeisterung bekundete. Der Reihe nach gesellten sich ausnahmslos alle Zuschauer mit dazu. Keiner saß mehr. Alle gaben sie stehende Ovationen für Mila und Zwirrlicht. Selbst die Jury, pflichtete dem bei. Und Miriam kam aus ihrer Begeisterung überhaupt nicht mehr heraus, überhäufte die beiden mit Lobeshymnen, von denen jedoch kaum ein Wort zu Ryan durchdrang. Dafür war der Lärm zu überwältigend.

    Es wäre keine Übertreibung, wenn Ryan diesen Auftritt als eines der famosesten Schauspiele bezeichnete, dem er beigewohnt hatte, seit er mit Pokémon arbeitete. Ähnlich wie vorhin Hendricks mit seinem Pantimos, wurde hier nicht bloß ein Kunststückchen vollzogen. Zwirrlicht hatte sie alle gefesselt, gepackt, ihnen bewiesen, dass in diesen kleinen Geist deutlich mehr steckte, als das eher unscheinbare Äußere vermuten ließ. Es hatte ihnen seine Seite des Schreckens gezeigt, wenn man so wollte und ihnen ein Schauermärchen in Kurzformat gespielt. Und das alles ohne eine verbale Anweisung von Mila.

    Weit in den hinteren Reihen gab es eine einzelne Person, die sich der allgemeinen Begeisterung jedoch nicht anschließen wollte. Sie lehnte tief in ihrem Sitz und hatte die Beine überschlagen. Eine Hand wanderte unter ihre Weste, um einen verchromten Flachmann zutage zu fördern. Nun, da alle mit ihrem Jubel beschäftigt waren, konnte sie endlich wieder für einen Moment ihren Brand stillen. Das heiße Gefühl in ihrer Kehle war wohltuend, lenkte ab von dem in ihrer Brust sowie dem Kribbeln in ihren Händen. Zwei bernsteinfarbene Augen stachen durch die Meute hindurch direkt auf Mila. Sie fing ihren Blick auf und lächelte hämisch. Sie wusste, dass sie beobachtet wurde. Nun, Bella hatte ohnehin nicht vorgehabt, hier zuzuschlagen. Hätte sich eine jedoch Gelegenheit geboten, so hätte sie diese ergriffen. Doch das wäre in dieser Position unklug, wie sie zu gut wusste. Dieser Ryan hatte zwar einen Verdacht, so wie es den Anschein hatte, kannte aber ihr Gesicht nicht. Hatte vermutlich bloß ihre leuchtenden Augen beiläufig bemerkt. Ein anderes Paar spürte Bella stetig auf sich selbst ruhen. Versteckt über ihnen, in der Dunkelheit unter dem Hallendach. Ein paar Augen von rubinroter Farbe.


    Nach diesem furiosen Finale der Qualifikationsrunde war eine dreißigminütige Pause angesagt worden, in der die allermeisten Besucher ihren Platz verließen, um im Rundlauf Hunger und Durst zu stillen oder sich erleichtern zu gehen. Unnötig zu erwähnen, dass Mila, wie zuvor noch verkündet, den ersten Rang belegt und außerdem die maximale Punktausbeute vorzuweisen hatte. Umso mehr würde es alle verwundern, dass sie Mila kein zweites Mal würden sehen können. Während die glücklos ausgeschiedenen Koordinatoren ihre Sachen packten und die übrigen Halbfinalisten sich auf die nächste Runde vorbereiteten, war sie unbemerkt durch einige leere Flure und schließlich durch eine Seitentür ins Freie gelangt. Fern der Menschenmassen und der Hauptstraße.

    Doch, so unverhofft es auch war, wurde sie dennoch erwartet.

    „Mila Montéra?“, erkundigte sich eine junge, männliche Stimme bezüglich ihres Namens.

    Ryan hatte die Arme verschränkt und schien erwartungsvoll, während Melody lächelnd und die Hände auf dem Rücken gefaltet, hinter ihm hervorlugte.

    Mila war für einen winzigen Moment überrascht, hatte den Mund leicht offen und war in der Bewegung erstarrt. Fast hätte Ryan es nicht bemerkt, so rasch ging sie in ihre übliche Haltung über und lächelte ihrerseits.

    „Es ist nicht mein echter Zweitname, falls Ihr euch das fragt. Nennt mich weiter so, wie ihr mich kennt.“

    Sie überwand die paar Meter, die zwischen ihnen lagen mit entspannten Schritten und ohne sich eine Blöße zu geben, in Bezug auf die Attentäterin, die ohne Zweifel im Publikum gesessen hatte.

    „Eure Gabe beweist sich mir erneut, wenn Ihr ahnen konntet, dass ich hier vorbeikommen würde.“

    Ryan ging gar nicht darauf ein. Sein Lächeln war eher schwach, vertuschte zumindest ein bisschen die Enttäuschung.

    „Du gehst vorzeitig?“
    Es war doch sehr ironisch, dass er plötzlich sehr gespannt auf den weiteren Verlauf dieses Wettbewerbes gewesen war, hatte dieser ihn doch bis vorhin nur mäßig begeistert.

    „Das war von Beginn an meine Absicht gewesen.“

    „Wieso das?“, erkundigte sich nun Melody, die es ebenfalls sehr bedauerlich fand, dass Mila in der zweiten Runde nicht antrat.

    Ganz so einfach würde die Drachenpriesterin diese Frage leider nicht beantworten können. Kurz vor der Eröffnung hatte sie sich eben diese noch selbst gestellt. Vermutlich waren es mehrere Gründe, warum sie überhaupt teilgenommen und das Paar dann auch noch zum Kommen bewegt hatte. Die simpelste Begründung wäre wohl, ihnen einen erholsamen Tag miteinander zu schenken, an dem sie miteinander Zeit verbringen und sich von dem mentalen Druck der jüngsten Vergangenheit erholen konnten. Doch da gab es noch etwas Wichtigeres. Etwas, dass sie Ryan hatte zeigen wollen.

    Ryan arbeitete unglaublich zielstrebig mit seinen Pokémon. Das hatte sie zuletzt mehrfach bezeugen können. Doch seine Einstellung war dabei manchmal etwas zu verbissen, wie Mila fand. Er redete sich dauerhaft selbst ins Gewissen, er müsse Erfolge erzielen. Damit waren nicht zwingend Siege in Arenen oder bei Turnieren wie dem anstehenden Summer Clash gemeint. Selbst wenn er nur trainierte, war er nicht eher zufrieden – und auch nie mehr als bloß zufrieden –, bis er nicht das Gefühl hatte, irgendetwas an sich oder seinen Pokémon verbessert zu haben. Er war ein Arbeitstier und ein wenig schämte Mila sich dafür, nie so offen darüber mit ihm gesprochen zu haben, wenn sie ihm zugesehen hatte. Man konnte so viel freier und unbeschwerter mit ihnen arbeiten. Ohne Leistungsdruck einfach die Zeit genießen. Doch immer nur hatte sie die positiven, lobenden Worte ausgesprochen. Sheila würde das vermutlich verurteilen und als Verhätschelung betiteln. Natürlich würde sie das. Mila tat es ja quasi selbst.

    Ryan und Melody vermuteten bereits, vergeblich auf eine Antwort warten zu müssen, da lenkten ein paar feste, stramme Schritte hinter ihnen die Aufmerksamkeit auf sich. Milas Brauen zuckten Böses ahnend nach oben. Sie rechnete bereits fest damit, dass Bella nun hinter ihnen auftauchen würde, doch rasch erkannte sie, dass das unmöglich war. Sie würde niemals so offen angreifen und sich unbehelligt zeigen, bevor nicht ein paar Messer im Körper ihres Ziels steckten.

    Im bald dämmernden Tageslicht trat ein Mädchen mit nachtblauem Haar, das ihre untere Gesichtshälfte mit einem Schal verhüllte und sie aus funkelnden Augen mit rubinroter Farbe ansah. Sie stemmte einen Arm in die Hüfte und streckte selbige heraus.

    „Es wird höchste Zeit, aufzubrechen.“

    Während Ryan und Melody die Stirn runzelten, seufzte Mila bloß niedergeschlagen. Sie erntete fragende Blicke und erwiderte mit einem, der bereits jetzt um Vergebung bat.

    „Holt bitte Eure Habseligkeiten aus eurer Unterkunft. Wir verlassen die Stadt.“

    „Jetzt?“

    Nicht, dass es grundlegend zu spät am Tage war, um das zu tun, aber es erschloss sich keinem von beiden der Grund. Wie auch? Es war ja keiner genannt worden.

    Ryan spürte plötzlich den kalten und schmerzlich festen Griff Sheilas am Oberarm und fand ihr Gesicht deutlich näher an seinem, als ihm lieb war. Sie wirkte so nahe einfach noch bedrohlicher und er wurde ohnehin durch alle Dinge verunsichert, die sie normalerweise nie tat. Hierzu zählte Nähe definitiv.

    „Tu es einfach, wenn du hier kein Gemetzel erleben willst.“

    Kapitel 32: Scars


    Jeden einzelnen der folgenden Tage waren Ryan, Andrew und Sandra vor der Stadt und setzten ihr Trainingsprogramm fort. Mal gemeinsam, öfter aber jeder für sich. Auch wenn sie mit der Wahl dieses Platzes einen Plan verfolgten, taten sie dies ebenso mit Hinblick auf das Turnier. Keiner wollte, dass die beiden potenziellen Konkurrenten sämtliche Tricks, Kniffe, Techniken und Ideen im Voraus lernen und sich darauf einstellen konnten.

    Doch es verging in diesen Tagen keine Minute, in der sie vergaßen, warum sie überhaupt hier waren. Team Rocket hatte sich nicht gezeigt. Überhaupt nicht. Weder in ihrem Umfeld, was Sheila ihnen zuverlässig bestätigt hatte, noch in der Stadt, wo die des Abends und Mila zudem die meiste Zeit des Tages patrouillierte. Ryan wartete darauf, hoffte darauf, erinnerte sich selbst dabei immer wieder an Sheilas Fähigkeiten und besann sich darauf, ihr zu vertrauen. Darauf zu vertrauen, dass sie die Gefahr, wenn sie sich denn näherte, frühzeitig erkannte und verhinderte, dass einer von ihnen verletzt oder gar getötet wurde. Und dieses Vertrauens musste sich Ryan bei dem Gedanken, dass ihnen – und vor allem ihm selbst – dies durchaus wiederfahren könnte, nur allzu oft entsinnen.

    Andrew erging es da wenig besser. Auch er hatte immer mindestens ein Auge auf seine Umgebung, die Bäume, das Unterholz, sogar dem Himmel und Arceus noch eins auch auf seinen Rücken. Das Obskure in seinem Fall war, dass er um jede Minute dankte, in der Team Rocket nicht erschien. Nicht, dass er sich mit dem Plan noch immer nicht abgefunden hätte. Er war in den letzten Tagen sogar zu der Erkenntnis gelangt, dass es unter gegebenen Umständen wohl wirklich keinen besseren gab. Doch er konnte dieser Jahrhunderte Alten und doch so jung erscheinenden Killerin kein Vertrauen schenken.

    Auch heute schien die Taktik nicht aufzugehen. Die Dämmerung setzte langsam ein und die Bäume wurden in feuriges Licht getaucht, während ihre Blätter zur Melody des Windes einstimmten. Das Training war für alle drei bereits beendet. Für gewöhnlich war dies der Moment, in dem man sich zurück in die Stadt aufgemacht hätte, doch es konnte sich keiner so richtig für den Rückweg aufraffen. Der Grund wäre selbst für Melody, die Ryan in dieser Zeit leider kaum zu Gesicht bekommen hatte, offensichtlich gewesen. Die ständige Hoffnung, dass Team Rocket den Köder schlucken würde, ward ein ums andere Mal geplatzt und trotzdem oder gerade weil der Moment so lange auf sich warten ließ, stieg der Nervenpegel mit jedem neuen Tag weiter. Sandra war da keine Ausnahme. Unter ihren Augen prangten dunkle Ringe, ebenso wie bei den beiden jüngeren Trainern. Der mentale Druck raubte ihnen zeitweise den Schlaf. Die Anspannung wuchs stetig, häufte sich zu einem verfluchten Pulverfass. Und verdammt nochmal bald würde einer von ihnen das berühmte Streichholz, welches es zum Explodieren brachte, selbst entzünden. Jede Minute kribbelte es ihnen in den Fingern. Jeder laut, verursacht durch Wind oder wilde Pokémon, alarmierte sofort all ihre Warninstinkte und ließ ihnen niemals Ruhe. Es war zum Haare raufen. Doch selbst wenn sie das taten, würden sie wohl kaum weniger gestresst wirken, als bislang.

    Ryan warf gerade einen etwas genaueren Blick auf die Visage Andrews, welcher erschöpft auf einem breiten Stein hockte und tat dabei gespielt seriös.

    „Siehst scheiße aus.“

    Für gewöhnlich wären die Rollen zwischen den beiden umgekehrt. Und für gewöhnlich wäre Andrew eine schlagfertige sowie humorvolle Antwort regelrecht zugeflogen. Doch dafür war selbst er gerade nicht in der Stimmung.

    „Ach leck mich doch“, seufzte er träge. Dass sie alle während des Trainings das Tempo gewohnt hoch, teilweise gezielt über den Standards hielten, sorgte natürlich nicht gerade für Entlastung. Doch solche Sachen gingen sie eben nicht halbherzig an.

    Sandra war diejenige in der Runde, die noch am wenigsten geschlagen wirkte, doch wer behauptete, an ihr würde die Situation, der sie Tag für Tag ausgesetzt waren, spurlos vorbeigehen, konnte bestenfalls blind sein. Sie sehnte sich nach Ruhe, doch die fanden sie schon seit Tagen nicht mehr in Gänze.

    „Ich denke nicht, dass wir schon so weit sind, dass wir den Plan aufgeben sollten“, setzte die Drachentrainerin an und schlenderte zu den beiden heran.

    „Aber vielleicht ist es an der Zeit, uns eine Alternative zu überlegen.“

    „Wie töricht.“

    Allein diese zwei Worte konnten nur von einer Person stammen und die gespenstische, sowie unübertreffliche geringschätzige weibliche Stimme ließen keine Zweifel bezüglich des Ursprungs zu. Dennoch zuckten sie alle drei – wenn auch nur ein klein wenig – zusammen, als sie erklang und nur Sekunden später ein athletisch gebautes Mädchen aus der Krone eines Baumes direkt vor sie sprang.

    Sheila müsste es doch eigentlich am ehesten missfallen, dass sich die schwarz gekleideten Banditen nicht zeigen wollten. So in Lauerstellung zu verharren, war ihr eine sehr unliebsame Beschäftigung, wie alle mittlerweile gelernt hatten. Und dass sie es nicht erwarten konnte, endlich mehr Rocket Blut an ihren Klingen zu sehen, hatte sie oft genug betont.

    „Hey Sheila“, grüßte Sandra, trotz der kalten Art, so freundlich, wie sie es in ihrem Zustand noch konnte.

    Ein kurzer Blick der rubinfarbenen Augen schweifte über das Trio. Der Mund der Attentäterin war von ihrem Schal verdeckt, doch fast konnte man spüren, dass sie verächtlich die Lippen schürzte.

    „Ihr seht jämmerlich aus.“

    „Wir hatten uns auf scheiße geeinigt.“

    Es war untypisch für diese Gruppe, dass es die Arenaleiterin war, die sich zu solch einer Erwiderung hinreißen ließ. Sheila überging dies jedoch völlig, gab keinen Spielraum für Albernheiten frei.

    „Dachtet ihr denn, nach ein oder zwei Tagen kommt der Feind euch ohne Plan und Verdacht hinterher spaziert, wie ein Fukano, das seinem Herrn folgt?“

    Es wäre doch sehr einfach für sie gewesen, darauf zu beharren, dass sie nicht wirklich so naiv gewesen waren. Doch jetzt, da es jemand aussprach, merkten sie alle erst, dass sie wirklich so gedacht, es fast schon in Stein gemeißelt hatten. Keiner war auf die Möglichkeit gekommen, dass eine ganze Woche lang rein gar nichts passieren könnte. Wenn man besonders blauäugig beurteilte, könnte man ihnen Eifer und Tatendrang zusprechen, doch da eine solche Haltung hier viel zu gefährlich wäre, läge man damit wohl falsch.

    „Wahnsinn!“

    Andrew zog plötzlich die Blicke auf sich. Er hatte erstaunt gewirkt. Geradezu fasziniert.

    „Endlich spricht sie mal vernünftig! Tagelang gab´s von dir nichts außer einsilbigen Berichten, abfälligem Schnaufen und bösen Blicken.“

    Damit hatte er – so beschissen sein Witz und vor allem sein Timing auch war – nicht unrecht. Jeden Abend hatte Sheila einen solchen Bericht erstattet, der meist nur aus dem Wort „nichts“ oder manchmal auch nur einem Kopfschütteln bestanden hatte.

    Die Assassine war überhaupt nicht für solche Scherze aufgelegt. Generell war dieser Andrew ein derart lästiger Mensch, dass sie bei ihm gar eine größere Lust verspürte, ihn zu meucheln, als bei einigen Rockets. Die Rubine funkelten ihn aus verengten Augen an, um ihm genau das mitzuteilen.

    „Ja, genau so“, meinte er bloß und wunderte sich noch im selben Moment, wie er die Dummheit für dieses Wagnis aufbringen konnte. Er traute ihr ja grundsätzlich nicht, aber zutrauen tat er ihr einiges. Auch, dass sie ihre mörderischen Fähigkeiten an ihnen anwenden würde, sobald man ihr nur einen Grund gab, der gut genug war. Konnte Andrew etwa so fertig sein, dass er schon blöd wurde? Oder war ihm mittlerweile einfach alles egal?

    „Ihr alle habt nicht die geringste Ahnung was hier eigentlich passiert“, fuhr Sheila schließlich fort. Diese Behauptung machte Ryan nun doch stutzig und im ersten Moment meinte er, dass sie ihnen Unrecht tat. Doch er hatte mittlerweile verstanden, dass sie und natürlich auch Mila nie etwas Unüberlegtes sagten oder ihre Ansichten von persönlichen Gefühlen blenden ließen. Sie waren so zielorientiert und ungetrübt, wie kein Mensch heutzutage, da man zu ihrer Zeit einfach andere Sichten auf die Dinge gehabt hatte. Doch sicher lag es nicht nur daran. Die beiden waren einfach besonders.

    „Dann erklär es uns“, verlangte Ryan schließlich schulterzuckend. Sie hatte weder angeboten noch würde sie sich befehlen lassen, die Lehrmeisterin für diese Narren zu spielen. Doch wenn er schon das bisschen Verstand besaß, sie zu fragen, so würde sie sich wohl mal dazu herablassen. Allzu oft würde sie das jedoch nicht von sich erwarten.

    „Wir ködern hier nicht, wie ihr es sagtet. Das ist eine Jagd.“

    Ihre Augen hatten seine marineblauen fest fixiert. Vermutlich waren es die beiden markantesten Seelenspiegel unter der menschlichen Rasse. Ryans, die vom Wächter der Meere stammten und Sheilas, die genauso gut dem Totengott selbst gehören konnten. Langsamen Schrittes kam sie näher an ihn heran und plötzlich fühlte sich der junge Trainer, als sei er der gejagte und würde in die Enge getrieben.

    „Ein guter Jäger rennt nicht in den Wald und schießt, sobald er sein Opfer sieht. Er pirscht heran, beobachtet, schätzt ab, ob es sich in Sicherheit wiegt. Er begibt sich in die bestmögliche Position und lässt es niemals erahnen, dass er überhaupt da ist.“

    Es war nicht wirklich schlüssig, ob sie jetzt von einer normalen Jagd nach Wild sprach oder gar einem Attentat auf einen Menschen. Wahrscheinlich zeichneten sich hier in ihren Köpfen unterschiedliche Bilder ab, doch alle mit exakt demselben Ablauf.

    „Und er schießt erst, wenn er weiß, dass er sein Opfer mit diesem einen Versuch töten wird. Weil er weiß, dass ihm kein zweiter vergönnt sein könnte.“

    Einige Sekunden lang herrschte bloß Schweigen. Andrew und Sandra schienen die Worte Sheilas zu verinnerlichen, darüber nachzudenken und das Gesagte auf ihre Situation zu übertragen. Natürlich würde Team Rocket nicht so stümperhaft gegen sie marschieren. Sie wussten, dass sie drei hier draußen waren und zwar regelmäßig. Nun wägten sie ab, wie wahrscheinlich es war, dass man ihnen eine Falle stellte, ob das Risiko sie auszulösen, größer war als die Chance, mehrere gefährliche Ziele auszuschalten sowie den bestmöglichen und am ehesten erfolgsversprechenden Weg, genau das zu tun. Vielleicht würde es morgen passieren, vielleicht erst in einer Woche. Doch sie planten, beobachten, pirschten. Das Visier war längst auf die Trainer gerichtet. Sie warteten nur noch auf den perfekten Moment. Auf den Schuss, der sicher tödlich enden würde.

    Ryan stand unerwartet auf, trat sogar einen Schritt an sie heran und erwiderte ihren Blick. Natürlich jagte er ihm Angst ein. Er hatte es einst schon bei Mila und Mirjana. Da würde jemand wie er ihm im Leben nicht widerstehen können. Doch er zwang sich, ihr tief in die Augen zu sehen. Denn würde er an ihr vorbei sehen, würde sie sein zwar knappes, aber unendlich entschlossenes Nicken als falsch und halbherzig deuten.

    „Ich verlasse mich auf dich“, sprach er schließlich, sogar mit fester Stimme und ohne Raum für Zweifel am Wahrheitsgehalt. Das tat er nun bewusster denn je, da sie ihm gerade zum ersten Mal klar gemacht hatte, dass dieser Plan ihre Leben gefährden könnte und Team Rocket womöglich erst zum Angriff überging, wenn sie sicher waren, sie zu beenden. Ohne Sheilas Fertigkeiten wäre es vermutlich schon geschehen und wenn es soweit sein würde, dass Mila in die Offensive zu gehen gedachte, wäre Ryan deutlich wohler, Sheila an seiner Seite zu wissen.

    Es war merkwürdig, dass er dies bei zunehmend vielen Individuen tat. Ryan war immer ein Mensch gewesen, der sich vorwiegend auf sich selbst verlassen hatte. So wurde er nie von anderen enttäuscht und konnte nur sich selbst die Schuld an Missglücken und Rückschlägen geben. Und so lange er die Quelle des Problems war, wusste er, dass er es bereinigen konnte, indem er selbst wuchs und sich entwickelte. Doch Team Rocket würde er nicht allein damit bezwingen können, geschweige denn Rayquaza. Und so verließ er sich mittlerweile nicht nur auf seinen besten Freund und eine Arenaleiterin, sondern auch auf deren Pokémon, zudem eine Priesterin, einen Barbesitzer und eine Meuchelmörderin.

    Selbige musterte die marineblauen Augen prüfend und aus irgendeinem Grund meinte Ryan, einen Funken Zufriedenheit in ihr erkennen zu können. Doch der war schnell wie ein solcher wieder verflogen und wurde von einem abfälligen Schnauben verdrängt.

    „Wenn dem so ist, so ist es das Klügste, das du seit der ersten Berührung mit dem Drachensplitter getan hast.“

    Normalerweise würde man diese Worte eher als Kompliment, denn als Beleidigung auffassen, doch sie schaffte es irgendwie, die damalige Dummheit mehr hervorzuheben, als die momentane Weisheit. Schließlich brauchte es nicht viel für sie.

    Doch Ryan hatte nie mit einer kameradschaftlichen oder gar freundlichen Geste gerechnet. Es war anzuzweifeln, ob dieses Mädchen so etwas überhaupt beherrschte. Er nickte bloß ein weiteres Mal, diesmal deutlich knapper und verließ dann die Runde.

    Sein Blick und sein Gang ließen es nicht unbedingt erahnen, doch dank Sheila fühlte er sich besser. Es war ein kleiner Wachrüttler, den sie ihnen allen verpasst hatte. Kein angenehmer, aber nötig war er definitiv gewesen und außerdem nur ihrem Selbstschutz dienlich.

    Andrew und Sandra sahen ihm kurz hinterher, schienen ihre eigenen Gedankengänge zu verfolgen und die Warnung auf sich wirken zu lassen.

    „Ich seh irgendwie schwarz für diese Zusammenarbeit“, betonte Andrew die Aussage seines Kumpels. Sandra wollte von Zweifeln und bösen Omen im Moment wenig wissen. Sie hatten sich in den vergangenen Tagen mehr als genug selbst damit gepeinigt. Schnellen Fußes ging sie Ryan nach und ließ Andrew mit der Attentäterin alleine, die sogleich nur abfällig auf ihn herabsah.

    „Zusammenarbeit?“

    Sie sprach es aus, wie die dümmliche Idee eines Trottels, der keine Ahnung hatte, dass er einer war. Sie hatte nie mit jemandem zusammengearbeitet. Auch mit Mila nicht – sie befolgte ihre Anweisungen. Und andere Menschen, die ihr zu helfen versuchten, würden lediglich Hindernisse darstellen. Sie hatte immer allein operiert.

    „Dachte mir schon, dass es nicht so deins ist“, winkte Andrew ab und wich ihrem Blick aus. Der konnte schon von selbst töten. Dazu brauchte es nicht noch ihre Hände oder gar eine Waffe.

    „Aber vielleicht würde das besser werden, wenn wir uns mal ordentlich kennenlernen würden“, warf er plötzlich ein, schien im ersten Moment auch recht begeistert von seiner Idee. Sheila zog zwar eine Braue hoch, was er als Neugier interpretierte, doch schnaubte sie gleich darauf wieder, als denke sie genau das Gegenteil und füllte ihre Worte mit Spott.

    „Du willst mich kennenlernen?“

    Er zuckte bloß mit den Schultern, als wolle er fragen, was denn dagegen spräche.

    „Wie?“

    Ihre Geschichte kannten sie alle. Was jedoch selbst in ihrem Fall nicht bedeutete, dass sie auch den Menschen, der nun Sheila genannt wurde, kannten. Doch so einfach und rasch ließ sich das auch nicht bewerkstelligen.

    „Naja, zum Beispiel indem man etwas Peinliches aus seiner Vergangenheit erzählt. Um das Eis zu brechen, du verstehst?“

    Tat sie, doch fiel ihr spontan nichts ein. Für Peinlichkeiten bedurfte es Scham und diese hatte sie vermutlich seit ihrer Kindheit nicht mehr verspürt. Und mit Sicherheit meinte der Narr nicht die Version in Form von Schmach oder Erniedrigung. Beides hatte sie während ihrer Ausbildung diverse Male über sich ergehen lassen müssen – oft nur als Resultat ihrer selbstkritischen Haltung. Doch etwas gab es da, das ihr damals wirklich peinlich, also in dem Sinne, wie die Menschen von heute es auslegten, gewesen war. Warum in aller Welt mühte sie überhaupt ihre Gedanken so sehr für diesen Tölpel?


    Ryan kniete am Ufer eines seichten Baches, der unweit der Lichtung floss und nur ein paar Meter weiter in einen klaren See mündete. Seine Lederhandschuhe hatte er ausgezogen und sein Gesicht und Haar mit kühlem Wasser getränkt. Es war mehr eine Geste die das von ihm verspürte Wachrütteln durch Sheila untermauern sollte und den Kopf etwas frei zu machen.

    Er neigte den Kopf leicht zur Seite, als die Drachenmeisterin an ihn trat, sah aber nicht zu ihr hoch. Er wartete einfach darauf, dass sie sprach, während er seine Ärmel wieder herunter krempelte.

    „Wir sollten uns morgen etwas Erholung gönnen.“

    Der junge Trainer zog verdutzt die Brauen zusammen. Meinte schon, das Plätschern des Wassers hätte ihre Worte verdreht und sie falsch an seine Ohren geschickt. Doch ein Blick in ihre Augen verhieß, dass sei es so gemeint hatte.

    „Jetzt schau nicht so.“

    „Wie könnte ich nicht? Meinst du ernsthaft, wir können uns das leisten?“

    „Wir müssen es uns leisten“, beharrte Sandra fest. Eben noch erschien ihr Ryan als besonnen und zielstrebig, doch schon jetzt machte er wieder den Eindruck eines Besessenen. Einer, der sich nicht die kleinste Pause erlaubte und krankhaft seinem Ziel nach hechelt.

    „Hör zu“, setzt sie sie wieder mit ruhigerer Stimme an und kniete sich an seine Seite.

    „Wir sind alle angespannt und ich finde, das ist auch richtig so. Aber wir dürfen darin nicht verkrampfen. Mal davon abgesehen, dass es uns nur schadet, könnten wir so niemals gegen Team Rocket kämpfen.“

    Ryan hörte ihr zu, blickte mit müden Augen in ihre und versuchte einen Sinn hinter ihren Worten zu finden. Nicht dass sie etwas Unlogisches gesagt hätte, doch fiel der Denkprozess an sich Ryan mittlerweile zunehmend schwer.

    Sandra richtete sich auf und stemmte eine Hand in die Hüfte. Sie schien nicht gewillt, großartig Überzeugungsarbeit an Ryan zu leisten, sondern entschied einfach über ihn hinweg. Natürlich war das dreist und vielleicht gar ein bisschen respektlos. Doch sie würde ihm notfalls sein Glück – in diesem Fall in Form von Erholung – aufzwingen.

    „Ich spreche heute Abend noch mit Mila. Werde sie bitten, uns im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu decken und neugierige Augen um uns herum zu blenden.“

    Eine gelungen kunstvolle Umschreibung dafür, dass Sheila alle Agenten, die ihnen folgen würden, ausschalten sollte.

    „Oder zumindest dafür zu sorgen, dass wir nicht um unser Leben bangen müssen“, korrigierte sich die Leiterin seufzend. Alles andere wäre wohl etwas viel verlangt. Vielleicht war bereits dieses bisschen zu viel.

    Ryan zog teils skeptisch und teils doch alarmiert eine Braue hoch.

    „Du glaubst, nachdem sie in den letzten Tagen nicht ihre Nasen gezeigt haben, wo wir doch auf dem Präsentierteller saßen, würden sie das ausgerechnet morgen tun, wenn wir wieder unter Leuten sind?“

    „Ich sage, dass ich es an ihrer Stelle so machen würde.“

    Sie kratzte sich müde an der Stirn. Dass sie inzwischen stets so taktisch überlegte und versuchte, die Schritte des Feindes vorauszuahnen, gab ihr etwas Selbstsicherheit. Für die Zukunft wäre diese Angewohnheit eher besorgniserregend. So paranoid war sie gewöhnlich nicht.

    „Gerade wenn jemand aus seiner Routine bricht, würde er doch einen Angriff für unwahrscheinlich halten. Sie könnten versuchen, das auszunutzen“, erklärte sie.

    Dem sah Ryan sich gezwungen beizupflichten. Er wusste nicht, wie oft und lange genau Sandra bereits zusammen mit Mila gekämpft oder auch nur geplant hatte. Nicht einmal, wie lange sie sich überhaupt kannten. Doch sicher war die ein oder andere Eigenart der Drachenpriesterin auf sie abgefärbt. Er selbst fühlte sich ja ebenfalls von ihrer bloßen Präsenz beeinflusst und er kannte sie noch nicht einmal so gut er gerne würde. So gab er letztlich nickend sein Einverständnis.


    Das prustende Gelächter von Andrew unterbrach ihre Unterhaltung rüde und forcierte ihre Blicke auf den Trainer, der sich fassungslos an die Stirn griff und aus dem Lachen nicht rauszukommen schien.

    „Oh Mann, ich hätte nie gedacht, dass dir so etwas passieren könnte.“

    Sheila war selbstverständlich viel zu selbstbeherrscht, sich über dieses dümmliche Glucksen aufzuregen. Es war die Länge von selbigen, die stark an ihrem Geduldsfaden sägte und ihre Lust, den Jungen ausbluten zu lassen, befeuerte. Mit harscher Stimme, der allerdings noch immer dieselbe Ruhe und Kälte mitschwang, gab sie irgendwann dem Drang, ihn zu unterbrechen, nach.

    „Genug. Nun du“, forderte sie mit einem Kopfnicken. Das Grinsen in seinem Gesicht wurde gar noch breiter, während Andrew ein rasches Stoßgebet sprach, gleich welchem finsteren Gott des Todes und der Zerstörung sie auch immer dienen mochte, dass es nicht seine letzten Worte sein würden.

    „Ach komm schon. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dir meine Geheimnisse anvertraue. Ich kenn dich doch kaum.“

    Nun war er es, der sich benahm, als hätte man ihm einen unsagbar dummen Vorschlag unterbreitet.

    In hunderten von Jahren, in denen Sheila aus diversen Gründen Menschen getötet hatte, war – von denen innerhalb der alten Drachengarde abgesehen – nicht einer davon persönlicher Natur gewesen. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie angenommen, dass sich das in genau diesem Moment ändern würde. Dieser unverschämte, kindsköpfige, lebensmüde, schizophrene Sohn eines räudigen Köters wäre es beinahe Wert. Auf eine Weise zumindest. Doch das wäre nicht die Weise, nach der sie immer gelebt hatte. Nach deren Gesetz nämlich würde sie sich mit so einem lästigen Insekt von einem Menschen gar nicht erst abgeben. Ihn nicht ansehen, nicht neben ihm stehen und, bei Rayquazas zornerfülltem Herz, schon gar nicht mit ihm sprechen.

    Doch ihre rubinroten Augen funkelten noch ein letztes Mal auf ihn herab. Wenn Blicke nur töten könnten.

    Andrew fürchtete einen Moment bereits, den Bogen überspannt zu haben und hoffte nur, dass es schnell gehen würde. Doch entgegen seiner Befürchtung wandte Sheila sich wortlos von ihm ab, sodass ihr nachtblaues Haar einen weiten Schwung machte. Der Zurückgelassene hatte es nicht gemerkt, doch er hatte einige Sekunden lang die Luft angehalten und atmete nun erleichtert auf. Die Schweißperlen auf seiner Stirn fielen ihm ebenfalls erst jetzt auf. Er sollte besser einen Gang zurückschalten. Das eben war viel zu gewagt.


    Sheila beachtete Ryan nicht wirklich, als sie den Bach entlang marschierte und direkt den See ansteuerte, der dessen Ende markierte. Sandra für ihren Teil schien dem Assassinen nichts zu sagen zu haben, verabschiedete sich mit einen knappen „Also dann“ und machte sich allein auf den Rückweg. Ohne die Versicherung Sheilas, dass die Gegend sicher sei, würde sie niemals ein so dummes Wagnis eingehen. Sie hatte keine Angst vor einem oder auch mehreren Rockets, sie ihr auflauern könnten. Schließlich war sie alles andere als wehrlos und der festen Überzeugung, auch die hochrangingen Mitglieder der Organisation besiegen zu können. Mit ihren Pokémon verstand sich. Doch Team Rocket hatte eben auch Leute, die ohne die Hilfe solcher ihre menschlichen Ziele überfielen und zu anderen, direktere Waffen griffen.

    Das kaltblütige Mädchen stand am Ufer des Sees, hielt die Augen geschlossen, während sie sich von den Stoffschonern um ihre Unterarme befreite. Ryan hatte nicht wirklich den Eindruck, dass sie verärgert war, doch ein paar Wogen sollte er wohl besser versuchen zu glätten. Sie sollte nicht glauben, hier zwei kindische Trottel beschützen zu müssen. Jedenfalls keine allzu großen. Er trat an sie heran, stoppte aber in gebührendem Abstand. Er war sich nicht sicher, ob Furcht ein Grund dafür war.

    „Ich muss mich für ihn entschuldigen. Er ist manchm… oft schwer zu ertragen.“

    Ryan mühte sich um einen respektvollen Tonfall, wollte aber auch nicht unterwürfig klingen. Er versuchte generell, auch wenn er mit Mila sprach, sich ihrem Vokabular nach Möglichkeit anzupassen.

    „Du neigst zur Untertreibung“, merkte sie an, war dabei aber ruhig und beherrscht. Der scharfe Blick, mit dem sie sich in seine Richtung wandte, sprach jedoch eine andere Sprache.

    „Nur damit du es einmal gehört hast. Ginge es nach mir, würden Mila und ich gar nicht erst diesen Aufwand betreiben. Ich hätte…“

    „Mich am liebsten selbst getötet?“, unterbrach Ryan sie und konnte sich im nächsten Moment selbst ohrfeigen. Er hatte weder empört noch entsetzt geklungen. Eher als konfrontiere er eine üble Tatsache. Er wandte den Blick ab und vermied es fortan auch, ihren Augenkontakt zu suchen.

    „Das ist mir klar.“

    Sie wirkte nicht wütend ob der Unterbrechung. Doch wie genau er ihre verengten Augen zu deuten hatte, wusste er auch nicht.

    „Du bist ein Narr, so viel steht fest“, setzte Sheila an und begann an ihrer weißen Bluse zu zupfen. Wie gerne würde sie diese endlich wieder gegen Leder eintauschen.

    „Aber nach dem, was ich bislang von dir gesehen habe, bist du nicht gänzlich hoffnungslos. Du bist durchaus fähig im Umgang mit Pokémon und besitzt etwas Verstand.“

    Auch wenn es sich wie ein Lob anhörte, wollte Ryan es nicht als ein solches anerkennen. Er wusste selbst, was er konnte und auch, was er nicht konnte. Was für Wissen und welche Fähigkeiten er besaß und welche ihm fehlten. Im Grunde hatte Sheila ihm nur gebeichtet, dass sie in ihm keinen Idioten sah, doch sich über diese Worte zu freuen, wäre definitiv ein Schritt in die Unterwürfigkeit, die er zu meiden versuchte. Er war nicht auf ihr Lob angewiesen und hatte durchaus Vertrauen in sich selbst und seine Partner.

    Dann schluckte Ryan plötzlich und seine Augen, kaum hatte er sie endlich wieder auf sie gerichtet, wurden etwas weiter. Die Attentäterin hatte ihr Oberteil gänzlich geöffnet und streifte es gerade von den Schultern. Schockierend war das an sich nicht, jedoch in einem solchen Maße unerwartet, dass Ryan eine neue Maßeinheit erfinden müsste. Was hatte sie vor?

    „Ich wünschte bloß, du würdest öfter Gebrauch von ihm machen“, fuhr sie unbeirrt fort, sah ihn nicht einmal an. Etwas überrascht offenbarten sich unter der Bluse mehrere Ledergurte, die Ryan an die Waffenhalfter von Polizisten erinnerte. Sie verliefen über die Schultern, kreuzten sich an deren Blättern und hielten, mit starken Riemen befestigt, an der Taille ihre zwei Dolche, sowie diverse Wurfmesser. Dass sie unter diesem einen Kleidungsstück derart bewaffnet unters Volk gehen konnte, ohne aufzufallen, war in gewisser Weise beängstigend.

    Dann zog sie ihren Schal behutsam von ihrem Gesicht. Erst jetzt viel Ryan auf, dass es tatsächlich das erste Mal war, dass er ihr unverhülltes Gesicht sah. Es passte irgendwie kein bisschen zu ihrem restlichen Gesamtbild. Es war sehr rund, die Züge weich. Schmale Lippen und makellose Wangen. So sah doch kein Gesicht aus, das hunderte Jahre in Dreck und Blut gebadet hatte.

    Sheila schien sich nur bis zu einem gewissen Punkt der modernen Kleidung anpassen zu wollen und hatte sich mit einigen weißen Bandagen verhüllt. Anstandshalber verbot er sich, ihren halbnackten Oberkörper zu mustern. Sie bemerkte dies durchaus, doch machte sich nicht die Mühe, ihm zu versichern, dass es ihr egal sei. Dies gehörte zu den Sorten von Scham, die sie gänzlich unberührt ließ.

    Ryan konnte mit ein wenig Mühe ausblenden, was gerade vor ihm passierte und wahrte den Ernst ihres Gespräches. Er war ja bereits froh, dass sie es überhaupt mit ihm führte. Wie von Andrew angemerkt, hatte sie dazu bislang keine Gelegenheit geboten.

    „Und ich wünschte, ich hätte ihn in diesem Moment benutzt.“

    „Wie wahr.“

    Es war offensichtlich, von welchem Moment die Rede war. Sheila hatte sich auf einem Baumstumpf niedergelassen und öffnete nun die Schnallen ihrer Stiefel, zog sie sodann behutsam von ihren Füßen. Hatte sie etwa vor, ein Bad im See zu nehmen?

    „Andererseits…“, setzte sie an und ließ eine Hand in den dichten Busch zu ihrer Seite verschwinden. Ryan fragte sich noch, wonach sie griff. Hatte sie dort etwas versteckt?

    „Es ist lange her, dass ich so viele Menschen zu töten hatte.“

    Es ward kein Gegenstand, den sie aus dem Unterholz zutage führte, sondern ein dunkler, schuppiger Körper, länglich und so breit wie Oberschenkel. Das Pokémon quittierte die Berührung mit einem Fauchen, das jedoch nicht allzu scharf und drohend klang. Beinahe hätte Ryan einen erschrockenen Schritt zurück gemacht, als sich der Reptilienkopf emporhob und auf Augenhöhe in das Gesicht der Attentäterin blickte. Das fast durchgängig schwarze Schuppenmuster wurde von einigen violetten Streifen sowie Goldelementen am Rücken unterbrochen, welche die Form von geschliffenen Edelsteinen besaßen. Aus dem Maul blitzten zwei absolut mörderische Giftzähne von über 30 Zentimeter Länge blutrot auf, wie auch die scharfe Klinge am Schweifende – das Markenzeichen von Vipitis. Ein furchteinflößendes Giftpokémon, wie wohl die allermeisten Menschen sagen würden, doch Sheila schien gar mit ihm vertraut. Mila hatte ihm bereits einmal eröffnet, dass sie beide viele wilde Pokémon um sich hatten, die ihnen folgten, ihnen ihre Fähigkeiten zur Hilfe anboten, obwohl Mila keines von ihnen eingefangen hatte. Es waren wilde Freunde. Das Kramshef sowie das Zwirrlicht von ihrem ersten Treffen waren ebenfalls solche.

    Sheila ignorierte Ryans Reaktion und fuhr nach längerer Pause mit ihrer Erzählung fort, während die Giftschlange ihren Körper erklomm, um sich an ihm festzuhalten.

    „Du und dein Freund, ihr habt es natürlich nicht bemerkt, aber wir haben in den letzten Tagen und Wochen viele dieser Ratten in Schwarz aus dem Weg geräumt. Um ehrlich zu sein wundert es mich, dass ihre Leute noch nicht vor Angst geflohen sind.“

    Sie streckte den Arm ein wenig aus, um dem Vipitis anzubieten, daran hochzuklettern, was es gleich annahm. Dieses Pokémon passte wirklich hervorragend zu einer Mörderin ihres Formats. Ein Lauerjäger, der blitzschnell aus dem Hinterhalt angriff und mit einer kalten, giftigen Klinge das Leben seines Opfers langsam aushauchen ließ.

    Ryan hatte unbewusst vermieden, darüber zu spekulieren, was die beiden unsterblichen Frauen so trieben, während er mit Andrew und Sandra trainieren ging. Doch vermutlich bezog sich ihre Aussage auch auf die Zeit vor ihrem Kennenlernen.

    „Das tut mir leid.“

    „Was tut dir leid?“, erkundigte sie gleich, während der Schlangenkörper über ihren Schoß kroch und sich um ihre Taille schmiegte. Angst hatte Ryan vor diesem Pokémon nicht unbedingt, doch so nahe würde er einen Vertreter dieser Spezies eher ungern an sich heranlassen. Zumindest, wenn es sich um einen ihm fremden Vertreter handelte, von dem er nicht wusste, ob er ihm vertrauen konnte.

    „Sheila. Ich weiß, dass ich selbst nicht stark bin“, setzte er an, klang ehrlich und offen.

    „Meine Kraft beziehe ich fast ausschließlich aus meinen Partnern. Ohne sie bin ich gar nichts.“

    Sie sah ihn nicht an, bewunderte einfach weiter die tödliche Schönheit des Vipitis.

    „Aber ich weiß, was wir gemeinsam erreicht haben. Was wir gemeinsam erreichen können. Und ich weiß, wie entschlossen wir alle sind, das hier zu beenden. Team Rocket zu vernichten und Rayquaza das zurückzugeben, was ihm gehört.“

    Nun stahl sich ein neugieriger Seitenblick in seine Richtung, den er jedoch gar nicht bemerkte. Wenn es nach Sheila ging, würde er seinen Satz hier beenden, doch sie spürte die verhängnisvolle Torheit, die seinen nächsten Worten innewohnen sollte, bereits im Voraus.

    „Und wenn alles vorbei ist, wirst du niemanden mehr töten müssen.“

    Die Empörung spiegelte sich augenblicklich in den geweiteten Augen und den winzig gewordenen Pupillen der Killerin. Das Rot schien sich zu einer Klinge gleich der von Vipitis verformen und in seine Brust bohren zu wollen.

    „Hüte deine dreckige Zunge! Sonst schneide ich sie dir heraus!“

    Diesmal erschrak er wirklich, machte gar einen Schritt zurück. Er wollte etwas sagen, fürchtete aber sofort, erneut etwas von sich geben zu können, das Sheila weiter erzürnte. So blieb Ryan lediglich mit einem fragenden Blick. Langsam erhob sie sich, die Giftschlange von ihrem Körper gleiten lassend und nur noch in ihrem Rock in den Bandagen um ihre Brust. Doch ihr wutentbranntes Gesicht drängte die Peinlichkeit, die Ryan eben noch verspürt hatte, völlig in den Hintergrund.

    „Was bildest du dir ein? Du weißt um meine Vergangenheit und maßt dich allein dadurch bereits an, mich zu kennen?“

    Ryan wollte etwas sagen. Unbedingt wollte er das. Er hatte sich doch vorgenommen, selbst wenn er einmal Sheilas Zorn auf sich ziehen sollte, nicht vor ihr zu erstarren. Doch ihm fielen auf die Schnelle keine Worte ein, durch die er glaubte sie besänftigen zu können. Doch sie wartete auch nicht darauf.

    „Wer sagt denn, dass ich das Töten leid bin? Ich habe all die Jahre meines Lebens geopfert, um die beste Assassine zu werden, die je gelebt hat. Ich verrate dir etwas. Menschen zu töten, ist das Einzige, wofür ich lebe und atme.“

    Diese Worte stießen ein anderes Gefühl in dem Jungen an. Eines, das den Schreck ablöste und sich nur langsam, sicher über eine Minute hinweg – in der er sich wunderte, warum Sheila denn nichts weiter tat oder sagte – doch eroberte nach und nach jeden Winkel seines Körpers, in dem er Gefühle unterbringen konnte. Und das Gefühl, das sich dort ausbreitete, war Mitleid.

    Fast hätte er ihr dieses auch bekundet, doch er erinnerte sich gerade früh genug daran, dass es sie eher kränken oder weiter erzürnen als trösten würde. Aber eine Frage konnte er nicht zurückhalten.

    „Und warum wolltest du das werden?“

    Sie antwortete ohne zu Zögern und plötzlich auch wieder ohne jegliche Emotionen in ihrer Stimme. Frei von Wut, von Zorn, von allem.

    „Um Mirjana zu töten.“

    Ryan befürchtete, mit diesem Mädchen niemals auf einer Ebene kommunizieren zu können. Er hatte bei ihrer Geschichte nicht geschlafen und auch nichts vergessen. Im Gegenteil. Er war sich ziemlich sicher, selbst in Jahren diese Geschichte Wort für Wort, so rezitieren zu können, wie sie ihm erzählt worden war.

    „Natürlich. Aber wolltest du das auch. Oder wollte das bloß dein Vater?“

    Aus der Erzählung war hervorgegangen, dass Sheila den Mord an der ersten Drachenpriesterin, Milas Mutter, nicht nur wegen eines Befehls wegen begangen hatte. Sie hatte sich selbst ein Bild von ihr gemacht und unvoreingenommen beurteilt, ob ihr Tod notwendig war oder nicht. Dennoch hatte sie, ohne jegliches Wissen um diese Frau, die Strapazen, die Qualen und Entbehrungen auf sich genommen, um stark genug für den Ernstfall zu sein. Das tat man doch nicht einfach so.

    Hier geschah etwas Unerwartetes. Etwas Erstaunliches. Sheila wandte den Blick ab und ließ ihn durch den plätschernden Bach streifen. Ihre rubinroten Augen huschten in unregelmäßigen Abständen hin und her. Eine Braue zuckte kurz nach oben.

    Sie überlegte. Sie dachte nach, wägte ab. Ryan konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich ihr diese Frage nicht schon einmal früher gestellt hatte. Doch vielleicht hatte sie inzwischen anderen Ansichten dazu oder konnte besser beurteilen, wie die Wahrheit denn aussah. Oder ob sie Ryan diese Wahrheit überhaupt verraten wollte. In jedem Fall tat sie es, wie alles, das sie tat. Frei von äußerlichen Einflüssen und ehrlich zu sich selbst.

    „Sowohl als auch“, antwortete sie schließlich, nicht ganz so nüchtern und finster, wie er es von ihr gewohnt war.

    Ryan nickte dankend, zur Kenntnis nehmend, verzichtete aber darauf, weitere Fragen zu stellen. Wie man denn in so jungem Alter von selbst den Plan fassen konnte, jemanden umzubringen, entzog sich seinem Verständnis. Doch ihm war auch bewusst, dass die Menschen zu dieser Zeit eine ganz andere Denkweise hatten. Ihre allerdings war selbst unter dieser Berücksichtigung… besonders. Sowohl im positiven als auch negativen Sinne.

    Sheila hätte das Thema an dieser Stelle wohl auch selbst beendet. Sie wandte sich ab, strich dem Vipitis, dass sich hinter ihr aufgerichtet hatte, noch einmal im Vorbeigehen über den Kopf und führte ihre Hände dann zu Saum ihren Rocks. Ryans Augen weiteten sich alarmiert und er zwang sich sofort zum Umdrehen. Sie nahm es mit einem scharfen Blick aus dem Augenwinkel wahr, äußerte sich aber nach wie vor nicht und öffnete stattdessen den Knoten ihrer Bandagen.

    Er hätte längst gehen können. Ach was, sollen! Doch der erstarrte Trainer rührte sich nicht vom Fleck, ließ den Blick mal hierhin, mal dahin schweifen. Durch die Bäume, über die Wiese, in den Himmel. Die Hände mal in die Seiten gestemmt, mal verlegend den Kopf kratzend oder einfach nervös die Finger dehnend. Als er dann das Plätschern des Wassers vernahm, atmete er tief ein, als wolle er es doch wagen, sich umzudrehen. Das war natürlich nicht seine Absicht. Dennoch tat er es. Arceus im Himmel, er sah wirklich zu Sheila rüber und wusste nicht einmal, was ihn dazu brachte. Sie stand da, bis zur Hüfte im Wasser, führ sich gerade mit beiden Händen durch das nachtblaue Haar, und zeigte ihren nackten Rücken.

    Er wollte sich augenblicklich wieder abwenden und regelrecht fliehen. Einfach nur fort. Es gab eh keinen Grund mehr, zu bleiben. Doch der winzige Moment, in dem seine Augen sie getroffen hatten, fesselte seinen Blick sogleich. Doch das lag nicht etwa an ihrer Schönheit oder dergleichen. Er hatte ohnehin nur Augen für Melody.

    Sheila blickte über die Schulter. Von Wut, Scham oder anderen Gefühlen, die in diesem Moment wohl jedes Mädchen verspürt hätte, keine Spur. Wenn überhaupt, dann ging ihr bloß sein peinliches Getue auf die Nerven. Doch nur fast.

    „Du wirkst schockiert.“

    Das lag nicht an ihrem unbekleideten Körper, der vor ihm im Wasser stand. Nun ja, gewissermaßen doch, aber nicht auf die Weise. Gar ging er noch ein paar Schritte auf sie zu und sah genauer hin, inspizierte jeden Zentimeter.

    „Das waren also deine Strapazen?“

    Er würde die Narben nicht zählen können. Doch ein paar Dutzend waren es bestimmt. Die meisten davon lang und schmal, wohl von Klingen hinterlassen, oder vielleicht von Krallen. Es war unschwer auszumachen, welche damals von Mirjanas Schwert geschlagen worden war und Sheila beinahe das Leben gekostet hatte. Die kleinen in runder Form waren wohl Stichverletzungen und eine besonders Flächengroße, üble Narbe zeichnete sich an ihrer Flanke unterhalb der Rippen. Sein Gedächtnis meldete sich und verriet, dass es sich dabei um die Spuren ihrer Jagd nach einem Ursaring handeln musste. Angesichts der Narbe grenzte es ans Absurde, dass Sheila damals nicht an der Wunde verendet war.

    „Wage es nicht, mich zu bemitleiden“, warnte sie seltsamerweise längst nicht so scharf und gespenstisch, wie Ryan es von ihr kannte und ließ ihr Haar fallen – die Spitzen waren gerade so ins Wasser getaucht. Gelangweilt oder teilnahmslos war es jedoch auch nicht. Eher irgendetwas dazwischen, das er nicht sofort bestimmen konnte.

    „Wie könnte ich nicht? Und sag jetzt nicht, dass es schlimmer aussieht, als es ist.“

    Aus irgendeinem Grund war er beinahe erleichtert, nun bereits wieder das bekannte, abfällige Schnauben zu vernehmen.

    „Wie töricht. Natürlich ist es umgekehrt. Diese Spuren erzählen nur Nebengeschichten eines Lebens, dass sich dem Kampf und dem Töten verschrieben hat. Doch ich trage jede Narbe mit Stolz.“

    Ryan konnte sich denken, warum sie das so empfand, versicherte sich dessen aber nicht. Doch das war auch nicht nötig. Sheila schien so langsam unheimlich gesprächig zu werden. Und bereit, mehr und mehr von sich preiszugeben. Vermutlich realisierte sie das gar nicht.

    „Ich könnte dir jede einzelne Person, jedes Pokémon, all jene aufzählen, die sich auf meiner Haut verewigt haben.“

    Ihre Rubine wanderten hinauf zu Ryans Augen und durchdrangen sie mit dem Anflug von etwas, dass höchstens mit einem wahnsinnigen, blutrünstigen Lächeln gepaart werden könnte. Doch eigentlich wollte er es in gar keiner Form als Lächeln anerkennen. Selbst wenn er meinte, einen Hauch verträumter Nostalgie darin zu erkennen.

    „Dadurch definieren sich ehrenvolle Krieger. Sie behalten einander in Erinnerung und würdigen des Gegenübers Stärke. Und diese Narben sind der Beweis für die Stärke derer, die sie hinterlassen haben. Ich würdige lieber diese, als einen bröckelnden, moosbedeckten Grabstein.“

    Es war eine völlig neue Sheila, die sich Ryan hier präsentierte. Eine, die offen von den Werten sprach, die sie in Ehren hielt, die sie schätzte und sie ebenso geprägt hatten, wie das brutale Training und das kaltblütige Morden. Doch diese Sheila wollte ihm nicht gefallen. Sie verherrlichte etwas, das er für abscheulich hielt.

    Er ließ sich im Schneidersitz auf den Boden sinken und hielt den Kopf fortan gesenkt. Über seine Peinlichkeit war er hinaus, aber er wollte es dennoch vermeiden, eine unbedeckte Sheila während solch eines Gesprächs anzusehen.

    „Du stellst dich als Attentäterin auf dieselbe Stufe wie Ritter?“

    Er erkannte die Beleidigung in seinen Worten und erklärte sich für Suizidgefährdet, da er sie dennoch bewusst aussprach. Doch zu seiner Überraschung – und zu seinem Glück – ging die Assassine nicht im Geringsten darauf ein. Ignorierte es entweder oder überhörte es.

    „Ritter machten selbst damals nur einen geringen Anteil meiner Opfer aus. Aber… ja, ich stelle mich grundsätzlich auf eine Stufe mit ihnen und noch höher als alle, die ich getötet habe oder von denen ich weiß, dass ich sie töten könnte.“

    Diese Ansicht erklärte, warum Sheila auf die meisten Menschen herabblickte, sie als töricht, dumm und schwach ansah. Weil einfach keine Menschen mehr existierten, die so wie sie waren. Mila hatte definitiv Recht behalten, als sie dies gesagt hatte.

    Doch ihre Ansicht selbst entfernte sich weit von dem, was Ryan von Ehre und Anerkennung verstand. Er war kein Krieger, hatte nie um sein Leben gekämpft oder mit dem Ziel, ein anderes zu nehmen. Doch einen Meuchelmörder könnte er niemals so achten, wie einen Krieger, der sich offen und ohne Furcht, ohne Vermummung, Tricks und Hinterhalte dem Kampf stellte.

    Sein Gesicht musste verachtende Züge angenommen haben, denn ein durchschauender Blick aus verengten, rubinroten Augen schien genau diese Gedanken zu vermuten.

    „Ich will dich etwas fragen.“

    Sie wartete nicht darauf, dass er zustimmte, sie zu beantworten. Er würde diese Zustimmung nicht geben, doch abweisen würde er sie auch nicht.

    „Verdient ein Sniebel weniger Respekt, als ein Gegner, der von Angesicht zu Angesicht kämpft? Oder ist dieses Vipitis ehrlos im Vergleich zu deinem Despotar? “

    Er merkte schnell, worauf sie hinaus wollte, doch er antwortete nicht, sondern presste bloß die Lippen aufeinander. Er wusste in diesem Moment nicht genau, mit welchem Gefühl er das tat.

    „Es ist doch egal, welche Art zu kämpfen man sich antrainiert. Diese Kunst muss gleichermaßen erlernt und perfektioniert werden. Und man muss gegen die Taktiken anders kämpfender Gegner gefeilt sein. Ob Knechte, Knappen, Leibgarden, Ritter oder gar Könige – sie alle haben sich einst nur auf einen Kampf zu ihren eingebildeten Konditionen vorbereitet. Ich hingegen kämpfte unzählige Male ebenso oft den Zweikampf, auch wenn ich bevorzugt aus dem Hinterhalt gemeuchelt habe.“

    Sheila begann sich in ihrer Erzählung zu verlieren, blendete beinahe alles um sich herum aus. Jedoch nur soweit es ihre in Fleisch und Blut übergegangenen Instinkte erlaubten, um nicht unachtsam und somit ein attraktives Angriffsziel zu werden. Sie legte ihre Hände ineinander und schöpfte etwas Wasser darin, betrachtete ihr kaltes Gesicht in der Spiegelung.

    „Menschen, die Ehre daraus definieren, sich offen zu stellen, sind Narren“, fuhr sie fort.

    „Es gab und gibt niemals eine Vorgabe, wie man zu kämpfen hat. Oder bittest du etwa während eines Pokémonkampfes, dein Gegner möge doch keine Tricks oder Täuschungen anwenden?“

    Daraufhin schnaubte Ryan nur. Weniger, weil er die Vorstellung lächerlich fand, sondern mehr, weil ihre Argumentation erschreckend plausibel klang.

    „Es ist ganz gleich, welches Gesicht unsere Stärke hat“, zitierte sie die Worte Milas, als sie einst beschlossen hatte, die Mörderin ihrer Mutter in ihre Obhut zu nehmen.

    „Ich habe für meine Fähigkeiten nicht weniger trainiert, als einst jeder Ritter und lasse mir den Ruhm ihrer Leben nicht ausreden, weil ich mich nicht ihren Bedingungen gestellt habe. Ich habe all meine Fähigkeiten genutzt, so wie sie es im Duell getan hätten.“

    Mit einem letzten Blick aus dem Augenwinkel forcierte sie doch ein letztes Mal den seinen auf sich, wandte sich gar ein kleines Stück in seine Richtung, sodass er um ein Haar mehr gesehen hätte, als ihm lieb war.

    „Es steht dir frei, wie du darüber denkst. Doch dies wollte ich dich über mich wissen lassen.“

    Allein für diese Tatsache sollte Ryan dankbar sein. In der Tat fühlte er auch, dass etwas zwischen ihnen beiden passiert war. Dass er ein Stück naher dran war, als Kamerad anerkannt zu werden. Dass sie sich nicht verschloss oder versuchte ihre Vergangenheit zu verschleiern. Dass sie miteinander reden konnten. Und das wiederum bedeutete, dass sie zusammenarbeiten konnten.

    Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben. Er nickte. Sehr langsam und kaum merklich. Doch sie erkannte es an. Und er erkannte sie an. War sich zudem absolut sicher, dass sie die Art seines Lächelns richtig deutete. Er war keineswegs ihrer Meinung oder hatte sich von ihren Ansichten überzeugen lassen. Obwohl er zugeben musste, dass er einige Dinge jetzt anders beurteilte, würden sie trotzdem nicht auf einen Nenner kommen. Doch das mussten sie auch nicht, weil sie einander verstanden. Sie hatte sich erklärt. Und er seinerseits begriffen, wie Sheila tickte, was sie schätzte und wie ihre Sicht zu den Dingen, die ihr Leben prägten, war.

    Er lernte sie kennen. Das war ihm deutlich mehr wert.

    Die Attentäterin senkte selbst den Kopf ein Stück. Hatte sie ebenfalls nicken wollen und auf halbem Wege gestoppt? Oder war sie noch misstrauisch, ob dieser Trottel ihr hatte folgen können? Ryan wusste es nicht genau, war aber sicher, eine gewisse Form der Anerkennung zu vernehmen. Selbst wenn er sich irren sollte, so wäre das auch okay. Hauptsache, es war ein Schritt in eine bessere Richtung.

    Sheila drehte sich wieder um und streckte ihre Arme, während sie sich bis zu den Schultern ins Wasser sinken ließ. Gewissermaßen eine Erleichterung für Ryan, doch eine letzte Narbe sah er noch. Sie lag auf ihrem rechten Schulterballen und war… anders. Das war nicht nur ein Schlitz oder Kratzer, sondern eine präzise Form. Er meinte einen Sichelmond zu erkennen, der von beiden Seiten je von einem Schwert durchbohrt wurde.

    „Was ist das?“, konnte er die Frage einfach nicht unterdrücken. Sheila drehte sich diesmal ganz um und schien ein wenig verärgert, dass das Gespräch nicht beendet war. Auch Ryan erachtete es im Nachhinein als unangebracht, jetzt noch weitere Fragen zu stellen, doch nun war es nun mal raus. Sie fing seinen Blick auf und folgte ihm zu ihrer Schulter. Jeder andere Mann hätte wohl etwas tiefer gezielt, doch zu Ryans Glück war das Wasser ohnehin sehr trüb.

    „Das Zeichen meines Klans. Des Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin. Alle Krieger und Assassinen, die in unserem Dorf ausgebildet wurden, trugen es auf ihrem Körper. Sie erhielten es als Zeichen der Anerkennung und ihrer Stärke. Doch ich habe es selbst in meine Haut gebrannt.“

    Sie erklärte bei weitem nicht so einnehmend, wie eben noch. Deutlich plumper, die blanken Informationen einfach runter rasselnd. Es war wieder die Sheila, die er von Anfang an gesehen hatte.

    „Wieso das?“, wagte er weiter wissen zu wollen. Und mit einem Mal wechselte ihre Stimme wieder. Nicht nostalgisch oder melancholisch, aber dafür unsagbar ernst.

    „Da ein früher Tod mein Schicksal sein sollte, hatte ich es zunächst abgelehnt. Es sollte niemals ein Träger dieses Zeichens auf Knien darauf warten, enthauptet zu werden. Doch nachdem Mila mein Leben verschonte, wollte ich es auf meiner Haut tragen.“

    Nicht, dass diese Denkweise nicht nachvollziehbar war, aber irgendwie passte das nicht zu seinem Bild von ihr. Doch vielleicht mutete er sich auch zu viel zu, nachdem er doch erst vor einer Minute angefangen hatte, sie kennenzulernen.

    „Es ist irgendwie untypisch, dass du dich an etwas klammerst.“

    Da wurde ihr Blick wieder scharf und tödlich wie ihre Dolche.

    „Meine Herkunft und mein Klan sind das wertvollste Gut für mich. Nichts auf der Welt ehre und respektiere ich mehr. Sollte sie jemals meinen Klan beleidigen, würde ich nicht zögern selbst Mila zu töten.“

    Diese Information versetzte Ryan einen richtigen Schlag in der Magengegend. Es wäre allerhöchstens eine geringfügige Übertreibung gewesen, hätte man behauptet Mila sei ihre Königin. Dass selbst sie unter der Bedeutung dieses Brandzeichens stand...

    Jedenfalls ermahnte Ryan sich selbst dazu, niemals über ihren Klan zu sprechen und nahm sich vor, Andrew später dasselbe zu raten. Doch eine Frage hierzu wollte er noch beantwortet haben, von der er auch glaubte, dass er sich diese erlauben konnte.

    „Wenn dein Klan dir heilig ist, wieso bist du nie zurückgekehrt?“

    Sie lehnte sich im Wasser zurück und blickte gen Himmel. Jeder hätte das gerne getan. Hätte gerne wieder die Menschen getroffen, mit denen man in der Kindheit Seite an Seite gelebt hatte. Doch für sie war nie mehr als ein einziger Mensch wertvoll gewesen. Und diesen Menschen hatte sie eigenhändig getötet, um ihre Ausbildung zu beenden.

    „Es wäre eine geringere Schande gewesen, hätte Mirjana mich getötet.“

    Sie wandte den Blick ab. Nicht ausweichend. Nicht fliehend. Sie schien gar nichts dabei zu empfinden. Vielleicht war sie des Gesprächs inzwischen einfach müde.

    „Ich zog einst los, mit dem Ziel und der Pflicht sie zu umzubringen und ihr anschließend zu folgen. Mit dem Verlassen meines Dorfes, war mein Leben dort vorbei.“

    Sheila war vermutlich die einzige Person, bei der diese Erläuterung als ausreichend eingestuft werden konnte. Zumindest für jemanden wie Ryan, der sich so viel Mühe gab, sie zu verstehen. Das hatten sicher die Allerwenigsten versucht.


    Ryan hatte sich hierauf mit einem ehrlichen Dank verabschiedet und samt seines Kumpels auf den Weg ins Pokémoncenter gemacht. Sheila war noch eine Weile geblieben und trieb regungslos im Wasser, wirkte fast nachdenklich. Doch sie wartete einfach bloß. Wartete still und geduldig. Allzu sehr wurde diese Geduld nicht beansprucht.

    „Das war ja fast rührend.“

    Wie es typisch für sie war, verbarg sich in den Worten ihrer Gebieterin niemals ein Hauch von Hohn, Süffisanz oder Humor, der in diesem Fall auf Shailas Kosten gehen würde.

    „Du hättest dich nicht versteckt halten müssen“, entgegnete der Assassine nur nüchtern.

    „Ich denke, es hat euch beiden ganz gut getan.“

    Das nahm Sheila ohne eine eigene Meinung zu äußern zur Kenntnis. In der Regal tat sie das nur dann, wenn sie zustimmte.

    „Team Rocket hält sich nach wie vor zurück. Die drei sind müde und überspannt und werden dich um Hilfe ersuchen, damit sie sich in Sicherheit erholen können“, berichtete sie mustergültig. Das wurde ebenso mit einem einfachen Nicken entgegengenommen. An dieser Stelle würde Mila bereits wieder gehen, doch sie hatte nicht den Eindruck, dass ihre Partnerin ausgeredet hatte.

    „Du willst noch etwas loswerden.“

    Das war keine Frage gewesen. Sie wusste es.

    Sheila stand abrupt auf, hatte der Drachenpriesterin, wie zuvor auch Ryan, den Rücken gewandt. Es war keine erfreuliche Information und so hatte sie, als würde sogleich ein Feind aus dem Hinterhalt hervorkommen, mit verengten Augen den Kopf gesenkt.

    „Ich sah heute ein Brutalanda über den Wald fliegen. Eines mit einer Narbe unterm Hals.“

    Es dauerte einige Sekunden, bis Mila irgendeine Reaktion darauf zeigte. Und die erste war auch nur ein tiefer Stoßseufzer.

    „Das ging schneller, als erwartet.“

    Kapitel 31: Kräftemessen


    „Hast du´s bald?“

    Die aufgetorkelte Frau richtete selbst noch ihre Frisur, motzte aber mit ihrem Kameramann, als warte sie schon seit einer Stunde. Das brünette Haar war mit so viel Spray in Form gebracht, dass es wohl nicht einmal erzittern würde, selbst wenn er ihr eben diese Kamera, an deren Einstellungen er gerade noch feilte, auf den Kopf schlagen würde. Lust dazu hätte er jedenfalls. Es war ja nicht das erste Mal, dass sie ihn so drängte, obwohl dazu keinerlei Grund bestand. Doch er war ja selbst schuld. Kollegen hatte ihn von dem „parfümierten Drachen“, Melissa Winston gewarnt und er Trottel hatte es ignoriert.

    „Ja, ja. Bin soweit“, grunzte der junge Mann mit Truckermütze, Weste und Fahrradhandschuhen, als er das Gerät auf seine Schulter hievte.

    „Ein Ja ist genug“, schob sie noch hinterher. Es war allgemein bekannt, was zwei zu bedeuten hatten.

    Er fügte diesmal nur gedanklich hinzu, dass es auch genau das hatte bedeuten sollen und konzentrierte sich lieber auf seine Arbeit. Sonst würden sie heute nicht mehr fertig. Oder eher, sonst verschwanden die „Promis“ noch.

    „Drauf in 3, 2, 1…“

    „Nur selten mag man so viele hochklassige Trainer auf einem Fleck finden. Der Summer Clash ist in greifbarer Nähe und lockt namenhafte Trainer in Hoenns Hauptstadt. Und wie sich herausstellt auch aus Übersee.“

    So zickig die Reporterin auch war, musste man ihr eine gewisse Professionalität zugestehen. Nur der Kameramann konnte wissen, dass ihr Lächeln falsch und sie selbst eigentlich mieser Laune war. Und doch rasselte sie professionell ihre Anmoderation runter. Für die Menschen von dem Bildschirm musste sie wirken, wie eine gute Fee.

    „Dass sich die stärkste Arenaleiterin der Johto Region in Graphitport aufhält, ist bereits seit Tagen bekannt“, fuhr sie sogleich fort.

    „Doch obendrein sitzen nebst Sandra niemand geringeres als Ryan Carparso und Andrew Warrener zusammen im Restaurant des Pokémoncenters und halten Small Talk. Ganz ohne Zweifel eine starke Runde.“

    Durch die verglaste Wand des Centers war zwar der Weg frei für angenehm viel Tageslicht, aber auch eben Journalisten und Paparazzi. Die ganze Zeit schon gaben sich eifrige Fotografen quasi die Klinke in die Hand, um die Trainer beim Frühstück zu stören. Genau genommen war das Buffet inzwischen geschlossen, doch viele, so auch die drei genannten, tranken noch ihren Kaffee oder Orangensaft und plauderten über dies und das.

    „Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, warum die Leiterin von Ebenholz hier in Graphitport ist, aber sollten tatsächlich alle drei am Summer Clash teilnehmen wollen, wäre das wirklich ein Wahnsinns Aufgebot und gleich drei mögliche Kandidaten für den Turniersieg. Doch damit nicht genug. Unbestätigten Gerüchten zufolge ist auch Terry Fuller, amtierender Champ der Silberkonferenz in der Stadt angekommen. Ich habe das Gefühl, wir können uns auf den hochkarätigsten Summer Clash aller Zeiten einstellen.“

    „Ich wünschte, hier gäbe es Vorhänge zum Zuziehen.“

    Andrew mochte die Aufmerksamkeit – der Fans, der Zuschauer und der anderen Trainer. Aber ganz sicher nicht die der Medien.

    „Warum das?“, fragte Sandra und drehte, ihre Kaffeetasse noch immer in der Hand, den Kopf in die Richtung, die der junge Trainer mit Frust anpeilte. Sie schien ehrlich überrascht, vor der Scheibe eine Fernsehkamera sowie eine schick gekleidete Frau mit Mikro vorzufinden.

    „Stehen die schon lange da?“

    Ryan zog skeptisch eine Braue hoch. Er selbst hatte ebenfalls kein spürbares Problem, so lange diese Journalisten nicht zu aufdringlich wurden oder ihm zu dämliche Fragen stellten. Aber dass Sandra sie derart ausblenden konnte, wollte er auch nicht sofort glauben.

    „Sag bloß, du siehst die erst jetzt?“

    Sie lächelte nur… schuldbewusst? Nein, eher als bemitleide sie die Leute, die sich von denen stören ließen.

    „Ich hab schon zu lange mit solchen Gestalten zu tun. Ich blende sie mittlerweile schon unbewusst aus.“

    Beneidenswert, wie sicher viele andere bekannte Trainer unterschreiben würden. Andrew auf jeden Fall.

    „Lassen wir das. Ihr wolltet gerade von eurem Schiffbruch erzählen“, griff die Leiterin wieder auf. Es hatte sich herausgestellt, dass sie den Vorfall in den Medien verfolgt und sich schon damals an die beiden erinnert hatte. Es war für sie wenig verwunderlich gewesen, dass die beiden in eine größere Sache geraten waren, als sie direkt am Tag darauf von Mila kontaktiert worden war. Ganz altmodisch, per handschriftlich verfasster Nachricht, überbracht von dem Kramshef, das sie einen Freund rief. Es wäre dem Zufall etwas zu viel gewesen, dass sie quasi direkt auf diesen Garados Angriff nach ihrer Hilfe fragte.

    Ryan und Andrew erzählten nicht allzu gern davon, was in erster Linie mit Dragonirs Verletzung erklärt war. Bei diesem Punkt schlug selbst Sandra eine Hand vor den Mund. Ob sie das wohl genauso getan hätte, wenn es kein Drachenpokémon erwischt hätte? Vermutlich schon.

    Ryan bemerkte, dass sie nicht aus reiner Höflichkeit oder Langeweile fragte. Sie war wirklich interessiert daran. Und das Gefühl, mit so einer Persönlichkeit reden zu können, als kenne man sich schon seit Jahren, war ein unsagbar tolles, wie er befand. Sie war kein Mensch, bei dem Etikette oder Formalitäten die Umgangsformen bestimmten. Sie war sie selbst und verlangte von ihren Gesprächspartnern nicht mehr, als es ebenfalls zu sein. Die Frau war schlichtweg cool.

    Man konnte mit ihr ähnlich befreit und ungezwungen reden, wie mit Melody. Die war bereits zurück auf das Zimmer gegangen, das sie sich glücklicherweise mit Sandra teilen durfte. Eine Ausnahme, die sie wohl nur ihrem hohen Namen zu verdanken hatten.

    „Wenn ich so drüber nachdenke, grenzt es fast an ein Wunder, dass ich den Drachensplitter da nicht verloren hab“, grübelte Ryan dann plötzlich, als er in Gedanken an den Moment zurückspulte, in dem er und Andrew von Bord gegangen waren.

    „Wäre vielleicht sogar besser gewesen“, meinte der darauf schulterzuckend, dachte sich bei diesem Satz weniger, als er eigentlich sollte. Rücksichtsvoll ging jedenfalls anders. Sandra jedoch schürzte skeptisch die Lippen.

    „Dem würde ich mich jetzt nicht anschließen. Wenn Rayquaza jemals dahinterkommen würde, dass sein Herz irgendwo im Ozean verloren gegangen sei, würde er Mila wahrscheinlich in Einzelteilen hinterherwerfen.“

    Das meinte sie keineswegs sarkastisch und schon gar nicht als Spaß. Sie ging stark davon aus, dass etwas in der Richtung das besiegelte Schicksal der Drachenpriesterin wäre, sollte der Splitter für immer verloren gehen.

    „Ich frage mich…“ setzte Ryan an, wägte kurz ab, ob die Frage dämlich sei. Doch etwas Unwahrscheinliches musste ja nicht gleich dämlich sein.

    „Hat sie jemals mit Rayquaza gesprochen?“

    Er meinte, er hätte wenigstens ein Mal zu ihr gesprochen haben sollen. Als die den Schwur geleistet und den Ring, der jenen bekundete, angelegt hatte, zum Beispiel. Oder als sie Mirjana bestattet hatte. Tatsächlich war aber nie ein Wort darüber über ihre Lippen gekommen. Noch darüber, ob Rayquaza sich Mirjana selbst ein zweites Mal gezeigt hatte, nachdem sie zu seiner Dienerin geworden war. Das überstieg Sandras Wissen, obgleich sie stark von etwas Ähnlichem ausging.

    „Sie betet zu ihm. Ob er ihre Gebete wirklich hört und auch antwortet, habe ich nie gefragt.“

    Das wäre wohl auch nicht angemessen. Einen unsterblichen Menschen über seine Beziehung zu dem mächtigen Drachengott auszufragen, schickte sich nun wirklich nicht.

    „Tust du das eigentlich auch?“

    Ryan hatte nicht erwartet, auf derartige Verwunderung zu stoßen, aber sowohl Sandra als auch Andrew sahen ihn plötzlich fast verständnislos an.

    „Was tun?“

    Er blickte zwischen beiden hin und her und räusperte sich dezent.

    „Zu Rayquaza beten.“

    Ryan kapierte nicht ganz, warum diese Frage jetzt so sonderbar sein sollte. Sandra war eine Drachenmeisterin und sogar mit der Anführerin einer Garde gut bekannt, die sich dem Gott dieser Spezies verschrieben hatte. Beim erneuten Nachdenken fiel ihm ein, dass Religionen, in denen alte Götter wie Rayquaza verehrt wurden, meist aus früheren Epochen stammten und heute so gut wie nicht mehr praktiziert wurden. Die meisten Leute auf der Welt erkannten lediglich Arceus als den Schöpfer des Lebens und des Universums an, wobei es auch einige Leute gab, die Mew diesen Titel zusprechen würden. Bei ihnen in Johto wurde allgemein, aber besonders in Teak, zu Ho-oh und einst auch zu Lugia gebetet. Doch solche Religionen waren in ihrer Heimat ebenso im Schrumpfen oder gar im Sterben begriffen, wie es auch bei den Göttern anderer Länder der Fall war. Nicht viele Menschen waren dieser Tage überhaupt religiös.

    Doch Sandra, die über Mila quasi einen indirekten Bezug zum Vater aller Drachen hatte, traute er durchaus zu, ihm wenigstens ab und an ein Gebet zu sprechen.

    „Ich bete nicht“, stellte Sandra schließlich klar. Wenn es nach Andrew ging, war das absolut verständlich. Er jedenfalls würde niemanden anbeten, … nun ja, Punkt. Aber erst recht niemanden, der Gedanken hegte, eine ganze Rasse auszurotten.

    „Aber ich sag dir was“, fuhr die Leiterin fort und lehnte sich etwas verschmitzt lächelnd nach vorn.

    „Wenn wir das alles irgendwie lebend überstehen sollten, dann fang ich an, regelmäßig zu Rayquaza zu beten“, versprach sie und deutete fest mit dem Finger auf Ryan.

    Der hätte lieber keine Antwort bekommen als diese. Als eine, die ihn einmal mehr daran erinnerte, in was für eine Gefahr er sie alle gebracht hatte.

    „Tut mir leid.“

    „Was denn?“

    Begriff die Frau überhaupt etwas, von dem, was in ihm vorging? Andrew tat es, dem Blick nach zu urteilen, doch der kannte ihn auch besser, als sonst jemand auf der Welt.

    „Sandra, du hast dich quasi in die Schlange für eine Fahrt mit der Guillotine gestellt. Und das nur, weil mich wer weiß schon was geritten hat, als ich…“

    „Mich hat keiner gezwungen“, unterbrach sie fest und bestimmend. Lehnte sich anschließend zurück und schlug die Beine übereinander.

    „Lass mich mal was klarstellen. Ich gebe dir an alldem hier nicht die Schuld. Und Mila tut das auch nicht, das hat sie schon während unseres ersten Gesprächs bei jeder Gelegenheit betont.“

    Dass die Drachenpriesterin so tickte, war zu erwarten gewesen, doch tatsächlich würde Ryan sich wohl sogar ein bisschen besser fühlen, wenn sie ihm wenigstens einmal einen Vorwurf machen würde. Dieses Übermaß an Güte, Verständnis und Nachsicht war wirklich erdrückend und quälend.

    „Ich will den Diebstahl an sich weder kleinreden noch gutheißen. Natürlich war das falsch, aber ich bin nicht wegen so einem Kinderkram hergekommen. Die Tatsache, dass du quasi ein Dieb bist, interessiert mich nicht ein bisschen. Und die Tatsache, dass du den Drachensplitter bei dir trägst, ist in meinen Augen ein himmelsgleicher Glücksfall.“

    Diese Behauptung sorgte glatt dafür, dass die Rollen nun vertauscht wurden. Während die beiden Trainer sehr offensichtlich keinen blassen hatten, womit Sandra das begründete, sah die sie nur an, als wäre der Grund doch so naheliegend.

    „Das musst du jetzt erklären.“

    „Na denkt doch mal nach, ihr zwei“, forderte sie im wahrsten Sinne. Sie griff nach ihrem Kaffee und gönnte den beiden einige Sekunden Bedenkzeit. Doch es hätte ebenso eine Stunde sein können, was sie recht schnell begriff, als sie die Jungs musterte.

    „Meint ihr denn, der Drachensplitter wäre bei Team Rocket besser aufgehoben?“

    Ryan verschlug es für einen Moment wirklich die Sprache. Die Frage war absolut rhetorisch, aber dass sie ausgesprochen worden war, gar längst überfällig.

    „Ich bin ziemlich sicher, wenn die ihn noch hätten, lägen bereits Städte in Trümmern.“

    Daran wollte er lieber gar nicht denken. Es war für ihn noch immer – selbst nach allem, was er bis hierhin gesehen und gehört hatte –, unwirklich und nahezu unvorstellbar, dass dies wirklich passieren könnte. Doch es war Fakt, dass dies im Bereich des Möglichen lag. Wenn nicht sogar des Wahrscheinlichen.

    „Genug davon“, meinte Sandra abschließend und setzte ihre gerade geleerte Tasse ab.

    „Es wird Zeit, den Köder auszuwerfen. Wollen wir?“

    Sie wartete nicht auf eine Antwort der beiden jüngeren Trainer, sondern erhob sich gleich und marschierte von dannen. Ryan und Andrew eilten sich, ihr zu folgen. Es fühlte sich irgendwie merkwürdig an, hinter Sandra herzugehen, nur den schwingenden Zopf ihrer blauen Haarpracht und das flatternde Cape zu sehen und an ihr zu hängen, wie Mitläufer oder gar Gefolgsmänner. Naja, es gab durchaus Schlimmeres. Die Blicke der anderen Trainer und Teilnehmer des Summer Clash waren ihnen schon beim Eintreten ins Lokal sicher gewesen und nun war es nicht anders. Es war schwer zu schätzen, wer der drei am meisten beäugt wurde.


    Ryan staunte nicht schlecht. So ein Wesen hatte er zuvor noch nie gesehen. Logisch, wenn Sandra ihm versicherte, dass es für gewöhnlich in der Einall-Region beheimatet war. Über die dort lebenden Pokémon reichte sein Wissen nicht gerade weit.

    Vor ihm baute sich ein aufrecht gehendes Wesen von annähernd zwei Meter Höhe und mit schuppiger Haut auf. Rau und scharfkantig war dieses Kleid vom blutrot gefärbten Kopf über einen klobigen, kobaltblauen Körper bis hin zur Schwanzspitze. Lediglich die Lehmfarbenen Bauchschuppen waren glatt und weich. Die langen Arme waren, ebenso wie der Schwanz mit roten Stacheln versehen und mündeten in mächtige Klauen, die absolut tödlich wirkten, wie auch das monströse Gebiss. Die Zähne waren keine Präzisionswerkzeuge, sondern eher grobe Waffen, die alles, was unglücklicherweise zwischen sie geriet, mit Gewalt zermalmten, anstatt zu zerschneiden. Die Flügel wirkten unverhältnismäßig klein und untauglich zum Fliegen, waren das Einzige, das die respekteinflößende Gestalt des Shardrago ein klein wenig schmälerten.

    „Siehst du zum ersten Mal eins?“

    Sandra war keine Trainerin, die gerne prahlte, protzte oder sich an den großen Augen anderer ergötzte. Doch einen Trainer wie Ryan, der sie besiegt hatte und auf den die große Stücke hielt, in Staunen zu versetzen, erfüllte sie durchaus mit Stolz.

    „Ja und jetzt will ich auch eins haben“, gab er ohne Scham zu. Dieses Pokémon war eine der imposantesten Spezies, die er je hautnah gesehen hatte. Groß, kräftig, mit bedrohlichem Erscheinungsbild, setzte aber, wie Ryan schätze, nicht bloß auf primitive und grobe Gewalt. Die halbrunden Augen verrieten einen gehobenen Grad an Intelligenz und Scharfsinn. Die fand man bei den meisten Drachen. Diese Gattung war einfach etwas Besonderes.

    „Seit wir zusammen kämpfen, musste er sich noch nicht ein Mal geschlagen geben“, erläuterte die Leiterin aus Ebenholz und ging in eine leicht breitbeinige Position über. Sie schärfte ihren Verstand für den Kampf.

    „Hast du das gehört, Despotar? Wir können heute was Großes vollbringen!“

    Die Felsechse ließ sich von dem Shardrago nicht im Geringsten beeindrucken. Despotar war eines der größten und mächtigsten Landpokémon, die es überhaupt gab. Dieser Drache sollte sich als Herrscher seine Höhle und nicht mehr betrachten und wäre besser beraten, wenn er sich in selbige zurückziehen würde. Und das auch nur so lange, wie das gepanzerte Steinpokémon entschied, diese Höhle nicht zu seiner eigenen zu machen. Doch vielleicht war dies endlich ein Gegner nach seinem Geschmack.

    Sandra grinste in vorfreudiger Erwartung. Auch wenn dies hier nur ein Trainingskampf war, gegen Ryan Carparso und obendrein eines seiner stärksten Pokémon anzutreten, dem sie noch nie gegenübergestanden war, versprach mit Sicherheit Spaß.

    Andrew hielt sich etwas abseits der Lichtung auf, die Ryan und Sandra für ihr Übungsmatch nutzen und widmete sich intensiv seinem Dragonir. Seine übrigen Pokémon waren derweil eigenständig mit einigen Aufwärmübungen gemäß seinen Anweisungen beschäftigt. Abwechselnd sollten sie frei nach Wahl ihre Attacken gegeneinander wenden und entweder mit eigenen Angriffen oder defensiven Techniken blocken. Das machten sie immer in den ersten Minuten einer Trainingseinheit und steigerten dabei stetig die Intensität, bis sie die volle Stärke erreicht hatten.

    Andrew war kein Fan davon, von 0 auf 100 zu schalten. Wenn Sportler trainierten, mussten sie ja auch erst einmal auf Betriebstemperatur kommen. Doch die Mannschaft würde noch genug Gelegenheit bekommen, sich zu verausgaben. Zunächst jedoch galt es zu testen, wie weit er Dragonir in das Programm mit einbeziehen konnte. Die Flugbewegungen waren makellos und konnten ohne jede Mühe vollzogen werden. Die Drachendame vollführte die Manöver ganz wie früher und war auch nicht so unvernünftig, ihren Trainer in falsche Gewissheiten wiegen zu wollen. Sie zeigte ehrlich, wie es um sie bestellt war und gab sich nicht übermütig tapfer.

    Der Reihe nach gingen sie gemeinsam die Attacken durch. Während Drachenwut und Drachenpuls hervorragend aussahen, fehlte es körperlichen Angriffen wie Eisenschweif definitiv an Kraft. Doch das würde sich in den nächsten Tagen von allein bessern. Trotzdem machte Andrew sich eine Notiz im Kopf, gerade diese Baustelle weiter auszuarbeiten. Der Hyperstrahl war ebenfalls noch nicht wieder das, was er einmal gewesen war, doch diese Attacke kostete den Anwender auch Unmengen an Kraft. Selbst in topfittem Zustand musste man im Anschluss einen Moment verschnaufen und war nahezu bewegungsunfähig. Unterm Strich war die allgemeine Angriffskraft das größte Manko des Moments doch auch Dragonirs Schnelligkeit würde er gerne noch steigern, bevor das Turnier begann.

    Während Andrew nun zu den anspruchsvolleren Übungen über ging – die Drachenschlange würde er daran teilnehmen lassen, ihr allerdings in kurzen Abständen Pausen gönnen und ohne sie ernsthaft anderen Angriffen auszusetzen -, krachte und donnerte es unweit seiner Position fast im Sekundentakt. Despotar und Shardrago brachten im wahrsten Sinne die Bäume zum Zittern, sodass sie Teile ihres Laubs verloren. Ein besonders unglücklicher wurde von einem Felsgeschoss förmlich zerschmettert und verstreute in einem Weites Radius Holzsplitter, während der breite Stamm knacken und belgeitet vom Rascheln des Laubes zu Boden fiel.

    Ryan verengte die Augen, während sein Verstand auf Hochtouren arbeitete. Shardrago war deutlich schneller, als der Anschein hatte vermuten lassen. Ein Vorteil der behäbigen Felsechse gegenüber.

    „Brems es aus mit Sandsturm!“

    Mit einem wuchtigen Schwung des massigen Oberkörpers beschwor Despotar eine Böe, die das feine Kies auf dem Boden sowie den Öffnungen seines Panzers zu einem Staubtornado emporhob und dem blauen Drachen entgegenschleuderte. Dieser riss mit festem Stand die arme nach oben und widerstand ihm energisch. Er wirkte geduldig, ausharrend.

    „Geh direkt rein!“, ordnete Sandra aus heiterem Himmel an. Was in aller Welt versprach sie sich denn davon? Ryan wusste es nicht zu beantworten, doch Shardrago zögerte keine Sekunde. Seine Körperhaltung entspannte sich und es machte tatsächlich den Schritt ins Auge des Sturm. Als die Drachenmeisterin dann einen Sprung anwies, dämmerte es dem jungen Trainer, doch dieses Pokémon könnte doch niemals…

    Shardrago tat genau das, wovon Ryan noch dachte, es sei ihm unmöglich. Nicht aus den Beinen kam die Kraft für den Sprung, sondern ging von den Flügeln aus. Allein waren sie wohl kaum fähig, den massigen Körper in die Luft zu befördern, doch mit solch tatkräftiger Unterstützung sah die Sache anders aus. Shardrago befand sich noch ein gutes Stück über Despotar.

    „Jetzt Drachenrute!“

    So viel Geschick und Körperbeherrschung hatte Ryan dieser Spezies nicht zugetraut. In der Luft korrigierte es seine Körperhaltung, vollführte eine ausholende Bewegung und schmetterte seinen Schweif, der von blauem Licht eingehüllt wurde, direkt auf den Köpf seines Gegners. Die Kraft dahinter ließ sich der gut erahnen. Ryan spürte sogar noch eine leichte Erschütterung im Boden. Der breite, muskulöse Hals und die widerstandfähige Wirbelsäule verhinderten hier wohl ernstere Schäden. Von diesem unerwarteten Angriff überrumpelt hatten weder Pokémon noch Trainer darauf reagieren können. Doch der Drache befand sich gerade in einer verletzbaren Position, die Ryan sofort zu bestrafen gedachte.

    „Stürm vorwärts und gib´s ihm mit Eisenschädel!“

    Noch bevor das geschuppte Wesen wieder Boden unter den Füßen hatte, preschte der gewaltige Körper Despotars urplötzlich nach vorn, als habe er den Angriff nie einstecken müssen. Der gezackte Schädel glänzte metallisch auf und rammte den ungeschützten Torso des Höhlendrachens – vermutlich seine verwundbarste Stelle, in Anbetracht des Schuppenpanzers. Shardrago sah sich gezwungen, sich an der Felsechse festzukrallen und den Schmerz in Kauf zu nehmen. Er wog sicher weniger als der, den er unter den massigen Füßen zu erwarten hatte, unter denen die Erde erzitterte. Despotar rannte so lange weiter, bis er Shardrago in einen Baum rammen konnte, der krachend in mehrere Einzelteile zersprang. Seine Splitter wirbelten durch die Luft wie Konfetti, würden sicher meterweit um die Wurzeln herum zu finden sein. Viel mehr als diese steckten nämlich nicht mehr im Erdboden. Für einen Moment waren die Kämpfer unter Laub und Ästen verborgen, ließen aber mit ihrem Kampfgebrüll, sowie weiterer zerstörter Flora ein verbissenes Kräftemessen erahnen. Dies hielt so lange, bis ein eigenmächtig entfesselter Energiestrahl, den Ryan als Drachenpuls erkannte, eben sein Gesteinpokémon bis zur Mitte der Lichtung zurückdrängte. Dieses wehrte sich jedoch vehement, um das Gleichgewicht zu halten und nicht der Schmach zu erliegen, vor seinem Gegner zu Boden zu gehen.

    Sandra grinste breit. Dieses Despotar hatte wirklich eine beeindruckende Willenskraft.

    „Geh über in Drachenstoß!“, befahl sie in das Dickicht hinein, wo Shardrago nur auf einen solchen Befehl gewartet hatte. Da schoss er plötzlich, eingehüllt von bläulichem Licht, das entfernt an Flammen erinnerte und abstrakt die Gestalt eines Drachen imitierte, hervor und preschte brüllend auf Despotar zu.

    „Benutz Steinkante defensiv!“, wies Ryan mit einer ausholenden Handbewegung an. Diese Idee war ihm kürzlich gekommen, als er überlegt hatte, wie er Despotar direkte Gegenschläge besser absorbieren lassen könnte. Angriffen auszuweichen war mit seiner eingeschränkten Beweglichkeit nahezu unmöglich. Allerdings hatte er diese Technik noch nie in einem Kampf ausprobiert. Gegen eines von Sandras Pokémon war das mehr als ein Härtetest. Und riskant, für den Fall, dass die Technik nichts taugte.

    Wie zuvor schon formten sich zwei rotierende Lichtringe um den gewaltigen Körper aus zinngrünem Gestein, aus denen sich Medizinballgroße Felsbrocken kristallisierten. Anstatt sie jedoch auf Shardrago zu schleudern, rotierten sie weiter, bildeten eine Art Schutzring um den Anwender.

    Der Aufprall erinnerte unwillkürlich an zwei kollidierende Schwertransporter. Seine Wucht konnte damit, wenig überraschend, beileibe nicht absorbiert werden, doch den Gegendruck, der sich somit auf den Drachen ausübte, würde selbiger ebenfalls spüren. Sein Angriff hatte nun einen ähnlichen Effekt wie Flammenblitz oder Risikotackle, bei denen der Anwender prinzipiell ebenfalls einzustecken hatte. Gar wurde seine Schädeldecke von den Brocken malträtiert und zwangen ihn in die Knie, doch auch Shardrago wollte sich um keinen Preis Despotar unterwerfen.

    Nur mit zu großem Vergnügen folgte er dem nächsten Befehl seiner Trainerin und schlug seine aufblitzenden Klauen in die Seite Despotars. Dort besaß der natürliche Panzer einige Schwachstellen, die er jedoch instinktiv schützte und den Höhlendrachen mit einem Schlag seines muskulösen Schweifes auf Abstand brachte.

    „Hyperstrahl!“, rief Ryan sofort, da er erkannte, dass Shardrago noch keinen festen Stand besaß, eventuell auch den Schmerz noch nicht richtig weggesteckt hatte. Die gleißende Lichtkugel in dem spitz bezahnten Maul schoss nach nur einem Moment als goldener Energiestrahl auf Shardrago zu. Sandra fiel in diesem Moment nichts Besseres ein, als ein Ausweichmanöver, wobei der Drache erneut seine Flügel zu Hilfe nahm. Um Haaresbreite entging er dem Strahl, bekam jedoch die Druckwelle zu spüren, als er direkt hinter ihm detonierte und einen tiefen Krater in den Waldboden riss. Ein donnernder Knall vertrieb alle kleineren Pokémon in der Umgebung. Massen an Staub wurden aufgewirbelt und schlugen den Trainern unerbittlich entgegen, zwangen sie, die Arme schützend vors Gesicht zu heben und sich dagegen zu stemmen.

    Ryan biss sich angespannt auf die Unterlippe. Ob diese Gattung allgemein so beweglich war? Oder hatte Sandra ihr Shardrago bloß gezielt darauf trainiert, diese Schwachstelle möglichst gut zu eliminieren? Wäre bei einer Trainerin ihres Formates durchaus denkbar. Doch er war sich sicher gewesen, jetzt einen vorentscheidenden Schlag landen zu können. Der nächste würde sitzen! Er musste Shardrago noch einmal näher heranlassen, dann würde er Despotar…

    „Okay, das genügt.“

    Er blinzelte verblüfft, als die Arenaleiterin mit einem kurzen Klatschen ihrer Hände sowohl das Ende des Übungsmatches verkündete als auch den Teilnehmern Respekt zollte. Warf sie das Handtuch oder befürchtete sie eine Verletzung, wenn der Kampf hier fortgeführt würde?

    „Fantastisch. Wirklich ausgezeichnet“, lobte sie und Ryan war nicht sicher, wen sie jetzt konkret meinte. Ihn selbst und Despotar? Oder ihr Shardrago? Vielleicht alle?

    „Ich dachte, wir wollten einen Sieger ermitteln“, warf er ein wenig ernüchtert ein. Er hatte seine Position noch nicht verlassen, obwohl er sich mit dem Ende, so viel war ihm bewusst, unumstößlich abzufinden hatte. Da taten sich die beiden Pokémon scheinbar noch schwerer, denn die fixierten einander noch mit konzentrierten Blicken. Sandra war allerdings bereits and die Seite ihres Drachen getreten und prüfte sporadisch einige Schrammen und leichte Wunden.

    „Es steht dir frei, dich als diesen zu betrachten. Ich würde diese Entscheidung allerdings lieber beim Clash fallen sehen.“

    Sie gab ihm diese „Erlaubnis“ ohne eine Form von Bissigkeit oder Sarkasmus, meinte es ehrlich und aufrichtig. Rechnete sie so fest damit, dass sie einander beim Turnier gegenüberstehen würden? Sicher würden sie zu den Favoriten gehören, doch es war immer möglich, dass jemand auftauchte, der einen besseren Tag erwischte oder schlicht stärker war und Andrew war schließlich auch keine Laufkundschaft. Gerade da Ryan momentan mit eher unerfahrenen Pokémon arbeitete, wäre ein ungefährdeter Durchmarsch, bis er schließlich auf Sandra treffen würde, eine arrogante Einbildung. Von der nationalen Liga abgesehen handelte es sich beim Summer Clash schließlich um das wichtigste Turnier Hoenns. Es wäre ebenfalls möglich, dass jemand im Teilnehmerfeld die Leiterin von Ebenholz ausschaltet.

    Doch das nun auszudiskutieren, war nicht in Ryans Interesse und sie hatte mental eh schon heruntergefahren. Den Kampfmodus sozusagen abgeschaltet.

    „Der Kampf war nicht entschieden, also bewerten wir ihn auch so“, ergab er sich seufzend ihrem Willen und klopfte nun ebenfalls Despotar lobend die Seite. Bedachte man, dass sie beide mit diesem Gegner keine Erfahrung hatten, konnten sie doch stolz auf ihren Kampf sein. Auch wenn er selbst das Unentschieden verkündet hatte, war er überzeugt gewesen, die Oberhand gewinnen zu können. Doch als Sieger wollte und konnte Ryan sich definitiv nicht sehen. Vor allem, da gerade in diesem Moment, da Despotar aufgrund des Hyperstrahls anfällig gewesen war, das Match auch gut zu Sandras Gunsten hätte kippen können.

    „Du hast mich ganz schön überrascht. Shardrago war viel agiler, als ich erwartet hatte.“

    „Du bist nicht der Erste, von dem wir das hören“, nahm sie lächelnd zur Kenntnis und holte bereits einen Pokéball hervor, um ihrem Partner Ruhe zu gönnen. Sicherheitshalber würde sie ihn am Abend zu Schwester Joy bringen, um sicherzugehen, dass keine Art von Verletzung vorlag, die das Auge nicht erfassen konnte. Eine Standardprozedur.

    Doch Sandra hielt inne, runzelte die Stirn, als sie in das Gesicht des blau geschuppten Drachen sah. Es war finster, voller Abscheu und das leise Grollen war definitiv feindseliger Natur. Man konnte meinen, es beobachte einen verhassten Revierrivalen. So fühlte sich jedenfalls Ryan, der ihn nur wenige Sekunden später auf sich bemerkte, was ihn an Ort und Stelle erstarren ließ. Er warf der Leiterin einen fragenden Blick zu, wagte währenddessen keine Bewegung. Von Shardrago so angesehen zu werden, jagte dem jungen Trainer tatsächlich Angst ein. Selbst mit seinem schützenden Despotar an seiner Seite und mit dem Wissen, dass dieses Pokémon zu einer Kameradin gehörte, der er bedingungslos vertraute. Die Vorstellung, was geschehen würde, geriet nur ein Körperteil zwischen die brachialen Kiefer, war erschaudernd, geradezu ekelerregend. Etwas Ähnliches hatte Ryan gefühlt, als Terrys Maxax ihn angegriffen hatte.

    „Sie wissen bescheid“, warf die Leiterin klärend ein. Merkte aber schnell, dass sie sich konkreter ausdrücken sollte.

    „Über den Drachensplitter. Warum wir hier sind, was wir zu erreichen versuchen und wer womöglich unser Gegner ist.“

    Sie war keine Trainerin, die blinden Gehorsam von ihren Pokémon verlangte. Gerade als Drachentrainerin lag es in ihrer Verantwortung, sie alle von den Umständen zu unterrichten. Sie hatte es ihnen sogar freigestellt, ob sie ihr folgen und für sie kämpfen oder Rayquazas Willen, als ihrer aller Vater, geschehen lassen würden.

    Wenn dies jedoch der Fall war, erstaunte es Ryan bereits, dass er bis hierhin nicht mehr als diese verachtenden und drohenden Blicke erntete.

    „Warum greifen deine Pokémon mich dann nicht an? Mehrere fremde oder wilde Drachen wollten mir schon ans Leder, als sie spürten, dass sich Rayquazas Herz bei mir befindet.“

    Dass dies passieren könnte, davor hatte Mila sie im Voraus gewarnt. Schon beim Angriff der Garados kürzlich war sie sicher gewesen, dass es nicht das letzte Mal gewesen sein würde, dass wilde Drachen Ryan angriffen.

    „Du kannst mir glauben, sie hätten sich notgedrungen sogar dazu entschieden, mich aus dem Weg zu räumen, um an dich ranzukommen. Ohne die Anwesenheit der Drachenpriesterin, die ihnen Hoffnung auf Frieden gab, hätten sie es vermutlich auch getan.“

    Sie wollte es nicht aussprechen, doch dieser Fall hätte für sie beide wohl den Tod bedeutet. Shardrago bestätigte dies mit einem Fauchen, das Despotar dazu veranlasste, sich bedrohlich neben seinem Trainer aufzubauen. So weit kam es noch, dass dieses hässliche Getier sich an seinem Trainer zu schaffen machte, während er danebenstand. Doch Ryan hielt ihn gleich zurück. Hier sollte keine noch so kleine Provokation oder Drohgebärde fallen, die einen Streit entfachen könnte. Es wäre lebensmüde, sich dem Willen dieses Drachen zu stellen, um für seine Tat zu sühnen. Doch er vertraute darauf, dass der seine Entscheidung, für den Frieden anstatt gegen Ryan zu kämpfen, nicht über Bord warf, nur weil jener gerade vor ihm stand.

    „Danke, dass du uns deine Kraft leihst, Shardrago. Ich bin dafür in deiner Schuld und umso zuversichtlicher, dass wir Erfolg haben werden“, meinte er respektvoll und blickte ihm direkt in die scharfen Augen. Versuchte seinen absoluten Willen, die Dinge wieder zu bereinigen, zu vermitteln und keine Furcht zu zeigen. Letzteres gelang ihm vermutlich bestenfalls zum Teil, doch zumindest ging kein Angriff von Shardrago aus. Allerdings auch keine Zustimmung.

    Sandra achtete den Mut Ryans, sich so offen zu stellen, befand es aber dennoch für das Beste, ihren Partner in den Pokéball zu verfrachten. Es herrschte für eine Minute eisige Stille. Ryan hatte den Blick leicht gesenkt, schien jedoch weniger zu verzweifeln und eher nachzudenken, zu planen. Der Wind spielte dabei mit den Spitzen seiner blonden Haare.

    „Nimm es dir nicht zu Herzen. Sie alle werden früh genug bemerken, dass du aufrichtig und vertrauenswürdig bist.“

    Er wandte sich ab. Derlei Worte hatte er nun wirklich genug von Mila gehört.

    „Ich wünschte, alle würden aufhören, sich zu benehmen, als ginge es hier nur um mich.“

    Er wünschte sich wirklich, es wäre so. Wünschte, er hätte als einziger die grausamen Konsequenzen zu fürchten, die über ganz Hoenn und eventuell über dessen Grenzen und Küsten hinaus schwebten. In Form eines gigantischen, grünen Drachen.

    Kapitel 30: Verbündete


    Ryan hatte jetzt nicht erwartet, in ein Nobelrestaurant geführt zu werden, doch die Kneipe vor der er nun stand, wirkte dann doch ein wenig zu schäbig. Sie lag an einer Straßenecke und ein paar lädierte Stufen aus grauem Stein führten ihn zur Pforte. Diese erklomm Mila als erste und hielt ihm, sowie Andrew und Melody gar vornehm die Tür auf. Sie lächelte so, wie sie es immer tat, wenn sie jemanden – vorzugsweise Ryan – ins Ungewisse führte. Dieser zögerte kurz. Nicht weil er Angst hatte, sondern weil es ihm nicht gefiel, von Mila durch die Stadt geführt zu werden. Warum wusste er selbst nicht zu begründen. Er redete sich etwas Simples ein und meinte, dass diese Frau einfach zu auffällig war, als dass man sich an ihrer Seite wohl fühlen konnte, wenn man eine Zielscheibe auf dem Rücken trug. Dass Sheila mal wieder sozusagen oben auf war, um eventuelle Angreifer vorzeitig zu entdecken war da auf der einen Seite sinnvoll und hilfreich, aber nicht gerade beruhigend.

    Es war schließlich Melody, die als erste der Einladung folgte. Die beiden Trainer tauschten einen kurzen Blick aus und der jüngere der beiden bedeutete schließlich mit einem Nicken, dass er seinem Kumpel den Vortritt überließ.

    Zugegeben, von innen war das Lokal eigentlich ganz nett. Eine Theke aus glänzendem, dunklen Holz baute sich rechts der Wand entlang auf. Dahinter Regale mit vermutlich genug Alkohol und Spirituosen, um ein Relaxo zu vergiften. Die linke Hälfte war gespickt mit tiefen, runden Tischen und gemütlichen Sesseln darum. Die Wand war fast vollständig verglast und verhalf zu einer deutlich helleren und freundlicheren Atmosphäre, als man erwartet hätte. Ganz hinten war ein langer Tisch mit Sitzbänken platziert, der wohl für eine größere Gruppe gedacht war. Allerdings fand sich da gerade keine. Um es genau zu nehmen, befanden sich überhaupt nur zwei Personen nebst Mila, Ryan, Andrew und Melody hier. Und der Barkeeper Uniform des Mannes zu urteilen, der gerade lässig an einem der Rundtische stand, war er kein Gast. Er hatte sich leicht vorgebeugt und quatschte mit dem wohl einzigen – der Stimme nach zu urteilen – weiblichen Gast. Die Sicht auf die Frau verdeckte er jedoch vollständig.

    Mila wartete gar nicht lange, sondern marschierte schnurstracks auf den offensichtlichen Charmeur zu. Sollten sie ihr jetzt folgen? Diesmal tauschten alle drei unsichere Blicke aus.

    „Versuchst du deinen weiblichen Gästen wieder den Hof zu machen?“

    Kurz mussten die drei sich vergewissern, ob es tatsächlich Mila gewesen war, die da gesprochen hatte. An diesem Satz war einfach so vieles falsch, verglichen mit dem Bild, dass sie alle von ihr hatten. Der plumpe Wortlaut, der Spitzname, dass sie ihn duzte...

    Offensichtlich war er kein Fremder. Wäre beim genaueren Nachdenken auch dumm, heikle Themen in der Bar eines solchen zu besprechen.

    „Sorry Mila, aber für solche humorlosen Vorwürfe gibst du zu wenig Trinkgeld“, entgegnete der Typ und lehnte sich an den Tisch. Der war so niedrig, dass er dem Gewicht kaum stand hielt, obwohl er ein bisschen schlaksig wirkte. Haselnussbraunes Haar war mit Gel stürmisch zur Seite gestylt und seine gleichfarbigen Augen wirkten gar ein bisschen müde, was wohl charmant aussehen sollte. Er war vielleicht um die dreißig.

    „Ich zahle für gewöhnlich keins“, meinte Mila schulterzuckend.

    „Dann gibst du sogar viel zu wenig Trinkgeld, um dir sowas zu leisten.“

    Diesmal war es Ryan, der als erster Mila folgte und sich in das Gespräch einmischte.

    „Ich weiß ja schon, dass dir manche Gepflogenheiten nicht so geläufig sind, aber kannst du wenigstens…“

    Er hatte glatt vergessen, was er gerade noch sagen wollte, als er die Frau sah, die dort im Sessel saß und gemütlich, geradezu unbeteiligt an einer Teetasse nippte.

    „Sandra?“

    Andrew war binnen von Sekundenbruchteilen neben ihm.

    „Wiebittewas?“, schnellte es wie ein Wort aus seinem Mund.

    Sie war es. Eine hoch gewachsene und ungewöhnlich muskulöse, junge Frau mit himmelblauem Haar, dass sie als Zopf trug. Die Kleidung war überaus befremdlich, bestand aus einer Art Hautengem Anzug in verschiedenen, hauptsächlich hellen Blautönen, der bis zu den Schenkeln reichte. Ihre überschlagenen Beine sowie ihre Arme waren frei und die Füße steckten in schweren Stiefeln, die wiederum einen dunkleren Blauton besaßen. Sie hatte ihr schwarzes Cape zur Seite geschoben, um es nicht zu zerknittern, indem sie darauf saß.

    „Lange nicht gesehen, Ryan, Andrew.“

    Sie grüßte, indem sie ihre Tasse in Richtung der beiden Trainer erhob, bevor sie einen weiteren Schluck nahm.

    So lange war es in Ryans Fall gar nicht wirklich her. Keine sechs Monate waren vergangen, seit er in der Arena von Ebenholz City, der prestigevollsten ganz Johtos angetreten war. Natürlich ein Weilchen, aber als reisender Trainer war es durchaus nicht unüblich, gewisse Menschen über einen gar längeren Zeitraum nicht zu sehen. Und es war ja nicht so, dass einer von ihnen mit ihr Kontakt hielt.

    „Offenbar nicht lange genug, um unsere Namen zu vergessen.“, bemerkte Andrew mit einem Wink, während Ryan die leicht unsicher wirkende und sich nur langsam dazugesellende Melody an die Hand nahm.

    „Ich vergesse keinen Trainer, der mir einen ausgezeichneten Kampf geliefert hat. Und schon gar nicht solche, die es zwei Mal taten.“

    Tatsächlich hatten sie beide in der Arena von Ebenholz eine Extrarunde gedreht. Bis heute die einzige, in Ryans Fall. Andrew hatte zudem ein zweites Mal mit den Stahlpokémon von Jasmin in Oliviana um den Orden ringen müssen. Doch die Gewissheit brachte keinem von ihnen Schande. Gegen solch formidable Gegner mal den Kürzeren zu ziehen, war nichts, wofür man sich grämen müsste. Beschämend war bloß die Tatsache, dass Ryan dies erst vor kurzem erkannt hatte. Damals hatte er sich Vorwürfe gemacht, war nachts wach gelegen, hatte krampfhaft und selbstkritisch versucht die Fehler zu finden, durch die er gescheitert war. Und seltsamerweise hatte er im zweiten Anlauf kaum etwas anders gemacht, als beim ersten. Dieser Kampf war noch einmal eine Stufe härter und dramatischer gewesen, doch letztlich hatte er den Sieg wohl nur errungen, weil er ihn einfach noch ein bisschen mehr gewollt hatte. Da war ihm bewusst geworden, dass sich eine böse Form der Routine bei ihm eingeschlichen hatte. Nämlich die, dass er zu lange nicht mehr verloren hatte. Und wenn man sich daran gewöhnte, hörte man auf, so hart wie möglich an sich zu arbeiten.

    „Es ist toll dich mal wieder zu sehen“, beteuerte der Blondschopf nun und reichte der Arenaleiterin respektvoll die Hand. Sogar ein Lächeln rang sich bei ihm durch. Sandra erwiderte es und ergriff nacheinander die Hände beider Trainer.

    „Gleichfalls.“

    Ihr Händedruck war wirklich viel stärker als bei Frauen üblich. Aber sie war ja auch keine gewöhnliche Frau.

    „Ähm, das hier ist Melody. Melody, Arenaleiterin Sandra aus Ebenholz City.“

    „Ich lebe auf Shamouti. Nicht auf dem Mond“, entrüstete sie sich gespielt und mit einem sanften Stoß ihres Ellenbogens. Ja, auch auf ihrem abgelegenen Inselparadies kannte wirklich jeder solche Persönlichkeiten, wie Sandra es war. Nicht nur leitete sie die sie die größte und am schwierigsten zu schlagende Arena in ganz Johto, sondern war auch überall in den Medien Werbe- und Imageträgerin.

    „Ich habe von dir gehört“, meinte Sandra nun, als sie auch Melodys Hand schüttelte.

    „Du bist also auf diesen Kontinent gereist, um jemanden zu treffen, von dem du nicht wusstest, wo er überhaupt steckt und der keine Ahnung hatte, dass du im Anmarsch bist?“

    Kurz wanderten ihre Augen zur Seite, während sie die Worte im Kopf wiederholte.

    „Wenn man es ausspricht klingt´s echt verrückt, oder?“

    Ryan nickte bejahend, gab sich aber zumindest ein bisschen Mühe, dass sie es nicht bemerkte.

    „Wieso setzen wir uns nicht zunächst einmal?“

    Mila war zu diesem Zeitpunkt fast in Vergessenheit geraten und zog mit diesem simplen Vorschlag alle Blicke auf sich. Erst jetzt wurde den drei Jugendlichen bewusst, wie peinlich aufdringlich sie sich um den Tisch geschart hatten und bemühten sich um etwas Haltung. Die Drachenpriesterin zog Melody gar einen Sessel zurück und bot ihn ihr an. Die beiden Trainer setzten sich eigenständig.

    Der Barkeeper, der offenbar ebenfalls gut bekannt mit Mila war, hatte sich – wie alle erst jetzt bemerkten – für einen Moment verzogen und kam, nun mit einer schwarzen Schürze um die Hüfte gebunden, wieder an den Tisch.

    „Noch einen Kamillentee. Was trinkt ihr?“, erkundigte sich Sandra, als sei dies das wichtige Thema.

    „Einen Eistee, bitte“, orderte Melody als erste. Die anderen beiden hielten sich an Limonade, während Mila etwas mit einem französischen Namen bestellte, was keiner von ihnen wiederholen und genauso gut ein ganzer Satz sein konnte. Vielleicht ein Wein? Es war zwar erst kurz nach Mittag, aber zu mittelalterlichen Zeiten hatte man schließlich auch da schon getrunken. Teils sogar früher. Kurz wunderte Ryan sich, warum sich der Typ nichts notierte, ehe er Richtung Bar abzog.

    „Ich lehn mich mal weit aus dem Fenster und sage, du bist nicht zufällig hier“, erkundigte sich Andrew schließlich und lehnte sich auf einen Ellbogen gestützt nach vorne.

    „Korrekt“, antwortete allerdings Mila.

    „Sie ist eine der beiden, die uns im bevorstehenden Kampf ihre Unterstützung zugesichert haben.“

    „Du bist also auch Mitglied der Drachengarde?“, schlussfolgerte Melody daher. Die Leiterin lachte auf, keinesfalls spöttisch, aber dennoch in einer Tonlage, die verriet, dass dies für sie ausgeschlossen wäre. Allein durch ihr Amt war das eigentlich klar.

    „Nein, bin ich nicht. Aber als Drachenpriesterin pflegt Mila Beziehungen zu so ziemlich allen großen Drachentrainern.“

    „Ihr müsst wissen, dass wir viele Verbündete haben, die uns nicht direkt angehören. Sie haben weder Eide geschworen, noch unterstehen sie meinem Befehl. Dass Sandra hier ist, verpflichtet mich zu großen Dank“, erklärte Mila. Ryan lehnte sich in seinem Sessel zurück und fuhr sich durch Haar. Die Frau überraschte ihn echt immer wieder.

    „Hätte nicht gedacht, dass du so prominente Verbündete hast.“

    Das Lächeln war diesmal durchaus verräterisch. Es ließ Ryan erahnen, dass sie noch etwas in Petto hatte.

    „Eigentlich hatte ich unter anderem auch auf die Anwesenheit von Lysander und Siegfried gehofft.“

    Sie staunten gar nicht mehr. Sie kapitulierten. Zuckten mit den Schultern oder warfen die Arme hoch, als fiele ihnen nichts mehr ein. Was sollte einem dazu auch einfallen?

    „Einfach nur wow“, meinte Andrew noch. Das war aber auch schon alles, was ihm einfiel.

    Schludrige Schritte kündigten derweil den Barkeeper an, der mit einem Tablett voller Getränke den Tisch ansteuerte. Offenbar hatte er sich doch alles merken können. Genau genommen hatte er gar etwas zu viel, wie Melody anmerkte.

    „Hier hat niemand Schnaps bestellt“, meinte sie mit einem Blick auf den Kurzen. Sie war mit Alkohol noch nie in Berührung gekommen und allein der Geruch stach ihr in der Nase.

    „Mein Gedächtnis ist zuverlässig und ich höre auch gut“, beteuerte er mit einem Murmeln und stürzte die klare Flüssigkeit seine Kehle runter. Wieder wanderten unsichere Blicke in dem jungen Trio umher, diesmal auch zu Mila und Sandra. Was war das denn für einer? Beim erneuten Nachdenken wollte das eigentlich keiner wissen. Doch etwas anderes dafür schon und es war schließlich Ryan, der die Frage stellte.

    „Also, wenn Sandra eine der beiden ist, von denen du gesprochen hast, wer fehlt dann noch?“

    „Wir sind vollzählig“, stellte Mila klar und nahm nach kurzer Inspizierung ihres Weines einen winzigen Schluck. Bevor jemand fragen konnte, ob sie denn einen Unsichtbaren eingeladen hatte, ließ sich der Barkeeper geräuschvoll in einen Sessel des Nachbartisches fallen und schmiss sowohl das Tablett als auch seine Füße auf die runde Platte. Als würde er die Neuankömmlinge gerade das erste Mal sehen, gab er einen nicht allzu höflichen Gruß mit der Hand und legte den Kopf gelangweilt in den Nacken, um die Decke anzustarren.

    „Das ist jetzt ´n Scherz“, hoffte Andrew innig. Die Bedenken hatte Mila erwartet.

    „Was ist das denn für´n Nachtwächter?“

    „Gestatten, Pete Arrens. Seit einigen Jahren ein zuverlässiger Ansprechpartner, der für uns immer ein offenes Ohr hatte. Er wird uns weniger in der Angelegenheit um Rayquaza, dafür aber umso mehr gegen Team Rocket unterstützen.“

    Andrew lehnte sich zur Seite, um Ryan, dessen Begeisterung sich ebenso in Grenzen hielt, ins Ohr zu flüstern.

    „Indem er Drinks mixt, oder was?“

    „Wie ich schon sagte, ich höre sehr gut“, stellte dieser Pete mit einem hochgezogenen Mundwinkel klar und fixierte den jungen Trainer mit wissendem Blick. Der formte mit seinen Lippen die Worte „siehst du auch gut?“, ohne sie tatsächlich auszusprechen und hob bereits die Hand für eine obszöne Geste. Dankbarerweise unterband Sandra diese, wohl aber eher zufällig.

    „Glaubt mir, er wirkt zwar wie ein leichtlebiger Taugenichts, aber er hat seinen Nutzen.“

    Ryan massierte eine Augenlider mit zwei Fingern. Er war gerne bereit, sich überzeugen zu lassen, aber optimistisch war er nicht.

    „Wie?“, verlangte er sodann zu wissen.

    „Ich bin wohl der beste Kontaktmann der verdammten Region und hab Zugang zu Informationen, die du dir nicht vorstellen kannst“, seufzte Pete, als habe er keinen Bock auf die Erklärung. Doch irgendwo sah er ein, dass sie vonnöten war.

    „Ich kenne jeden wichtigen Mann in Hoenn und krieg ´ne ganze Menge mit, was so unter den Ladentischen gehandelt oder hinter vorgehaltener Hand gesagt wird. Illegaler Handel mit Pokémon, Waffen, Betäubungsmitteln, welche Politiker und Behörden korrupt sind, welche Team Rocket schon infiltriert hat, wer ihre hohen Tiere sind, wo ihre Verstecke sind und so weiter. Motivier mich gut genug und ich finde für dich raus, mit wem Giovanni bumst.“

    „Pete!“

    Es war das erste Mal, dass Mila in ihrem Beisein mit scharfer, warnender Stimme sprach. Und war es auch nur dieser kurze Name, der nicht einmal einer der ihren war, saßen plötzlich alle Jugendlichen stramm.

    „Ich hoffe wir haben uns zuvor nicht umsonst unterhalten?“

    „Reg dich ab Mila. Sind doch keine Kinder anwesend“, spielte er seine Aussage runter und hob beschwichtigend, wenn auch nicht wirklich außer Ruhe, die Hände.

    Damit hatte er nur gewissermaßen Recht. In den meisten Regionen galt man mit 16 Jahren laut Gesetz nicht mehr als Kind, sondern als sogenannter junger Erwachsener. Solchen war der gemäßigte Konsum von Tabak oder Alkohol nicht hochprozentiger Art sowie das Auto- und Motorradfahren erlaubt. Letzteres allerdings nur in Kanto, Johto und Sinnoh.

    Um korrekte Definitionen laut Gesetzbuch war es Mila nicht gegangen. Sie wollte bloß vermeiden, dass ein schlechter Eindruck von ihm entstehen und womöglich die Zusammenarbeit darunter leiden könnte. Sie verzichtete aber dennoch auf weiteres Argumentieren. Sie konnte sich vor Ryan und Andrew schließlich nicht blamieren und räusperte sich daher hörbar.

    „Wie dem auch sei. Ich kann ebenso wie Sandra versichern, dass Pete uns weiterhelfen wird. Wir haben nur durch ihn mehrere Verstecke von Team Rocket hier in Hoenn aufgedeckt und zerschlagen und kürzlich sogar herausgefunden, wer die leitende Person hinter ihren Operationen ist.“

    Nun lauschten alle auf. Das war durchaus eine wertvolle Information, doch Melody brannte zuvor noch eine Frage auf der Zunge.

    „Aber sagtest du nicht, dass Team Rocket nicht das wahre Problem ist? Was ist mit Rayquaza und den Drachen?“

    Mila hatte ihre heutigen Gäste selbstverständlich in alle Details ihrer Situation eingeweiht. Dies nicht zu tun und ihre Hilfe dennoch anzunehmen, wäre unverantwortlich gewesen und käme einer List gleich.

    „Dem ist auch so“, erklärte die Drachenpriesterin.

    „Dennoch könnten sie als endgültiger Auslöser für unseren Untergang fungieren.“

    Pete erhob sich wortlos, während Mila ihre Erklärung fortsetzte, ihn gar nicht einmal beachtete. So scherten die beiden Trainer und auch Melody sich ebenfalls nicht drum.

    „Indem sie Drachen angreifen, um Rayquaza zu provozieren?“, schoss Andrew ins Blaue.

    „Nicht irgendwelche Drachen. Ihr erinnert Euch sicher noch an den Raubzug in Wurzelheim. Dort haben sie einige wertvolle Stücke, von denen einige die Drachen betreffen, entwendet. Das meiste davon war von geringem Wert, doch das Buch der Drachen, dass sich ebenfalls darunter befand, war unersetzlich.“

    „In diesem, Werk steht die ganze Geschichte dieser Pokémongattung niedergeschrieben. Von alten Sagen und Legenden zu den Drachengöttern über die Geburt des Drachensplitters bis hin zum heutigen Tag“, ergänzte Sandra. Als Drachenmeisterin und Freundin Milas war sie mit dem Stoff natürlich bestens vertraut. Dann setzte für einen Moment eine merkwürdige Stille ein. Milas Augen glänzten beinahe melancholisch, als sei sie in betrübenden Erinnerungen gefangen.

    „Einen Teil davon hat meine Mutter verfasst.“

    Die beklemmende Stille weitete sich aus. So richtig wusste noch keiner von ihnen zu beurteilen, wie genau Mila bei Gedanken an die verstorbene Mirjana fühlte. Einerseits hatte sie es wohl kommen sehen und es war nicht abzustreiten, dass sich die Wege der Drachengarde seit ihrer Ermordung durch Milas jetzige Partnerin gar zum Besseren gewandt haben mochten. Dennoch wäre es in unverzeihlichem Maße dreist, anzunehmen, dass sie über diesen Verlust glücklich sein sollte.

    „In diesem Buch…“, fuhr sie wenig später fort.

    „…werden die beiden Zwillingsdrachen erwähnt, die allgemein als Latios und Latias bekannt sind. Sie sind Rayquazas meist geliebte Kinder und die einzigen, zu denen er regelmäßig spricht.“

    Diese beiden Legendären waren Ryan und Andrew natürlich bekannt, auch wenn sie weniger durch ihre Macht als legendär galten, als durch die Tatsache, dass es sich um einzigartige Spezies handelte.

    „Also will Team Rocket über die beiden an Rayquaza rankommen?“

    Sie bejahte mit einem Nicken, ehe Sandra wieder das Wort ergriff.

    „Nur wissen wir leider nicht, was genau eigentlich ihr Ziel ist. Ich halte Team Rocket eigentlich nicht für so wahnsinnig, einen Drachengott in ihre Gewalt bringen zu wollen. Er ist eines der mächtigsten Wesen aller Zeiten und wird sich nicht von einer Mafia Bande übertölpeln lassen. Dass wir ihre konkreten Absichten nicht kennen, ist definitiv ein Problem.“

    Die Arenaleiterin fühlte sich allein durch den Gedanken, Team Rocket könne genau das im Schilde führen, gekränkt und verhöhnt. Sie hegte den innigen Wunsch, die Ehre der Drachen zu verteidigen und den allergrößten unter ihnen unterwerfen zu wollen, wäre eine Beleidigung gegen ihr Ehrgefühl als Drachenmeisterin. Niemals würde sie solche Tiere ungestraft ziehen lassen.

    „Zerbrich dir nicht deinen hübschen Kopf.“

    Pete hatte gerade wieder die Tür aufgestoßen und schleppte einen großen Karton mit sich, der schon auf dem Weg etwas Staub verlor. Machte der jetzt einen Frühjahrsputz?

    Ryan holte tief Luft, bevor besagter Karton auf den Nachbartisch gewuchtet wurde, an dem Pete vorhin noch gesessen hatte. Er glaubte, die Lage verstanden zu haben.

    „Also steht in diesem Buch, wie man Latios und Latias finden kann. Und damit Team Rocket das nicht tut, müssen wir sie zuerst finden?“

    „Korrekt. Leider kann ich – so oft ich das Buch auch gelesen habe – bei weitem nicht alle Informationen in meinem Gedächtnis abrufen.“

    Seufzend ließ sich der Blondschopf nach hinten Fallen und griff nach seinem Glas.

    „Das heißt dann wohl, wir müssen uns für den Wälzer jetzt mit denen anlegen, schätze ich.“

    „Oder wir lesen einfach die Kopie, die ich gemacht hab“, schlug Pete ganz nüchtern vor und zog ein gigantisches Bündel an zusammengehefteten, vergilbten Blättern aus seiner Fundkiste. Ryan hätte fast vergessen seine Limo runter zu schlucken.

    „Pete Arrens, paranoider Mistkerl. Freut mich, euch kennenzulernen.“

    Er schmiss das Papier auf den Tisch und klopfte sich die Hände sauber. Mila erwiderte die ungläubigen Blicke der beiden Trainer bloß, als meine sie „Ich habe es ja gesagt“ und zog den Stapel zu sich. Die ersten zehn bis zwölf Seiten überflog sie rasch und warf sie unachtsam beiseite. Das meiste davon bestand aus fein geschriebenen Textblöcken, teilweise merkwürdige Schriftzeichen, die ihn irgendwie an die Icognito-Hieroglyphen der Alph Ruinen erinnerten sowie eine angefügte Übersetzung in der modernen Sprache. Ein paar wenige Skizzen oder Abbildungen von irgendwelchen Gebäuden oder Orten schienen ebenfalls dabei zu sein, doch Mila war zu schnell, schien zielstrebig nach einem bestimmten Abschnitt zu suchen, ehe eine Zeichnung, die fast ein ganzes Blatt einnahm, sie innehalten ließ.

    „Hier“, verkündete sie, sodass alle näher an sie rückten und sich über das Papier beugten.

    „Dies ist der Ort, an dem die Garde einst den Drachensplitter hütete.“

    Mit Petes Zeichenfertigkeiten war es offenbar nicht sehr weit her. Dennoch ließ sich mühelos ein Landschaftsbild erkennen. Ein Wald, der vor einer Burg endete, welche direkt an einer Klippe erbaut war. Ein schmaler, fast selbstmörderischer Pfad schlängelte sich das Gestein hinab und mündete schließlich in einen Felskamm im Meer. Etwa dreißig Meter vor der Klippe ragte ein gewaltiger Felsen aus der Brandung, höher als sich ein Stahlos aufrichten konnte.

    „Die Amnestiespitze. Im inneren dieses Felses liegt das Heiligtum der Drachengarde. Als Sheila und ich selbst in Sinnoh unterwegs gewesen sind, drang Team Rocket in eben jenes ein, ermordete ein Dutzend Wachen und entwendete den Drachensplitter“, erklärte Mila und zog eine weitere Seite heran, las den abgedruckten Text allerdings nicht sofort. Eher schien sich ihr Blick gerade im Nichts zu verirren, teils in der Vergangenheit und teils in ihrem Inneren der Raserei zu verfallen. Jedoch versiegelte sie diese Emotionen gar völlig.

    Ryan entging es dennoch nicht, aber er verzichtete darauf, das Thema anzusprechen. Er meinte Mila inzwischen gut genug zu kennen, um die Schmach und die Schande, die sie bei dem Gedanken heimsuchte, zu erahnen. Vermutlich würde sich ihre Mutter in ihrem Grab umdrehen, wenn sie wüsste, dass eine Verbrecherbande Rayquazas Herz an sich genommen hatte. Obgleich sich der Splitter nicht länger in deren Besitz befand, änderte das nichts an ihrem Versagen. Ein Mensch wie sie, würde diese Schande wohl bis ans Lebensende mit sich tragen.

    „Dort wart der Drachensplitter geboren und dorthin muss er auch wieder gebracht werden“, fuhr Mila schließlich fort, bemüht, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Ryan gelang es dennoch.

    Derweil verengte Sandra angestrengt überlegend die Augen, als sie ebenfalls einige der Textpassagen durchlas.

    „Allerdings müssen wir erst Team Rocket ausschalten. Hier steht, dass Latios und Latias das Herz ihres Vaters spüren können. Nennt mich mutig, aber ich würde glatt wetten, dass sie kommen werden, wenn sich der Splitter dem Heiligtum nähert. Falls dem so ist, würden wir die Typen direkt zu ihnen führen, wenn wir uns nicht vorher um sie kümmern.“

    Nun lehnte auch sie sich zurück und warf einen ernsten Blick in die Runde.

    „Und wenn sie den Zwillingsdrachen nur ein Haar krümmen, wird unser nächster Besucher kein Geringerer als Rayquaza selbst sein.“

    Was unter diesen hypothetischen Umständen, mit Team Rocket mitten im Heiligtum der Garde sowie Latios und Latias in ihrer Gewalt, das denkbar schlimmste Szenario wäre.

    „Dem stimme ich zu. Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass sie auch nur in seine Nähe gelangen“, nickte die Drachenpriesterin ab.

    Während Pete dem Ganzen zumindest nach außen nur mit mäßigem Interesse lauschte, waren Ryan, Andrew und Melody ganz Ohr. Doch wirklich zufrieden war mit diesem Zwischenstandpunkt keiner.

    „Ihr sagtet doch, dass ihr hättet bloß zu zweit schon mehrere Verstecke ausgeräuchert und Informationen über sie habt ihr offenbar auch genug“, zählte er mit einem, noch nicht allzu vertrauensseligem oder gar freundlichem Blick in Petes Richtung auf.

    „Warum nicht mal ein Frontalangriff? Wir treten die Tür ein und tun das, was wir am besten können!“

    So gefährlich, leichtfertig und ungestüm, fast arrogant seine Worte auch klangen, kam Ryan nicht umher, sich seiner Frage anzuschließen. Er und Andrew hatten fähige Kämpfer an ihrer Seite, ebenso Sandra. Zudem hatten sie bereits eine Kostprobe von Sheilas Können und vor allem ihrer Persönlichkeit bekommen. Schwer vorstellbar, dass Team Rocket ihr ernsthaft etwas entgegenzusetzen hatte – und selbst wenn, musste Mila ja auch über mehr als nur Wortgewandtheit und strategisches Geschick verfügen. Mit Sicherheit wusste diese Frau ihre Gefechte auszutragen. Warum also blieb sie so passiv? Natürlich war ihre Lage gefährlich und jeder Schritt sollte wohl überlegt werden, doch ohne entschlossenes Handeln würden sie auch nicht vorwärts kommen. Außerdem könnte gerade so eine unerwartete Offensive den Feind tatsächlich auf dem falschen Fuß erwischen.

    „Ja, sollten wir nicht eher Team Rocket zum Handeln zwingen, als umgekehrt? Wenn wir abwarten, spielen wir ihnen vielleicht sogar in die Karten.“

    Mila stieß resignieren Luft aus. Ja, gerne hätte sie diese Option.

    „Zwingen ist das falsche Wort, fürchte ich. Wir sollten sie eher nicht zum Handeln provozieren.“

    Da wurde Ryan und Andrew zum ersten Mal klar, dass – obwohl die größte Gefahr definitiv von Rayquaza ausging – Mila Angst hatte. Nicht vor Team Rocket selbst, wie er vermutete, sondern eher vor dem, was sie anrichten könnten. Oder… eventuell vor einer Person?

    „Du hast vorhin ihre Anführerin erwähnt“, griff Ryan auf. Normalerweise wäre der folgende Moment einer dieser, in denen Mila in so anlächelte, wie es typisch für sie war. Doch das ließ sie vermissen. Ernst und Sorge legten sich über ihr Gesicht.

    „Wer ist es? Jemand vom alten Vorstand?“

    Sie nahm erst einen Schluck von ihrem Wein, bevor sie weitersprach. Diesmal war er erheblich größer, als der erste.

    „Ich wünschte, dem wäre so.“

    Wieder betrachtete sie die dunkelrote Flüssigkeit einem Moment, bevor sie das Glas abstellte.

    „Was ist schlimmer, als ein Vorstand? Abgesehen von Giovanni selbst?“, erkundigte sich Andrew. Der würde während der folgenden Erklärung die Stirn ob dieses weitreichenden Wissens um die Hierarchie der Organisation langsam aber stetig immer weiter runzeln.

    „Die Vorstandmitglieder funktionierten nur als Einheit und wurden von Giovanni direkt befehligt und zusammengehalten. Einzeln waren sie spürbar unfähiger. Unser Gegner aber operiert ausschließlich alleine, ist rücksichtsloser und radikaler, als jeder aus dem Vorstand", erläuterte Mila trocken. Dass sie Johtos Team Rocket Krise aus allernächster Nähe miterlebt und sogar bekämpft hatte, blieb hier und heute noch unerwähnt. Vielleicht würde sie ihnen demnächst mal davon erzählen, wenn die Situation eine passendere war.

    „Entschuldigung, die Vorstände…“, meldete sich Melody plötzlich etwas kleinlaut. Sie wollte beileibe niemandem ins Wort fallen, doch so gut kannte sie sich mit dem organisierten Verbrechen der einzelnen Regionen nun auch wieder nicht aus. Sandra schien das direkt zu erahnen und erklärte genauer.

    „Vor einigen Monaten hat eine Gruppe von Giovannis engsten Vertrauten ein großes Ding bei uns in Johto gedreht. Sie operierten landesweit, starteten diverse Operationen fast zum gleichen Zeitpunkt, aber genau das hat ihnen schließlich das Rückgrat gebrochen. Die Vorstandmitglieder wurden einer nach dem anderen von der Polizei sowie engagierten Trainern und Sondereinheiten besiegt und die meisten gefasst. Seitdem ist die Rangordnung in ihren Reihen zerschlagen und weitestgehend führungslos.“

    Ryan erinnerte sich sehr gut daran. Er hatte zu jener Zeit Johto selbst noch bereist und ebenfalls häufig mit schwarz gekleideten Gestalten gefochten. Auch wenn er an die hohen Tiere nie rangekommen war, hatte er sicher einen Teil zu ihrem Fall beigetragen. Doch er hielt es für überflüssig, das jetzt aufzuwärmen.

    „Die Person, mit der wir es hier zu tun haben, ist weitaus zwielichtiger“, fuhr die Drachenpriesterin fort.

    „Wir kennen nicht einmal ihren Namen. Innerhalb von Team Rocket nennt man sie jedoch den Schwarzen Lotus. Ihrer Zähigkeit allein ist es wohl zu verdanken, das Team Rocket es überhaupt geschafft hat, hier in Hoenn Fuß zu fassen.“

    Andrew schüttelte frustriert den Kopf, als er an die Überfahrt auf diesen Kontinent zurückdachte. Hätten sie damals bloß ahnen können, welche Tragweite die Angriffe der Rocket eigentlich hatten.

    „Macht Sinn. Ihr Johto-Zweig war am Arsch und die Teams Aqua und Magma haben Hoenn auch nicht mehr in der Hand. Hier hatten sie Freiraum.“

    „Aber wenn ihre Hierarchie so brüchig ist, sind sie dann wirklich so gefährlich?“, fragte Melody weiter. Wirkliche Zweifel plagten sie nicht. Von allen Anwesenden konnte sie die Macht der Organisation vermutlich am allerschlechtesten einschätzen. Es war eher ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass ihre Lage nicht ganz so beschissen war, wie es sich anhörte. Pete machte sich daran, diese Hoffnung im Keim zu ersticken.

    „Was glaubst du, warum Lysander und Siegfried nicht hier sind?“

    Ihr Blick suchte fast erschrocken den seinen.

    „Naja, sie haben wichtige Ämter. Lysander ist Arenaleiter und Siegfried sogar Champ von…“

    „Sandra lässt ihre Pflichten auch pausieren. Es liegt daran, dass die Typen schon diverse Leute in alle möglichen Behörden eingeschleust haben. Die kontrollieren Schiffsrouten, Flughäfen, Beamte, die dort oder in anderen bedeutenden Positionen tätig sind. Wenn die nicht wollen, dass du den Kontinent verlässt, hast du kaum eine Chance.“

    Sandra biss sich angewidert auf die Lippe, als sie an ihre Anreise dachte.

    „Du musst wissen, auch wenn sie kaum Führungspersonen haben, ist Team Rocket praktisch überall. Auch mir haben sie es schwer gemacht, nach Hoenn einzureisen. Mit Siegfried habe ich noch gesprochen, als Milas Anfrage uns erreicht hat. Er wollte um jeden Preis kommen, aber scheinbar ist er irgendwie abgefangen worden. Mir wollten sie am Flughafen erst weißmachen, dass mein Pass nicht gültig sei, dann dass Generalamt für die Arenen in Johto sich gemeldet und meine Abreise nicht genehmigt hätte und diverse andere Schweinereien. Die wollten mich schnurstracks wieder nach Ebenholz zurückschicken. Dass ich jetzt doch hier bin, ist vermutlich einfach Glück. Siegfrieds Amt ist leider weitaus höher und daher ist es für sie leichter, einer spontanen Abreise einen Riegel vorzuschieben.“

    Melody hatte an diesen Infos ordentlich zu schlucken. Ganz eindeutig hatte sie unterschätzt, wie lang der Arm dieser Organisation reichte.

    „Können wir dann überhaupt noch sicher auf die Straße?“

    Eine Frage, die sich Ryan seit dem gestrigen Abend ebenfalls stellte. Auf dem Weg hierher hatte er Mila ausgefragt und erfahren, dass Sheila tatsächlich einen Attentäter getötet und ihm somit das Leben gerettet hatte. Er griff nach Melodys Hand, die zu zittern begonnen hatte, in der Hoffnung, sie beruhigen zu können.

    „Sicher – vielleicht. Unbeobachtet – vermutlich nicht“, antwortete schließlich Pete. Wenn Ryan an den gestrigen Abend zurückdachte, zweifelte er auch enorm an der Sicherheit. Doch er war da als Träger des Drachensplitters vielleicht auch ein Sonderfall.

    Für eine knappe Minute herrschte Stille im Raum. Pete hatte ganz einfach nichts zu sagen während Mila und Sandra in stillem Einverständnis Gelegenheit geben wollten, die Informationen zu verdauen. Jeder der drei war in seine eigenen Gedanken versunken. Melody war zunächst geschockt und spürte gar den Wunsch, einfach nach Hause zu verschwinden. Doch das hielt bloß eine Sekunde. Lugia hatte sie ausdrücklich gewarnt, was auf sie zukommen würde. Und sie hatte sich entschlossen, dem entgegenzutreten, um wieder bei Ryan sein zu können. Die Götter wussten, sie wollte das. Und so einfach würde sie sich niemals von ihm abwenden.

    Andrew dagegen war lediglich fassungslos, dass er überhaupt in so eine große Sache geraten war. Er hatte sich sein Leben als Trainer nie als besonders vorgestellt oder empfunden. Klar war sein Name einer der bekannteren in der Szene, aber hätte ihm einer erzählt, dass er sich mal mit Legendären Pokémon und Unsterblichen Menschen rumschlagen würde, hätte er ihn als Lügner und Vollidioten abgestempelt. Doch Angst, Zweifel? Keine Spur. Er hatte genug von dem Leid und den Schäden ins seiner Heimatregion mitbekommen, als Team Rocket dort aktiv wurde und er würde den Teufel tun, ihnen hier, direkt vor seiner Nase, freie Hand zu lassen.

    Und Ryan? Für ihn stellte sich die Frage nach dem Ob, dem Warum oder sonst irgendwas schon gar nicht mehr. Er war schon beim nächsten Schritt. Nämlich einem Plan. Sollte der Drachensplitter zum Heiligtum der Garde gebracht werden, würden die Zwillingsdrachen erscheinen, hieß es. Aber…

    „Wie sicher ist es, dass Latios und Latias auftauchen werden, wenn wir nicht zur Amnestiespitze gehen?“

    Sowohl Mila als auch Sandra zogen verdutzt die Brauen zusammen. Pete zog lediglich eine hoch und schenkte Ryan nur einen Seitenblick.

    „Solange wir uns in der Nähe von Menschen befinden, kann ich Euch fast versichern, dass sie uns fern bleiben“, beteuerte Mila. Ihr war noch nicht ganz geläufig, was in Ryans Kopf gerade dabei war, Gestalt anzunehmen.

    „Und wenn wir irgendwo hingehen, wo es Menschenleer ist?“

    Diese Frage zog auch die Blicke von Melody und Andrew auf ihn.

    „Willst du vor der Stadt campen gehen oder was?

    „So ähnlich.“

    Andrew schien aus allen Wolken zu fallen, hätte fast seine Limo ausgespuckt.

    „Bitte erklärt Euch“, bat Mila nun, jedoch nicht so skeptisch oder gar verständnislos. Man mochte sogar meinen, sie war ganz Ohr.

    „Team Rocket hat dieselben Infos, wie wir“, begann er mit einem Tippen des Zeigefingers auf die breit verteilten Blätter.

    „Demnach wissen sie, dass sie im Moment, also während wir in Graphitport sind, nicht an die beiden rankommen werden. Aber wenn wir außerhalb der Stadt, sprich weit weg von anderen Menschen sind, könnten Latios und Latias kommen. Richtig?“

    Sowohl die Drachenpriesterin als auch die Arenaleiterin wägen ab, schätzen die Chancen ein. Beide mit einer Hand nachdenklich das Kinn stützend und der Blick zwischen den kopierten Seiten des Buchs der Drachen hin und her wandernd, während sie die Informationen darauf nochmals gedanklich abriefen.

    „Was meinst du, Mila?“

    „Ich glaube dennoch nicht, dass die beiden erscheinen würden, wenn wir uns noch so weit weg vom Heiligtum befinden.“

    Ihr Blick hob sich wieder ein klein wenig und, die leicht verengten Augen fixierten die marineblauen, die eigentlich Lugia gehörten und in den Höhlen eines jungen Trainers saßen.

    „Doch es sind auch nicht die Zwillingsdrachen, die Ihr herauslocken wollt, habe ich Recht?“

    Während der Rest der Gruppe auf die Enthüllung wartete, die sie selbst nicht erkennen konnten, stahl sich ein sehr schwaches Grinsen auf Ryans Gesicht.

    „Erraten.“

    In diesem Moment erwiderte Sandra eben dasselbe Grinsen. Eine Finte! Eine, die sogar funktionieren könnte.

    „Du setzt darauf, dass Team Rocket mit der Ankunft der Zwillingsdrachen rechnet, wenn wir uns von der Stadt entfernen. Du willst sie ködern, ohne die beiden in Gefahr zu bringen.“

    Er antwortete bloß mit einem bestimmenden Nicken. Als er zu seiner Linken jedoch die skeptischen Blicke seiner Freunde wahrnahm, veranlasst ihn das zu einer detaillierteren Erklärung.

    „Hier in der Stadt haben die Penner überall ihre Augen und Ohren. In den Wäldern können die uns höchstens mit einer Handvoll Leute verfolgen, sonst würden wir, also Sheila, sie sofort bemerken und das wissen sie. Plus, wir brauchen nicht so große Angst zu haben, dass uns ein als Passant getarnter Agent im Vorbeigehend ein Messer in die Seite sticht.“

    Mit Sheila könnte sie wohl selbst eine kleine Gruppe oder gar eine einzelne Person noch im Auge behalten. Doch es war ja eben der Plan, Unwissenheit und Ahnungslosigkeit vorzugaukeln.

    Sandra sah Ryan auf genau dieselbe Weise an, wie Andrew. Sie war ebenfalls noch nicht überzeugt.

    „Dir ist aber klar, dass der Schwarze Lotus dann seine besten Leute schicken wird? Mila hat mir von dem Rocket berichtet, den ihr beide bei Wurzelheim bekämpft habt. Im Vergleich zu den Agenten, mit denen wir rechnen können, war der ein blutiger Anfänger.“

    „Ich hab nie gesagt, dass der Plan einen leichten Sieg ohne Gefahr beinhaltet.“

    Den Kampf mit diesem Typen hatte Ryan und natürlich auch Andrew beileibe nicht vergessen. Alleine hatte er gleich mehrere ihrer Pokémon beschäftigt und ihnen übel zugesetzt. Letztlich hatten sie richtig Schwein gehabt, dass niemand gegrillt worden war. Und dennoch war Ryan zuversichtlich.

    „Aber wir brauchen gerade die ranghohen Tiere. Irgendwelche Laufburschen können uns ja bestimmt nichts über den Schwarzen Lotus sagen.“

    Andrew stimmte zwar zu, dass es so etwas wie einen leichten Sieg gegen diese Organisation wohl nicht geben konnte, doch ihnen jetzt gar eine Falle stellen zu wollen, erschien ihm sehr riskant. Obwohl die Idee, so mehr über ihren Gegner zu erfahren, gar nicht mal schlecht war. Und offenbar dachte er nicht als einziger so, denn Sandra und Pete runzelten ebenfalls die Stirn.

    „Angenommen es klappt und wir können uns ein, zwei Singvögel unter ihnen rauspicken. Planst du, die zu foltern oder wie stellst du dir das vor? Glaubst du echt, der redet einfach?“

    „Despotar kann sehr überzeugend sein“, meinte er darauf nur schulterzuckend. Sein Blick wanderte zu Mila, die zu seiner Idee noch kein Wort verloren oder nur mit einer Wimper gezuckt hatte. Sie war schließlich diejenige, die das letzte Wort sprach. Zumindest fasste Ryan es so auf.

    „Versteht mich jetzt nicht falsch. Ich mach das sicher nicht gerne und schon gar nicht lasse ich meine Pokémon so etwas gerne machen. Aber ich glaube, es steht zu viel auf dem Spiel, um rücksichtsvoll zu sein.“

    „Oder um leichtfertig zu sein“, fügte Pete plötzlich an. Seien Stimme war mit einem Mal sehr viel fester und bestimmender. Scheinbar nahm er endlich in Gänze an diesem Gespräch Teil.

    „Gerade eben warnt dich Sandra noch vor denen und dann kommst du mit so ´ner Schnapsidee um die Ecke?“

    „Es war ein Vorschlag. Wenn du einen besseren hast –meine Aufmerksamkeit gehört dir.“

    Der schnippische Unterton war durchaus bewusst gewählt, denn Pete klang ein wenig, als wolle er seinen Sohn belehren. Etwas, das Ryan überhaupt nicht ab konnte.

    „Geht einfach mal Wald und Wiesen Freunde spielen – wird schon nicht verdächtig wirken, denkst du nicht?“

    Der Hohn und der Sarkasmus darin stanken zehn Meilen gegen den Wind.

    „Die riechen doch sofort Lunte, wenn du ganz plötzlich campieren gehst.“

    „Wir sind Trainer“, warf Andrew ihm nun entgegen. Auch wenn ihm bei dem Plan noch ein wenig mulmig war, schien sich doch alles in die Richtung zu bewegen und er suchte ja auch nicht direkt Gründe, ihn zu verwerfen. Pete anscheinend schon.

    „Wir stellen es einfach so hin, dass wir unsere Trainingseinheiten in die Wildnis verlegen, um ungestört zu sein und damit wir mehr Platz haben. Oder, dass wir auf Pokémonjagd gehen würden.“

    „Das machen wir ständig“, ergänzte Ryan, um direkt zu vermeiden, dass Pete das als zu simpel auslegen würde. Reichte aber leider nicht.

    „Ihr macht´s euch ja ganz schön einfach. Habt ihr…“

    „Ich denke, wir sollten es versuchen.“

    Alle Augen wanderten zur Drachenpriesterin. Die hatte sich zurückgelehnt, die Arme verschränkt und die Beine überschlagen. Ihr Kopf war nachdenklich gesenkt, ebenso wie ihre Stimme.

    „Tatsache ist nun mal, dass der Schwarze Lotus unbedingt ausgeschaltet werden muss, bevor wir zu den Zwillingsdrachen und Rayquaza übergehen können, am besten gestern. Und das werden wir nicht schaffen, wenn wir nicht bereit sind, gewisse Risiken einzugehen.“

    Sandra wirkte skeptisch, aber nicht mehr als zuvor. Doch diese würde sie, ungeachtet für welchen Plan sie sich entscheiden würden, auch nicht ablegen. Wie sie zuvor erwähnt hatte, war es nicht das erste Mal, dass sie Mila zu Seite stand und sie hatte gelernt, dass Skepsis die Vorsicht bewahrte. Und die wiederum konnte ihr Leben retten. Tatsächlich hatte sie das schon einmal.

    „Dann wirst du Sheila bändigen müssen.“

    In der Tat würde es schwer werden, sie zum Stillstehen zu bewegen, wenn sie genau wusste, dass Feinde ihnen auf den Fersen waren. Doch es wäre – gerade in jüngster Vergangenheit – auch nicht das erste Mal.

    „Sie wird es erdulden“, versicherte Mila ohne Zweifel. Dass Sheila praktisch jeden Befehl von ihr ausführen würde, war ein Umstand, den sie extrem ungern aussprach, jedoch unbestreitbar zutraf. Und es gab mehr als genug Momente, in denen das ein Segen für sie war.

    Ryan nickte zufrieden und griff nach seinem Glas.

    „Fein. Dann gehen Andrew und ich ab morgen regelmäßig vor die Stadt. Besitzt du ein Handy?“

    Milas Blick zeigte Verwunderung und Ryan war sich nicht sicher, ob sie die Frage als dümmlich einstufte oder einfach keinen Grund erkannte, warum er sie stellen sollte.

    „Ich habe mich in all den Jahren stets bemüht, mit der Zeit zu gehen. Die heutige Technik ist für mich keine Hexerei.“

    Ryan wollte sich eigentlich entschuldigen, doch er war zu stark gefesselt von seinen Gedanken und griff sich eine Servierte sowie einen Stift von Pete.

    „Gut, hier ist meine Nummer. Falls du oder Sheila uns nicht persönlich treffen könnt, rufst du einfach an, wenn es was Wichtiges gibt. Egal ob Tag oder Nacht, hörst du?“

    Sie runzelte die Stirn, war vielleicht etwas überrascht von Ryans Tatendrang und Enthusiasmus. Aber sie nahm die Notiz an. Sandra setzte derweil ihre Tasse ab, die sie gerade geleert hatte und außerdem das überschlagene Bein wieder auf den Boden.

    „Ich werd mit euch kommen“, kündigte sie an. Ihre Augen sprachen nun plötzlich eine andere Sprache. War es Zuversicht? Nein, das wäre zu viel des Sinneswandels. Entschlossenheit? Möglich, doch die strahlte diese Frau zumeist aus. Ihre Präsenz allein war befeuernd.

    „Ich komm eh im gleichen Pokémoncenter unter, wie ihr. Außerdem muss ich ja in eurer Nähe bleiben, falls Team Rocket wirklich aus seinem Loch kommt. Und falls nicht, können wir immerhin gemeinsam trainieren.“

    Später würde Ryan sich enthusiastisch vorstellen, wie wahnsinnig effizient und aufregend es sein würde, die Trainingseinheiten mit Sandra gemeinsam zu gestalten. Allein der prekären Situation wegen tat er es nicht sofort, doch es war ihm auch noch etwas Anderes aufgefallen. Und zwar nicht als einziger.

    „Aber das Center, in dem die beiden sind, ist für die Teilnehmer vom Summer Clash reserviert“, warf Melody ein.

    „Ist mir bewusst.“

    Weiter sagte die Leiterin nichts, grinste aber verschmitzt und vielsagend.

    „Du nimmst auch Teil?“

    Eher hatte Ryan angenommen, er würde seine Teilnahme absagen, da es unangebracht und darüber hinaus sicher gefährlich wäre, sich so ins Zentrum der Öffentlichkeit zu stellen.

    „Genau wie ihr. Wenn ihr es nicht tut, wird Team Rocket das als Zeichen der Vorsicht oder gar Angst werten und schlussfolgern, dass Ihr über sie bescheid wisst“, erklärte Mila.

    „Sollten die davon nicht eh schon ausgehen? Die wissen doch sicher, dass wir mit euch in Kontakt sind“, warf Andrew nun ein. Sheilas Wache und Mühe in allen Ehren, aber niemals konnte sie bis hierhin verhindert haben, dass die so sehr im Dunkeln tappten.

    „Sie können höchstens schätzen, wie viel wir über ihre Organisation in Erfahrung gebracht haben. Solange sie keine Gewissheit haben, geben wir so wenig Informationen wie möglich Preis.“

    Diese Vorgehensweise erschien nur logisch und dementsprechend hatte keiner irgendwelche Einwände vorzubringen. Wenn Mila die Umstände so einschätzte, dann würden sie ihrem Urteil vertrauen und den Plan so stehen lassen.


    Sowie dies entschieden war, machten sich der Großteil der Gruppe zum Aufbruch bereit. Pete würde logischerweise in seiner Bar bleiben und Mila hatte ebenfalls geäußert, dass sie noch bleiben und sich später mit Sheila treffen würde. Der Rest machte sich auf den Weg zum Center. Sandra, um dort einzuchecken. Ryan und Andrew würden Melody begleiten, während sie ihre Habseligkeiten aus dem Hotel holte. Nach aktuellem Stand der Dinge war es viel zu gefährlich für sie, allein irgendwo unterzukommen. Sicher wäre es keine Hürde für Team Rocket, jemanden in das Hotel einzuschleusen, der sie als Geisel nehmen oder Schlimmeres tun würde. Sie war schließlich schon mit Ryan gesehen worden und der Attentäter, den Sheila während ihres Dates getötet hatte, war sicher nicht der einzige gewesen.

    Es blieb zu hoffen, dass Joy es akzeptierte, wenn sie sich mit Sandra ein Zimmer teilte, obwohl sie keine Turnierteilnehmerin war. Notfalls müssten sie versuchen, sie unbemerkt hineinzuschmuggeln.

    Mila und Pete blieben noch eine ganze Weile an ihrem Tisch sitzen, ohne einander anzusehen. Während der Barkeeper die Tür anstarrte, als erwarte er jeden Moment, die vier würden zurückkommen, schwankte die Drachenpriesterin nachdenklich den Rest ihres Weines im Glas hin und her.

    „Warum hast du ihnen nicht von Bella erzählt?“

    In ihm tummelten sich nach wie vor genügend Bedenken, um den Plan in Frage zu stellen, doch da Mila ihn abgesegnet hatte, würde Pete sich ihm anschließen. Diese Frage musste er allerdings beantwortet haben. Jedoch tat Mila das nicht. Sie schwieg, starrte weiter in ihr Weinglas, als sei sie völlig abwesend und höre ihn nicht. Ihren Blick versuchte er vergebens einzuordnen. Er war absolut ausdruckslos, vermittelte keinen einzigen Gedankengang, obwohl sich sicher dutzende auf einmal in ihren grauen Zellen tummelten.

    „Meinst du nicht auch, wenn eine Gruppe sie verfolgen sollte, dass sie Teil von ihr sein… nein, dass sie sie anführen würde?“

    Es dauerte einige Sekunden, in denen man nach wie vor nicht den Eindruck hatte, Mila würde Pete zuhören. Doch dann hob sie unvermittelt den Kopf und sah abschätzend durch den Raum.

    „Möglich, aber ich schätze sie nicht als eine Person ein, die in Gruppen gut zurechtkommt.“

    Pete seufzte wenig überzeugt. Er hätte es nicht bei dem einen Kurzen belassen sollen. Doch Mila – so viel wusste er – würde sich seinem Gesaufe nicht anschließen und alleine machte man so etwas einfach nicht.

    „Wen sollte der Schwarze Lotus sonst schicken?“

    „Wenn sie Ryan Carparsos Plan nicht durchschaut, könnte sie gar selbst kommen. Ich glaube wirklich, dass seine Idee funktionieren kann“, murmelte sie in ihre Hand, die das Kinn stützte. Ja, es könnte wirklich klappen. Und eben das war so gefährlich.

    „Wir gehen dabei ein hohes Risiko ein, ich hoffe, du hast recht.“

    „Ich hoffe, ich irre mich, Pete.“

    Sie mit einem tiefen Schluck leerte sie das Glas und wandte sich ohne weitere Umschweife zum Gehen.

    Kapitel 29: Rendezvous


    Ryan hatte es bereits an den Abenden zuvor bestaunen dürfen, das rege Nachtleben in Hoenns Hauptstadt. Doch seit er und Andrew hier angekommen waren, war es das erste Mal, dass er sich in selbiges stürzte. Die letzten Tage war er zu dieser Zeit immer nur im Center gewesen, hatte auf seinem Zimmer rumgelungert oder war in Supermärkten Einkäufe für seine Pokémon erledigen. Sei es nun Futter, Medizin oder was auch immer.

    Doch nicht heute. Heute hatte er seine Pokémon nicht einmal dabei, was ihm ein merkwürdig unvollkommenes Gefühl bescherte und beim erneuten Abwägen war er wirklich froh, dieses Gefühl zu verspüren. Es untermauerte die Veränderung, die er in den letzten Tagen durchgemacht hatte und nach wie vor durchwanderte.

    Ryan hätte es wirklich begrüßt, hätte Melody ihn persönlich um diese Verabredung gebeten, doch das über Mila als Vermittlerin zu tun, war nicht nur ungebräuchlich, sondern auch unpraktisch. Er hatte keine Ahnung, ob der Anlass wirklich ein fröhlicher war, ob sie tatsächlich einfach bloß Zeit mit ihm verbringen wollte oder sich doch mehr dahinter verbarg. Die Frage nach einem Dresscode war ebenfalls offen geblieben. Doch da sich Ryan lieber zu fein für ein ernstes Gespräch als zu schludrig für ein Date kleidete, hatte er ein ordentliches Shirt in sauberem Weiß mit stylischen Tribals, die unter dem Kragen begonnen und sich über die Seiten rankten, aus seinem Gepäck gekramt und eine minzgrüne Weste ohne Ärmel übergeworfen. Letztere hatte er sich erst ein paar Stunden zuvor besorgt. Seine Kette mit dem Silberflügel trug er heute offen anstatt unter dem Shirt und seine Frisur war mit Gel in wilde Spitzen geformt worden. Das hatte sich schwieriger als erwartet gestaltet, da Ryan ungewohnt lange keinen Friseur mehr gesehen hatte. Die Lederhandschuhe, die er so gewohnt war, bewertete er erst jetzt nach einer skeptischen Betrachtung als unpassend. Er sollte sie ohnehin in absehbarer Zeit austauschen, da sie langsam aber sicher stark abnutzten. Dennoch ließ er sie an. Bloß aus Gewohnheit.

    Sein Herz klopfte ungewohnt stark. Als versuche es, Melody über Vibrationen oder Klopfgeräusche Ryans exakte Position zu verraten. Ryan sah sich beileibe nicht als Aufreißer, aber hatte sich schon oft – meist mit anderen Trainerinnen – verabredet. Zugegeben, mit den wenigsten von ihnen mehrmals, aber das Leben als umherstreifender Trainer ließ so etwas auch nur schwer zu. Zwei oder drei Mädels hatte es während seiner Reise durch Kanto und teilweise durch Johto gegeben, die er wiederholt auf seinem Wege getroffen hatte. In der Regel in den Städten, die eine Arena besaßen oder aber bei kleineren Turnieren. Eben bei typischen Knotenpunkten für Trainer. Und hatte man die Kampfeslust erst einmal gestillt, war man eben des Abends noch zusammen fort gegangen, hatte gefeiert oder sich anderweitig amüsiert. Doch das war das schnelllebige Dasein von Trainern, die versuchten, den Moment zu genießen. Jetzt hatte Ryan eine Verabredung mit einem Mädchen, das er am liebsten jeden Tag um sich wüsste und mit der er etwas ganz Besonderes teilte. Vielleicht war ihm deshalb so mulmig.


    Zum bestimmt fünften Mal in den letzten Minuten – er war viel zu früh dran gewesen – starrte Ryan auf seine Uhr. Sie schlug gerade eine Minute nach sieben, als er aus dem Augenwinkel eine Person erspähte, die den Zebrastreifen gekonnt ignorierte und diagonal über die Straße lief. Genau auf ihn zu. Melody sah fantastisch aus, obgleich sie das in ihrer Alltagskleidung letztes Mal auch schon getan hatte. Von dieser war aber kaum etwas geblieben. Der Rock war einer dunklen Jeans gewichen, bei der nur durch eine einzelne Schlaufe an der linken Hüfte ein Gürtel mit breiten, golden eingefassten Löchern durchgezogen war und daher an ihrem rechten Schenkel herunterbaumelte. Ihr Trägertop war im selben Himbeerrot wie ihre kleine Umhängetasche, die neben der Spange an ihrer Haarsträhne, die wieder verspielt ins Gesicht hing, das einzige war, das sich nicht verändert hatte. Der Pferdezopf war ebenfalls fort, das Haar bloß mit einem schwarzen Band nach hinten gerichtet, sodass es ihr nicht ins Gesicht fiel. Über ihrem Top trug Melody noch ein schwarzes Jäckchen, das bis unter die Rippen reichte und dessen Reißverschluss von oben nach unten zu schließen war. Da sie ihn allerdings nur zur Hälfte zugezogen hatte, offenbarte sie über dem Brustbein etwas nackte Haut.

    Ryan musste aufpassen, dass er nicht zu sehr starrte. Aber sie machte es ihm nicht einfach.

    „Hey“, grüßte sie ihn ganz simpel, aber durchaus mit Freude in ihrer Stimme. Das gab natürlich Grund zur Annahme, dass sie den heutigen Abend tatsächlich amüsant gestalten wollte. Was für ein Glück.

    „Schön dich zu sehen“. erwiderte er lächelnd und zog sie in eine grüßende Umarmung, die das Mädchen auch offen annahm. Innerhalb weniger Sekunden war Ryans Nervosität gänzlich der Freude gewichen. Es fühlte sich fast an, als habe es die Spannungen von ihrem Gespräch nie gegeben. Genau das hatte er sich gewünscht. Und ihr musste es ähnlich gehen, sonst würde sie jetzt nicht hier stehen.

    „Meine Güte, warst du noch shoppen?“, flachste sie, als sie an dem Trainer herunter sah. Er hatte nichts Weltbewegendes mit sich angestellt, aber es hatte einen Effekt. Und es war ohne Zweifel ein positiver, wie sie befand.

    „Nope, die Sachen hab ich gefunden“, beteuerte er nur sarkastisch und tat nun dasselbe bei ihr, wie sie bei ihm.

    „Außerdem sollte ich die Frage wohl eher dir stellen.“

    „Kann sein. Aber ich sag einfach ja, anstatt zu lügen“, meinte sie mit einem breiten Grinsen.

    „Touchée.“

    Fast bekamen Ryan und Melody das Gefühl, sie beide sahen einander gerade jetzt zum ersten Mal, seit ihrem damaligen Abschied aus ihrer Heimat, wo sie zusammen Lugia begegnet waren, wieder. So wie jetzt hätten sie es sich schon vor ein paar Tagen vorgestellt – oder eher gewünscht. Diese kurze Überdenkzeit hatte wohl kaum alle Widrigkeiten und Schikanen zwischen ihnen einstürzen lassen, doch darüber würden sie schon reden, wenn sie beide Zeit und Ort als angemessen einstuften. Heute jedoch war das erklärte Ziel, einen Abend zu schaffen, an den sich beide gerne zurückerinnerten. Das beschlossen gerade beide in Gedanken ohne ein Wort der Absprache.

    „Jetzt bin ich fast enttäuscht. Als ich Andrew das erste Mal getroffen hab, hat´s viel länger gedauert, bis ihm seine platten Witze ausgegangen sind“, meinte sie und legte eine Hand auf die Hüfte.

    „Du kennst ihn noch nicht so gut, aber in dem Köcher hat er buchstäblich unzählige Pfeile. Da bin ich raus.“

    „Danke für die Warnung“, kicherte sie und hakte sich an Ryans rechten Arm ein, während die beiden die Straße entlang zu schlendern begannen. Mila hatte ihn wissen lassen, dass Melody kein bestimmtes Ziel für den Abend ausgesucht hatte, sondern sich mit ihm einfach ins Blaue aufmachen wollte. Da anhalten, wo ihre Aufmerksamkeit erregt wurde. Das unternehmen, was ihnen gerade spaßig anmutete. Dort essen, wo es am leckersten roch. Einfach spontan sein.

    „Du musst mir noch von eurem Kennenlernen erzählen. Es hat mich total kalt erwischt, als ich gemerkt hab, dass du und Andrew euch schon begegnet seid.“

    Sie lachte keck auf und schlug kumpelhaft mit ihrer flachen Hand auf seinen Oberarm.

    „Wir waren alle drei verwirrt!“, stellte sie klar. Recht hatte sie damit, doch sah sich Ryan noch in der skurrilsten Position unter ihnen, wenn er an den Moment zurückdachte.

    Während die beiden das Zentrum Graphitports und somit die Hauptstraßen mit ihren Läden, Clubs, Diskotheken, Bars und Restaurants ansteuerten, schilderte Melody ihm präzise ihr erstes Treffen mit Ryans langjährigem Kumpanen. Der kannte ihn natürlich gut genug, um anhand dieser Infos zu wissen, dass er direkt ein Auge auf sie geworfen und sich Hoffnungen gemacht hatte. Nicht unbedingt auf etwas Großes, aber wenn man ständig durch die Welt reiste und kaum Gelegenheit fand, dauerhafte Kontakte zu knüpfen, nahm man meist jede Gelegenheit an, um in den Genuss weiblicher Gesellschaft zu kommen. Egal wie kurzweilig es auch sein mochte. Doch mittlerweile sollte glasklar sein, dass Andrew bei Melody kein Land sehen würde.


    Während ihres Marschs waren Ryan und Melody fast kontinuierlich am Reden. Die Mehrzahl der Fragen stellte dabei der aufgedrehte Rotschopf. Sie fragte ihn allerhand Löcher in den Bauch über die Silberkonferenz – obwohl sie selbige nach eigener Aussage im Fernsehen gesehen hatte –, die Entscheidung nach Hoenn zu gehen und natürlich seine Pokémon. Sie war etwas traurig darüber, dass Ryan mit Hundemon lediglich eines der ihr bekanntes Pokémon an seiner Seite hatte. Doch schließlich hatte sie abgesehen von Impergator mit keinem von ihnen wirklich Kontakt gehabt, sodass man eh nicht von einem herzlichen Wiedersehen hätte reden können.

    Alle paar Minuten machte einer von beiden, wobei auch hier Melody deutlich Oberwasser hatte, Halt und zerrte den jeweils anderen durch irgendeine Tür. Melody ließ Ryan in einem Modegeschäft irgendwelche Hipster Sachen anprobieren und ergötzte sich an dem Anblick. Er machte dafür selbiges mit ihr in peinlich schnieken Kleidern. Zumindest für ihren Geschmack. Im Anschluss besorgten sie sich an einem kleinen Laden in einer Seitenstraße ein paar ausgefallene Eis Parfaits und suchten jeweils für den anderen aus. Der Laden bot die kuriosesten Sorten und Beilagen an und erlaubte seinen Kunden sogar freie Auswahl bei allem. Süßspeise Marke Eigenbau also. Während Ryan einfach die zuckersüßeste Kalorienbombe, von der man sicher auf der Stelle Diabetes bekommen könnte, für sie zusammenbestellte, schien sie sich Mühe zu geben, die abstrakteste und sonderbarste Mischung zusammenzustellen, die mit solch guten Zutaten zu kreieren war. Tiramisu samt Kiwi und Pfirsich Scheiben und rotem Pfeffer, dann ein paar Fruchtgummis und drüber geworfen, noch ein fettes Stück Lakritz drauf und zur Abrundung ein paar Wasabi Nüsse. Womit er das wohl verdient hatte? Vermutlich war Melody tief im Inneren doch ein wenig sadistisch. Doch bei allem, was die zwei unternahmen, lag stets mindestens ein Lächeln, wenn nicht ein herzerfülltes Lachen auf ihrer beider Lippen. Zumindest, wenn man den Moment, in dem Ryan die sonderbare Süßspeise probierte, ausklammerte. Da lachte ausschließlich Melody.


    Bei Sheila musste der Anblick wahrlich Brechreize auslösen. Gar befeuerte es ihr Mordlust. Solch eine Unbekümmertheit in dieser Lage war absolut närrisch.

    „Wie töricht“, hauchte sie in ihren Schal. Mila schien nicht ganz bei Verstand zu sein, wenn sie dieses Rendezvous zwischen den beiden erlaubte, gar befürwortete. Es würde den beiden gut tun, hatte es geheißen und dass sie die Gelegenheit wahrnehmen sollen, bevor es demnächst wirklich ernst würde. Was ein blauäugiger Schwachsinn.

    Als Leidtragende würde sie sich in dieser Situation dennoch nicht betrachten. Sie versuchte Ryan und Melody als Köder anzusehen, um Team Rocket hervorzulocken. Auch wenn sie nicht zu hoffen wagte, dass sich Bella heute Nacht zeigen würde, war ihr jedes Opfer recht. Sie wusste natürlich, dass Mila viel zu gutherzig war, um die beiden wirklich als Lockmittel zu missbrauchen. Doch Sheila stellte sich gerne vor, dass es doch so war und ihre Herrin es nur in ihrem Unterbewusstsein vergrub. Rücksicht war etwas, dass man sich während eines Krieges nicht erlauben konnte. Und auch wenn der Krieg mit den Drachen noch nicht wirklich begonnen hatte, so hatte es der mit Team Rocket allemal. Sheila war sich ziemlich sicher, dass irgendjemand aus der Organisation die beiden bereits gesehen hatte. Unter den Menschenmassen verbargen sich dutzende, als Zivilisten getarnte Kundschafter und Agenten. Für die meisten unsichtbar, doch sie war eben nicht wie die meisten. Konkreter gesagt, war niemand sonst so wie sie.

    Von den Dächern der Hochhäuser hatte sie einen perfekten Überblick und konnte viel leichter sonderbare oder Verdächtige Personen ausfindig machen. Sheila behielt vor allem die Menschen im Auge, die am unscheinbarsten wirkten. Die still in einer Gasse standen und auf die Straße lugten. Oder teilnahmslos durch den Fluss an Fußgängern hindurch schlurften. Und natürlich solche, die der Route der Turteltauben konsequent folgten. So dumm war bislang aber niemand gewesen. Das wäre auch viel zu auffällig. Schließlich folgten Ryan und Melody keinem Plan oder bestimmten Ziel. Höchstens ein Verirrter könnte solche Wege einschlagen. Oder eben jemand, der den beiden folgte. Doch nicht nur dies. Die Art, wie jemand ging, wie sich jemand bewegte, sein Blick oder seine Ausstrahlung. All das waren klare Signale für Sheila, ebenso wie für Bella oder andere ihres Fachs. Und genau zwei Personen dort unten schienen mit diesen sowie jeder weiteren Faser ihres Körpers die Aufmerksamkeit des Assassinen auf sich lenken zu wollen.

    Ein Mann und eine Frau, wohl in den Dreißgern und beide mit sportlichem Körperbau. Und mit überaus auffälliger Haarfarbe. Markanter wären die violetten Schöpfe nur gewesen, wenn sie in Flammen stünden. Sheila stand direkt am Rande des Dachgeschosses. Offen, ohne Deckung und ohne Scheu. Strahlte mit ihrer strammen Haltung und den geballten Fäusten Selbstsicherheit aus, während ihre Augen tödlich wie eh und je funkelten. Zu gerne würde sie die beiden dort unten etwas genauer „befragen“. Aber damit würde sie genau das tun, was die Rockets wollten. Es waren dieselben, die sie schon auf der Fähre gesehen, später im Wald von Wurzelheim beschattet und widerwillig am Leben gelassen hatte. Welch Ironie, dass sie erneut in eine Situation geraten war, in der sie die beiden nicht töten konnte. Oder eher durfte.


    „So leicht lässt sie sich wohl nicht ködern“, seufzte die violethaarige Frau und schnippte sich die weiße Strähne aus dem Gesicht.

    „Das sollte uns nicht verwundern“, meinte ihr Partner und wandte sich bereits zum Gehen.

    „Bella hat uns schließlich gewarnt, dass sie gut ist.“

    Nicht nur das hatte sie ihnen erzählt. Sondern auch, dass es Carlos und Lydia das Leben kosten würde, wenn sie diesem Mädchen gegenüberstehen sollten. Insofern war es geradezu eine Erleichterung, dass sie den Köder nicht schluckte und sich darauf besann, diesen Ryan und seine Tussi im Auge zu behalten. Ob die überhaupt wussten, dass sie von ihr beschützt wurden? Vermutlich nicht.

    Lydia war dennoch ernüchtert. Sie gab nicht allzu viel auf Bellas Wort und auch wenn sie es nie aussprechen oder zugeben würde, ging es ihr gewaltig gegen den Strich, dass ein so junges und hübsches Ding das Vertrauen des Schwarzen Lotus besaß, um das sie selbst schon Jahre kämpfte. Dieses Gör da oben fortlocken oder sogar ausschalten zu können, würde sie dem einen großen Schritt näher bringen. Gar würde es ihr einen Platz als ihre Vertreterin einbringen. Schließlich gehörte die Kleine unlängst zu den Zielpersonen der höchsten Gefahrenstufe.

    Doch ihr blieb die Chance verwehrt. Vielleicht hatte sie ja Angst, sich ihnen beiden allein zu stellen. Kleines Miststück. Ihr blieb nichts anderes übrig, als Carlos zu folgen und die übrigen Agenten zu informieren. Kaum abgewandt, drückte sie einen Finger ins Ohr und führte die Armbanduhr mit dem eingebauten Mikro an den Mund.

    „T2 hat nicht angebissen, sie hält ihre Position auf den Dächern. Operation gefährdet. Alle Schläfer auf Bereitschaft bleiben. Zugriff auf eigene Faust gestattet.“


    Ryan hatte schon einige dieser sogenannten Arcade Stores gesehen, allerdings nie von innen. Auf ihn wirkte es eher wie ein Spielparadies für eine jüngere Generation, zu der er sich nicht mehr wirklich zählen wollte. Doch ein derart bunter, lauter und leuchtender Laden schien eine Bewohnerin eines friedlichen Inselparadieses zu neugierig zu machen, als dass sie ihn ignorieren konnte. So schleifte Melody Ryan kurzerhand mit sich, der sich nur dezent dagegen wehrte. Es war laut. Ziemlich laut. Und bunt. Meine Güte, war das hier bunt. Der junge Trainer meinte, sich in einer Spielzeugkiste zu befinden. Naja, gewissermaßen stimmte das auch. Im Erdgeschoss befanden sich hauptsächlich Automaten, die eher noch in die Kategorie Glückspiel schlugen. Hier musste man beispielsweise eine Münze einwerfen, die durch einen Schiebemechanismus einen großen Haufen derselben Sorte bewegen und möglichst viele über den Rand in den Auswurf drücken sollte. Das allseits bekannte Kranspiel war hier außerdem sicher hundertfach vertreten und unterschied sich alle paar Meter lediglich in den ausgestellten Preisen und Gewinnen. Meist handelte es sich aber um verschiedene Plüschtiere, Sammelobjekte, billigen Schmuck aus Plastik und ähnlichen Krimskrams. Nichts, was irgendein Mensch brauchte. Zudem wusste eigentlich jeder, dass man an den Dingern kaum gewinnen konnte. Jeder außer Melody.

    „Ryan hast du Kleingeld?“, fragte sie, während sie schon auf einen der Automaten zu rannte. In ihr kam wohl gerade das Kind zum Vorschein.

    „Echt jetzt?“

    „Sei mal nicht so geizig“, stichelte sie ihn.

    „Ich hab für dein Parfait deutlich mehr bezahlt, als du für meins.“

    Stöhnend trat Ryan neben sie und riskierte ebenfalls einen flüchtigen Blick in die Preisauslage. Anhänger und Kettchen, die kein Mensch haben wollen dürfte. Doch ein solcher Mensch hielt gerade neben ihm die Hand auf. Und er Depp zuckte auch noch seine Börse.

    „Ich mein doch nicht wegen dem Geld. Und für die Magenbombe bist du ja wohl genug entschädigt worden.“

    Noch jetzt zauberte der bloße Gedanke and diesen Moment ein breites Grinsen auf das schadenfrohe Gesicht dieses Mädchens. Einen weiteren Kommentar gab sie nicht dazu, nahm stattdessen von Ryan ein paar Münzen an und versuchte ihr Glück. Die Preise besaßen einen aufgerichteten Ring aus Plastik, den man mit der Greifbewegung des Krans treffen und somit hinaufziehen sollte. Doch wie sich herausstellte, rutschte dieser Ring verflucht schnell wieder heraus, selbst wenn man meinte, ihn sauber erwischt zu haben. Melody versuchte es noch ein paar Mal und fluchte jedes Mal ein bisschen lauter, bis sie gar leicht gegen die Maschine trat. Seltsamerweise behielt sie aber dennoch ihren Spaß bei, da sie noch immer lächelten.

    „Kannst du´s mal versuchen? Ich will das da.“

    Sie zeigte auf einen Gummianhänger, der ein kleines und völlig verniedlichtes Hundemon darstellte, das gerade einen Sprung machte, als wolle es einen geworfenen Ball fangen.

    „Arceus gib mir Kraft“, seufzte er kapitulierend. Nicht, weil er es zu schaffen erhoffte. Eher bat er um Geduld und Selbstbeherrschung, mit Melodys Spieltrieb mithalten zu können. Alternativ müsste er ihren flehenden Augen widerstehen und da sah er sich bereits jetzt auf verlorenem Posten.

    Doch damit sie ihm nicht vorwerfen konnte, es bloß halbherzig probiert zu haben, nahm er sich tatsächlich einen Moment, um die Position des Rings genau zu erfassen und wie er den Kran genau zu steuern hatte. Er hatte ja jetzt schon einige Anläufe beobachten und aus ihnen lernen können.

    Dass ihm seine Beobachtungsgabe mal auf diese Weise nützen würde – verrückt.

    Er hatte ihn! Der Greifer saß perfekt im Ring und zog den Anhänger rauf. Beim allerersten Versuch. Waren die Dinger etwa doch nicht so schwer oder war das bloß Glück?

    Die letzte Option verwarf Ryan sofort wieder, denn gerade als der Kran den automatisch gesteuerten Rückweg zum Auswurf antrat, rutschte der Ring durch das natürlich Wackeln erneut runter und war plötzlich wieder genauso fern wie am Anfang.

    „Das ist doch´n Witz!“, maulte Melody daneben und schlug die Hände frustriert vor´s Gesicht. Ryan dagegen packte mit einem Mal der Ehrgeiz.

    „So nicht, Freundchen. Das Teil krieg ich“, meinte er und warf erneut Geld ein. Womit das Rätsel um die Anziehungskraft dieser Automaten gelöst wäre.

    Er hatte noch zwei weitere Versuche gebraucht, bis er Melody endlich und tatsächlich mit einem angenehmen Gefühl von Stolz den Anhänger überreichen konnte. Schwitzte er etwa? Ach du Scheiße.

    Doch sie sah ihn bloß verblüfft und mit gerunzelter Stirn an, als würde er ihr eine Zigarre anbieten.

    „Was soll ich damit? Der war von Anfang an für dich gedacht.“

    Sein schiefer Blick würde ihr vermutlich genau so viel wert sein, wie der beim Verzehr des Parfaits.

    „Jetzt machst du aber Witze.“

    Mitnichten, wie sich herausstellte. Breit grinsend nahm sie ihm das Stück Gummi aus der Hand und befestigte es an der Reißverschlusstasche seiner Weste. So verspielt hatte er sie wirklich nicht gekannt. Ganz schön anstrengend war das. Aber auch irgendwie süß.

    „Wenn das kein Anblick ist.“

    Ryan dachte daran, wie Hundemon, also sein Hundemon diesen Anblick fände.

    „Der wird mir in den Hintern beißen, wenn er das sieht.“

    Mit Glück, fügte er gedanklich hinzu. Wenn er Pech hatte, würde er ihm im wahrsten Sinne Feuer unterm Arsch machen.

    Melody schien das Risiko in Kauf zu nehmen und führte ihn weiter zu einer Treppe hinauf ins Obergeschoss. Eine Beschilderung verriet, dass dort diverse Zockerautomaten warteten. Na hurra.


    Keiner von beiden registrierte den Mann, der nur ein paar Automaten weiter ebenfalls sein Glück versuchte. Er war vielleicht Ende zwanzig, kahl geschohren, trug dafür einen Vollbart und außerdem einen Trenchcoat. Jedoch achtete er gar nicht wirklich auf den Kran. Sein Blick war ständig über die Schulter geworfen und haftete an dem jungen Pärchen. Er wartete einige Sekunden und folgte ihnen schließlich nach oben. Das Klimpern, Piepen und Dröhnen hier war noch mal viel intensiver als im Erdgeschoss. Dutzende Automaten mit Baller-, Prügel-, Sport- oder Geschicklichkeitsspielen bildeten hier regelrechte Korridore und die bunten Lichter sowie flimmernden Bildschirme waren fast die einzige Lichtquelle. Die schäbigen Neonröhren an der Decke machten da kaum einen Unterschied.

    Ohne Umschweife steuerte er einen solchen Automaten an, an und warf eine Münze ein. Doch auch hier schenkte er dem Spiel selbst keinerlei Beachtung. Das Pärchen hatte sich gerade einem größeren Bildschirm eingefunden und jeweils einen Plastikcontroller in Form einer Pistole in die Hand genommen. Sie nahmen von ihm keine Notiz. Ein flüchtiger Blick in die Korridore verriet ihm, dass nur ein oder zwei weitere Personen überhaupt hier waren, doch die waren selbst am Zocken und mehrere Meter entfernt. Das was absolut machbar. Die Chance musste er nutzen!

    An einer Hand trug der Mann einen unscheinbaren Ring. Den kleinen Knopf an der Oberseite würde man auch nach eingehender Betrachtung noch als Verzierung abstempeln. Tatsächlich trat nach dessen Betätigung an der Unterseite eine winzige Nadel heraus, nur wenige Millimeter lang und dünner als die einer handelsüblichen Spritze. Den Stich würde man so gut wie gar nicht spüren, doch sehr wohl die Toxine diverser Giftpokémon, die über diese Nadel in den Körper gelangten. Vipitis, Ariados, Tentoxa und Glibunkel waren nur einige der Namen, die ihren Teil zu diesem tödlichen Cocktail beitrugen. Mindestens genauso viele hatte er vergessen.

    Bei Team Rocket arbeiteten viele unnütze Vollidioten. Insbesondere die jungen Grünschnäbel, die sich was drauf einbildeten, alten Leuten ihre mickrigen Börsen abluchsen zu können. Aber auch eingebildete und arrogante Einsatzleiter, die tatsächlich keine Ahnung hatten, was sie eigentlich taten und mehr durch Glück als durch Verstand an ihre Position gekommen waren. Doch die Entwicklungsabteilung – besonders die für Waffen – schuf in regelmäßigen Abständen kleine Wunderwerke.

    Er sah sich ein weiteres Mal um. Dieser Ryan und seine Tussi schossen wie blöd auf ihre virtuellen Ziele ein, feixten und spaßten dabei herum und versuchten jeweils sich gegenseitig beim Schießen zu behindern. Dieser Rotschopf blies sogar entrüstet die Backen auf und deutete an, nun auf diesen Ryan zu schießen. Ihre Sorglosigkeit würde ihm nur in die Karten spielen und einem von ihnen das Leben kosten.

    Unbehelligt und unauffällig schlenderte er auf das Paar zu, warf hier und da einen Blick nach rechts und links, als würde er sich nach einem anderen Spiel umsehen. Ein kurzes antippen mit der flachen Hand auf seinen unbedeckten Oberarm würde genügen und sein Tod wäre besiegelt. Er würde zur Ausrede nach einem Geldwechselautomaten fragen und nur ein paar Sekunden später von dannen ziehen. Bis das arme Schwein die ersten Wirkungen des Giftes zu spüren bekam, wäre er längst wieder draußen auf der Straße und in der Masse untergetaucht. Und Team Rocket hätte ein Problem weniger. Nur eine Armlänge trennte ihn noch davon. Und diese überwand er in diesem Augenblick.

    Er hatte den Angreifer nicht kommen sehen. Nur die Hand, die sich um sein Gelenk schloss und mit sich zerrte. Er wurde kalt erwischt und konnte sich überhaupt nicht wehren. Wurde blitzschnell in einen Korridor aus Rennspielautomaten gezogen.


    Ryan würde später nicht erklären können, warum er plötzlich den Kopf herumdrehte und sich umsah. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich was gehört oder sich das nur eingebildet hatte. Im Lärm dieses Ladens konnte schnell was untergehen. Und ob dieses Kitzeln im Nacken ihn tatsächlich dazu verleitet hatte, konnte ebenso Zufall sein. Doch jetzt, in diesem Augenblick, war er sich fast sicher, dass da etwas gewesen war. Oder jemand.

    Während Melody lachend den Punktestand vorlas, warf Ryan einen Blick in jede Ecke, jeden Winkel, den er von seiner Position aus sehen konnte. Es war kaum jemand hier. Und jeder in Sicht war mit Zocken beschäftigt. Hatte ihn seine Wahrnehmung wirklich nur auf die Schippe genommen? Vielleicht ein kurzer Anflug von Paranoia? Oder eine irrtümliche Intuition?

    Er würde nicht vor dem nächsten Tag erfahren, dass es tatsächlich letztere gewesen war, jedoch keineswegs irrtümlich. Für den Moment jedoch blieb er in dem Glauben. Er wandte sich wieder Melody zu, die scheinbar den Spaß ihres Lebens hatte und das versüßte auch ihm den Abend. Doch obwohl er sich bis zum Schluss an den Vorsatz hielt, sich diesen nicht vermiesen zu lassen, würde er von jetzt an immer mindestens ein Auge auf seiner Rückseite haben.


    Ein Mädchen? Sah er da richtig oder hatte der Stoß seines Kopfes an die Konsole ihn härter erwischt als gedacht? Nein, es war wirklich ein Mädchen. Wahrscheinlich nicht mal erwachsen. Passte gut in die Altersgruppe der von ihm so verhassten Handtaschendiebe im Team Rocket. Aber die hier war nicht so eine. Sie war stark. Viel stärker, als man es ihr zutrauen würde. Sie drückte ihn noch immer gegen den Automaten und funkelte ihn aus rubinroten Augen an. In ihnen las er mörderische Intentionen, suchte absolut vergebens nach Skrupel oder Gnade. Er schauderte. Solche Augen dürfte ein normaler Mensch gar nicht haben. Zweifellos spielte sie ebenfalls in der Riege der Auftragskiller mit.

    Nicht denken. Bloß reagieren. Nein, agieren!

    Wenn er an dem Weib nicht vorbeikam, verpasste er noch seine Chance, diesen Ryan auszuschalten. Ein einfacher Schlag mit der beringten Hand würde ausreichen, um sie für immer zum Schweigen zu bringen. Dummerweise hielt sie ihm an genau diesem Handgelenk noch immer eisern fest. Hatte sie seine getarnte Waffe wirklich entdeckt? Oder was das Zufall? Glück?

    Nichts desto trotz konnte er langsam aber sicher die Kraft in seinen Armen wiederfinden. Er war mehr als einen ganzen Kopf größer als sie und das würde sie nicht durch den Überraschungseffekt allein ausgleichen können. Allmählich schaffte er es, sich von der Konsole zu drücken und über sie zu beugen. Er steckte die Finger gerade, zeigte seine Flache Hand und die tödliche Nadel. Nur ein paar Zentimeter und er würde sie in ihrer Wange versenken.

    Sie blinzelte nicht einmal. Machte stattdessen plötzlich einen Ausfallschritt und trat gegen sein Standbein. Es knickte nach innen weg, sodass er die Balance verlor und erneut von ihr mitgezerrt wurde. Diesmal jedoch wirbelte sie ihn gekonnt herum, als wäre er von beiden das Leichtgewicht und schleuderte ihn mit dem Rücken gegen die bunt bemalte Betonwand. Dann ging sie fließend in eine Drehung über und versetzte ihm einen weiteren Tritt, diesmal direkt in den Magen. Er sackte nach vorn, röchelte, stöhnte auf, spuckte Speichel. Diese Schlampe! Was bildete sie sich ein, ihn so vorzuführen?

    Doch nun waren seine Arme wieder frei. Er müsste ihr Bein nur greifen, einmal die Hand darum schließen. Und sie wäre fällig. Der Gedanke erfreute ihn gar so sehr, dass er – zusätzlich befeuert von seinem Zorn – zu einem Schlag ausholte.

    Sie erkannte sein Vorhaben sofort. Ohne das Standbein zu wechseln, schnellte ihr Fuß vor und presste das Handgelenk gegen die Mauer. Der Arm war wie festgenagelt und der Rocket stöhnte erneut. Er musste einen Schrei jedoch unterdrücken. Wenn die beiden hier entdeckt würden, wäre das sein Ende. Er hatte keinen Fluchtweg zur Auswahl und wenn die Polizei hier antanzte und ihn in Gewahrsam nahm, würde man ihm seinem Schicksal überlassen.

    Hätte er diese Option doch vorgezogen. Für eine Sekunde war sein Arm plötzlich frei. Doch nur, da sich das Mädchen gebeugt hatte und nun auch einer tieferen Position genau auf sein Kinn trat. Beinahe hätte er sich die Zunge abgebissen und sein Hinterkopf schlug hart gegen das Gemäuer. Er sackte zusammen, ging auf die Knie. Noch in diesem Vorgang ergriff sie schon wieder seinen Arm mit dem Ring und verdrehte ihn völlig, während sich der andere um sein Genick schlang und seinen Kopf an ihrer Seite festhielt. Er verlor binnen Sekunden das Gefühl in seiner Hand. Sie gehörte ihm jetzt nicht mehr. Sie machte damit, was sie wollte. Und was sie wollte, war ihn mit seiner eigenen Waffe töten.

    Zu spät erkannte er das. Die tödliche Nadel wurde direkt in seine Seite gestoßen. Sein Herz setzte vor Schreck aus und er holte Luft für einen panischen Schrei. Ohne von der bewaffneten Hand abzulassen, beugte sie plötzlich ihren Oberkörper nach hinten, ging in einen geübten Würgegriff über. Mehr als ein kurzes, leises Röcheln verließ seinen Mund nicht. Nur ein paar Sekunden dauerte es, bis er sein Bewusstsein verlor und der Körper erschlaffte.

    Sheila sah sich rasch um, spähte über die Konsolen hinweg. Niemand sah in ihre Richtung. Keine hastigen Schritte, keine panischen Schreie. Sie war unentdeckt.

    Als hätte sie alle Zeit der Welt, schleifte sie den regungslosen Körper in einen der Rennsitze und klemmte seine Hände in die Speichen des Lenkrades. Von weitem sah es so aus, als würde der Mann das Spiel spielen. In Wahrheit tickte seine Uhr bereits herunter. Für ihn würde es kein Erwachen mehr geben. Vorher hätte sich das Gift zu seinem Herzen gefressen und es zum Stillstand gebracht. Ein ruhiger, einfacher Tod in der Wiege der Ohnmacht. Das war mehr, als der Amateur verdient hatte, wie sie befand.

    Sheila würde den Leichnam am liebsten vor Ryans Füße werfen, damit er den Mann sah, der ihn um ein Haar getötet hätte. Leibwache zu spielen gehörte weder zu ihren Stärken, noch ihren Vorlieben. Doch Milas Wort war nun einmal Gesetz. Das hatte sich trotz des vielen Unmutes, der sich zuletzt bei ihr Angestaut hatte, nicht geändert. Und letztlich wurde sich auch sehr angemessen entschädigt. So in der Öffentlichkeit hatte sie lange nicht getötet. Es war ein schönes Gefühl, eine willkommene Abwechslung und Herausforderung. Generell durfte sie seit einiger Zeit wieder deutlich mehr töten als in den Monaten, vielleicht gar Jahren davor. Und dafür war die Ryan vermutlich sogar zu Dank verpflichtet.

    Kapitel 28: Vertrauen, Hingabe, Alkohol


    Das Black Cat´s Roulette war wohl mit Abstand der letzte Club, in dessen Nähe sich gewissenhafte Menschen, die noch bei klarem Verstand waren, herumtreiben sollten. Es sei denn, man gehörte zu genau der Sorte, die regelmäßig dort ein und aus ging. Die Türen wurden hier erst nach Mitternacht geöffnet und herein kam ohnehin niemand, der keine Kontakte im Untergrund oder im Handel für illegale Waren hatte. Rauschmittel, Waffen und auch Pokémon. Man traf sich hier, um über genau solche Dinge zu sprechen und sich dabei in Drinks zu ersaufen, für die man in jeder normalen Bar schief und ungläubig angestarrt werden würde. Denn das meiste wurde hier selbst gebrannt – ebenfalls eine Straftat, über die nur die wenigsten wussten und die man noch immer von der Öffentlichkeit geheim halten konnte. Nicht vor jedermann, versteht sich, doch der Teil der Gesetzeshüter, der nicht strohdumm war, war zum Glück ausnahmslos korrupt und bestechlich. Die Betreiber waren an so ziemlich jedem Handel, der auf dem Schwarzmarkt im Süden und Westen Hoenns von statten ging, beteiligt oder wussten zumindest darum. Es war nur logisch, dass ihre Kundschaft ausschließlich aus Menschen bestand, die ebenfalls in dieser Welt lebten. Wer das nicht tat, würde von dem sicher zwei Meter großen und mit Steroiden vollgepumpten Türsteher auf nicht allzu freundliche Weise zum Gehen aufgefordert, noch bevor man überhaupt ans Eintreten denken konnte.

    Für einen kleinen Laufburschen und Informanten – einer von diversen in einem ganzen Netz, das in vier verschiedenen Regionen tätig war – wie ihn, der seinem zwielichtigen Beruf gerade mal einen Monat lang nachging, war der Schuppen definitiv kein Wunschziel. Doch Informanten suchten eben den zu informierenden auf und nicht umgekehrt. Und die zu informierende Person verkehrte eben des Nachts gerne hier. Der bullige Türsteher blickte auf ihn herab, wie ein Berg auf einen Kieselstein, sah sich aber dennoch in aller Ruhe seinen Ausweis an. Solche persönlichen Dokumente konnte man natürlich fälschen und das wurde hier auch oft versucht. Doch dafür war hier clever vorgesorgt worden. Für jemanden, der von der anderen Straßenseite aus die Situation beobachtete, sah es so aus, als würde der Riese eine kleine Taschenlampe zur Hand ziehen, um das Bild auf dem Ausweis besser erkennen zu können. Nur wer tatsächlich daneben stand, konnte sehen, dass es sich um eine Lampe mit Schwarzlicht handelte, mit der er die Plastikkarte anleuchtete. Bekanntermaßen gab es spezielle Stifte, deren Spuren nur unter solchem Licht sichtbar wurden und mit genau so einem war ein Dolch groß auf den Ausweis gezeichnet worden. Mit einem Nicken bedeutete er dem Besucher, schleunigst nach drinnen zu verschwinden, was dieser eilig tat, um ja weg von dem Typen zu kommen. Gerade zu dieser späten – oder frühen, je nachdem wie man es betrachten wollte – Stunde würde man sofort die Straßenseite wechseln, sollte einem der Kerl entgegenkommen.

    Der leicht nervös wirkende, junge Mann, öffnete seine schwarze Jacke mit Stehkragen, streifte sie aber nicht ab und übergab sie auch nicht der hässlichen Schreckschraube an der Garderobe. Bereits von hier drang dumpfe Musik an seine Ohren und eigentlich genügte ihm die Lautstärke so schon. Eine weitere schwere Tür führte ihn schließlich in die heiligen Hallen Trommelfell folternder Techno Musik. Vollgedröhnte Besucher tummelten sich auf der Tanzfläche, der Geruch von gestreckten Alkohol stieß von der Bar entlang der linken Wand aus herüber. Generell war die Luft muffig vom Zigarettenrauch. Sofern es denn nur Zigaretten waren. Wenn es eine Hölle geben sollte, dann war dieser Club ihr Mülleimer, so befand der Eintretende. Er hatte zwar selbst alles andere als eine weiße Weste, wusste aber genau, dass er mit den meisten hier am liebsten nichts zu tun haben wollte. In jeder Richtung, in die er blickte, sah er zwielichtige Gestalten, die entweder getarnt auf der Tanzfläche, betrunken an der Bar oder möglichst unauffällig tuschelnd in den Sitzecken, hinten rechts im Raum. Von dort aus beobachtete man auch ihn, der einmal tief, jedoch nach Möglichkeit nicht so auffällig, durchatmete. Er hätte das besser draußen gemacht, denn hier drinnen war es, als hätte man an den Steinen in einer Sauna seine Zigaretten zerdrückt.

    Er marschierte schnurstracks an der Tanzfläche vorbei, hielt sich weiter links. Der Bartresen endete kurz vor einer Treppe mit lediglich einer Handvoll Stufen, an deren oberem Ende ein ähnlicher Berg von einem Mann stand, wie vor der Eingangstür, nur diesmal mit schulterlangem, schwarzen Haar und drei-Tage-Bart. Zudem waren hier zwei silberne Aluminiumpfosten, die durch ein rotes Absperrseil verbunden waren, positioniert. Offenkundig der VIP Bereich. Den hatte er gesucht. Den Kontakt mit noch so einem Rausschmeißer dagegen nicht unbedingt.

    „Was willst du Wurst hier?“, murmelte er den Ankömmling gelangweilt an und starrte auf ihn herab, als hätte er alles, bloß kein menschliches Wesen vor sich. Wie konnte der mit nur einem Satz und einem Blick so viel Geringschätzung vermitteln?

    „Bloß einen toten Flachmann trinken“, war die Antwort. Oder eher die Parole, die sein Boss ihm genannt hatte. Wäre der mal lieber selbst hier angetanzt, dann müsste sich nicht ein kleiner Fisch wie er dieser Situation aussetzen. Doch wenn er so drüber nachdachte, hätte er an dessen Stelle wohl ebenfalls den Laufburschen geschickt, anstatt selber zu kommen. Wer würde das schon freiwillig?

    Der Weg wurde ihm immerhin anstandslos frei gemacht, doch spürte er den Blick des Rausschmeißers noch unangenehm in seinem Rücken.

    Er folgte einem weiteren, langen Gang, die Wände schwarz und bröckelig, der Boden mit knallrotem PVC ausgelegt und die Neonröhren an der Decke flimmerten alle paar Sekunden. Der Bote hatte natürlich schon früher Clubs besucht. Sowohl im Rahmen der Arbeit als auch privat zum Vergnügen. Doch ganz waren sie nie seine Welt gewesen, obwohl er mit seinen zwanzig Jahren durchaus in die Zielgruppe passte. Hier allerdings fühlte er sich eher wie in der Höhle eines Löwen.

    Eine schwere Tür, die ebenso in den Hinterhof des Gebäudes hätte führen können, war alles, was sich ihm noch in den Weg stellte. Er atmete ein letztes Mal tief durch. Persönlich hatte er seine Kontaktperson noch nie getroffen, aber er war so weit informiert worden, dass Team Rocket derzeit ihre Dienste in Anspruch nahm. Nicht, dass er das verwerflich fände, denn hierfür war er nun wirklich nicht in der Position.

    Die Tür wurde aufgestoßen. Wieder schlug ihm Musik und Qualm entgegen, allerdings nicht so bitter und dröhnend, wie zuvor. Dafür war der Gestank des Alkohols hier wahrlich überwältigend. Als stecke man seinen Kopf in einen Braukessel, in dem ein tödlicher Cocktail aus allen bekannten Sorten des Alkohols gemixt und anschließend für 100 Jahre verschlossen worden war. So empfand der junge Mann es zumindest. Er musste sich alle Mühe geben, nicht angewidert das Gesicht zu verziehen oder direkt den Rückzug anzutreten. Er zwang sich dazu, die Schwelle zu überschreiten. Vielleicht zwanzig Menschen befanden sich in diesem Raum. Er war sehr groß, ovalförmig angelegt, mit einigen flachen Glastischen samt Sesseln und einer roten Couchecke zu beiden Seiten. An zwei verchromten Stangen tanzten zwei wahre Prachtexemplare von Frauen – wie selbst einer wie er, dem dieser Ort eigentlich zuwider war – anerkennen musste. Dennoch war er froh, diese nicht weniger bekleidet zu sehen, als die Besucher draußen auf der Tanzfläche. Generell wirkten die nicht, als würden sie bezahlt werden. Sie gehörten zum Partyvolk und genossen die Aufmerksamkeit, wie er schätzte. Es wurde getrunken, gegrölt, gelacht, aber vor allem getrunken. Die Anzahl der Flaschen in diesem Raum übertraf die der Menschen um ein Vielfaches. Der Qualm, der für nebelartige Verhältnisse sorgte, kam zum Glück größtenteils aus Wasserpfeifen, die offensichtlich nicht mit illegalen Substanzen gefüllt waren. Nur vereinzelt rauchte hier und da einer seine Zigarette.

    Am hinteren Ende des Raumes stand eine ebenfalls rote und recht ausgefranzte Couch auf einer Art Podest. Mal davon abgesehen, dass er das Gesicht nicht erkennen konnte, wusste er auch gar nicht, wie seine Kontaktperson überhaupt aussah. Das kam in diesem Business häufiger vor. Doch er ging mal stark davon aus, dass sie dort oben sitzen würde. Und falls nicht, wüsste diese wohl am ehesten, wen er ansprechen musste. Kaum einer der Feiernden nahm wirklich Notiz von ihm, als er dich durch den Raum schob. Lediglich zwei Gestalten, ein Mann und eine Frau, beide mit violetten Haaren und einer weißen Strähne, sahen ihm misstrauisch hinterher. Beinahe als könnte er jeden Moment eine Waffe ziehen und warteten bloß auf einen Grund, das gleiche zu tun. Vor der Couch angekommen sah er sich seiner möglichen Kontaktperson gegenüber, die gerade einen tiefen Schluck aus einer Flasche Rum hinunterkippte, während sich eine aufgeplusterte Blondine auf dessen Schoß drängte.

    „Bist du der Agent des Schwarzen Lotus?“

    Die Person setzte die Flasche in aller Seelenruhe ab, stellte sie neben sich auf einem überfüllten Tisch aus Aluminium und funkelte den Neuankömmling mit zwei Bernsteinfarbenen Augen verschmitzt an. Eine Frau?

    „Fragt wer?“

    Tatsächlich. Und dann noch eine überaus junge und bildhübsche. Schwarzes Haar, lang und wellig, verspielte Gesichtszüge und ein durchstechender Blick. Gekleidet in einer eleganten Lederhose sowie stylischer Weste, beides ebenfalls schwarz.

    „Ich komme von A.J., ich habe Infos für den Agenten. Die Zielobjekte, nach denen...“

    „Ach, komm mir jetzt nicht damit.“

    Schon mitten im Satz hatte sie gelangweilt mit den Augen gerollt und mit einem Fingerschnipp einem ziemlich beschwipsten Typen bedeutet, ihr eine noch unangetastete Bierflasche rüber zu werfen. Die Agentin fing sie lässig aus der Luft und missbrauchte die Tischkante kurzerhand als Öffner, ehe sie ihm die Flasche anbot.

    „Jetzt heben wir erst mal einen.“

    Die junge Frau ließ sich plump wieder in die Lehne fallen und angelte erneut nach ihrer eigenen Flasche.

    „Mach dich locker, wir feiern hier. Schnapp dir ein Mädel und mach´s dir gemütlich.“

    Während der Bote nicht wirklich wusste, wie er darauf reagieren sollte, das Bier aber zögerlich entgegen nahm, leerte sie den restlichen Rum und drückte die Flasche der Blondine auf ihrem Schoß in die Hand.

    „Schätzchen, wir haben hier ein Problem. Ich kann den Boden sehen“, scherzte sie, gab ihrer offenkundigen Verehrerin noch einen Klaps mit, als diese von dannen zog.

    War er bei dieser Schnapsdrossel wirklich richtig? Er sah der Blondine nicht wirklich aus körperlichem Interesse hinterher – obwohl ihn dafür wohl kaum einer verurteilt hätte –, doch dem Grinsen der angeblichen Agentin nach zu urteilen schien sie genau das in seinem Blick hinein zu interpretieren. Sie verzichtete jedoch darauf, ihn anzustacheln.

    „Wie ist dein Name, Kleiner?“

    Sie war vermutlich jünger als er. Wie kam sie dazu, ihn so anzusprechen? War sie so betrunken, dass sie schon gar nicht mehr drüber nachdachte? Sie machte eigentlich nicht den Eindruck, irgendetwas getrunken zu haben, obwohl sie zwischen einem engen Freundeskreis aus Rum-, Schnaps- und Wodkaflaschen thronte. Klar, sie war extrem… locker, aber weder gluckste noch nuschelte oder lallte sie und was den Geruch anging, konnte er keine einzelne Person ausmachen, die besonders stark roch. Jeder roch hier drinnen gleich.

    „Äh, nenn mich Eaves.“

    „Ist das dein Deckname? Klingt bescheuert“, lachte sie trocken und legte ihr rechtes Bein über das linke.

    Sie hatte sofort durchschaut, dass er nicht wirklich so hieß. Doch in dieser Branche gab man grundsätzlich nicht viel auf Ehrlichkeit und besonders Namen waren ein heißes Eisen. Aber sofern ihm nicht gedroht würde, hatte er auch nicht vor, seinen echten Namen preiszugeben.

    „Ist deiner denn besser?“

    „Hab keinen“, meinte das Mädchen knapp und durchpflügte den Dschungel aus Flaschen auf dem Tisch nach brauchbaren Resten, bis die Blondine wieder da war. Wenn sie nicht einmal mit dem Nachschub auf Zack war, dann bliebe ja gar kein Grund mehr, sie bei sich zu behalten. Die Kleine dachte wohl noch immer, dass sie echtes Interesse an ihr gehabt hatte. Doch das gehörte bloß einer einzigen Person mit rubinroten Augen.

    „Ich heiße Bella und hieß immer Bella.“

    Da war tatsächlich noch eine halbvolle Flasche mit Gin. Damit konnte sie arbeiten.

    „Übrigens hat es da, wo ich herkomme, was zu bedeuten, wenn man jemandem was zu trinken anbietet, aber der Kerl nicht trinkt“, erläuterte sie noch, während sie den Rand der Flasche kurz mit ihrer Handfläche sauber wischte. Sie feierte gerne mit den Leuten hier, aber deren Speichel brauchte sie nicht zu kosten.

    „Äh, sorry. Du hast Recht.“

    Rasch nahm Eaves einen großzügigen Schluck und Bella tat es ihm nach. Allerdings trank sie deutlich länger, obwohl sie es war, die Hochprozentiges konsumierte.

    „Ich hatte nicht erwartet, eingeladen zu werden. Ich bin eigentlich rein geschäftlich gekommen.“

    Bella machte ein Gesicht, als habe jemand eine schlechte Entscheidung getroffen und sie hatte gerade das Vergnügen, ihm das zu sagen.

    „Tja, scheiß Timing, Eaves. Das Geschäft kann warten, bis die Flaschen leer und die Leute wieder ausgenüchtert sind.“

    Sie rutschte ein Stück zur Seite und bedeute dem Boten, sich zu setzen. Das tat sie normalerweise nicht, aber sie hatte irgendwie eine Schwäche für Grünschnäbel. Und dass er einer war, konnte jemand wie sie lesen, wie in einem Buch.

    „Du machst deinen Job noch nicht lange.“

    „Ist das so offensichtlich?“

    Hierauf nahm er direkt noch einem großen Schluck, der sich mit seinem Frust mischte. Ständig sahen ihm die Leute seine Unerfahrenheit an und jeder musste deswegen auf ihn herabsehen. Zum Kotzen. Wobei er fairerweise eingestehen musste, dass Bella ihn fast kumpelhaft behandelte. Was aber auch am Alkohol liegen könnte. Wenn die Menschen erst einmal betrunken genug waren und vorher nicht unter den Tisch fielen, könnten sie sich sogar mit einem Krawumms anfreunden.

    „Selbst wenn man es dir nicht ansehen würde, wär´s für mich klar. Veteranen wissen nämlich, dass ich um diese Zeit kein offenes Ohr für die Arbeit habe, wenn es nicht wichtig ist.“

    „Und woher weißt du, dass ich nichts Wichtiges für dich habe?“

    Bella grinste süffisant und stupste Eaves mit ihrer Flasche an.

    „Weil du von A.J. kommst.“

    Sie erlaubte sich ein kurzes Lachen sowie einen weiteren Schluck, worauf sich Eaves sogar ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Gut, dass sie seinen Boss auch nicht gerade schätzte. Dann brauchte er ihr nichts vorspielen.

    Die beiden lästerten einige Minuten lang über seinen Vorgesetzten und schienen bald schon beste Freunde zu sein. Wobei Eaves nur Stück für Stück seine steife Haltung ablegte und sich dem Rest der Feiernden anschloss.

    „Ich versteh sowieso nicht, warum ausgerechnet du etwas über jemanden in Johto erfahren müsstest. Eine einzelne Person kann unmöglich so wichtig sein.“

    Bella zog ihre Brauen zusammen. Was faselte der da gerade?

    „Aber naja, A.J. macht seinen Mund auf und dann muss Eaves halt ran. Für jeden Menschen würd ich die Drecksarbeit lieber machen, als für diesen Sack. Der kommt sich viel wichtiger vor als er ist und reibt jedem seinen Posten unter die Nase.“

    Eaves begann langsam etwas zu locker zu werden. Lag vermutlich weniger am Alkohol – er hatte sein erstes Bier noch nicht ganz ausgetrunken –, als an der Atmosphäre und nicht zuletzt Bellas Art. Doch was er da gerade sagte, ließ jene von einem Moment auf den anderen fast gänzlich nüchtern werden.

    „Warte, warte. Wen meinst du aus Johto?“

    Noch hatte sie sich auf ihre Couch gemütlich zurückgelehnt, aber die Stimmung schwankte gerade um 180 Grad um.

    „Ich denke, du hast um die Zeit keinen Nerv für die Arbeit?“, meinte der Bote bloß, der scheinbar nicht registrierte, dass die Agentin zunehmend alarmiert wirkte.

    „Hättest du zugehört, hättest du ein wenn es nicht wichtig ist vernommen. Jetzt spuck´s schon aus, bevor ich dir die Flasche in den Hals schiebe“, nörgelte Bella, klang dabei höchstens genervt. Mehr noch nicht. Konnte ja noch immer sein, dass sie sich zu Unrecht aufregen würde. Es gab derzeit nicht Vieles, wofür A.J. einen Boten an Bellas Adresse senden könnte und die Optionen, die theoretisch bestanden, waren eigentlich fast undenkbar. Für die Personen in Johto, die von A.J und seine Jungs in Schach gehalten werden sollten, waren schließlich ausreichend Vorkehrungen getroffen worden. Doch wenn sich ihre Vermutung bestätigen sollte...

    „Eine Trainerin aus Ebenholz City sitzt gerade in einem Flieger hierher. Ich kenn die zwar nicht wirklich, aber ihr...“

    Bella hörte gar nicht weiter zu. Sie fasste sich mit einer Hand an die Stirn. In ihrem Kopf rangen gerade mehrere Gedanken und Möglichkeiten, diesen Eaves zurechtzustutzen, miteinander. Noch bevor einer von ihnen den Sieg erringen konnte, lachte sie leise, fast aufgesetzt auf, als habe jemand einen miesen Witz erzählt. Das war jetzt zum Glück nicht der Worst Case, aber dennoch ein Problem. Und es geschah nicht sehr oft, dass sie einzelne Personen als Problem ansah. Doch diese tat dies ohne Zweifel. Ebenfalls frei von Zweifeln war sie bezüglich der Anweisungen, die sie A.J. und der folglich seinem Untergebenen weitergereicht hatte. Eaves war also der Typ, den er auf die stärkste Trainerin in Ebenholz angesetzt hatte und der somit auch die Verantwortung trug, sie nicht nach Hoenn einreisen zu lassen. Und er war noch so dumm, ihr mit seinem Versagen im Gepäck so unbehelligt ins Gesicht zu lächeln. Schlimmer, er schien sich dessen nicht einmal bewusst.

    „Is was?“

    Eaves beugte sich leicht vor, da entriss Bella ihm seine Bierflasche und stürzte den Inhalt binnen einer Sekunde ihren Rachen runter. Sie schluckte gar nicht. Sie ließ es einfach hinablaufen. Kaum war sie leer, flippte sie die Flasche in der Luft und griff sie nun wie einen Hammer am Hals und schlug sie Eaves direkt auf´s Nasenbein. Das Glas splitterte, ein paar Tropfen Blut schlugen ihr entgegen und er landete durch die Wucht des Schlages tief in der Sofalehne. Doch schon im nächsten Augenblick packte Bella ihn am Nacken und warf ihn nach vorne direkt zwischen die tanzenden und saufenden Gäste. Erst einmal dort gelandet teilte sich die Masse um den Boten, der jammerte und zappelte wie ein Aalabyss auf dem Trockenen. Bella trank rasch ihren Gin ebenfalls aus und erhob sich schließlich.

    „Respekt.“

    Sie schlenderte langsam hinunter zu ihm, sämtliche Augen nun auf sie gerichtet und alle Feierlichkeiten unterbrochen, obwohl die Musik noch weiterlief.

    „Du hast gerade nicht nur bewiesen, was für ein riesiger und dämlicher Grünschnabel du wirklich bist, sondern auch, dass du immer bleiben wirst.“

    Man hatte zunächst nicht den Eindruck, dass Eaves sie überhaupt hören würde. Er war noch damit beschäftigt, sich am Boden zu winden und zähneknirschend den Schmerz niederzuringen.

    „Scheiße. Was soll das? Wieso...?“

    „A.J. muss echt auf dem letzten Loch pfeifen, wenn er einen wie dich schickt.“

    Aber wirklich, was hatte er sich gedacht, diesem Blindgänger so einen wichtigen Auftrag anzuvertrauen? Sie sollte mal dringend mit A.J. reden. Vielleicht war es Zeit, die Verbindungen zu ihm und seiner Gruppe zu lösen, wenn man dort nicht mehr gründlich arbeitete.

    Klar konnte man wohl kaum einfach zu besagter Trainerin gehen und sie überzeugen, daheim die Füße hochzulegen, wenn diese Mila tatsächlich nach ihr verlangt hatte. Doch ob man nun zu handfester Gewalt griff oder die Behörden an den Häfen und Flugplätzen schmierte, spiele keine Rolle. Es sollten nur alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, damit sie, sowie einige weitere potentielle Probleme, in Johto beziehungsweise Kanto blieben – so hatte sie verlauten lassen. Und das wäre in diesem Fall Eaves´ Pflicht gewesen.

    „Carlos, Lydia. Schmeißt den Typen raus. Sagt denen draußen, wenn der sich hier noch einmal blicken lässt, soll man ihm die Beine brechen.“

    Die zwei Violetthaarigen traten vor und fassten je einen Oberarm des verletzten Boten. Der wehrte sich gar nicht, jammerte bloß weiter und verstand Bellas Angriff scheinbar noch immer nicht im Geringsten.

    „Und werft ihn zur Hintertür raus, zu den Rattikarl. Die anderen Gäste sollen das Stück Elend nicht sehen müssen.“

    Sekunden später schloss sich die Tür hinter ihnen und ließ die nun nicht mehr feiernde Menge im vertrauten Kreis zurück. Die meisten Augen ruhten nach wie vor auf Bella. Die erspähte gerade mit einem Seitenblick die Blondine von vorhin mit zwei Pullen Wodka, die offenbar auf den Rückweg gehalten hatte. Dumme Pute. Keine Bestrafung eines unfähigen Versagers war es wehrt, ihren Flüssigkeitsmangel auszudehnen. Rasch winkte sie die Kleine heran und griff nach einer Flasche, die sie gleich hob, als wolle sie einen Toast ausbringen.

    „Ist schließlich ´ne Party hier“, grölte sie nun wieder erheitert, worauf auch die Gäste ihre Gläser erhoben und das Gejaule und die Freudenschüsse wieder erklangen. Binnen weniger Sekunden war alles wieder beim Alten. Nur die paar Scherben auf dem Boden erinnerten noch an den jüngsten Zwischenfall.

    Bella schickte die schlampige Tussi nun endgültig fort. Nach so einer hatte ihr nie der Sinn gestanden und von hier an würde sie selbst ihre Anwesenheit ankotzen. In solchen Momenten, wenn diese leicht zu habenden Gören, die sich für erwachsen hielten, sich ihr näherten, dachte sie inzwischen immer sofort an Milas Partnerin und wie gerne Bella sie stattdessen hier hätte. Sie würde auf der Stelle mit ihr kämpfen. Scheiß auf die Feier und die Gäste. Selbst der Alkohol würde sie in diesem Moment nicht beeinflussen. In dem Moment, in dem sich eine Gelegenheit bieten würde, sich mit ihr zu duellieren, würde sie nicht zögern. Ungeachtet der Umstände. Und sie brannte darauf. Ihre Geduld würde bald aufgebraucht sein.

    Vielleicht würde sich Bella heute zu Abwechslung mal wirklich betrinken.


    Ryan hasste Liegestütze. Genau deshalb machte er sie. Er hatte zwar nicht immer so gedacht, aber mittlerweile fühlte es sich dennoch so an, als habe er schon immer an dem Grundsatz festgehalten, dass mit dem Hass auf eine Übung auch ihr Nutzen im gleichen Maße stieg. Moorabbel imitierte die Bewegungen seines Trainers akribisch, während Kirlia über die beiden höchstens den Kopf schütteln konnte. Nicht, dass Ryan von ihr je verlangt hatte, ihn ebenfalls nachzuahmen, doch sie hätte es ohnehin im Leben nicht getan. Sowas war etwas für Muskelhirne. Sie hatte sich so weit wie möglich von der Gruppe entfernt und schien ein paar grazile Tanzschritte zu üben, während sie zwei Spukbälle auf den Handflächen balancierte. Dieses Training für Konzentration und Kontrolle über Körper und Geist hatte sie schon praktiziert, bevor sie dumm genug gewesen war, sich von Ryan fangen zu lassen. Allerdings war dieses unerträglich rüpelhafte Despotar nicht gerade rücksichtsvoll bei seinem eigenen Training. Gerade ließ es wieder zwei Weiß glühende, sich überkreuzende Ringe um seinen Oberkörper rotieren. Aus dem Licht materialisierten sich binnen Sekunden Fußballgroße Steinbrocken, die auf eine Zielscheibe geschossen wurden. Ryan hatte sich zuvor von Joy den Schlüssel für den Geräteschuppen in der Ecke des Bereiches aushändigen lassen und dort diese aufstellbare Scheibe gefunden. Sie besaß einen Rahmen sowie schwere Füße aus Metall zur Stütze und das Material auf der Frontseite ähnelte dabei einer dieser schweren Turnmatten, die er noch aus dem Sportunterricht in der Schule kannte. Es war robust genug, um alle erdenklichen, physischen Krafteinwirkungen zu absorbieren und so musste Despotar nicht die Grundstücksmauer zertrümmern – was nur eine Frage der Zeit gewesen wäre. Einige Flammenwürfe oder ein Hyperstrahl hätten hier den Bogen wohl überspannt, doch solche Angriffe waren inmitten einer Stadt wie hier meist eh verboten. Zu groß war die Gefahr, dass zu starke Schäden angerichtet oder sogar Nachbarn verletzt würden. So hatte Ryan das Teil kurzerhand aufgestellt und Despotar die Zielübung mit seiner Steinkante angeordnet. Das war ohnehin eine Baustelle der wuchtigen Felsechse, die er bis zum Turnier beheben wollte. Manchmal wusste der seine Energie einfach nicht zu kontrollieren und ein, zwei Fehlschüsse waren ihm auch diesmal unterlaufen. Für die Schrammen in der Mauer würde er sich später vermutlich was anhören müssen, obgleich es beim genaueren Umsehen nicht den Anschein hatte, als wäre er der erste Trainer, dem dies passiert war.

    Die Mittagshitze brannte Ryan in den Nacken und auf seinen verschwitzten Rücken. Die Jacke hatte er gleich zu Beginn abgelegt, doch das Shirt und die Handschuhe klebten nicht weniger lästig vom Schweiß auf seiner Haut. Leider Gottes war es einfach unrühmlich, hier, in einem öffentlichen Center, mit freiem Oberkörper zu trainieren. Eigentlich dürfte das auch für das angestrengte Schnaufen gelten, das er bei jeder weiteren Stütze ausstieß, doch zum Glück war er völlig alleine. Andrew hatte seine erste Trainingseinheit des Tages bereits beendet und war nun mit Dragonir im städtischen Park, um ihr etwas Bewegung zu verschaffen. Dort war Ryan heute Morgen gleich als erstes gewesen, um gemeinsam mit Hundemon joggen zu gehen. Anschließend hatte der Schattenhund ebenfalls an der Präzision seiner Attacken gefeilt und ruhte sich bereits seit ein paar Minuten in seinem Pokéball aus. Als er durch Johto gereist war, hatte er dies jeden Morgen gemacht, schon als er damals noch ein überdrehtes Hunduster gewesen war. Dies war auch eine gute Methode gewesen, um in der ersten Tageshälfte viel Strecke zurücklegen zu können und selbst nachdem er heimgekehrt war, hatte er sich jeden Morgen dazu aufgerafft und war durch das Areal hinter seinem Haus gelaufen. Hierzu hatten sich gleich mehrere seiner Pokémon angeschlossen. Es war ein Ritual, das ihm seit der Silberkonferenz gefehlt hatte, aber ohne Hundemon hatte er sich irgendwie nicht dazu durchringen wollen. Ohne ihn wäre es einfach nicht dasselbe gewesen, sondern ganz einfacher Morgensport. Es war eine besondere Sache nur zwischen ihnen beiden. Mit fast jedem seiner Schützlinge hatte oder unternahm er ein bestimmtes Ritual, dem sich niemand sonst anschloss. So hatten alle ihren eigenen Grund, für Ryan besonders und unersetzlich zu sein. Natürlich nicht bloß deswegen, aber es schaffte ein brüderliches Gefühl. Despotar war eine der wenigen Ausnahmen, doch abgesehen vom Kämpfen und vom Essen gab es nicht viel, wofür man dieses Pokémon begeistern konnte. Er war halt simpel gestrickt.

    Die Liegestütze mit Moorabbel vermittelten ein ähnlich bindendes Gefühl, obwohl Impergator und Nidoking diese Übung auch schon mit ihm gemeinsam durchgezogen hatten. Der unterschiedliche Körperbau und nicht zuletzt der enorme Kräfteunterschied erlaubte ihnen allen nebenbei, gleich dreimal so viele Liegestütze zu absolvieren, wie ihr Trainer. Ganz so weit war Moorabbel jetzt zwar noch nicht, aber dennoch hatte er Ryan weit übertroffen. Doch seine Gattung war ohnehin für den Stand auf zwei Hinterläufen als auch auf allen Vieren gebaut, was die Übung erleichterte. In den kommenden Tagen müsste Ryan sich eine Alternative überlegen, die effektiver war.

    Für den Moment genügte es aber. In zweierlei Hinsicht, da der junge Trainer sein Limit erreicht hatte und sich nun in den Sand des Kampffeldes kniete. Den Kopf legte er in den Nacken und die Luft sog er gierig ein. Seine Oberarme brannten und pochten vor Schmerz. Das war gut so. Bevor man keinen Schmerz spürte, hatte man keine spürbaren Resultate zu erwarten. So zumindest seine Mentalität. Auf jeden Fall machte er dann irgendwas richtig. Auch das Wasserpokémon war sichtlich ausgelaugt, hielt jedoch aufmerksam die Ohren offen, für den Fall eines neuen Befehls. Doch Ryan war der Ansicht, dass es vorerst genug war.

    „Okay, das reicht!“, ließ er verkünden und stemmte sich auf die Beine. Er ruderte ein wenig mit den Armen in der Luft, um wieder ein Gefühl in den Fingerspitzen zu bekommen und dehnte fix seine Gelenke.

    „Wir warten die Mittagshitze ab und stärken uns ein bisschen.“

    Kirlia und Despotar stellten ihr Training ebenfalls ein und eilten an den Rand der Kampfplätze. Ryan hatte bereits zuvor ein paar Plastikschüsseln und das entsprechende Futter für jeden gestapelt und stellte nun alles auf. Er fütterte sie eigentlich nicht gerne mit dem Zeug. Ihm war bei der Tatsache, keine andere Wahl zu haben, als den Herstellern des Futters zu vertrauten, nicht ganz wohl. Wer wusste schon, ob neben einigen Variationen wie Stückchen von Fleisch, wahlweise Fisch für Räuber wie Hundemon oder Impergator oder Seetang wie im Wasser Lebende Pflanzenfresser wie Moorabbel nicht noch irgendein chemischer Mist da rein gemixt wurde. Solche Gedanken waren vielleicht etwas arg misstrauisch, möglicherweise gar paranoid, aber eben diesen hatte er zu verdanken, dass ihm seine Zeit nie zu kostbar gewesen war, um immer das bestmögliche zu beschaffen. Kampierte Ryan in der Wildnis, gestattete er seinen Pokémon öfter, sich an Pflanzen und Früchten zu bedienen oder gegebenenfalls auf die Jagd zu gehen, sofern es Wild gab und sie die Zeit entbehren konnten. So war es noch immer am besten, denn so hatte es die Natur vorgesehen. Aber dieses künstlich produzierte Zeug schienen sie auch zu mögen. Mit Ausnahme von Kirlia natürlich. Die hatte bereits nach dem ersten Anblick des Futters das Weite gesucht – lustigerweise hinter Hundemon, was Ryan insgeheim erfreut und den Schattenhund sichtlich verwundert hatte.

    Gerade kramte er sein Taschenmesser und eine Tupperdose mit Obst aus seinem Gepäck und begann wahllos ein paar davon in Stücke zu schneiden. Er hatte im Supermarkt die Straße runter echt alles bekommen. Gerade bot er der kleinen Göre, die eher abgeneigt dem Rest beim Verzehr zusah, ein Stück Mango an. Sie nahm es rasch entgegen, doch ihr Gesichtsausdruck ließ ihn vermuten, dass sie sehr bewusst keine Dankbarkeit zeigen wollte. Der leichte Rotschimmer auf ihren Wangen verriet sie jedoch wieder. Ryan hatte allerdings aufgehört, darüber zu lächeln, da er gemerkt hatte, dass ihr das unangenehm war. Er ignorierte abweisende Gesten oder Blicke einfach und behandelte sie unbeirrt genauso gut, wie den Rest. Seine Fürsorge war nun mal noch immer neu und ungewohnt für sie und ihr dickköpfiger Stolz würde sich so leicht nicht in Luft auflösen. Doch damit konnte Ryan leben. Der schob sich gerade einige Weintrauben in den Mund und schnibbelte unbeirrt weiter. Ein kleiner Imbiss vor dem Mittagessen konnte nicht schaden. Er überlegte noch, wohin er denn gehen sollte. Im Center gab es nur zu früher und zu später Stunde Buffet. Ein Anständiges Mittagessen bekam man hier nicht. Doch bereits am Vortag – dass Mila samt ihrer Partnerin mit Andrew und ihm Klartext geredet hatten, war nun drei Tage her – hatten die beiden Trainer auf einen Tipp von Joy hin die berühmte Restaurantstraße von Graphitport gefunden, in der sich ein Laden an den nächsten reihte. Dort war wahrscheinlich keine Art von Küche dieser Welt nicht vertreten und Ryan wünschte sich, demnächst mit Melody einmal dort essen zu gehen. Die war jedoch seit jeher nicht mehr aufgetaucht, hatte ihn nur einmal per SMS wissen lassen, dass es ihr gut ging und sie auch nicht sauer sei. Was jedoch bloß einen Schluss für ihre Abwesenheit zuließ, nämlich Angst. Ryan fragte sich, wo sie sich den ganzen Tag rumtrieb. Vermutlich meist in der Nähe von Mila und dafür sollte er eigentlich dankbar sein. Denn bei ihr war sie bestimmt noch am sichersten. Jedenfalls sicherer als bei einem Idioten, der sich zur Zielscheibe des organisierten Verbrechens und nicht zuletzt eines gigantischen Drachengottes gemacht hatte. Und dennoch wollte er sie sehen, einfach Zeit mit ihr verbringen. So wie damals bei dem traditionellen Fest auf ihrer Heimatinsel.

    „Sie wird sich an Euch gewöhnen.“

    Ryan zuckte heftig zusammen. Er hatte sich nach wie vor in absoluter Einsamkeit geglaubt, sodass selbst die sanfte und ruhige Stimme von Mila ihn zu Tode erschreckte.

    „Ich hasse es, wenn du das tust“, fuhr er sie noch unter höchster Selbstbeherrschung an. Seinen Unmut könnte er in diesem Moment niemals unterdrücken, aber er wollte nach wie vor vermeiden, Mila gegenüber zu abweisend oder gar unsozial aufzutreten.

    Kaum hatte er den Satz beendet, hielt er jedoch inne, da er sich im Nachhinein über die Aussage wundern musste.

    „Verzeiht“, meinte sie, noch bevor Ryan das Wort wieder ergreifen konnte und mal wieder hatte er keine Zweifel an ihrer Reue.

    „Wer wird sich an mich gewöhnen?“

    Der junge Trainer traute der Drachenpriesterin eine ganze Menge zu, aber das Lesen seiner Gedanken zählte er nicht dazu. Unmöglich, dass sie Melody gemeint hatte.

    „Euer Kirlia.“

    Beide Augenpaare legten sich auf das Psychopokémon, das sich rasch beobachtet fühlte. Da Hundemon gerade nicht anwesend war, zeigte sie den beiden Menschen einfach die kalte Schulter und gab sich scheinbar unbeirrt ihrem Mahl hin. Eine schlechte Scharrade, wie man betonen musste.

    „Sie hält nicht allzu viel von Menschen, wie mir scheint.“

    Ryan nickte bloß langsam, nahm die Gelegenheit für einen kleinen Witz wahr, nachdem er zuvor mal wieder aggressiver reagiert hatte, als nötig gewesen wäre.

    „Ein Glück, ich dachte sie hält bloß nicht allzu viel von mir.“

    Tatsächlich reagierte Mila sogar. Leise und zurückhaltend, aber sie kicherte definitiv. Fühlte sich irgendwie gut an, sie mal lachen zu hören.

    „Wie lange hast du dort gestanden?“

    „Nicht lange. Aber lange genug, um mir den Tag von Euch versüßen zu lassen.“

    Konnte diese Frau nicht normal antworten? Was hatte er denn jetzt getan, was so toll sein sollte? Mila erkannte seine Verwirrung mit einem Seitenblick, begleitet von ihrem typischen Schmunzeln.

    „Euch mag es selbstverständlich erscheinen, zusammen mit euren Pokémon zu trainieren oder ihnen eigenhändig das Essen zu reichen. Gewiss geht es bestimmt vielen so.“

    „Natürlich, sollte auch selbstverständlich sein.“

    Ryan wusste, dass es Idioten gab, die ihre Pokémon wie Maschinen behandelten und Dinge wie die Fütterung als bestenfalls lästige Notwendigkeit und sonst nichts betrachteten. Doch seine Fürsorge jetzt so zu preisen, erschien ihm definitiv übertrieben. Kein Arschloch zu sein, bedeutete für ihn nicht gleich, besonders zu sein. Sicher gab es da draußen genügend Trainer, die sich viel besser um ihre Partner kümmerten.

    „An sich mag es zwar löblich, wenn auch nicht außergewöhnlich sein. Doch wisst ihr…“

    Es geschah selten, dass Mila stotterte. Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen. Oder eher abzuwägen, ob ihre Worte die richtigen waren. Ob Ryan sie verstehen könne.

    „Es kann Liebe und Herzblut in allem stecken, was wir tun. So alltäglich es auch sein mag, alle Taten können Hingabe ausdrücken.“

    Ryan ließ diesen Satz einige Sekunden auf sich wirken. Er hatte nie einen Grund gesehen, bei der Pflege seiner Pokémon in eine sentimentale Schiene abzudriften. Doch es stimmte. Man konnte die Dinge auf diese und auf jene Art tun. Alle Dinge! Und wenn er so drüber nachdachte, dann hatten einige seiner Pokémon ihn in der Vergangenheit durch ihre Treue, ihren Mut und Opferbereitschaft geradezu zu Tränen gerührt. Und das wollte er ihnen jeden Tag zurückgeben. Nicht bloß jenen gegenüber, denen er so viel zu verdanken hatte, sondern allen. Denn jeden gleich zu behandeln war schon immer ein fester Grundsatz bei der Aufzucht gewesen. Klar verbanden gewisse Erinnerungen ihn mit dem ein oder anderen seiner Pokémon ein bisschen mehr, aber deshalb war der Rest für ihn kein Gefolge zweiter Klasse. Sie waren ihm alle gleichermaßen wichtig. Und er freute sich auf die Momente, in denen er auch mit seinen jüngsten Teammitgliedern besondere Erinnerungen schaffen würde.

    Ryan war trotz alldem kein Mensch, der sich gern für Dinge, die er für banal hielt, loben ließ. Doch hier tat er es mit großer Dankbarkeit. Vielleicht war es einfach ganz gut, solche Worte von jemandem zu hören, der so viel Lebenserfahrung besaß. Besonders nachdem man einige Zeit zuvor das Pech gehabt hatte, jemandem wie Terry Fuller zu begegnen.

    So entgegnete Ryan ihr ebenfalls mit einem Lächeln.

    „Danke, glaube ich.“

    „Oh, es war durchaus ein Kompliment.“

    Dies quittierte er wiederrum mit einem sachten Nicken. Doch so langsam wurde ihm die Situation etwas unangenehm. Er wollte nicht jedes Mal, wenn er mit Mila sprach, emotional oder melancholisch werden und sich Weisheiten über dieses und jenes anhören. Obwohl das sicher noch keinem geschadet hatte.

    „Du hast doch bestimmt nicht so wenig zu tun, dass du uns aus Langeweile zusiehst, oder?“

    Er hatte es irgendwie geschafft, diese Frage nicht so zynisch klingen zu lassen. Er wollte ganz einfach sofort wissen, wenn es wichtige Neuigkeiten gab. Und er hatte hiermit auch sicher nichts Unwahres gesagt.

    „Bedauerlicherweise“, seufzte sie und wandte sich zum ersten Mal ganz zu ihm. Das blonde Haar tanzte ein wenig in einer leichten Brise.

    „Morgen Mittag muss ich euch unsere Verbündeten vorstellen. Ich habe gerade mit ihnen gesprochen und wir waren einstimmig dafür, dass alle so schnell wie möglich zusammenkommen.“

    Dann war es also an der Zeit, diese ominösen Verbündeten kennenzulernen. Ryan fragte sich seit der ersten Erwähnung, wen denn jemand wie Mila zu ihren Freunden, wenn man sie wirklich so nennen konnte, machte. Bestimmt niemand Gewöhnliches. Doch er stellte die Frage hinten an und zog die Brauen zusammen. Etwas anderes war ihn aufgefallen.

    Alle?“

    „Melody, Andrew, Ihr. Alle. Meine Wenigkeit und Sheila selbstverständlich auch.“

    Ryan glaubte erst, er habe sich verhört.

    „Du willst Melody wirklich noch tiefer da mit reinziehen?“

    Es entstand eine kurze Pause, die nur vom flüsternden Wind unterbrochen wurde. Selbst Ryans Pokémon unterbrachen die Nahrungsaufnahme und sahen skeptisch zu den beiden auf. Sie konnten die ganze Situation selbst noch nicht vollends begreifen, da Ryan ihnen bislang nur von den wichtigsten Sachen erzählt hatte. Ihre Reaktion gründete ausschließlich auf dem Entsetzen, das ihr Trainer mit mäßigem Erfolg zu unterdrücken versucht hatte.

    „Nichts läge mir ferner“, versicherte Mila mit leiser, aber absolut ernster Stimme.

    „Doch sie bestand vehement darauf.“

    Hier könnte er glatt die Frage stellen, welche der beiden Frauen denn die Dümmere war. Es hatte zwar noch keinen Präzedenzfall gegeben, der Ryans Annahme, Mila würde sich niemals von anderen in ihren Entscheidungen beeinflussen lassen, untermauerte. Aber er hätte dennoch einen kleinen Finger darauf verwettet. So viel also zu seiner Menschenkenntnis. Mila wirkte stets so felsenfest entschlossen und dann ließ sie sich von Melody einfach so in die Parade fahren? Das klang für ihn wie ein Scherz.

    Mila erahnte, was gerade in Ryan vorging. Wäre sie an seiner Stelle, würde sie wohl dasselbe denken.

    „Ich weiß, es ist unverantwortlich, aber wir können sie ohnehin kaum noch unbewacht lassen. Allein da sie nach euch gesucht hat, war sie schon auf dünnem Eis gelaufen. Und wenn sie uns, also Sheila und mir, schon bloß dadurch aufgefallen war, ist es möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass Team Rocket ebenfalls auf sie aufmerksam wird. Falls sie es nicht schon sind. In Sicherheit wäre sie höchstens, wenn wir sie runter von Hoenn schaffen und selbst dann haben wir keine Garantie. Aber sie hat sich vehement geweigert. Ich habe sie angefleht.“

    Ryan fuhr sich mit den Händen durchs Haar und machte einige Schritte hinaus auf den Kampfplatz. Er hörte Mila nur mit halbem Ohr zu und eigentlich wollte er unerschütterlich daran festhalten, dass es eine absolut dumme Idee wäre, sie noch weiter in diesen ganzen Mist hineinzuziehen. Doch das musste er eingestehen – sie hatte die Grenze wirklich überschritten. Auf eigenen Entschluss hin und doch ohne, dass man ihr einen Vorwurf machen dürfte.

    „Es ist ihr unerschütterlicher Entschluss, hier zu bleiben. Und wenn sie es tut, dann besser in der Nähe der Menschen, die für ihre Sicherheit sorgen können“, fuhr sie fort, wurde immer eindringlicher und ging Ryan nach.

    „Können das die beiden, ja? Können deine Verbündeten sie beschützen.?“

    Am liebsten würde er das selbst tun. Nichts täte er lieber, als Melody vor allem und jedem zu beschützen, was sie in nächster Zeit gefährden könnte. Doch ob er dazu in der Lage war, musste er einfach bezweifeln und wenn er ehrlich zu sich war, sah er sich dazu auch nicht im Recht. Die Kontroverse war, dass er es gleichzeitig auch als seine Pflicht sah. Schließlich hatte er die ganze Situation zu verschulden.

    „Sie erhöhen unsere Chancen.“

    Mila sagte es, als sei es mit Abstand die vernünftigste aller Optionen. Vermutlich behielt sie auch wieder einmal Recht. Gefährlich war es von nun an immer und überall für sie. Für jeden von ihnen! Doch wenn Melody in ihrer Reichweite blieb, würden sie nicht machtlos sein, falls sie in Gefahr geraten sollte.

    Ryan stemmte die Hände in die Seiten und sah resignierend zum Himmel. Jeden Tag bekam er mehr das Gefühl, dass er nur noch knapp der größte Idiot in ihrer Gruppe war. Und dass der Vorsprung kontinuierlich am Schrumpfen war.

    „Na schön.“

    Er ließ den Kopf fallen und massierte seine Stirn. Der Schweiß rann ihm noch immer davon hinab.

    „Dann lass uns jetzt gleich gehen und nicht erst morgen.“

    Der junge Trainer marschierte bereits an Mila vorbei und versuchte nun seinerseits, sie zu beeinflussen und ihre Pläne nach seinem Willen zu ändern. Doch das vermochte wohl bloß Melody. Auf jeden Fall vermochte sie, sein Vorhaben zu vereiteln – wenn auch nur indirekt.

    „Das werden wir nicht“, antwortete sie und neigte lediglich den Kopf in seine Richtung. Ryan stoppte und presste Augenlieder und Lippen verbissen aufeinander. Konnte sie nicht ein einziges Mal einlenken?

    „Melody will nämlich heute Abend kommen, um Euch zu sehen.“

    Sehr langsam und mit einem höchst ungläubigen Blick drehte er sich zu Mila um.

    „Sie will was?“

    Kapitel 27: Von Freunden und Göttern


    Die Nacht war frisch, trotz des Sommers hier in Hoenn und Melody fröstelte es. Nach der Dämmerung hatten kurze Schauer die Temperaturen fallen lassen, weshalb sie nun eine dünne Jacke übergestreift hatte und im Beisein von Andrew in den Hinterhof des Pokémoncenters schlenderte. Am Rande der Kamplätze erwartete Ryan die beiden bereits. Auf einer Bank hatte er sich augenscheinlich ermattet und antriebslos niedergelassen, die Arme auf den Lehnen ausgebreitet und den Kopf in den Nacken gelegt. Sterne sah er keine, da sich nach dem Schauer die Wolken nicht gänzlich hatten verziehen wollen, doch der Mond schien durch den Wolkenteppich hindurch. Das erleichterte Ryan und stimmte ihn gleichzeitig trübselig. Er wünschte noch immer, sich vor dem, was jetzt kam, drücken zu können.

    Nachdem sie der Geschichte von Mila und Sheila gelauscht hatten, war es sehr lange still im Zimmer gewesen. Es war sehr viel gewesen, das es zu verarbeiten galt und so richtig konnte Ryan auch noch nicht fassen, dass er an die erwählte Kriegerin des Drachengottes und einer schonungslos gedrillten Killerin aus mittelalterlicher Zeit geraten war. Selbst für ihn, der bereits die ein oder andere unglaubliche Geschichte selbst durchlebt hatte, klang es etwas zu fantastisch. Und doch würde er einmal mehr eben dieser glauben, anstatt Mila der Lüge zu beschuldigen.

    Nachdem diese sich für heute verabschiedet hatte und ihre Partnerin eigens ein weiteres Mal auf Kundschaft gegangen war, hatte Ryan die Bitte an Melody gerichtet, Andrew bei Einbruch der Nacht nach draußen zu bringen. Er selbst hatte bis dahin noch etwas allein sein wollen, um sich mental ein wenig vorzubereiten, wenn er Andrew von den älteren Ereignissen erzählen würde, von denen er besser erfahren sollte. Nein, in Anbetracht der neuen Lage musste er es unbedingt wissen.

    „Hey“, grüßte Andrew den Wartenden schließlich teilnahmslos. Er war natürlich noch immer sauer, da Ryan diesen Drachensplitter gestohlen und ihm die Sache mit Mila verschwiegen hatte. Aber er konnte es kaum noch zeigen, da ihn die Informationen zuvor derart vor den Kopf gestoßen hatten, dass er es beinahe verdrängte. Er musste sich sogar in Erinnerung rufen, dass er Ryan gerade eigentlich gern verprügeln würde.

    Der antwortete nur mit einem Murren. Melody sagte überhaupt nichts. Sie wusste, was Ryan seinem Kumpel hier zu zeigen gedachte und spürte die Anspannung zwischen ihnen. Andrew hatte sie flüchtig informiert, wie gut die beiden befreundet waren, auch wenn es gerade schwer zu beobachten war. Verständlicherweise.

    „Du hast mich ja schon früher in echt krasse Dinge mit reingezogen, aber das hier? Hut ab, Alter“, seufzte Andrew schließlich und vergrub die Hände in den Taschen seiner Jeansjacke.

    „Darüber will ich mit dir reden.“

    Ryan ließ den Kopf langsam nach vorne sinken, um seinem besten Freund in die Augen zu blicken.

    „Das ist bislang nur Platz zwei.“

    Seine Iris schimmerte in der Farbe des Mondes. Silbern, ein kaltes Licht, doch unendlich schön. Als hätte man zwei Vollmonde auf seine Augen gepresst und sie mit den Pupillen einmal durchlöchert. Melody hatte diese Augen bereits bei ihrem letzten Treffen gesehen, doch wie mochte Andrew nun reagieren?

    Gar nicht. Er starrte einfach nur. Gar nicht fassungslos oder erstaunt. Er sah Ryan an, als warte er noch immer auf die Enthüllung.

    „Ich nehme nicht an, dass du die hast, um im Dunkeln zu lesen?“

    Ryan würdigte diesen schlechten Witz mit keinem einzigen Wort. Ein bloßer Blick genügte, um ihm klarzumachen, dass dies nicht der Augenblick dafür war.

    „Die Lüge mit den Kontaktlinsen kann ich mir ja jetzt wohl sparen. Aber wahrscheinlich hast du mir die eh nie abgekauft.“

    „Überzeugt war ich nicht“, antwortete Andrew wahrheitsgemäß. Hin und wieder gab es solche Situationen zwischen den beiden, in denen einer eine Lüge erzählte, die vom anderen durchschaut, aber nicht weiter hinterfragt wurde. Es war ihre Art, einander mitzuteilen, dass man darüber nicht reden konnte oder wollte. Hieß es zwar von vielen, dass beste Freunde keine Geheimnisse voreinander hatten, waren Ryan und Andrew der Ansicht, dass sich gerade solche zumindest ein paar gönnen durften, ohne sich gleich verletzt zu fühlen. Niemand sollte sich aufgrund einer Freundschaft dazu gezwungen fühlen, über Sachen zu reden, die man lieber für sich behielt. Wenigstens für eine Weile. Menschen – gerade Jugendliche – hatten nun mal Geheimnisse. Selbst vor ihrer Familie.

    „Du hast sicher gemerkt, dass Sheila das Mädchen von der Fähre nach Wurzelheim ist. Sie hat schon dort bemerkt, dass ich sie von einem Legendären habe und dann…, naja war ich auf ihrem Radar.“

    Andrew kam einen Schritt näher, nahm nun die Hände aus den Taschen und sah eindringlicher auf Ryan herab.

    „Dann sag mir warum und wie lange du die schon hast. Einfach gerade raus, keine lange Geschichtsstunde.“

    Der Blondschopf stockte einen Moment. Damit wurde ihm verdeutlicht, dass die Kurzfassung genügte, da Andrew seine Unannehmlichkeiten wohl aufgefallen waren und er ihm die Sache nicht unnötig erschweren wollte, wofür er dankend lächelte. Zumindest ganz kurz.

    „Es war vor acht Wochen, ungefähr.“

    „Ich sagte keine Geschichtsstunde bitte.“

    „Keine Angst, das ist schon die Kurzfassung. Ich hab ja unterwegs durch Johto den Silberflügel gefunden und dann… nach Lugia gesucht.“

    Während ihrer Reise hatte es zwei oder drei Momente gegeben, in denen Ryan das Thema um den Silberflügel angeschnitten hatte. Andrew wusste mittlerweile bestens, wann, wo und wie er ihn gefunden hatte, doch dass der Fund an sich nur der Prolog zu etwas Größerem war, hatte er ihm verschwiegen.

    „Naja, ich hab ihn gefunden. Es gab einen wahnsinnigen Kampf. Ich habe mit Lugia zusammen versucht eine Katastrophe zu verhindern und…“

    Die Erinnerung an diesem Moment war nichts, das Ryan jeden Tag verfolgte. Schließlich war dieser Tag trotz all der irrsinnigen Gefahren und Strapazen vielleicht der größte seines Lebens gewesen. Doch wer rief sich schon gerne den Moment ins Gedächtnis, in dem man dachte, dass nun endgültig alles aus sei?

    „Und was?“

    Andrew konnte die Ungeduld noch weitestgehend aus seiner Stimme verbergen. Doch fast kam es ihm so vor, als ließe Ryan ihn auflaufen.

    „Ich war… praktisch… schon tot.“

    Die Sache mit den Augen hatte Andrew nicht viel Eindruck entlockt, doch diese Info tat es allemal. Man hätte wohl gar nicht vermutet, dass seine Brauen so weit nach oben wandern konnten. Melody setzte sich neben Ryan und legte ihm beistehend eine Hand auf die Schulter. Auch sie hatte an diesem Tag gelitten. Als zum Zusehen Verdammte, die nicht in der Lage gewesen war, Ryan irgendwie zu helfen. Die ihn alles allein hatte schultern lassen.

    „Ich mach keine Witze und bin auch nicht theatralisch. Frag Melody, wenn du Bestätigung brauchst. Ohne Lugia wäre ich dort drauf gegangen.“

    Ein kurzer Blick in ihre trüben Augen genügte. Andrew würde nicht wagen, einem von beiden eine Lüge zu unterstellen, wenn sie ihn derart ansahen. Es gab keinen Spielraum für Zweifel.

    „Ein Teil seiner Lebensenergie wird jetzt in mir fließen, solange ich atme. Naja und genau das... ist die Ursache hierfür“, vollendete Ryan die Erklärung und hielt sich eine Hand kurz unter das Auge. Der glanzvolle Schein darin trog in diesem Moment. Ihm war eher danach, sie zu schließen und zumindest für eine Zeit nicht wieder zu öffnen. Er wollte sie niemandem zeigen, wollten nicht, dass die Leute erkannten, dass er anders war. Auch Andrew nicht. Wie könnten die Dinge zwischen ihnen schließlich bleiben wie immer, wenn er plötzlich anfing, mit Götter zu kämpfen – gleich ob an ihrer Seite, wie damals oder gegen sie, wie vielleicht in naher Zukunft. Durch so etwas konnte er Andrew unmöglich mitschleifen.

    „Ist das alles?“

    Es war nicht so, dass Ryan erwartet hatte, sein bester Freund würde jetzt aus allen Wolken fallen. Obwohl es nicht einmal unverständlich wäre. Aber er stellte diese Frage, als hätte er erzählt, nicht zusammen mit dem legendären Wächter der Ozeane, sondern einem zerzausten Tauboga einen obendrein unwichtigen Kampf ausgetragen zu haben. Als sei es die banalste Sache der Welt gewesen.

    „Wenn du jetzt wieder Faksen machst, hau ich dir auf die Schnauze“, meinte Ryan nur. Hätte er vorher mal einen Moment nachgedacht.

    „Dazu hab ich mehr Gründe, als du. Aber doch nicht, weil du dicke mit einem legendären Pokémon bist.“

    Andrew hob die Arme an und zuckte mit den Schultern. Nahm er das gerade wirklich so leicht?

    „Du hast also beinahe ins Gras gebissen? Ist natürlich verdammt übel, aber du atmest ja noch. Oder wieder. Ist auch egal, Hauptsache du bist noch da. Und dazu musste ein Wesen wie Lugia herhalten?“

    Nun ging er vor dem Blondschopf in die Hocke und starrte direkt in seine leuchtenden Augen.

    „Findest du wirklich nicht, dass du´s etwas dramatischer als nötig machst?“

    Bei ihm zogen sich die Brauen zusammen. Er verstand nicht, wie Andrew das jetzt in Wahrheit alles aufnahm. War das Sarkasmus oder meinte er es ernst? Oder verarschte er ihn sogar?

    „Ich meine, bei mir sind vor kurzem auch fast für immer die Lichter ausgegangen und da war kein Gott nötig. Die Umstände sind mir total schnuppe. Für mich ist das nichts, das man geheim halten muss. Menschen werden jeden Tag auf der Straße oder dem Bau fast umgebracht und lachen hinterher drüber.“

    Jetzt gab er ihm einen nicht gerade sachten, aber dennoch irgendwie aufmunternden Schlag gegen den Oberarm. Als wolle er einen müden Fußballspieler wachrütteln, der seine Leistung nicht brachte.

    „Du hast doch früher auch allem ins Gesicht gelacht. Scheiß drauf, wie und wo der ganze Mist passiert ist. Das ist alles Vergangenheit. Und jetzt sieh zu, dass du deinen Trübsal los wirst, bevor ich sentimental werden muss. Dann wird’s nämlich erst richtig lächerlich.“

    Es gab Momente, in denen man sein Glück kaum fassen konnte. Als solches würde Ryan das Gefühl, welches in ihm aufstieg, zwar nicht betiteln, denn dafür hatte er gerade zu viele Sorgen. Aber das große Maß an Erleichterung sowie der Erkenntnis, was für ein lässiger Freund Andrew war, genügten ihm allemal. Er nahm einfach alles auf die leichte Schulter. Wie ein draufgängerischer Volltrottel. Aber er wusste, wann Schluss mit Lustig war, wie man bei der Erklärung über den Drachensplitter gemerkt hatte. Er verzieh nichts leichtfertig, was nicht leichtfertig zu verzeihen war. Doch er tat gerade genau das. Er verzieh Ryan. Er tat lediglich so, als wäre es ihm komplett egal, was von keinem Standpunkt aus logisch sein konnte. Doch das spielte hier keine Rolle. Es war alles im Reinen zwischen ihnen. Und das war mehr, als Ryan erwartet oder verdient hatte.

    „Hätte ich mir doch Sheila als beste Freundin ausgesucht. Die wäre bestimmt so hilfsbereit, mich zurück in die Besinnung zu prügeln, anstatt so eine Rede vom Zaun zu brechen.“

    „Ich werd drauf zurückkommen.“

    Andrew grinste bei der Bemerkung über beide Ohren.


    Für Andrew war das Thema für diese Nacht durch. Es wurde spät und wenn er noch was vom Abend Buffet in der Kantine des Centers sehen wollte, musste er sich beeilen. Er hatte ganz unverfroren angemerkt, dass ihm der Magen in den Kniekehlen hing und er sich jetzt eben dorthin aufmachte. Ryan hatte abgelehnt, ihn zu begleiten. Auch er hatte den Abend nichts gegessen und jetzt, da er sich nicht mehr so verknotet anfühlte, kehrte auch sein Appetit zurück. Allerdings gab es in diesem Augenblick nichts, das er der Zweisamkeit mit Melody vorziehen würde. Jetzt, in diesem Augenblick, hätte er sich auch dazu bereit erklärt, eine Woche dafür zu hungern.

    Anderw war bereits seit ein paar Minuten weg, aber so recht ergriff keiner das Wort. Wilde Pokémon hörte man hier natürlich nicht, dafür gedämpfte, ferne Laute des Graphitporter Nachtlebens. Eines, das Ryan in den kommenden Tagen vielleicht noch erkunden würde. Aber seine Gedanken waren noch fern von jeder Form des Amüsierens und Vergnügens. Es gab etliche Dinge, über die er sich mit Melody auszusprechen hatte. Sie wirkte dabei noch deutlich nervöser und versteifter, als Ryan. Während der die Ellenbögen auf die Knie stützte und die Hände vor der Naser faltete, saß sie stocksteif da, die Hände im Schoß vergraben, die Schultern angezogen und den Blick gen Boden gerichtet. Insgeheim könnte sie sich selbst ohrfeigen. Da hatte sie so lange und verbissen nach ihm gesucht, und jetzt, wo sie einander endlich wieder hatten, fiel ihr kein Wort ein, mit dem sie beginnen sollte.

    Vielleicht war es einfach zu merkwürdig, zu plötzlich, sich unter solch unerfreulichen Umständen wiederzusehen, obwohl ihr Abschied noch mit einem innigen Kuss erfolgt war.

    Ein langer Seufzer Ryans kündigte auch kein Ende des Schweigens an. Er lehnte sich weit auf der Bank zurück und betrachtete die Sterne. Sie schienen mit seinen silbernen Augen um die Wette zu glänzen. Komisch, auf einmal kamen die Worte fast wie von selbst über Melodys Lippen.

    „Ich weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll.“

    Vermutlich ging es Ryan genauso. Aber irgendwie mussten sie ja beginnen.

    „Ich glaube, ich…“

    Weiter kam sie nicht. Vor Überraschung blieben ihr die Worte im Hals stecken. Ryan hatte sich wie vom Blitz getroffen zu ihr gebeugt und beide Arme fest um sie geschlossen. Einen um ihre Schulter, den anderen am Hinterkopf. Sie konnte sich kaum rühren und beinahe tat es sogar ein bisschen weh. Als wolle er sie niemals wieder aus seiner Umarmung entlassen.

    „Du bist verrückt, weißt du das?“

    Seine Stimme passte nicht so recht zu seiner Körpersprache. Sie war monoton, fast teilnahmslos. Seine Muskeln dagegen schienen in seinen Armen zu zittern.

    „Man sagt es mir so nach“, meinte sie darauf nur und erwiderte schließlich die Geste.

    „Was in aller Welt machst du hier?“, war die nächste Frage und Ryan drückte sie gar noch etwas fester. Das war die Frage, deren Antwort weniger angenehm aussah und Melodys Züge trübten sich. Ganz sachte ergriff sie seine Oberarme mit den Händen und drückte sich von ihm. Er ließ sie gewähren, sah aber fest und tief in ihre Augen. Sie waren glanzlos und voller Kummer.

    Ihr lag ein schwerer Kloß im Hals. Nichts von dem, was jetzt folgte, würde für einen der beiden angenehm sein. Vielleicht sogar noch weniger als Milas Erklärung vorhin. Sie konnte nicht in Ryan hineinsehen, obwohl sie sich doch so sehr einredete, ihn gut zu kennen. Doch das war schon allein daher unmöglich, da sie einander nur wenige Tage gesehen hatten – den heutigen noch mit eingeschlossen.

    „Lugia war bei mir“, eröffnete sie. Das allein versetzte Ryan noch nicht ins Staunen geraten. Seit ihrem gemeinsamen Erlebnis mit dem Wächter der Ozeane hatte dieser auch Ryan einmal besucht.

    „Hätte ich mir denken können. Er war auch bei mir, nachdem ich wegen der Silberkonferenz ein bisschen down war.“

    Noch während seines Satzes hatte Melody begonnen, den Kopf zu schütteln. Ryan redete wie aus dem Nähkästchen, als würden sie Small Talk halten. Doch davon war sie weit entfernt.

    „Er hat mich vage über das alles hier aufgeklärt. Er hat gewusst, dass du in Schwierigkeiten steckst.“

    So langsam dämmerte ihm, woher der Wind wehte. Es sollte ihn eigentlich nicht verwundern, dass einem legendären Pokémon, dessen Blut er gewissermaßen teilte, Angelegenheiten bezüglich ihm und anderer Legendärer nicht verborgen blieben. Ryan besaß derzeit einen Teil von Ryaquazas Herz in Form des Drachensplitters. Und das, obwohl er bereits seit Monaten schon die Feder Lugias um den Hals trug. Ihm wurde eben bewusst, dass er sie in letzter Zeit praktisch nie betrachtet hatte. Es wäre leicht sich einzureden, dass man des Anblicks nach einer gewissen Zeit müde würde oder der Reiz zumindest abnahm. Doch er wusste, dass er sich damit selbst belügen würde. Jedes Mal, wenn er während oder auch nach seiner Reise durch Johto den Silberflügel angesehen hatte, war er umso mehr von ihm fasziniert gewesen. Doch nicht mehr, seit er den Drachensplitter trug. Seitdem hatte er nur diesen so innig bewundert. Und das bereitete dem Trainer Sorge. Mila hatte auf Faustauhafen bereits eine Warnung ausgesprochen und wenn er so darüber nachdachte, dann war Ryan der vermeintlichen Anziehungskraft dieses Kristalls vielleicht bereits erlegen.

    „Willst du damit sagen, er hat dich zu mir geschickt?“

    „Nein, nein. Ich habe ihn gebeten, mir alles zu erzählen. Er hat mich sogar noch gewarnt, aber ich konnte diese Ungewissheit nicht ertragen. Ich musste es einfach erfahren.“

    Ihr Kopf sank ebenso wie ihre Schultern ab, ihre Hände verkrampften sich und begannen leicht zu zittern.

    „Ich hatte solche Angst um dich, als ich in den Nachrichten von dem Garados Angriff gehört habe. Als du und Andrew vermisst wurden. Aber das, was Lugia mir dann erzählte....“

    Melodys Worte wurden lauter und lauter, schienen kaum überlegt. Ein Produkt ihrer Emotionen.

    „Ich verstehe nicht, was du meinst. Was hat er dir gesagt?“

    Melodys schreckte wieder auf, ihre Augen waren wässrig und ihre Stimme bebend.

    „Er hat mir gesagt, dass du in Gefahr bist. Und dass dir die Drachen bald nach dem Leben trachten würden!“

    Da erschütterte es auch Ryan. Nicht bloß wegen der Botschaft selbst. Ihm wurde mit einem Mal bewusst, was es mit dem Ärger der jüngsten Vergangenheit auf sich hatte. Terrys Maxax! Es hatte ihn angegriffen, genau in dem Moment, in dem er den Splitter berührt hatte. Und die Garados! Auch sie waren gekommen, direkt nachdem Ryan das Herz Rayquazas ergriffen und bestaunt hatte. Garados waren zwar keine wirklichen Drachen Typen, doch sie wurden als solche angesehen, ähnlich wie Glurak oder Aerodactyl. Hatten sie es gespürt? Waren sie auf Ryan losgegangen, weil sie den Drachensplitter in seinem Besitz wussten? Wenn das stimmte, würde er ihn künftig wohl kaum noch berühren können, ohne sich und die Menschen um sich herum damit in Gefahr zu bringen. Nachdem ihm nun klar war, welche Verführung von ihm ausging, musste er ohnehin mehr Acht geben.

    „Melody“, setzte er dennoch beruhigend an. Völlig egal, was zuletzt war oder demnächst sein würde. Er konnte Melody nicht so ansehen. Er ertrug das nicht. Eine behandschuhte Hand legt sich sacht auf ihre Wange.

    „Es geht mir blendend“ log er, denn wirklich gut war es ihm jüngst einfach nicht ergangen. Wegen diversen Dingen.

    „Ich weiß, das ganze hier ist beängstigend. Mir geht es ja nicht anders. Aber du kennst mich doch, ich kriege meine Probleme irgendwie geregelt. Und Andrew ist ja auch noch da. Wir wissen schon aufeinander aufzupassen, frag ihn ruhig selbst.“

    „Das ist nicht der Punkt“, unterbrach sie. Ihr Blick eröffnete, dass keines seiner Worte auch nur im Entferntesten wirkte.

    „Lugia warnte mich vor noch jemandem. Jemand, der unberechenbar ist. Und sehr gefährlich.“

    Ryan blinzelte ein paar Mal. Sollte das nun heißen, wild werdende Drachen in seinem Umfeld wären nicht seine größte Sorge? Der Gedanke bereitete auch ihm mehr und mehr Unbehagen. Und je mehr sich Melody sorgte, desto mehr tat er es selbst.

    „Wem?“

    Leere Augen vergossen je eine Träne.

    „Vor dir.“


    Ryan hatte seinen Weg zurück auf´s Zimmer kaum realisiert. Er fühlte sich noch immer wie nach einem Schlag auf den Hinterkopf. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Nur immer wieder die Frage nach dem Wieso.

    Unter all den Problemen und potenziellen Angreifern, denen er von hier an gegenüberstehen würde, sollte er selbst die größte Gefahr von allen sein? Größer als der Krieg selbst? Oder sollte er mehr Auslöser für selbigen sein? Vielleicht war er das ja bereits geworden.

    Melody hatte ihm so sehr versichert, dass sie trotz Lugias Warnung, an der sie nicht ein bisschen zweifelte, keinen Groll und keine Furcht gegenüber Ryan verspürte. Und auch wenn er Melody nicht als ein Mädchen einschätzte, das in solchen Angelegenheiten log, tat es ihm weh, dass sie so rasch nach ihrem Gespräch hatte gehen wollen. Natürlich galt es eine Menge zu verarbeiten, doch dass sie dies so vehement allein tun wollte, bekümmerte Ryan und bereitete ihm Sorge. Sie war ein taffes Mädchen, aber innerlich sehr verletzbar. Und doch war an ihrer Entscheidung, sich in der Umgebung ein Hotel zu suchen, nicht zu rütteln gewesen. Dabei hätte Ryan so gerne einen versöhnlichen Abschied – generell ein angenehmeres Wiedersehen mit ihr gehabt.

    So schlurfte er nun allein die Treppen hinauf zu dem Zimmer, das er sich mit Andrew teilte. Da Melody keine Trainerin war und folglich auch nicht am Clash teilnehmen würde, hätte sie hier so oder so kein Zimmer erhalten. Doch warum musste es denn jetzt sofort sein? Nicht einmal all seine Fragen hatte sie ihm beantwortet. Beim erneuten Überlegen stellte Ryan erst fest, wie anmaßend es gewesen wäre, dies von ihr zu verlangen und war froh, ihr das nicht vorgeworfen zu haben.

    Noch im Flur fischte er den Zimmerschlüssel aus der Hosentasche und öffnete die Tür seiner Unterkunft. Es überraschte ihn gar nicht, dass Mila ihn bereits erwartete.

    „Bist du durch das Fenster reingekommen oder hast du dir wirklich die Mühe gemacht, das Schloss zu knacken und dann wieder zu verschließen?“

    Ryans Stimme klang entmutigt und müde. Vielleicht etwas angesäuert. Mila schürzte scheinbar etwas überrascht die Lippen. Er hätte nicht gedacht, dies durch solch eine banale Frage zu erreichen.

    „Euer Ruf ist nicht unbegründet, wie mir scheint.“

    „Wie darf ich das verstehen?“, fragte er bloß, während er teilnahmslos and ihr vorbei ging, seine Jacke abstreifte und über einen Stuhl schmiss, der den Fernsehtisch an der Wand gegenüber der Betten benachbarte. Ebenfalls darauf fand sich eine simple Tischlampe, welche für den Augenblick die einzige Lichtquelle darstellte und den Raum nur diffus beleuchtete.

    „Da es Team Rocket nie gelungen ist, unsere Aktionen zu erahnen, kann ich nicht so berechenbar sein, dass Ihr mich bereits hier erwartet habt. Es sei denn, ihr hättet eine beeindruckende Auffassungsgabe.“

    Ja, die sagte man Ryan in der Tat nach. Allerdings auf dem Kampffeld. Er hielt sich nicht wirklich für einen Menschenkenner.

    „Erwartet trifft es nicht wirklich. Ich bin nicht überrascht. Drücken wir es so aus.“

    Warum wollte er dieses Lob nicht annehmen? Normalerweise ergriff er solche Chancen. Es gefiel ihm für gewöhnlich, wenn andere seine Talente anerkannten.

    „Das genügt wohl.“

    Mila ließ sich lasch auf die Kante von Andrews Bett fallen, überschlug keck die Beine, stützte sich dabei auf einen Arm, während sie den anderen in ihren Schoß legte und lächelte Ryan mal wieder so vertraut an. Dabei legte sie den Kopf leicht schief, als würde er sie belustigen. Warum in aller Welt tat sie das immer bei ihm? Gerade jetzt sollte es eigentlich andersherum sein.

    „Ist deine Partnerin wieder unterwegs?“

    Nach einem knappen Nicken ließ sie unverhofft den Kopf weit in den Nacken fallen, brach den Kontakt mit ihren himmelblauen Augen jedoch nicht einen Moment ab und hielt auch das Lächeln aufrecht.

    „Es ist in Ordnung, sie von jetzt an Sheila zu nennen.“

    Ryan ließ in einer stillen Minute noch einmal alles Revue passieren, was sie ihnen zuvor erzählt hatte. Wie sie ausgebildet worden war, wie sie ihren eigenen Vater und schließlich Mirjana ermordet hatte und dennoch von Mila aufgenommen worden war. Es klang absurd, unlogisch und unverzeihlich. Aber es passte irgendwie zu den beiden.

    „Sie hatte bis vorhin also wirklich keinen Namen. Über Jahrhunderte hinweg“, fasste er noch einmal auf.

    „Als sie mir dies damals erzählte und ich sie fragte, wie ich sie denn ansprechen solle, antwortete sie: Gut, gib mir einen Namen.“

    „Und das hast du nicht getan?“

    „Es war mir unangenehm“, war die simple Antwort. Dann beugte sie sich wieder vor und stützte das Kinn mit der behandschuhten Hand. Sie sah fast verträumt in Ryans Augen, war aber sehr offensichtlich mit ihren Gedanken nicht bei ihm. Er kreuzte nur zufällig ihren Blick, während sie an ihre Vergangenheit mit ihrer Partnerin dachte.

    „Ich glaube ihr voll und ganz, dass sie ihren Namen vergessen hat. Nicht weil sie sich nicht erinnert, sondern weil sie ihn vergessen wollte. Ich war zufrieden mit der Hoffnung, dass sie sich eines Tages doch erinnern würde, sollte sie den Willen dazu finden. Doch nun hat sie einen neuen Namen.“

    Und da blickte sie doch wieder in seine Augen. Diesmal wirkte das Glänzen darin nicht so verdächtig und unangenehm ehrlich. Sondern offen und… nun ja, auf eine angenehme Weise ehrlich.

    „Dafür danke ich Euch. Ich bin sicher, es wird ihr gut tun. Erwartet diese Dankbarkeit aber nicht von ihr.“

    „Der Gedanke liegt mir fern.“

    Alles andere wäre jenseits von gesundem Menschenverstand und der Gipfel der Naivität gewesen.

    „Hast du noch mehr solcher Kameraden“, fragte Ryan schließlich, klang dabei abfälliger, als er eigentlich beabsichtigt hatte.

    „Irgendwelche Meuchelmörder oder Bluthunde?“

    Mila antwortete nicht sofort. Sie schien erst einige Sekunden nach dem Ursprung zu suchen, dem diese Frage entstammte. Und sie meinte, fündig geworden zu sein.

    „Ihr sprecht von unseren Verbündeten, die ich bei unserem letzten Treffen erwähnte, nicht?“

    „Du sagtest, ihr würdet die Hilfe von gewissen Leuten brauchen. Sind das auch solche, wie Sheila?“

    Ryan fragte nun alles geradeheraus, ohne nachzudenken und ohne irgendeine Form von Rücksicht. Er sah es als sein Recht an, nachdem sie ihn so lange mit Halbwissen und schleierhaften Andeutungen abgespeist hatte.

    „Es gibt niemanden, der so ist wie sie. Wir haben mit Mühe und Sturheit das Aussterben der Drachengarde verhindern können, doch ihre Mitglieder zu versammeln, würde Zeit beanspruchen, die wir voraussichtlich nicht haben. Allerdings haben wir andere Verbündete, die uns nicht offiziell angehören. Einer von ihnen ist glücklicherweise in dieser Stadt zu Hause und ein weiterer wird in den nächsten Tagen eintreffen“, erörterte sie ruhig. Ryan ließ kaum eine Pause entstehen.

    „Ach und wer soll das sein?“

    Ihn auf die Folter zu spannen, schien Mila wahrlich zu belustigen.

    „Geduld, Ryan Carparso“, meinte sie bloß geradezu beschwichtigend und lehnte sich erneut zurück.

    Die war nicht unbedingt seine größte Stärke und das ließ er sie sogleich wissen, indem er rasch an sie herantrat und sich vor ihr aufbaute. Jedoch zuckte sie nicht einmal mit der Wimper. Schließlich war auch ihre eigene Auffassungsgabe recht passabel und sie sich daher sicher gewesen, dass er so reagieren würde. Doch Ryan sagte kein Wort. Er schaute nur auf sie herab, mit einem vorwurfsvollen, fordernden Blick und doch ohne Wut oder Zorn.

    „Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du deine Geheimnisse einfach offenlegen würdest.“

    Eigentlich hatte er seine Stimme erheben wollen. Ihm erschiene es sogar angebrachter zu schreien, anstatt sich so zu zügeln. Doch dazu sah er sich wiederum nicht im Recht.

    „Ich vertrete die Ansicht, dass es einen richtigen Zeitpunkt gibt, um über gewisse Dinge zu sprechen“, entgegnete Mila und erhob sich gelassen. Ihr schwarzer Mantel breitete sich durch den weiten Schnitt unterhalb ihrer Hüfte großzügig aus.

    „Ihr habt heute bereits genug verarbeiten müssen. Und erneut möchte ich demütigst um Entschuldigung bitten, für die unerfreulichen Umstände, unter denen wir Euch mit Melody zusammengeführt haben.“

    Gar deutete Mila eine leichte Verbeugung an, die Ryan plötzlich stark verunsicherte. Er versteinerte fast, während Mila an ihm vorbei ging und sich zur Tür wandte.

    „Ich werde Euch in den nächsten Tagen wieder aufsuchen. Dann erfahrt ihr, wann und wo wir unsere Verbündeten treffen werden. Verhaltet Euch bis dahin normal und bewegt euch stets im Schutz von Menschenmassen. Team Rockets Agentin könnte bereits wissen, dass Ihr hier seid und würde eine sich bietende Chance sicher nutzen.“

    Und fort war die Ruhe. Schon wieder so dreiste Anweisungen, ohne eine Erklärung zu liefern. Genau wie in Faustauhafen. Ryan knirschte wütend mit den Zähnen, die Augen einen Moment unter der Frisur verhüllt und wirbelte dann erzürnt herum.

    „Was erwartest du eigentlich von mir?“

    Sie hielt inne, hatte den Türknauf schon beinahe erfasst. Doch sie ergriff ihn nicht, rührte sich nicht, antwortete nicht. Für einige Momente war es völlig still.

    „Was soll ich deiner Meinung nach tun? Brav deinen Befehlen folgen und keinen Mucks machen? Alles tun, was du verlangst, ohne Fragen zu stellen? Oder soll ich nicht doch einfach losgehen und Team Rocket im Alleingang zerlegen?“

    Auch als Ryan nicht weiter fragte, drehte sich Mila nicht um. Es gab keinen konkreten Weg, auf diese Fragen zu antworten. Mit einem Ja oder Nein würde sich dieser Konflikt nicht beilegen lassen. Mila war sich noch nicht sicher, ob sie den Konflikt zwischen ihnen beiden oder den, der in Ryans Innerem tobte, damit meinte. Sie dachte lange darüber nach, was sie sagen würde, denn sie spürte, wie der junge Trainer über all das hier empfand. Und sie fürchtete, dass seine Kooperation zu einem beträchtlichen Teil von ihrer Antwort abhängen würde.

    „Ich sagte doch, dass Team Rocket nicht der Feind ist, um den wir uns sorgen müssen. Und ich erteile Euch keine Befehle, Ryan Carparso.“

    Sie wandte sich so schnell um, dass ihr Mantel einen weiten Schwung machte, ebenso wie ihr goldenes Haar.

    „Und ich verlange auch nichts von Euch.“

    Sie trat wieder an ihn heran. Ihr Blick eisern und unerschütterlich mit seinem verbunden.

    „Doch wenn ich es täte, dann nur diese eine Sache.“

    Und plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter und zog ihn in eine tiefe Umarmung. Ryan war völlig erschüttert von dieser so unverhofften, innigen Geste und wollte protestieren, sich befreien, fragen welcher Teufel sie denn geritten hatte. Doch all dies verpuffte irgendwo zwischen ihren nächsten vier Worten.

    „Bitte bleibt am Leben.“

    Der junge Trainer war wie versteinert. Was in aller Welt war in Mila gefahren? Woher kam das auf einmal? Er hatte bislang wenig Gründe gefunden, auch nur einen Funken Sympathie für sie zu empfinden und plötzlich das? Sie wirkte fast mütterlich, was die Umarmung noch gruseliger machte. Doch seltsamerweise rührte er sich nicht. Sein Körper war erstarrt, doch er fühlte den festen Griff zweier starker Hände, die man einer Frau nicht zumuten würde. Eine um seine Schulter, die andere an seinem Rücken. Und sie drückte ihn so fest an sich, dass er einfach nicht anders konnte als rot anzulaufen.

    „Mila, ich… wa…“

    „Ihr dürft auf keinen Fall sterben, hört Ihr? Ich würde es mir nicht verzeihen, wenn Euch etwas passieren sollte.“

    Genauso plötzlich löste sie die Umarmung wieder und ergriff Ryan stattdessen fest an den Schultern, um so tief in seine Augen zu blicken, dass es ihn beinahe verängstigte.

    „Ich flehe Euch an, bleibt unversehrt. Was auch passiert, begebt Euch unter keinen Umständen in Gefahr. Auch nicht für den Drachensplitter.“

    Für mehrere Sekunden hatte Ryan nicht die geringste Ahnung, wie er darauf reagieren sollte. Was gerade geschah, entsprach kein bisschen dem Bild, das er bislang von Mila gehabt hatte. Doch eine Frage kam ihm daraufhin über die Lippen, ohne dass er auch nur einen Moment wirklich über sie nachgedacht hatte.

    „Warum willst du dann, dass ich ihn behalte?“

    Da kehrte wieder Stille in den Raum. Mila löste sich und schien einen fernen Punkt irgendwo in Ryans Iris zu fixieren, ohne ihn wirklich anzusehen und ließ dann schließlich sehr langsam von ihm ab. Beinahe entschuldigend zog sie die Hände zurück und richtete sich wieder zu ihrer vollen Größe auf, scheinbar um eine angemessene Haltung bemüht.

    „Verzeiht.“

    Die Situation hatte es unmöglich für Ryan gemacht, nicht zu erröten. Und diese Stille, die auf einmal entstanden war, war kaum weniger unangenehm.

    „Warum vertraust du ihn gerade mir an?“, wiederholte er daher seine Frage, schafft es sogar mit fester, aber auch sanfter Stimme zu fragen. Mila sah einen Moment auf ihre Hände hinab. Fixierte dabei besonders die in dem braunen Lederhandschuh, unter dem sie den Ring mit dem Drachenkopf verbarg. Erst nach ein paar Sekunden hatte die Frage sie wirklich erreicht und sah wieder zu Ryan auf.

    „Weil Ihr stärker seid, als ich es bin.“

    Sie erklärte nicht sofort weiter. Zunächst machte sie wieder einen Schritt an Ryan vorbei, ihr Blick wanderte unruhig über den Teppichboden des Zimmers, als würde sie etwas darauf suchen, was sie natürlich nicht tat.

    „Ich warnte Euch bereits vor der gefährlichen Verführungskraft des Drachensplitters. Sie hat bereits Mirjanas Geist verdorben und ich bin nicht überzeugt, ihr standhalten zu können.“

    Ihre Stimme wurde noch etwas leiser und fast melancholisch.

    „Ganz und gar nicht überzeugt.“

    Ihre Hand, an welcher der Ring steckte, ballte sich zur Faust. Ein Ventil für ihren Frust und ihren Tadel – beides gegen sich selbst gerichtet.

    „Daher bin ich nicht in der Position, Euch Befehle zu erteilen“, fuhr sie fort, sprach ganz plötzlich wieder mit der entschlossenen und wissenden Stimme, die Ryan von ihr gewohnt war.

    „Indem ich den Splitter an Team Rocket verloren und nicht alles Menschenmögliche unternommen habe, um zu verhindern, dass Ihr in diese Sache involviert werdet, habe ich jegliches Recht darauf verwirkt. Ich habe Euch eine Bürde auferlegt, die mein hätte sein sollen. Daher könnte ich es mir nie verzeihen, wenn Ihr durch meine feige Entscheidung zu Schaden kämt.“

    Zum ersten Mal sah Ryan die Festung namens Mila wanken. Ihr Mauern bröckelten, fielen. Ihre Tore barsten, brachen. Und sie stand auf dem höchsten ihrer Wachtürme, voller Reue für jeden Entschluss, der ihre Verbündeten das Leben kosten konnte. Im Gegenzug war sie bereit, dafür auf ihrem Turm zu verharren, zu brennen und unter seinen Trümmern begraben zu werden.

    „Wie soll jemand wie ich stärker sein, als jemand wie du? Warum sollte ich einen Teil eines Legendären tragen dürfen?“

    „Weil Ihr es schon lange tut, Ryan Carparso.“

    So lange trug er den Drachensplitter doch nicht, dass es in irgendeiner Form…

    Erst mitten in der Überlegung, erkannte Ryan, was sie wirklich meinte.

    Der Silberflügel!

    Seine Hand legte sich unbewusst auf sein Brustbein. Oft hatte er in letzter Zeit die silberne Feder Lugias, die er seit jeher um den Hals trug, fast vergessen. Er hatte öfter nach dem Drachensplitter gegriffen, wenn er Halt gebraucht hatte, den Wunsch nach Trost und Standhaftigkeit verspürt hatte. Früher war es immer der Silberflügel und der Gedanke daran, wie und von wem er ihn erhalten hatte, gewesen, der ihn in Momenten der Schwäche, Ziellosigkeit und Verletzbarkeit Mut gemacht hatte. Die Frage, woher Mila wusste, dass Ryan ihn um seinen Hals trug, ersparte er sich. Wenn sie und Sheila allein an seinen Augen erkannt hatten, dass er mit dem silbernen Vogel in Verbindung stand, war es naheliegend, ihn bei ihm zu vermuten.

    „Wie willst du Lugias Feder mit einem Teil von Rayquazas Herz vergleichen? Hinter dem Silberflügel steckt keine höhere Bedeutung. Zumindest nicht eine solch tiefgründige und weitreichende.“

    Tatsächlich hatte Lugia ihm seine Feder nur hinterlassen, um Ryan auf seine Spur und schließlich zu dem Ereignis zu führen, das die beiden so miteinander verband. Ja, auch damals war mehr auf dem Spiel gestanden, als bloß sein eigenes Leben. Doch nichts davon kam nur annähernd einem möglichen Krieg zwischen Menschen und Drachen gleich.

    „Der Gegenstand selbst ist nicht von essenzieller Bedeutung“, antwortete Mila und lehnte sich an die Kommode vor dem Fenster.

    „Wisst Ihr, Ryan, es hat etwas zu bedeuten, wenn die Götter uns Menschen einen Teil von sich hinterlassen. So etwas geschieht nur sehr selten und keineswegs leichtfertig. Es ist eine Art Symbol oder ein Versprechen.“

    Sie legte eine Hand auf ihre Brust, während sie weiter erklärte. Ryan war ihr Punkt noch nicht ganz klar. Sicher hatte es einen Sinn gehabt, dass er diese silberne Feder gefunden hatte, doch er entschied sich, einfach zuzuhören.

    „Nehmt Rayquaza und meine Familie als Beispiel. Der Drachensplitter entstand als Symbol für Rayquazas Gnade und erst durch ihn ist unsere Garde geboren. Wäre er von heute auf morgen fort, wäre sie nicht imstande, weiter zu existieren. Die Garde braucht ihn, damit sie etwas Handfestes hat, wofür sie kämpfen kann und nicht nur für das Versprechen, das meine Mutter im Namen der gesamten Menschheit gegeben hat. Und euch eine seiner Federn zu überlassen bedeutet Lugia mit Sicherheit nicht weniger, als Rayquaza sein Herz und sein Volk bedeuten.“

    „Soll das heißen, ich darf mich als Lugias Diener betrachten?“, unterbrach er zynisch. Er wollte nicht so richtig, dass er und Lugia mit Mila und Rayquaza gleichgesetzt wurden. Lugia war ein absolut friedliebendes Wesen und würde sich eher selbst das Leben nehmen, als auch nur den Gedanken an solchen Völkermord, wie der Drachengott ihn im Sinne hatte und nach wie vor hat, anzudenken. Er hegte deshalb zwar weder Hass noch Abneidung gegen den Himmelsdrachen, doch waren die beiden einfach zu grundverschieden, um miteinander verglichen zu werden. Ryan dachte, dass dies einer jener Momente wäre, in denen Mila ihn eigentlich so verhasst anlächeln müsste, doch das hatte sie nach ihrem emotionalen Ausbruch irgendwie verloren. Und dafür fühlte er sich schuldig.

    „Von den Drachen abgesehen reicht mein Wissen über die Götter nicht allzu weit. Ich kenne Lugias Wesen nicht, doch ich schätze ihn aufgrund meiner Kenntnisse – so begrenzt sie auch sein mögen – als weniger hierarchisch ein. Er gehört zu jenen, die jedes Leben als gleichermaßen wertvoll erachten. Doch das wisst ihr sicher besser als ich.“

    Ja, das klang in der Tat deutlich mehr nach Lugia. So hatte Ryan ihn zumindest kennengelernt. Und die Aufrichtigkeit seines Wesens würde niemand, der ihn je getroffen hatte, in Frage stellen.

    „Daher glaube ich nicht, dass er Euch als Diener sieht. Eher als Vertrauten. Als einen Freund.“

    Da Ryan nun vermehrt an die Ereignisse von damals zurückdachte, war es schlussfolgernd nur richtig, Lugia und sich selbst als Freunde zu bezeichnen. Und dennoch zuckte er bei diesem Wort zusammen. Ihn überkam mit einem Mal ein Gefühl, das er gerade kürzlich verarbeitet hatte und das – obwohl froh, es gefunden zu haben – geschmerzt hatte. Es war die neulich erlangte Erkenntnis, wie er über seine Pokémon Partner gedacht hatte und nun fortan dachte. Wie er sie erst unbewusst ausgeblendet und anschließend doch vermisst hatte. Ein Gefühl, das ihn zu seinem früheren Ich führte und den verdunkelten Weg vor seinen Füßen mit silbrigen Licht erhellte.

    Es hatge nie etwas existiert, noch war je etwas geschehen, woran er Lugia irgendeine Form von Schuld hätte zuschieben oder einen Vorwurf hätte machen können, so wie er es von einem gewissen Standpunkt aus bei seinen eigenen Pokémon getan hatte. Dennoch fühlte er sich, als habe er ihn verraten, indem er zunehmend dem Drachensplitter verfallen war und den Silberflügel fast vergessen hatte. Fühlte sich seiner Ehrung und Freundschaft unwürdig.

    „Außerdem…“, setzte Mila schließlich an und riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Teil von ihm war froh, dass sie das tat.

    „…tragt ihr nicht nur etwas von Lugia bei euch. Hab ich nicht recht?“

    Ryans Augen weiteten sich, als der Groschen stetig fiel. Seine Hand wanderte von seinem Brustbein, wo der Silberflügel von seinem Hals hing, hinab zu seinem Herzen. Das Herz, welches nur dank Lugia noch schlug. Oder eher wieder.

    „Lugias Lebensessenz strömt durch euren Körper. Eure Augen sind ein stetiger Beweis dafür.“

    Mila überkreuzte die Beine und verschränkte die Arme vor der Brust. Fast sah sie ein bisschen neidisch, jedoch keinesfalls mit Missgunst zu ihm hinüber.

    „Gewissermaßen tragt ihr ebenfalls Lugias Herz.“

    Nun war es Ryan, der einen fernen Punkt im Nichts anzustarren schien, sich aber nach wenigen Sekunden abrupt erhob und an den Spiegel trat, der über dem Nachttisch hing, welcher die Betten teilte. Selbst im diffusen Licht gab es kein Anzeichen des silbrigen Leuchtens in seinen Augen, welches der Mond enthüllte. Doch das Marineblau war für ihn ebenso aussagekräftig und er selbst sich mit diesen Augen noch immer irgendwie fremd. War es merkwürdig, dass er sich noch immer nicht an sie gewöhnt hatte, obwohl sie ihm alles bedeuteten?

    „Es sind nicht bloß die Augen“, meinte er schließlich abwesend. Er sprach gerade laut genug, dass Mila ihn verstehen konnte. Und tatsächlich erlaubte er sich einen Seitenblick zu ihr herüber und ließ ihn von einem schwachen Lächeln begleiten.

    „Jeder Atemzug, den ich mache, ist ein Beweis.“

    Sie erwiderte das Lächeln. Und es war nicht das verhasste. Zum ersten Mal war es eines, das Ryan gefiel.

    Kapitel 26: Fallen warrior


    Hanifa und die Dorfälteste sahen auf. Schritte hallten durch die Nacht. Leise, dennoch entschlossen und bestimmt war ihr Rhythmus. Die beiden Frauen behielten den offenen Türrahmen im Auge, erwarteten das Eintreten der nächtlich marschierenden Person. Im Schein der Türfackel erschien eine menschliche Silhouette. Ihre Größe war sofort einzuordnen. Hanifa schlug die Augen nieder und unterdrückte ein Schluchzen. Dass sie diesen Moment hatte kommen sehen, war selbst für die gestandenen Mitglieder des Dorfes keine Vorbereitung auf selbigen. Der Verlust eines Geliebten schmerzte immer und würde nun Agnar vor ihr erscheinen, wäre sie nicht weniger bestürzt. Die Älteste hielt die Augen nur schwach offen, sprach ein stilles Gebet für die entschwundene Seele.

    In den Lichtschein trat Hanifas Tochter. Ihr Gesicht und ihr Harnisch waren blutbesudelt.

    „Du hast Agnar also gefunden“, stellte die alte Frau fest. Weder sie noch der neue Assassine schenkten der Trauernden Aufmerksamkeit.

    „Sein Körper blutet sich am Grund des Sonnenspiegelsees leer.“

    Nun, schier unsagbar langsam, hob Hanifa wieder das Haupt und besah sich ihrer rot getränkten Tochter. Getränkt durch das Blut ihres eigenen Vaters. Ihres, Hanifas, geliebten Gatten. Ihre Gesichtszüge wurden von Schock und Fassungslosigkeit zerfressen. Wie? Wie konnte sie nur solch kalte Worte für Agnar finden? Sie hatte gerade ihren Vater getötet – den Mann, der ihr im Leben am nächsten gestanden hatte. Der Mensch, den sie besser gekannt hatte, als alle anderen. Empfand sie gar keine Trauer?

    Ihre Tochter bemerkte den erschütterten Blick, widerstand ihm jedoch unberührt. Nein, sie verachtete ihn! Hanifa suchte nach Gefühl in dem ihren. Doch sie fand nichts. Ihre Augen waren leer. Sie fühlte nicht das Geringste. Der Tod Agnars war ihr gleich und so wäre es auch der ihrer Mutter.

    „Du blickst wie ein Welpe.“

    So kalt waren ihre Worte. Ein Todeshauch aus dem Körper ihres geliebten Kindes, das zu kennen sie sich eingebildet hatte.

    „Verschone mich mit diesen Augen oder steche sie dir aus.“

    Hanifas Herz wunde entzweit. Sie fiel aus ihrer knienden Position zurück auf den Rücken. Ängstlich wich sie bis an die Wand, wie ein verschrecktes Beutetier. Was sie da sagte – die Art und Weise wie sie es sagte. Dieses Mädchen war nicht ihre Tochter. Nie und nimmer. In ihr herrschte der Tod. Sie war das fleischgewordene Instrument zur Hinrichtung.

    Die Dorfälteste presste nervös die Lippen aufeinander. Ein Schweißtropfen rann ihre faltige Schläfe herab. Ihre gefalteten Hände verkrampften sich vor Anspannung.

    „Dann steht dir nur noch eine letzte Sache im Weg. Du musst deinen Namen ablegen.“

    Der Blick des Assassinen raubte der Dorfältesten den Atem. Er ließ einen befürchten, man müsste die Erlaubnis zum Sprechen erhalten, oder man würde mit dem Leben bezahlen. Er ließ einen glauben, jede voreilige Regung von Körper und Stimme würde sofort mit Blut vergolten werden. Doch es war ihr Glück, dass selbst dieser Dämon in Gestalt eines Mädchens den Regeln des Dorfes zu folgen hatte, was bedeutete, sie durfte die Älteste nicht anrühren. Dennoch lief ein Schauer über ihren Rücken, als sie antwortete.

    „Ich habe ihn bereits vergessen.“

    Möglichst unauffällig atmete die graue, alte Frau auf und spitzte die Lippen.

    „So bist du bereit für deine Aufgabe.“

    „Wen darf ich töten?“

    Ihre Stimme klang so gleichgültig, so unberührt, ließ das Verlangen, das dem Assassinen innewohnte nicht ansatzweise erahnen. Doch es war da, das Verlangen. Es beherrschte ihr Denken und war fortan ihr einziges Ziel, solange sie atmete. Sie wollte nur noch Leben nehmen. Der Totengott musste gerade voller Freude in seinem schwarzen Herzen auf sie hinabschauen. Eine neue Henkerin gab es, die ihm weitere Seelen sandte. Und der ersten, der sie in dieser Nacht den Weg zu ihm gezeigt hatte, würde auf ewig die Fesseln des Zauderns in ihr lose halten. Sie hatte den Menschen getötet, der ihr am meisten bedeutet hatte. Fortan würde sie niemals zögern, ein Leben zu beenden. Ganz gleich, welches es sein sollte.

    „Nun gut“, sprach die Älteste und holte tief Luft.

    „Als Assassine ist es deine Pflicht, zu töten. Und es gibt eine Frau, die schon zu lange unter den Lebenden weilt. Du wirst sie in die Unterwelt stoßen und die Menschheit von ihr befreien. Danach wirst du dich ihrer Tochter stellen.“

    „Ich darf also zwei Körper aufschneiden?“

    Selbst ihre gespenstische Stimme konnte nicht die Freude verbergen, die jene Botschaft in ihr auslöste. Sie war allerdings nicht zu sehen oder zu hören. Eher spürte man sie tief in ihrem Inneren. Jedoch würde die Älteste die Bezeichnung „Herzenswunsch“ niemals mit ihr in Verbindung bringen.

    „Sogar mehr als zwei. Deine Klingen werden satt werden.“

    Da trat dieser Ausdruck in das Gesicht des Assassinen, den man bei ihr schon als ein Lächeln betiteln mochte. Bösartig und mordlüstern und für normale Menschen ganz und gar nicht als solches zu erkennen. „Doch was die Tochter betrifft...“


    ***


    Man merkte schon sehr, dass die Festung nicht aus taktischen Gründen hier erbaut worden war. Für gewöhnlich errichtete man derartige Mauerwerke auf dem Gipfel eines imposanten Hügels oder an den Ausläufern einer Gebirgskette, von wo aus sie einfacher zu verteidigen waren. Nicht einfach mitten in die Wildnis hinein, direkt an den mächtigen Klippen der Stillen Küste. Gar besaß die Burg, welche von recht überschaubarer Größe war, gar keine geschlossene Rückseite. Offen zeigte sie sich den hohen Felsen in der See und den unendlich blauen Weiten eben jener. Nun jedoch war das Meer schwarz wie Pech. Die Nacht hatte sie in einen gähnenden, nassen Schlund verwandelt. Ebenso die Wälder. Zwischen den Bäumen waberten Nebelschleier, sichtbar nur durch das unheimliche Licht des sichelförmigen Mondes am Nachthimmel. Sie wirkten bedrohlich, gierig, als würden sie sofort alles was sich zwischen sie wagte in einen Abgrund ohne Wiederkehr zerren. Umringt von diesen Bäumen fühlten sich die beiden Torwächter sehr unbehaglich. Der Mensch fürchtete, was er nicht sehen konnte und malte sich in Gedanken die grauenhaftesten Dinge aus, wenn er nicht wusste, wer oder was nur zehn Schritte vor ihm war. Da kam man sich auch in einer Plattenrüstung sehr verletzbar vor.

    „Wieso müssen ausgerechnet wir Nachtwache halten. Für so einen niederen Dienst habe ich in dieser Garde nicht angeheuert.“

    Der etwas ältere Mann neben der maulenden Wache grunzte abfällig über dies kindische Verhalten seines Kameraden. Was hatte er denn erwartet? Wie jeder von ihnen hatte er genau gewusst, wie das Leben hier aussah. Das wurde allen Neuen dargelegt.

    „Halt dein Maul, Mathis. Du kannst froh sein, dass unsere Herrin dich für dein Verhalten und deine Faulheit noch nicht eigenhändig enthauptet hat.“

    „Ich soll froh sein, mir hier draußen in der finstersten Nacht, die Zehen abfrieren zu dürfen?“

    „Ganz genau das sollst du. Es bedeutet nämlich, dass du noch lebst. Für deinen Mangel an Gehorsam, Pflichtbewusstsein und Respekt der Herrin gegenüber ist das mehr, als du verdienst.“

    Mathis verschaffte seinem Unmut ein wenig Luft, indem er spöttisch auf den Boden spuckte. Gesten wie diese waren es, die ihm immer und immer wieder aufs Neue vorgehalten wurden – besonders von seinem heutigen, nächtlichen Leidensgenossen Brandolf. Wahre Ritter verhielten sich angeblich nicht so, sagte er dann. Er war doch ein Ritter und er sah es als sein Recht an, zu spucken und zu fluchen, wenn man ihn wie einen Hilfssoldaten behandelte. Mürrisch wanderte sein Blick wieder durch die Nacht.

    Einige Schritte unbefleckter Erde hatten die beiden Männer zwischen sich und der Finsternis des Waldes. Wäre es nach ihnen gegangen, so hätte man jedoch den ganzen verfluchten Wald gerodet, anstatt dieser notdürftigen Fläche, die nicht einmal drei Äcker maß. Doch hier lebten ohnehin keine Bauern. Nur sie, die Garde hauste hier. Schlafgemächer, Trainingsplatz, Schmiede, Vorratskammer – mehr hatten sie hier nicht. Mehr brauchten sie hier nicht. Sie hatten ihr Leben Mirjana verschrieben, was bedeutetet, dass sie den meisten menschlichen Annehmlichkeiten entsagten. Stolz und Ehre waren für wahre Männer mehr Lohn, als Geld und Frauen. Doch überkam in solch unheimlichen Nächten oft Angst und Zweifel jene Männer. Mathis und Brandolf waren da keine Ausnahme. Denn auch wenn letzterer es gut verschleierte, nagten Frust und Zweifel gleichermaßen an ihm. Zu welchem Zweck nahmen sie ein Leben ohne Familie und eigene Bedürfnisse auf sich? Vor wem in Teufels Namen sollte sie den Drachensplitter verteidigen? Und wo war letztlich die Ehre, der ersehnte Lohn für ihrer aller Opfer? Manch einer behauptete immer aufs Neue, dass sie existiere und jeder von ihnen damit gesegnet sei. Doch solche Dinge redeten sich diese Männer bloß ein. Das befand selbst er, der sich stets um seine Treue bemühte.

    Es knackte verräterisch zwischen den Bäumen. Beide Wachen griffen ihre Piken alarmiert fest mit einer Hand in der Mitte der Stange, mit der anderen knapp unter dem Spieß. Aufmerksam und kampfbereit spähten sie in die Nacht. Nichts rührte sich in den Nebelschleiern. Nichts, was sie sehen konnten. Schon wieder drängten sich ungewollt beängstigende Fantasien in ihre Köpfe. Und dennoch zwang sich Brandolf, einige Schritte voraus zu gehen, bis die Krone eines stolzen Laubriesen ihn überdachte. Unruhig wanderten seine Augen umher. Schweiß rann seine Stirn hinab, trotz der nächtlichen Kälte. Sein Atem war deutlich sichtbar und machte die Situation noch gespenstischer. Die scheinbar so tückische Stille war beunruhigend, doch wäre es denn besser gewesen, würden peitschende Winde monströses Geheul durch die Bäume schicken? Wohl kaum. Als auch nach mehreren stillen Momenten kein Anzeichen auf Leben sichtbar wurde, entspannten sich die Gemüter wieder. Spöttisch grinsend wand sich der Wachmann ab, um seine Position am massiven Holztor wieder zu beziehen.

    „Huh, Hirngespinste“, meinte er kopfschüttelnd. Das waren die Nerven. Hoffentlich würde die Nacht bald zu einem friedlichen Ende kommen.

    Es gab kein weiteres Knacken und auch sonst keine verräterischen Laute. Es blieb absolut still. Doch etwas regte sich. Das erkannte Mathis, der an der Pforte zurückgeblieben war, nun deutlich. Direkt über seinem Kameraden, in drei bis vier Metern Höhe, huschte eine Gestalt auf einen festen Ast und ließ sich hinab fallen. Es war ein Mensch, zweifellos, doch er bewegte sich grazil und geschickt, wie es wohl selbst nur wenige Waldbewohner konnten. In der rechten Hand hielt er einen Dolch. Schon befürchtete der Wachposten, sein Kamerad würde gleich sein Leben aushauchen, doch der Angreifer schlug lediglich mit dem Knauf in sein Genick. Nichts desto trotz verlor er das Bewusstsein, noch bevor er den Angriff überhaupt realisiert hatte. Als würde von einer Sekunde auf die nächste all seine Kraft aus dem Körper weichen, sackte er zusammen. Mathis jedoch kam nicht einmal dazu, Luft für einen alarmierenden Warnruf zu sammeln. Kaum war der Körper des Ohnmächtigen auf den Waldboden gesunken, hatte der hinterhältige Angreifer bereits die Distanz zu ihm überwunden und drückte eine freie Hand auf den Mund der Wache. Unnötig wäre dies gewesen. Zu überrascht war er, als dass er noch hätte schreien können. Warum? Weil er in das verhüllte Gesicht eines Mädchens blickte. Ihr Haar war finster, wie alles zu nächtlicher Zeit. Doch wie es Teile ihrer Selbst hinter einem scheinbar todbringend finsteren Mantel verdeckte, der sich unheimlich um ihre obere Körperhälfte schmiegte, wirkte sie beinahe unwirklich. Sie trug einen Harnisch aus Leder, das konnte er noch erkennen. Ebenso die Stoffleinen, die sie um ihre Unterarme sowie Mund und Nase gewickelt hatte. Und dann noch die Augen. Wie zwei funkelnde Rubine in dieser dunklen Nacht, die in den finsteren Höhlen eines Monsters saßen, sodass die nackte Furcht nach ihm griff, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Weiter darüber nachdenken konnte er nicht mehr, denn schon spürte er einen harten Aufprall seines Hinterkopfes an der Festungsmauer. Sie konnte beobachten, wie seine Augen nach oben wanderten, bis nur noch weiß zu sehen war. Seine Glieder erschlafften. Ihn an seinem halblangen, blonden Schopf haltend, betrachtete der weibliche Assassine sein Opfer. Sie ließ ihn zu Boden sinken, betrachtete dabei die Platzwunde an seinem Hinterkopf. Hätte der Narr einen Helm getragen, wie auch der andere, wäre ihm dies erspart geblieben. Nicht, dass sie das aufgehalten hätte, aber dennoch. An sich würde es ihr nicht missfallen, die beiden zu töten. Doch sie hatten das Glück ihrer Schwäche. Trotz der anfänglichen Freude, sie könne gleich mehrere Leben ins Reich des Totengottes schicken, hatte sie beschlossen, dass ihr erstes Opfer jemand Besonderes sein musste. Sonst wäre sie gar nicht erst so vorgegangen. Es würde eine einmalige Ehre sein, die nur jemand empfangen durfte, der würdig war.

    Zielstrebig blickte sie die Mauern empor. Das Tor zu öffnen war mit Sicherheit nur von innen möglich und selbst wenn nicht, wäre es viel zu auffällig. Über dem Durchgang jedoch befand sich ein langer Holzbalken, der eine Laterne hielt. Ihre Augen verengten sich ob des Lichts, das sie zu meiden gelernt hatte, doch so ging es am schnellsten. Zwei Schritte nahm sie Anlauf, sprang dann an die Mauer, stieß sich mit einem Fuß gleich wieder von ihr ab, um Höhe zu gewinnen und hechtete nach dem Halt. In einer fließenden Bewegung, ohne hilfloses Zappeln oder Zögern, zog sie sich daran hoch, sodass sie bereits in der nächsten Sekunde sicher auf dem Balken hockte. Mit einem weiteren Sprung erreichte sie die Zinnen, griff diesmal beherzt beidhändig zu, stemmte sich mit den Solen ihrer Stiefel ab und spähte über sie hinweg. Niemand war zu sehen. Kurzerhand schwang sie sich auf die andere Seite und ging erneut in eine hockende Position. Ihre Bewegungen waren so ruhig, so sicher, das Ergebnis eines lebenslangen Trainings. Dennoch ließ sie Vorsicht walten und besah sich einen Moment lang ihrer Umgebung genauestens. Unter ihr lag ein Hof aus schlammiger Erde, in der sich kreuz und quer die Fußabdrücke der Menschen zeichneten. An der linken Mauer sah sie die noch immer leicht glühenden Kohlen eines Schmiedefeuers, neben Amboss und Schleifstein – alles hölzern überdacht. Auf der anderen Seite zwei Trainingspuppen aus Holz, zwei Zielscheiben für Bogenschützen und ein Duellring. Er unterschied sich von jenem in ihrem Heimatdorf. Dort war dieser nur mit Fackeln gekennzeichnet. Hier hatte man Tatsächlich eine Holzbande erschaffen, um ein ungewolltes Verlassen des Rings zu verhindern. Wie Amateurhaft.

    Die Mauern waren auf beiden Flügeln erheblich dicker, als auf der Vorderseite und sie erspähte einige schmale Öffnungen, die Tageslicht einfallen lassen konnten. Wohl waren dies Wohngemächer und Lagerräume für Vorräte und Waffen. Überrascht war sie, dass es hier nur sehr kleine Stallungen gab – sie boten Platz für höchstens eine Handvoll der bekannten, flammenden Pferde –, waren sie doch so weit entfernt von der nächsten Stadt. Sie musste es wissen. Ganze Vierzehn Tage waren vergangen, seit sie die nächstgelegene Ortschaft hinter sich gelassen hatte. In jener hatte sie lediglich Informationen zu ihrem Ziel erlangen wollen. Essen, Wasser und eine Schlafstätte hatte sie stets in den Wäldern gefunden. Es wäre schneller gegangen, hätte die Dorfälteste ihr mehr verraten als den Namen des Menschen, den es zu töten galt. Ein ganzer Monat war schon vergangen, seit sie ihre Heimat verlassen hatte. Eine viel zu lange Zeit. Ihre Klingen wollten Blut kosten!

    Wie es ihre Informationen besagten, war die Rückseite der Festung offen. Über die nackten Klippen hinweg sah sie bereits ihr Ziel. Ein gigantischer Felsen vor der Küste, fast schon ein Berg, ragte er doch beinahe auf die Höhe er Klippe, obwohl der Meeresspiegel mindestens zwanzig Meter unter ihr lag. Der Höhleneingang wirkte, obwohl klein, doch sehr finster, verschlingend – genau nach ihrem Geschmack. Dies war der Ort, an dem sich Mirjana für gewöhnlich aufhielt. Es war der Ort, den die Angreiferin erreichen musste.

    Doch ein weiteres Hindernis gab es noch. Ein Mann – der Rüstung nach zu urteilen ebenfalls ein Mitglied der Wache – schritt gemütlich und sorglos bei den Trainingsplätzen umher und rauchte eine Pfeife. Er hatte sie nicht gesehen und sie würde sich ohne Probleme an ihm vorbei schleichen können. Doch das war nicht in ihrem Sinne.


    Das entflammte Kraut in der Pfeife wärmte während dieser kühlen Nacht. Es beruhigte die Nerven und verschaffte ihm ein willkommenes Gefühl der Befriedigung und der Ruhe. So etwas war hier teuer, denn dieses Leben bot nicht viel Erstrebenswertes. Eine Waffe führen zu dürfen, hergestellt von einem meisterhaften Schmied, war noch die größte Ehre, die man als Mitglied dieser Garde erhielt. Ausgenommen war natürlich der Lohn, den man für gute Arbeit und einen ehrenhaften Sieg im Kampf von Mirjana bekam, doch dies hatte noch niemand erreichen können. Nie hatte sich eine Chance ergeben. Bei seinem nächtlichen Spaziergang über den Hof erreichte der leicht gealterte Mann die Schmiede.

    Gedankenverloren lehnte er sich an einen der Stützpfeiler, die das Dach über dem Schmiedeofen hielten und strich sich durch sein schulterlanges, schwarzes Haar, sowie anschließend seinen stolzen Bart. Wie gerne würde er einmal einen Feind an der Spitze seines Schwertes sehen.

    Kaum hatte er diesen Gedanken beendet, spürte der Wachmann, wie sich etwas auf seinen Mund drückte. Erschrocken riss er die Augen weit auf, ließ seine Pfeife fallen. Aufgeschreckte Schreie drangen gegen die menschliche Hand, nach der er panisch greifen wollte. Doch der aufblitzende Dolch, der plötzlich vor seinen Augen erschien und sich sodann auf seine Kehle legte, ließ ihn erstarren. Er konnte das Gesicht nicht sehen, das unheilvoll hinter dem Pfeiler hervorlugte. Er befand sich in Unkenntnis über seinen Angreifer. Sehr erstaunt war er jedoch, als er eine junge, weibliche Stimme vernahm, leicht vertuscht, als würde sie in ein Stofftuch sprechen.

    „Gib sofort Ruhe, oder ich werde selbst dafür sorgen.“

    Beschwichtigend hob er die Hände. Er war eingeschüchtert und hilflos und sich seiner Unterlegenheit auch vollkommen bewusst. Wohl kein zu großer Narr.

    „Ich werde meine Hand gleich wieder entfernen. Dann du wirst mir ganz leise und ohne etwas Unkluges zu tun, verraten wo ich eure Anführerin finde.“

    Sicher, sie kannte den Ort, an dem Mirjana meist zu finden war. Jedoch hatte sie keine Gewissheit, ob sie sich denn tatsächlich gerade dort aufhielt, in diesem Augenblick.

    Ihr Opfer versuchte zaghaft, den Kopf zu drehen, um sie anblicken zu können. Doch sie ließ es nicht zu. Sie war umso zufriedener, je weniger Feinde dies taten. Warnend drückte sie die Klinge auf seine Haut. Augenblicklich verebbten die Bewegungsversuche der Wache, als er die ersten Bluttropfen seinen Hals herablaufen spürte. Dass sie nicht vorhatte, ihn wahrhaft zu töten, konnte er ebenso wenig wissen, wie er es aus ihrer Sicht musste.

    „Du hast genau einen Versuch“, klärte sie ihn mit tiefer, drohender Stimme auf. Er bemerkte sofort ihren Ernst. Ganz vorsichtig und nur um wenige Zentimeter löste sich ihre linkte Hand von seinem Mund und wartete ab. Doch kein Wort kam über seine Lippen. Lediglich kurze, nervöse Atemzüge waren zu vernehmen. Rasch verließ sie die Geduld. Ungehalten nahm sie seine Wangen zwischen ihre Finger und drückte zu, sodass er die Zunge raus steckte und dabei aus Angst um sein Leben ein gequältes Stöhnen unterdrückte.

    „Du schweigst also?“

    Er begann zu zittern. Dabei hatte sie ihre Stimme kein bisschen erhoben und wie sie ihre Augen verengte, konnte er auch nicht sehen. Eher klangen ihre Worte wie eine nüchterne Feststellung, als eine nach Bestätigung suchende Frage. Doch die Lust, ihre Klinge noch ein wenig tiefer in seinen Hals zu drücken, verspürte sie unbestritten. Allerdings musste sie sich ihres Vorhabens wegen zurückhalten. Und dennoch, mit einer einfachen Ohnmacht sollte dieser Mann nicht davonkommen. Eine flinke Bewegung vollzog sie aus dem rechten Handgelenk. Ein Schnitt, gefolgt von einem wehklagenden, sehr lauten Schmerzensschrei. Dieser allerdings verlor sich fast gänzlich in ihrer Hand, die bereits wieder seine Kiefer blockierte. Rasch brachte sie ihn mit einem Schlag auf die rechte Schläfe vorerst endgültig zum Schweigen. Wie auch bei ihrem letzten Feind ließ sie ihn leise und vorsichtig zu Boden gleiten.

    „Wie töricht.“

    Kurz überlegte sie, ob sie den Ohnmächtigen verstecken sollte. Allerdings fand sich hier auf die Schnelle kein geeigneter Ort und ihr Auftrag drängte sie vorwärts. So zerrte sie den regungslosen Körper kurzerhand in die nächste dunkle Ecke, vergewisserte sich einmal mehr ihres Umfeldes und setzte sodann ihren Weg fort, als sie überzeugt war, weiterhin unentdeckt zu sein.

    Direkt an der Klippe wand sich ein schmaler Pfad die Felsen hinab. In spitzem Zickzack verlaufend gelangte man so zu dem natürlichen Weg aus nassem Fels, der aus dem Wasser ragte und in den lediglich eine ebene Fläche geschlagen worden war. Diese Brücke, erschaffen von der Natur selbst und lediglich von Menschenhand geformt, mochte ihr gar nicht gefallen. Ein Assassine hielt sich vorzugsweise in den Schatten auf, hinter Bäumen, unter Dächern. Dort, wo sie sich vor den Blicken ihrer Opfer verbergen konnte. Doch dies war ihr zu offen, zu ungeschützt und doch ihr einziger Weg ans Ziel.

    Doch sie musste das Glück auf ihrer Seite haben. Trotz des langen, vor Blicken ungeschützten Pfades erreichte sie den Fels ohne hindernde Zwischenfälle und ohne gesehen zu werden. Obwohl die Nacht nahezu windstill war und keine Wellen gegen die Klippen oder den Landweg schlugen, kam sie leicht durchnässt am Eingang an. Nicht nur der Schweiß körperlicher und geistiger Anspannung rann mittlerweile aus jeder Pore, sondern auch die Meeresgischt trug ihren Teil dazu bei. Wie gut, dass sie vorausschauend das kleine Bisschen an nackter Haut ihres Körpers mit Dreck und Erde eingerieben hatte, damit es nicht verräterisch im Mondschein glänzte.

    Der Assassine starrte in den Schlund. Einige Meter weit führte ein schmaler Höhlenpfad schnurgerade voraus, erhellt von je einer Fackel an den Wänden. Dahinter konnte sie erkennen, dass sich der Weg öffnete, in eine große, weitläufige Höhle führte. Von hier an, war das Schleichen vorbei. Nun wollte sie offen auftreten und ihrem Opfer von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Sie zückte den zweiten Dolch aus der Scheide an ihrem Oberschenkel, nahm eine aufrechte Haltung ein und atmete tief durch. Nervös, das war sie nicht. Es war eine positive Anspannung. Sie fieberte der Begegnung mit Freude entgegen. Ihr Zeigefinger griff unter das Leinentuch um ihre untere Gesichtshälfte und zog es ein letztes Mal straff. Es war soweit.


    „Wer wagt es, in diese Höhlen zu treten?“

    Der Assassine wollte am liebsten schreien vor Wut, hielt jedoch sämtlichen Zorn im Zaum. Sie war nicht da. Mirjana war nicht da! Sie besaß tatsächlich die Dreistigkeit, sie und damit ihren Tod nicht zu empfangen. Vor ihr stand ein Koloss von einem Mann. Sicher zwei Meter groß, unglaublich muskulös und mit einer sehr tiefen Stimme. Er mochte dreißig Sommer gesehen haben, war am Kopf kahl und besaß einen dunklen Hautton. Eine Kriegsbemalung legte sich schwarz unter seine Augen und über seine Glatze. Er war in einen Kettenharnisch gekleidet, welcher mit Nieten an Schulter, Hüfte und Armen befestigt war und verhinderte, dass das Metall flatterte. Des weiteren trug er schwarze Hosen aus festem Leder sowie Beinplatten aus Stahl und führte eine gewaltige, zweischneidige Axt. Seine Waffe war länger als der gesamte Körper des Mädchens.

    Hinter ihm stand ein Thron aus weißem Stein, einfach gefertigt. Ein goldenes Kissen lag darauf und die Lehne wurde von einer kunstvollen Schnitzerei des Kopfes eines Rubinflügels gekrönt. Daneben fand sich ein edler, vergoldeter Tisch, auf dem sich eine Schale mit frischen Obst, ein juwelenbesetzter Kelch mit klarem Wasser und ein zweiter mit Wein fanden. Und hinter diesem Thron befand sich ein schmales Podest, ebenfalls aus weißem Stein geschlagen. Es war geformt wie ein sehr schmales Stundenglas und schien am oberen Ende in eine Drachenklaue überzugehen. Und jene Klaue hielt ein grünlich schimmerndes Juwel. Das musste es wohl sein. Das legendäre Herzstück von Rayquaza. Obgleich ihr Auftrag dieses Juwel in keinster Weise einschloss, war es ein tiefer Wunsch von ihr gewesen, es zu sehen.

    „Hat man dir die Zunge gestohlen? Ich fragte nach deinem Namen.“

    Zunächst erklang nur ihr spöttisches, amüsiertes Schnauben. Ihr hatte man die Zunge nicht genommen. Dennoch antwortete sie. Schließlich musste sie herausfinden, wo Mirjana war.

    „Wer ich bin, musst du nicht wissen, da du bald tot sein wirst. Aber bevor ich den Boden mit deinem Blut färben kann, wirst du mir sagen, wo sich eure Anführerin versteckt. Sie muss zuallererst sterben.“

    „In welchem Ton sprichst du mit mir, arrogantes Gör?“

    Der Wachposten wurde sofort rasend vor Wut.

    „Hast du ignorantes Kind überhaupt eine Ahnung, wo du dich befindest und mit wem du redest? Du bist im Heiligtum der Drachengarde. Vor dir steht ihr General und Mirjanas persönliche Leibwache, Gallgrim. Ich will sofort wissen, wer du bist und wie du hier...“

    „Das war keine Frage“, unterbrach sie ruhig und souverän.

    „Ich sagte, du wirst mir verraten, wo sich eure Anführerin versteckt.“

    Diesmal betonte sie ihr Anliegen etwas nachdrücklicher, um klarzustellen, dass dies keine Diskussion war und der Mann ohne Umschweife zu antworten hatte.

    „Ich weiß sehr wohl, wo ich bin. Über dich will ich nicht das Geringste wissen und von mir wirst du ebenso wenig erfahren. Du wirst mir antworten und dann schweigend in das nächste Loch kriechen oder meine Klingen spüren.“

    Gallgrims Miene wurde von Zornesröte erfüllt. Dieses Mädchen, sie besaß eine derartige Dreistigkeit. Sie wagte es nicht nur, unerlaubt hier einzudringen, sondern stellte auch noch absurde Forderungen und sah dabei so herablassend auf seine Person hinab, dass er seine Axt kaum zügeln konnte.

    „Es widerstrebt meinen Prinzipien, meine Waffe gegen ein kleines Mädchen zu erheben. Doch wenn du mir nicht augenblicklich mit Respekt und Demut begegnest, werde ich dich als Feindin der Drachengarde ansehen und dich ohne zu zaudern niederstrecken.“

    Dieser Narr. Hatte noch immer nicht die Situation begriffen. Doch zweifellos stand er seiner Pflicht weitaus gewissenhafter gegenüber, als die drei Männer, denen sie bislang begegnet war. Er besaß ein gewaltiges Ehrgefühl, wie sie an der Art und Weise seines Ausdrucks erkannte. Er sprach von diesem Ort und seiner Garde und natürlich auch Mirjana in ehrfurchtsvollen Tönen und war gewillt, für beides sein Leben zu geben. Sie fand Gefallen an solch aufopferungsvoller Treue. Es steigerte ihre Hoffnungen, die sie in diese Nacht und diesen Kampf hatte. Auf der anderen Seite war es selbstverständlich töricht, sich ihr in den Weg zu stellen und glich einem Akt des Selbstmordes. Außerdem war die Opferung des eigenen Lebens, das schlicht und ergreifend keinen Wert besaß, nichts anderes als eine Beleidigung, entstanden aus dem verzweifelten Versuch, selbigem einen Sinn zu geben.

    „Ich sehe schon, du wirst mir nicht antworten. Dann muss ich dich wohl bestrafen.“

    Der Assassine umklammerte ihre Dolche. Die Unverschämtheit, ihr nicht gehorcht zu haben, würde sie mit Blut vergelten. Doch mit wie viel? Schließlich sollte Mirjana ihr erstes Opfer werden.

    „Wenn du glaubst, du könntest es mit mir aufnehmen...“

    Beide Hände griffen nach der – so mochte man meinen – tonnenschweren Axt und hoben sie über den Kopf ihres Besitzers.

    „...dann werde ich dich im Namen meiner Herrin vernichten!“

    Wie ein Donnerschlag sauste der schwere Stahl auf sie nieder. Ein Treffer würde ihre Knochen wohl in tausend Splitter zerschmettern. Doch mit einem raschen Schritt zur Seite war sie ihm ausgewichen und die Axt schlug in den erzitternden Boden ein, wo sie einen tiefen Spalt hinterließ.

    „Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast, Mädchen. Ich besitze die Kraft eines Stiers.“

    „Sowie seinen Geruch“, entgegnete sie trocken. Ohne seine Waffe wieder zu heben, ließ Gallgrim die Rückhand seiner geballten Faust auf das Mädchen niedergehen. Spielend entkam sie erneut, war dabei sogar so hochmütig, über die Axt hinweg zu treten. Mit der gleichen Hand schlug der General und Leibwächter ein weiteres Mal nach ihr, zielte diesmal auf ihr Kinn. Indem sie ein Hohlkreuz bildete und sich weit nach hinten fallen ließ, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, verfehlte er sie schon wieder. In einer fließenden Bewegung und von einem entschlossenen Kampfgebrüll begleitet wuchtete er dann mit der übrigen Hand seine Axt wieder in die Luft. Unter dem ersten Schlag duckte sie sich hinweg. Er wirbelte die monströse Waffe, als sei es eine Feder. In der Tat war Gallgrim der wohl kräftigste Mann, dem sie je begegnet war. Das mochte etwas heißen. Schließlich war Agnar ihr Vater gewesen.

    Ein diagonaler Schlag von rechts kam auf sie nieder. Wieder duckte sie sich. Weitere Schläge folgten, wobei sich der kräftige Mann einige Male um die eigene Achse drehte und den Schwung für den nächsten Angriff nutzte. Nach mehreren Fehlversuchen zielte er direkt auf ihren Hals. Jedoch ließ sie sich ein weiteres Mal zurückfallen, sodass das Blatt nicht einmal eine Handbreite von ihr entfernt das Ziel verfehlte. Doch sie hatte die absolute Kontrolle, tat gar nicht mehr als nötig war. Irgendwann würde er müde und dieser Tanz langweilig werden. Nicht dass sie keine Möglichkeit sah, selbst anzugreifen. Dieses Spiel bereitete ihr jedoch in geringem Maße Vergnügen und sie musste noch erfahren, wann Mirjana zurückkehren würde. Den tödlichen Stahl nur Zentimeter an ihrem eigenen Kopf vorbeirauschen zu sehen und zu hören. Wie lange hatte sie gewartet, um dieses unbeschreibliche Gefühl zu erfahren?

    Doch dann kam er plötzlich. Der Griff der gewaltigen Axt sauste auf sie zu und schlug ihr auf das Kinn. Der Schlag war hart, von roher Gewalt gefüttert. Sofort schmeckte sie Blut und wich einen Schritt zurück. Des Schmerzes zum Trotz blieben ihre Bewegungen erhaben. Doch ihr Handrücken wanderte zum verhüllten Mund. Das unbeugsame Metall hätte beinahe ihren Unterkiefer zerschmettert. Sachte färbte sich ein Fleck auf ihren Leinen rot.

    „Wie gefällt dir das, kleine Prinzessin? Wenn ich mit dir fertig bin, wird dies das Harmloseste sein, an das du dich erinnerst. Und sobald meine Herrin im Morgengrauen wiederkehrt, wird sie über dich richten.“

    Unberührt von Gallgrims Worten leckte der Assassine das Blut von den eingehüllten Lippen. Es schmeckte.

    Wie ein wildes Tier, das eine Beute gewittert hatte, riss sie die Augen auf und fixierte ihren Gegner aus blutdurstiger Iris. Ein diabolischer Ausdruck wohnte in ihnen, doch ihre Mundwinkel zuckten kaum und dennoch ein kleines Stück nach oben. Es war kein boshaftes Grinsen, doch das lag allein daran, dass ihre Gesichtszüge zumeist immer gleich waren und Gallgrim hatte so oder so nur ein vermummtes Mädchen vor Augen.

    „Mehr wollte ich gar nicht von dir erfahren.“

    Nun hob sie zum allerersten Mal ihre eigenen Waffen. Gallgrim wertete diese belanglose Bewegung offenbar als Bedrohung und schlug sofort ein weiteres Mal zu. Mit einer geschickten Drehung wich das Mädchen dem Angriff aus, das Blatt der Axt schlug hinter ihr in den Boden ein, sodass dieser bebte und fixierte mit ihren Klingen den Feind. Der rechte Arm war ausgestreckt. Der linke war so angewinkelt, dass der Dolch darin parallel zu ihrem Blick lag.

    „Doch nun ist es zu spät. Bis in den Morgen werde ich nicht mit dir spielen. Außerdem hast du mir nun einen Grund gegeben, meine geliebten Dolche einzusetzen.“

    Diese Worte verwirrten den General. Mürrisch verzog er das Gesicht zu einer fragenden Miene, während er seine Axt wieder fest ergriff und sich für einen weiteren Schlag bereit hielt.

    „Du bist ein guter Kämpfer. Du konntest sogar einen Treffer bei mir landen. Ursprünglich sollte Mirjana mein erstes Opfer werden, doch angesichts der Umstände, wirst du diese Ehre erhalten.“

    Sie leckte sich genüsslich über die Oberlippe und senkte den Kopf noch ein wenig tiefer, sodass ihre Augen kaum noch sichtbar waren.

    „Ja, ich denke, du wirst genügen. Los, tränke meine Klingen mit deinem Blut.“


    ***


    „Bringt ihn nach drinnen und versorgt ihn anständig. Lasst es mich wissen, wenn die Torwachen wieder bei Bewusstsein sind.“

    Gehorsam verneigten sich die Männer in ihren Rüstungen knapp und leisteten den Befehlen ihrer Herrin folge. Die allgemeine Unruhe sowie die Verwirrung schienen Mirjana nicht im Geringsten einzuschließen. Mit kühler Gelassenheit, aber dennoch sorglicher Wärme war sie bei ihrer Ankunft dem Tumult begegnet. Drei Wachen außer Gefecht gesetzt, einer davon verwundet und keine Spur von dem Angreifer. Die erfrischende Morgenbrise ließ ihren schwarzen Umhang leicht flattern und ließ einen Blick auf ihre Rüstung erhaschen. Tatsächlich war sie nur im Bereich der Rippen in dünnes, leichtes Metall gehüllt. Ein langärmliges, offenes Gewand in Nachtschwarz bedeckte es zumeist, wenn die Winde ruhten. Gleich waren ihre Beinkleider, doch trug sie einen festen Stahlgürtel um ihre schmalen Hüften. Auch Handgelenke und Füße waren eisenbeschlagen, sodass bei jedem Schritt ein leichtes Scheppern ertönte.

    Jenes bewegte sich nun zum Hauptmann der Wachmannschaft – einem stolzen und kräftigen Mann, wenn auch nicht sonderlich groß. Tatsächlich überragte Mirjana ihn um wenige Zentimeter.

    „Haben die Männer eine Spur gefunden?“

    Leicht eingeschüchtert, obwohl die Drachenpriesterin ruhig und ohne besonders bissigen Unterton gesprochen hatte, rückte der Mann seinen Helm zurecht und straffte seine Haltung.

    „Nein, Herrin. Wir haben keine Fußabdrücke oder sonstige Hinterlassenschaften einer fremden Person finden können. Alle Habseligkeiten der Garde sind unangetastet. Der Eindringling war also hinter etwas Anderem her.“

    Da das Tor keine Schäden aufwies, war es undenkbar, dass eine größere Zahl an Menschen in die Festung eingedrungen war. Niemals hätten diese ungesehen und ungehört bleiben können. Es musste sich um zwei bis höchstens vier oder gar um eine einzelne Person handeln. Doch wie diese ohne Hilfe einen Weg über die Mauern und vorbei an den Wachen gefunden haben sollen, blieb unklar.

    Mirjana wandte den Blick leicht misstrauisch in Richtung ihres Heiligtums. Ihr goldenes Haar schwang weit fort von ihrem Körper und wurde vom Wind aufgefangen. Die aufgehende Sonne bestrahlte ihren Rücken und schenkte wohlige Wärme.

    Alle Habseligkeiten?“

    „Gallgrim ist im Heiligtum. Außerdem haben wir ein halbes Dutzend unserer besten Männer zu ihm geschickt. Das Herz ist also sicher.“

    Ihr Blick wirkte nicht überzeugt. Nachdenklich verengte sie die Augen und runzelte misstrauisch die Stirn. Der Hauptmann beobachtete sie einige Sekunden. Er war absolut ratlos, hoffte einzig auf den Befehl seiner Herrin und auf seine Kraft, diesen ausführen zu können. Ohne den Blick von dem imposanten Felsen im Meer abzuwenden, sprach Mirjana leise vor sich hin.

    „Wann wird meine Tochter ankommen?“

    „Noch vor dem Mittag. Drei Männer begleiten sie – beritten.“

    Wieder hüllte sich Mirjana einige Sekunden in Stille, sprach schließlich aber unbeirrt und mit unverändertem Ton weiter.

    „Sendet eine Gruppe die ihr entgegenkommt und sicher eskortiert. Ich erwarte sie im Heiligtum. Die Männer sollen nicht von ihrer Seite weichen, bis ich einen anderen Befehl gebe.“

    „Fürchtet ihr um eure Tochter? Meint ihr, man ist hinter ihr her?“

    Der Hauptmann musste seine Stimme zunehmend erheben, da sich die Anführerin der Garde bereits gemächlich in Bewegung gesetzt hatte. In langsamen und gleichmäßigem Schritt machte sie sich auf zum Heiligtum. Kaum hörbar raunte sie mit plötzlich fürchterlich dunkler Stimme.

    „Nein.“


    Schon am Eingang der Höhlen sah sie den ersten Körper regungslos vor sich. Das Gesicht lag im Staub, das Schwert direkt neben ihm, die Gliedmaßen leicht verkrümmt. Alles andere als frohen Mutes hockte sich Mirjana vor ihn und hob den Kopf. Seine Augen waren weiß. Jedoch hörte sie seinen Atem, was ihm allerdings in keinster Weise zustand. Er war an seiner Aufgabe gescheitert, hatte seine Pflicht, seinen Schwur nicht erfüllt und lebte dennoch weiter. Ein wahrer Krieger hatte zu fallen, wenn er eine Niederlage erlitt. Doch mit dieser Schande würde er leben müssen. Achtlos ließ sie ihn wieder zu Boden fallen und schritt weiter.

    Die übrigen fünf entsandten Wachmänner lagen verteilt in der ganzen Höhle. Einer direkt neben dem Eingang. Drei weitere unweit von ihm auf dem Boden. Und direkt zu ihren Füßen, im Zentrum der Höhle, lag Gallgrim. Der Stolz ihrer Wache, der beste Kämpfer, dem sie in den so zahlreichen Jahren begegnet war – besiegt und beschämt. Welch eine Schmach für die Drachengarde.

    „Ver-gebt mir, H-Herrin.“

    Seine ohnehin raue Stimme war bedenklich tief, und unglaublich schwach. Ihr folgte ein unkontrollierter Hustenanfall der ihm augenscheinlich Höllenqualen bereitete. Sie hörte das Knirschen seiner Zähne und erkannte die Krampfadern an seinem Hals. Eine Hand drückte er auf seine linke Brust, mit der anderen krallte er sich wie von Sinnen in die Erde.

    „Sie, sie war zu schnell, ich k-konnte ihr nicht folgen. Plö-tzlich war sie hinter mir und ich spürte diesen... diesen Stich. Ich weiß nicht, wie sie das gemacht ha-hat.“

    Verzweifelt versuchte Gallgrim, den Oberkörper aufzurichten und nach Mirjanas Hand zu greifen. Die jedoch, rührte sich gar nicht, wirkte nicht im Geringsten erschüttert oder gar interessiert. Ihre Miene war ausdruckslos, mitleidslos. Auch die Blutlache unter ihrem Leibwächter, die durch das Loch in seinem Rücken noch stetig wuchs, bewegte sie nicht zur Hilfe. Stattdessen blickte sie auf, zu ihrem Thron. Die Gestalt, die auf ihm saß, war ihr fremd. Ebenso wenig hatte sie einen derartigen Feind erwartet. Ein Mädchen, jünger als ihre eigene Tochter, saß dort. Die Kleidung eintönig, Harnisch, Stiefel und Beinkleider, die nicht einmal ihre Schenkel gänzlich bedeckten, aus dunklem Leder. Bandagen an den Unterarmen und ihrer unteren Gesichtshälfte. Blaues Haar, ein wenig blass, sehr dunkel, bis zu den Hüften reichend. Und zu guter Letzt tödlich funkelnde, rubinfarbene Augen. Sie wollte nicht lange über ihr Erscheinungsbild nachdenken. Schließlich könnte sie dies als Zögern und somit als Schwäche wahrnehmen. Doch diese Iris war selbst für sie beängstigend. Seit ihrer Begegnung mit Rayquaza hatte sie kein Augenpaar mehr erblickt, das sie so nahe an die Furcht trieben. So einen Blick konnte es doch eigentlich gar nicht geben. Er war unmenschlich.

    Ihre Gedanken abschüttelnd, ging sie um Gallgrim herum. Das Ersterben seiner Stimme sowie den kraftlosen Fall zurück in die Blutlache ignorierte sie. Für ihn konnte sie nichts mehr tun. Er war tot.

    Die Fremde saß mit überschlagenen Beinen. Ihr rechter Arm war aufgestützt und das Gesicht vorsichtig auf den Fingerknöcheln gebettet. Sie fixierte Mirjana stumm, beobachtete jeden Schritt.

    Ihr eigenes Herz schlug in gleichmäßigem Rhythmus, aber unglaublich fest in ihrer Brust. Das war sie also. Die Frau, für welche sie all die Jahre trainiert hatte. Die Frau, welche sie um jeden Preis töten sollte. Der Grund, warum sie kämpfte, sich hatte ausbilden lassen. Der Grund, warum sie lebte.

    „Warum kommst du hierher und tötest meine Männer?“, verlangte Mirjana zu wissen. Ihre Stimme war fest, stramm, von sich selbst überzeugt. Die Augen des Mädchens hatten sie nicht überwältigt. Die Fremde hob den linken Arm und deutete an ihr vorbei auf den toten Körper Gallgrims.

    „Ursprünglich war es nicht meine Absicht. Doch er war würdig“, hauchte sie gespenstisch. In der Tat. Er war würdig gewesen, ihr erstes Opfer sein zu dürfen. Unter erfahrenen, stolzen Kriegern, war der Sieg über einen ebenbürtigen Feind Teil der Kriegerehre und gehörte zu den erstrebenswertesten Dingen überhaupt. Da auch Mirjana zu dieser Art von Menschen zählte, begriff sie schnell, setzte aber dennoch zu einer Erwiderung an, als ihr Blick ein weiteres Mal über die regungslosen Körper der Wachmannschaft geschweift war. Doch ihr wurde das Wort abgeschnitten.

    „Um sie musst du dich nicht sorgen. Ich habe sie am Leben gelassen.“

    Mirjana schnaubte abfällig. Was dachte sich dieses Mädchen?

    „Wie gnädig. War es auch dieser Güte zu verdanken, dass du einem meiner Männer die Zunge herausgeschnitten hast?“

    „Ich stellte ihm eine Frage und er zog es vor, zu schweigen. So entschied ich, er solle es für immer tun.“

    Die Antwort klang weniger abwehrend oder beschwichtigend, als nach einer simplen, unumstößlichen Wahrheit. Sie versuchte sich in keinster Weise zu rechtfertigen, zu höhnen oder gar zu provozieren. Was sie sprach, sprach sie mit Überzeugung. Doch ihre Skrupellosigkeit widerte Mirjana an.

    „Hast du keinen Respekt vor dem Leben? Wir alle geben das unsere, damit Menschen wie du ohne Furcht ihren Weg in dieser Welt gehen können. Du weißt, was wir hier tun und was wir opfern. Jeder weiß das. Und dennoch willst du den Drachensplitter, ist es nicht so?“

    Einige Sekunden lang erhielt sie keine Antwort. Verträumt spielte das unheimliche Mädchen mit einer Haarsträhne und beobachtete Mirjana einfach nur. Sie schien sie zunächst gänzlich zu ignorieren, doch in Wahrheit tat sie nur das, was sie Agnar vor vielen, vielen Jahren versprochen hatte. Sie machte sich ihr eigenes Bild von diesem Menschen.

    „Respekt vor dem Leben?“, fragte sie schließlich. Ihr Unterton war geringschätzig und sie schien sich vergewissern zu wollen, ob diese Worte wahrhaft ernst gemeint waren. Sie erhob sich langsam und ging drei Schritte auf die berüchtigte Frau und Schwertmeisterin zu.

    „Wie soll man etwas respektieren, das man so leicht nehmen kann? Wie soll ich euer Opfer anerkennen, wenn deine Garde so fett, faul und müde ihre Pflicht zu erfüllen versucht? Hast du auf den Bauernhöfen oder in den Silbermienen einige Netze ausgeworfen und deinen Fang für den Schutz des Drachensplitters angeheuert?“

    Mirjana biss sich auf die Unterlippe. Dass man so abfällig von ihrer geliebten Gemeinschaft sprach, in die sie so viel Hingabe steckte, machte sie wahnsinnig.

    „Ich habe nicht das geringste Interesse an Rayquazas Herz. Auch deine lächerlichen Gefolgsleute sind für mich nutzlos. Der einzige Grund für mein Kommen bist du.“

    „Welch eine Ehre. Eigentlich sollte es mich nicht wundern, dass ein Attentäter geschickt wird.“

    Langsam legte sich Mirjanas Hand um den vergoldeten Griff ihres Schwertes. Er blickte die ganze Zeit schon unter ihrem Umhang hervor, hatte um Befreiung aus der Scheide gebettelt. Nun war es soweit.

    „Seit so vielen Jahren werden wir als Verräter geächtet. Als Menschen, denen das Leben der Drachen – von angeblich blutrünstigen, gewissenlosen Bestien – mehr bedeutet, als das ihrer eigenen Rasse. Niemand hat je verstanden, was wir sind.“

    Die Augen des dunkelhaarigen Mädchens verfinsterten sich und wurden zu schmalen Schlitzen. Sie verschränkte überlegen und straff die Arme vor der Brust.

    „Und ob ich es verstehe“, raunte sie. Mirjana blickte verwundert auf und hielt in ihrer Bewegung inne.

    „Ihr haltet euch für eine heilige Garde, obwohl ihr nichts weiter seid, als Feiglinge. Ihr habt Angst vor Rayquaza und Angst davor, den Menschen zu vertrauen. Und so fällt und vollstreckt ihr Urteile, als seist du eine Königin. Tötet jene, die sich deinem Denken nicht anschließen. Ihr habt menschliche Opfer gebracht, wo keine verlangt waren. Du hast ebenso wenig Respekt vor einem Menschenleben, wie ich es habe. So etwas nennt man nicht Königin und schon gar nicht Priesterin.“

    Wieder biss sich die so stolze Frau auf die Lippe. Wie konnte sie so dreist sein, so von der Drachengarde zu sprechen? Was wusste sie schon über sie? Von brennender Wut erfasst riss sie ihre Klinge zischend aus der Schwertscheide. Der vergoldete Griff war mit braunen Lederstreifen umwickelt. Im Knauf saß ein winziger Smaragd und die Klinge war beachtlich lang und dennoch ungewöhnlich schmal. Sie besaß zudem eine sehr tiefe Hohlkehle. Man sah auf den ersten Blick, dass es sich um eine recht leichte Waffe handelte, mit der man schnell zuschlagen konnte. Perfekt für die Arme einer Frau.

    „Wie kannst du es wagen zu glauben, über all dies erhaben zu sein? Du hast nicht die geringste Ahnung, was ich auf mich nahm, um dieses Land vor dem Untergang zu bewahren!“

    „Da irrst du. Ich habe mein ganzes Leben nichts Anderes getan, als mich auf dich vorzubereiten. Seit Wochen bin ich unterwegs und sammle alles Wissenswerte bezüglich dir und der Drachengarde. Ich habe alles über dich erfahren, was man nur wissen kann. Vieles auch gerade eben aus deinem eigenen Mund.“

    Das Kinn des Assassinen neigte sich ein Stück und sowohl Blick als auch Ton wurde noch ein wenig feindseliger.

    „Und nun, da ich dich getroffen habe, empfinde ich dir und deiner Garde gegenüber nichts als Verachtung. Ihr haltet euch für besonders. Ihr glaubt euch über den Wert von Drachen- und Menschenleben hinwegsetzen zu können und maßt euch an, ein euch nicht zustehendes Urteil zu vollstrecken. Lass dir gesagt sein, das eine ist sehr wohl mit dem anderen aufzuwiegen.“

    Nun trat ein falsches Grinsen auf Mirjanas Gesicht. Sie versuchte ihre Unsicherheit zu überdecken, doch ihr rann sichtbar der Schweiß über die Stirn und der Griff, mit dem sie ihr Schwert hielt war unentschlossen und zittrig.

    „Was ist so falsch an der Absicht, eine Wiederholung der Tragödie von damals verhindern zu wollen? Beide Seiten haben damals schrecklich gelitten und die Opfer, die wir bringen, sind nichts im Vergleich dazu.“

    Sie hoffte, dass die Fremde sich von diesen Worten beeindrucken, vielleicht sogar überzeugen ließ. Sie würde das Richtige tun. Denn sich selbst musste Mirjana nicht überzeugen, da war sie sicher. Dies glaubte sie zumindest. Doch nach wie vor änderten sich ihre Gesichtszüge nicht.

    „Es ist völlig legitim, ein paar Leben zu nehmen, um tausende zu schützen!“, schrie sie nun in voller Verzweiflung. Mirjana verlor die Fassung. Wie war es möglich, dass dieses Mädchen das Vertrauen in ihr eigenes Tun so erschütterte? Was für ein Spiel spielte sie?

    „Damit ist dein Tod nun besiegelt.“

    Das Zittern der Drachenpriesterin erstarb. Sie sog scharf Luft ein und blickte verwundert auf.

    „Du bist dir über deine Fehler im Klaren, das sieht selbst ein Narr. Und doch schreitest du auf diesem Pfad weiter voran.“

    Wieder legte sich ein falsches Grinsen auf Mirjanas Gesicht, als ihr Gegenüber langsam mit beiden Händen in ihr Kreuz griff und zwei Dolche hervorholte. Gleichzeitig senkte sie den Blick, um dem ihren zu entgehen.

    „Ich bin ihn bereits viel zu weit gegangen. Ich kann nicht mehr zurück. Die Menschen begegnen mir mit Hass, die Drachen mit Misstrauen – trotz meiner Taten. Ich muss weitermachen, bis ich endlich ihr volles Vertrauen habe. Erst dann und nur dann, können wir alle wieder friedlich leben.“

    „Alle...“, setzte der Assassine an.

    „...bis auf jene, die wegen deiner Schwäche starben.“

    Nun lachte Mirjana leise. Ihre Schultern zuckten im Rhythmus ihrer Stimme. Die Spitze ihres Schwertes, dass in den vergangenen Momenten immer weiter nach unten gewandert war, bis es den Boden berührt hatte, hob sich nun wieder kampfbereit.

    „Ich habe genug von dir, Mädchen. Wenn du mich töten willst, dann versuche es. Doch gewinnen werde ich in jedem Fall. Denn selbst wenn ich sterben sollte, dann bin ich doch wenigstens diesem Teufelskreis entkommen.“

    „Dann werde dir diesen Gefallen tun.“

    Aus ihrer so ruhigen Haltung heraus setzte das unheimliche Mädchen plötzlich zu einem Sprung an. Selbst aus dem Stand überwand sie die Schritte bis hin zu Mirjana und stach mit beiden Dolchen auf sie nieder. Die Augen der Schwertmeisterin verengten sich konzentriert. Ungeachtet dessen, was sie eben gesagt, hatte sie nicht vor, hier und heute zu sterben. Sie würde mit aller Kraft diesen Feind bekämpfen und die beschmutzte Ehre der Drachengarde neu herstellen.

    Sie hielt das Schwert mit einer Hand, brachte sich nicht einmal in eine echte Kampfposition. Absolut geringschätzig und herablassend trat sie ihren Feind entgegen. Sie hob das Schwert zu einem Stich genau zwischen ihren Händen hindurch. Sie zielte auf den Kopf. Gerade noch erkannte der Assassine den geschickten Gegenschlag und legte den Kopf in den Nacken. Ihre Dolche prallten an der breiten Parierstange ab. Wieder auf den Füßen gelandet ließ sie sich bis in die Hocke nieder und machte einen schnellen Satz nach vorne, um ihren Unterbauch anzugreifen. Doch ein gekonnter Ausweichschritt sowie ein blitzartiger Seitwärtshieb verhinderten ihren Erfolg erneut. Ebenso entging Mirjana dem Doppeltritt, den das Mädchen aus einer Drehung sowie einem hohen Sprung heraus vollführte, und ging gleich darauf selbst in die Offensive. Zwei Mal ließ sie ihr Schwert wie eine weite Acht rotieren und versuchte ihres Gegners Schulter zu treffen. Mit geschmeidigen Bewegungen wich sie jedoch jedem einzelnen Streich aus. Als sie dann den richtigen Moment erfasst hatte, vollführte das Mädchen eine Drehung auf dem Fußabsatz und platzierte einen satten Tritt an die Schläfe, wobei sie einen entschlossenen Kampfschrei ausstieß. Ein pochendes Schwindelgefühl erfüllte Mirjanas Bewusstsein, doch schon einen Herzschlag später war sie wieder in einer ausbalancierten Position und griff entschlossen an. Wütende Schläge regneten auf den jungen Assassinen nieder. Schnell, zielsicher und von der Kraft des Zornes gefüttert. Ihre Reflexe wurden auf eine harte Probe gestellt. Kaum konnte ein untrainiertes, menschliches Auge den Klingen folgen, so schnell schlug Mirjana immer wieder zu – so schnell parierte ihre junge Gegnerin wieder und wieder mit ihren Dolchen. Nach mehreren Fehlversuchen, zielte die Drachenpriesterin auf Hüfte und Bein, in der Hoffnung, es würde den Widerstand erschweren. Nachdem auch in den tieferen Regionen ihres angespannten Körpers vier Schläge fruchtlos blieben, wechselten sich die Angriffe in unregelmäßigem Rhythmus ab. Dann strich die Klinge einmal über den Handrücken. Kein besonders schwerer Treffer, doch vielleicht würde sie nun eine Hand entwaffnen können. Nun griff Mirjana ihr Schwert mit beiden Händen und konzentrierte sich auf die angeschlagene Seite. Zu ihrer Enttäuschung schien dem Mädchen die Wunde nichts auszumachen. Sie parierte den Schlag ebenso wie den nächsten und übernächsten. Doch lange konnte sie dies nicht durchhalten. Ungeachtet des flinken Schwertes, das Mirjana führte, musste sie einfach schneller sein. Sie war ein Assassine, sie trug die schnellsten und tückischsten Klingen der Welt bei sich. Allerdings fand sie keine Lücke in ihrer Verteidigung. Sie wurde mit präzisen Schlägen in Schach gehalten, ohne dass sie sich eine Blöße gab.

    Doch dann machte sie einen Fehler. Das Schwert ging direkt über ihr auf den Kopf nieder – ihre Chance! Sie überkreuzte ihre Dolche und blockte den Sturmangriff somit endgültig. Als nächstes vernahm man das kratzende Schaben aneinander reibenden Stahls, als sie voraus preschte, ihre Klingen an der Parierstange vorbeiführte und Mirjana einen tiefen Schlitz beibrachte. Sie sprang an ihr vorbei, um einem möglichen, sofortigen Vergeltungsschlag zu entgehen. Der kurze, aber laute Schmerzensschrei klang süß in ihren Ohren. Dies sollte ihr das Führen ihrer Waffe erschweren.

    Zähneknirschend betrachtete die verwundete Frau ihren blutigen Arm. Der Schnitt zog sich vom Handgelenk beinahe bis zu ihrem Ellenbogen. Sie konnte von Glück reden, dass ihre Pulsadern nicht durchtrennt worden waren. Doch lange benötigte sie nicht, um sich wieder zu fassen. Mit einer schnellen Drehung, sodass ihr Umhang weit flatterte, kam ein diagonaler Schlag von unten heraus, der allerdings auf Stahl traf und wirkungslos blieb. Mit unglaublicher Geschwindigkeit riss Mirjana die Klinge hoch erhoben herum und wagte einen weiteren Angriff. Diesmal wich das Mädchen aus, doch aus einer weiteren Drehung mit einem weiten Schritt nach vorne resultierte ein mächtiger Hieb auf ihre linke Flanke. Ihr blieb nur eine Parade mit beiden Dolchen. Jene konnte sie aber gegen diesen immensen Druck nicht aufrecht erhalten. Die Kraft, welche auf sie wirkte, überwältigte sie und ließ das Schwert in ihre Seite vorstoßen. Der Harnisch riss auf, ebenso wie die zarte Haut darunter. Der Assassine unterdrückte einen Schrei, doch ein schmerzvolles Stöhnen entkam dem einstürzenden Gefängnis ihrer Lippen. Durch den Schock vermochte sie die Muskelkraft in ihren Armen zu konzentrieren und ein weiteres Vordringen der Klinge zu stoppen. Es blieb bei einer nicht tödlichen Wunde, doch die Qualen und das Fließen des Blutes waren nun unumkehrbar. Außerdem hatte sie nun ihren Körper stark entblößt. Mirjana schrie entschlossen auf, wand ihre Waffe äußerst geschickt an der Blockade vorbei, sodass sie immerhin mit dem Knauf des Schwertes auf ihren Wangenknochen schlagen konnte. Der Kopf zuckte vor unerwartetem, plötzlichem Schmerz zurück und die Kraft in den Armen ließ nach. Die weit erfahrenere Kämpferin erspähte die Lücke in der Verteidigung. Ihr Schwert zielte in tiefere Regionen. Das linke Bein war weit voraus gestreckt und ungeschützt. Der Preis für diese Fahrlässigkeit war ein tiefer Schnitt im nackten Oberschenkel. Das Mädchen keuchte gequält, schreckte reflexartig zurück, da sie einen weiteren Angriff erahnte. Jene Befürchtung bewahrheitete sich sofort, doch ihr entgegenzuwirken, das vermochte sie nicht. Wieder stach die tödliche Klinge in Richtung ihres Kopfes. Die Ausweichbewegung kam gerade noch rechtzeitig, um dem Tod zu entgehen, doch ein heißer Schmerz legte sich auf ihre Wange. Um der sofort folgenden Enthauptung zu entgehen, wollte das Mädchen nun ihre eigene Chance wahrnehmen, Mirjana dem Arm abzuschlagen. Doch blitzschnell wie sie war, zog die sich aus der Gefahrenzone zurück, sodass die Dolche zischend ins Leere schlugen.

    Ein kurzer Moment der Ruhe folgte. Über die Phase des Abtastens waren sie hinweg. Die ersten Eindrücke waren längst gefällt. Beide bluteten, beide schwitzten, doch nur Mirjana behielt noch einen ruhigen Atem. Der junge Assassine dagegen keuchte leicht und war in die Hocke gegangen, um dem schmerzenden Bein einen Moment zu geben, sich zu erholen. Doch trotz ihrer Anstrengungen hatte sich der Blick des Eindringlings nicht ein bisschen verändert. Das gesamte Gefecht über hatten ihre Augen dieselbe Sprache gesprochen und ihre Gesichtszüge lediglich die Emotion der Kampferregung und des Willens zu töten gezeigt. Sie genoss ihr Duell, doch mit dem Verlauf war sie bislang nicht zufrieden. Ohne Mirjana aus den Augen zu lassen wischte sie sich mit dem Handrücken über den Schnitt an der Wange, zog für einen Moment die Leinen von ihrem Mund und leckte das Blut davon. Da sie den Kopf weit gesenkt hatte, verwehrte der Schleier ihres Haars Mirjana einen Blick auf ihr unverhülltes Gesicht. Daraufhin schnaubte sie leicht amüsiert und dürstete nach Vergeltung. Das Gesicht wurde wieder vermummt. Der Griff um ihre Dolche verstärkte sich, sodass zwischen den Fingern der verletzten Hand mehr quellendes Blut herab lief.

    „Ich frage mich, wer dich das Kämpfen gelehrt hat“, sprach Mirjana nachdenklich, neugierig und doch keineswegs unaufmerksam. Sie streckte ihr Schwert der Feindin entgegen.

    „Ich kannte viele Menschen, die wussten in deinem Alter noch nicht einmal mit einer Waffe aus Holz umzugehen. Aber du bist eindeutig aus einer guten Schule.“

    Langsam richtete sich das Mädchen mit dem finsteren Gesicht wieder auf. Ihre Füße schoben sich über die Erde und nahmen ihre antrainierte Kampfstellung ein.

    „Ich bin nicht hier, um Geschichten mit dir auszutauschen.“

    Nun war es Mirjana, die schnaubte. Sie begann die kämpferischen Fertigkeiten ihrer so jungen Gegnerin zu respektieren. Dennoch wollte sie sie um jeden Preis tot sehen. Für die Ehre der Garde und für sich selbst. Sie zu besiegen würde ihr das Selbstvertrauen in ihre Taten zurückgeben.

    „Du bist blind und ohne eigenen Willen, Mädchen“, stellte sie fest.

    „Deine Intentionen gründen auf den Lügen, mit denen man dich vergiftet hat. Ein Kind wie dich, unschuldig und leichtgläubig, hat man Hass gelehrt, ohne die Tatsachen zu erkennen. Dies allein ist der einzige Grund für diesen Kampf.“

    Der vernichtende Blick der Attentäterin blieb von den Vorwürfen gänzlich unberührt. Als hörte sie ihr gar nicht zu. Die herrschende Stille war in ihren Augen jedoch keine Bestätigung. Eher war sie die Quelle von neuer, aufkeimender Verunsicherung.

    „Sei nicht wissbegierig, sondern töte, aber töte nicht blind. Töte, wer den Tod verdient.“

    Erneut trat Schweigen ein und man mochte meinen, dass die Worte des Assassinen in einem nicht existenten Raum der sie doch von alles Seiten umgab, als schallendes Echo widerhallten. Dieser Raum war Mirjanas Verstand.

    „Das war meine erste, wichtige Lektion. Sei versichert, wenn du mich von deinem Weg und deiner Drachengarde hättest überzeugen können...“

    Nun trat sie einen langsamen Schritt auf die Drachenpriesterin zu und senkte bedeutsam ihre Stimme, sodass man niemals wagen würde, die Ehrlichkeit dahinter in Frage zu stellen.

    „Ich wäre dir gefolgt.“

    Mirjana sog scharf Luft ein. Doch unmittelbar nach einem kurzen, vergänglichen und doch endlosen Moment, in dem sie glaubte, tatsächlich einen fühlenden Menschen vor sich zu haben, wurde sie schon wieder vom Zweifel zerfressen. Niemals! Unmöglich! Sie log, sie musste lügen.

    „Unsinn!“

    Dieser Schrei echote nun laut und deutlich im Inneren des Berges und ließ den Fels ehrfürchtig erzittern.

    „Du warst nicht dabei, als ich damals mein Leben für unsere Welt dargeboten habe. Wie willst du verstehen können, was wahr ist und was nicht? Wie will jemand wie du die ungetrübte Wahrheit erkennen können?“

    Über den Blick des Mädchens hatte sich ein Schatten gelegt. Selbst dieser Ausbruch von Mirjanas Gefühlen hatte sie zu keiner Reaktion bewegt. Ihre Haltung war so unglaublich fest und wollte sich um der Götter Willen einfach nicht ändern.

    „Ich kann die Wahrheit sehen“, beteuerte sie und hob den Blick. Was nun in ihren Augen lag, vermochte kein Mensch je zu betiteln. Er zerschlug, zerbrach, durchstach und vernichtete alles, jenseits des menschlich greifbaren.

    „Du willst sie in deinen Gedanken einsperren, doch quillt sie aus jedem Spalt. In deinen oberflächlich so tugendhaften Worten schwebt der faule Gestank der Unehrlichkeit. Ich sehe sie vor mir, so wie ich dich sehe.“

    Für einen kurzen Moment legte sich ein Schatten über die Augen des Assassinen. Die Rubine schienen darunter hell zu glühen und eine wehrlose Beute zu fixieren. Dieser Blick sorgte dafür, dass Mirjanas Wahrnehmung für einen Augenblick verschwamm und sie glaubte, eine übernatürliche Bestie vor sich zu haben, die sie mit wachsendem Blutdurst schief angrinste.

    „In deiner Seele.“

    Mirjana fühlte sich wie von Rayquaza selbst zerschmettert. Wie körperlich verletzt wankte sie einen Schritt zurück. Ihre vor Schock geweiteten Augen blieben fest auf dem plötzlich scheinbar wieder so normal wirkenden Mädchen zu haften, obwohl sie heftig den Kopf schüttelte. Nein, das konnte sie nicht. Dieses Mädchen konnte nicht in ihre Seele blicken. Das konnte kein Mensch. Sie log. Sie trieb ein hinterhältiges Spiel mit ihr. Wut. Nichts als Wut beschworen diese Worte herauf. Sie wollte nicht mehr, hatte genug davon. Stirb doch. Stirb doch einfach. Sie sollte sterben!

    „Schluss mit diesem Unfug!“

    In einem Moment der unausgesprochenen Einigkeit beschlossen die Frauen, ihre bloße Kraft zu messen. Mit einem entfesselnden Kampfschrei auf den Lippen stürmten sie aufeinander zu, ließen mit aller Macht ihre Klingen aufeinanderprallen. Das Mädchen überkreuzte die ihren erneut, um Mirjanas Waffe unter Kontrolle zu halten. Das schabende Geräusch des kreischenden Stahls erreichte die beiden kaum. Sie spürten bloß die starke Erschütterung in den Armen und hörten das rauschende Blut in ihren Köpfen.

    Dann wich der Assassine einen plötzlichen Schritt zurück, um Platz zu gewinnen und ging rasch in einige schnelle Drehungen über, sodass ihr Haar weite Schwünge machte. Mit jeder Rotation schlug sie präzise zu, versuchte Mirjana mit einem Klingenwirbel zu überraschen, zu überwältigen. Jedes Mal, wenn sie das schneidende Geräusch der sich spaltenden Haut vernahm, schlug ihr Herz vor Freude und steigender Kampfeslust. Doch gleichzeitig wuchs der Frust in ihr heran. Denn mehr als einige unbedeutende Kratzer konnte sie ihr nicht beibringen. Mit unglaublicher Sicherheit parierte sie mal, mal wich sie aus und in jedem Fall zeigte sie keinerlei Reaktion auf die leichten Wunden. Äußerlich zumindest und der Feind glaubte sich in Ineffizienz, so wie sie es wollte. Doch sie konnte sich dem brennenden Gefühl nicht erwehren, das sich mehr und mehr in ihren Körper ausbreitete. Jeder Schritt kostete Kraft, jede Bewegung schmerzte und forderte Überwindung. Und jede Wunde an ihren Körper öffneten den Weg für den kostbaren Lebenssaft, der sie stetig verließ. Das konnte so nicht weitergehen. Wenn sie zu viel Blut verlor, würde sie bald erschöpfen und zusammenbrechen.

    Dann setzte das allmählich frustrierte Mädchen zu einem beherzten Schlag mit beiden Dolchen an und grollte dabei zornig. Jedoch gelang es Mirjana erneut ihn abzuwehren, wodurch die stürmischen Angriffe verebbten und sich die Klingen ein weiteres Mal von Angesicht zu Angesicht trafen. Kurz blickten sich die Kontrahenten in die Augen. Unendlicher Siegeswillen und blanker Hass bei Mirjana. Kälte und Blutgier in denen des Assassinen.

    Von einem weiteren Schrei begleitet schlug Mirjana dem Feind die Parade weg und versuchte eine Enthauptung. Rasch duckte sich das Mädchen jedoch und setzte zu einem schnellen Stoß nach vorne an. Sie streckte den Arm, um den Dolch tief in ihr Fleisch zu treiben, doch da schlug sich erneut eine lange, schmale Schwertklinge in ihren Weg und entwaffnete ihre linke Hand. Klirrend landete der Dolch auf dem Boden. Eigentlich hatte Mirjana nicht diesen, sondern ihren Arm von ihr trennen wollen. Doch alles war zu schnell gegangen. Sie hatte den Hieb nicht genau platzieren können. Als Folge dessen spürte sie nun einen dumpfen Schlag im Torso, als sie mit einem Schulterstoß zu Boden gerammt wurde. Mit einem solch groben Gewaltangriff hatte sie nicht gerechnet. Völlig überrumpelt glitt nun auch ihr die Waffe aus den Händen. Kaum hatte sie ihren Sturz realisiert, saß die Feindin schon über ihr und holte zum Todesstoß aus. Der verbliebene Dolch blitzte tödlich im Schein der Fackeln, als er auf sie niederging. Für einen Moment lief die Zeit unglaublich langsam, blieb beinahe stehen. Das Adrenalin explodierte in den Körpern der Kämpfenden und geleitete sie in einen rauschenden Zustand der Ekstase. In Mirjanas Fall war dies durch Todesangst bedingt. Doch sie war noch nicht bereit zu sterben.

    Ihr Überlebensinstinkt ließ sie in einem wahnsinnigen Reflex ihre die Arme hochreißen und das Handgelenk des Angreifers umschließen. Für einen kurzen Moment konnte sie sich einfach nicht der klirrenden Kälte erwehren. Ihre Hände... waren wie Eis. Der Schock jedoch half Mirjana, ihre Sinne zu sammeln und tatsächlich stoppte sie den Angriff – allerdings nur für einen Moment, bis das Mädchen mit dem Knöchel ihrer freien Hand gewaltsam auf den Knauf des Dolches schlug. Sie spürte gleich einen stechenden Schmerz in der Brust. Ein hohles, flaues Gefühl der Leere machte sich in Mirjana breit. Der nächste Atemzug schmerzte fürchterlich und der kalte Stahl ließ sie erschaudern. Langsam glitt ihr Blick hinab auf ihre Brust. Der Dolch steckte in ihr. Die komplette Klinge hatte sie in ihren Körper gestoßen, nur knapp oberhalb des eisernen Panzers. Einige Sekunden lang konnte sie einfach nicht wegschauen. Sie musste es sehen, musste es fühlen, um es glauben zu können. Sollte es das nun gewesen sein? Würde sie hier und jetzt sterben? Nach so vielen Jahren der Hingabe sollte dies ihr Ende sein?

    Mirjanas Augen wanderten schließlich zu dem vermummten Gesicht ihrer Gegnerin. Trotz der Bandagen glaubte sie ein widerliches, zufriedenes Grinsen zu erkennen. Sie war sich selbst nicht sicher, ob das tatsächlich stimmte, doch es spielte keine Rolle. Allein der Gedanke gab ihr Willen, dies zu strafen – und Kraft. Nein, sie würde hier nicht sterben! Auf gar keinen Fall!

    Mirjanas Körper setzte in einem unglaublichen Adrenalinstoß ungeahnte Kräfte frei. Fast ließ das viele Blut in ihrem Kopf sie den Verstand verlieren. Vielleicht war es aber auch nur der kalte Griff des Todes, der sie ihrer Sinne beraubte und sodann auch ihr Leben nehmen würde. Doch sie wollte nicht. Sie wollte nicht verlieren. Mit einem erschütternden Schrei kämpfte sie gegen den Tod selbst an.

    Obwohl sich das Mädchen mit aller Macht auf den Knauf ihrer Waffe stemmte, schaffte sie es tatsächlich, ihn herausziehen und den Körper über ihr zur Seite wuchten. Völlig überrascht von diesem Kraftschub ließ sich der junge Assassine überwältigen. Sie hatte die Kontrolle über die Situation verloren. Dabei hatte sie den Sieg beinahe schon ihr Eigentum nennen können. Ihre Klinge hatte in Mirjanas Körper gesteckt, doch der weigerte sich, ihre Seele ins Totenreich übertreten zu lassen und allein und leer zurück zu bleiben.

    Ein kurzer Blick über die Schulter. Die finsteren Augen verengten sich zielstrebig. Das Mädchen rollte sich zur Seite, verweilte aber anschließend in der Hocke. Sie hatte Mirjana den Rücken gekehrt, sah somit nicht ihr handeln. Dann, völlig unverhofft, spielte sich ein Moment vergangener Tage vor ihrem inneren Auge ab. Der Moment, in dem sie Agnar zum ersten Mal im Training hatte verwunden können. Ihre Taktik, ihre Vorgehensweise, der entscheidende Moment in einem aussichtslosen Duell, das sie nicht hatte gewinnen können. Schlagartig wusste sie, es zu beenden. Doch der Kampf zurück auf die Beine war schwindelerregend. Ihr Gleichgewichtssinn litt fürchterlich unter ihrer Erschöpfung. Unbewaffnet und noch immer dem Feind den Rücken entblößend bot sie die einmalige Gelegenheit für Mirjana, ihr den Todesstoß zu versetzen. Hinter ihr blitzte eine lange, schmale Schwertklinge auf – und ging auf den Assassinen nieder. Selbiger hörte das Schneiden des Stahls in der Luft, fühlte die Seele des Schwertes sowie dessen Ziel, einfach jede einzelne Bewegung. Ein letztes Mal atmete sie tief Luft ein und zwang jede Faser ihrer selbst in absolute Konzentration und Gehorsam. Dieser Körper gehörte ihr! Nicht er erteilte die Befehle, sondern ihr Geist. Ihrem Willen hatte er zu dienen. Nicht umgekehrt.

    Um Haaresbreite verfehlte der tödliche Stoß sie, als sich das Mädchen duckte, gleichzeitig in eine Drehung überging und Mirjana einen satten, ansatzlosen Schlag in die Magengegend versetzte. Anschließend warf sie sich nach vorne, direkt am Feind vorbei, besah sich in ihrer Hechtrolle für den Bruchteil einer Sekunde ihrer Gegnerin. Wie erwartet, hatte sie nach dem Fehlschlag den schnellstmöglichen Angriff gewählt – einen tiefen Hieb auf ihre Beine. Dieser rauschte nun jedoch ebenfalls ins Leere. Der Körper rollte sich ab und geriet wenigstens für einen Moment außer Reichweite der tödlichen Waffe. Mit einer flinken Bewegung wanderte eine Hand an den Ansatz ihres rechten Stiefels und entfernte sich ebenso schnell wieder. Nun wollte sie sich aufrichten, Mirjana wieder in ihre widerlichen Augen blicken und diesen Kampf beenden. Sie hatte, was sie brauchte. Es war beinahe besiegelt.

    Da brachte sie ein mörderischer Ansturm von Schmerz zu Fall, zwang sie auf die Knie. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Wie hatte sie das geschafft? Wie konnte sie trotz einem Loch in ihrer Brust sich so schnell bewegen, ihr zuvor verlorenes Schwert schwingen und unaufhörlich immer weiter zuschlagen, bis der eine, fatale geglückt war? Woher nahm sie plötzlich diese Energie? Sie konnte die Antwort auf diese Fragen gar nicht erst suchen. Der Schmerz blockierte ihr rationales Denkvermögen und betäubte ihren Verstand mit einem verfluchten Gift. Sie verrenkte ihren vor Qual schreienden Rücken, bildete ein weites Hohlkreuz, als wollte sie ihren Körper aus dem Bereich der Höllenschmerzen herauswinden. Sie spürte, wie das Blut in Strömen hinab rann. Es durchtränkte ihren aufgeschlitzten Harnisch, es ergoss sich auf den Boden, es verließ gemeinsam mit den Lebensgeistern ihren Körper. Mit einem trägen Seitenblick sah sie, wie Mirjana eine Hand auf ihre Wunde drückte und Blut hustete. Schwere Schritte brachten ihre Stahlstiefel zum Scheppern, als sie mit müder Wahrnehmung an ihre Seite wankte. Der Schnitt, den sie ihr beigebracht hatte, zog sich vom Schulterblatt bis ins Kreuz. Nur um Haaresbreite hatte die die Wirbelsäule und das Rückenmark verfehlt. Es war ein fast tödlicher Schlag gewesen. Es fehlte nur noch der letzte Stoß.

    Doch der Weg dorthin war eine unmenschliche Tortur. Jeder Schritt war schwach, unsicher, wackelig und kostete Unmengen an Kraft. Das Gewicht eines Kriegshammers aus schwerem Eisen schien sie gen Boden zu drücken. Jeder Atemzug kam einer Folter gleich, zerstach ihre Lungen wie der Fleischer seine Ware, was den Tod plötzlich in ein gar nicht mehr so grausames Licht rückte. Eher wirkte er verlockend, erlösend. Doch alldem zum Trotz ging es ihr nun besser, als dem jungen Mädchen zu ihren Füßen. Erschöpftes Keuchen und qualvolles, wenn auch leises Aufstöhnen erfüllte die Luft. Der junge Leib zitterte vor Anstrengung, zuckte durch unkontrolliertes Aufbäumen der Nerven, die von einem Rest Adrenalin genährt wurden und das Herz am Leben hielten. Sie hockte auf den Knien, die Schultern erschöpft hängen lassend und der Kopf stark gesenkt, sodass ihre sonst so todbringenden Augen kaum sichtbar waren. Eben jene hafteten jedoch eisern auf Mirjana. Sie blickten zu ihr auf und wollten um des Todes Willen nicht abweichen.

    Angewidert von diesem Blick trat sie dem Assassinen mit der Sole voraus gegen die Schläfe. Kraftlos geriet sie zu Fall. Der Kampf, so kurz er doch gewesen war, war von seinem Beginn bis zu seinem Ende über von bebenden Kämpferherzen, Schwertkunst und Körperbeherrschung erfüllt gewesen. Nun klang er auf diese Weise aus. Erniedrigend für den Verlierer und mit fadem, schmerzenden Beigeschmack für den Sieger. Doch den würde Mirjana ertragen.

    Sie trat an den regungslosen Körper heran und drehte ihn mit dem Stiefel auf den Rücken. So wie das Mädchen es vorhin getan hatte, setzte sie sich über sie, drückte sie mit ihrem Gewicht zu Boden. Mit all ihrer verbliebenen Kraft ergriff sie das Schwert mit beiden Händen und setzte die Spitze an ihrem Hals an.

    „Ich... habe gesiegt“, keuchte sie, wobei ihr das Blut aus dem Mund lief. Von ihrem verwundeten Arm tropfte es ebenfalls herab, direkt in das Gesicht des Mädchens. Ihr jedoch wollte sich auch jetzt im Angesicht des Todes nicht ändern. Mirjana wollte ihn nicht länger ertragen müssen. Sie wollte dieses Leben auslöschen.

    „Nun, stirb!“

    Sie holte zum Todesstoß aus. Die Augen des Mädchens schlossen sich sanft.

    Schnell wie ein Pfeil fuhr ihre Hand hinunter an ihr Bein, das sie ebenso rasch anwinkelte. Die zarten Finger, gerötet und geschunden, glitten in den Schaft ihres Stiefels. Binnen eines Herzschlags hatte sie ihren Dolch hervorgezogen und schlitze Mirjanas Bauch auf.

    Ihre Bewegung stoppte. Sie stöhnte hohl, riss die Augen weit auf, sodass die Pupillen winzig klein wurden. Doch ihr Blick war leer, starrte ins Nichts. Das Mädchen unter ihr keuchte ebenfalls laut. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie achtete gar nicht auf die tödliche Wunde oder die warme Flüssigkeit, die sich über sie ergoss – ihr Werk. Sie blickte nur in ihr Gesicht, versuchte den Moment ihres Ablebens zu erfassen. Eine gefühlte, folternde Ewigkeit geschah nichts weiter. Ein erneutes, verfluchtes Mal schien die Zeit still zu stehen.

    Dann letztendlich erschlaffte der Körper. Er kippte vornüber. Mit Leichtigkeit konnte der Assassine nun der sinkenden Klinge ausweichen. Sodann stemmte sich der liegende Körper mit einem letzten Kraftakt auf, schrie sowohl gegen Schmerz als auch gegen aufkeimende Erschöpfung ankämpfend und stieß den leblosen Leib Mirjanas von sich. Der monotone Sturz erschallte im Heiligtum der Drachengarde, als sei er das einzige Geräusch auf der Welt. Einige Atemzüge lang sammelte sie sich, um den Schmerz niederzukämpfen und sich des Moments zu besinnen. Es war wie damals gewesen, im Training mit Agnar. Sie hatte ihren Gegner manipuliert. Sie hatte durch scheinbare Entwaffnung Hilflosigkeit und gebrochenen Kampfgeist vorgetäuscht und auf den rechten Zeitpunkt gewartet, nachdem sich Mirjana so unverhofft aufgerafft hatte und ihrerseits den Feind überrascht. Als sie Mirjana zu Boden gebracht hatte, war ihr der Dolch entglitten. Als sie ihrem unerwarteten, letzten Aufstreben entgangen war, hatte sie ihn wiedererlangt. Unbemerkt durch ihre Schnelligkeit vom Boden aufgelesen, während sie ausgewichen war. Sie hatte wie alle anderen Krieger und Assassinen dieser Welt all ihre antrainierten Fähigkeiten ausgespielt. Und sie war siegreich!

    Dieser Gedanke ließ den quälenden Schmerz ihres Körpers abflauen. Dennoch war ihre Kraft nun versiegt und jede Bewegung forderte einen schweren Tribut. Der Assassine rollte sich auf den Bauch und stemmte die Fäuste in den Boden. Die Arme zitterte, der Leib war schlaff und fühlte sich kalt an. Mit träger Mühe schaffte sie es, das Rückgrat durchzustrecken, wobei der Kopf in den Nacken fiel, als sei er nur noch ein lebloses Anhängsel. Sie blickte an die felsige Höhlendecke und ließ den Triumph auf sich wirken. Sie genoss im Stillen, befahl sich, das Verlangen nach einem törichten Siegesgebrüll zu unterdrücken. Das, wofür sie ihr Leben lang trainiert hatte – die Bürde ihrer Existenz und der Lohn für die harte Arbeit an sich selbst. Es war geschafft. Sieg und Ehre. Wie köstlich war der Geschmack.

    Mit neu gewonnener Sicherheit in ihren Bewegungen stand das Mädchen auf und betrachtete die Besiegte mit nachdenklicher Miene. Diese regte sich nicht mehr. Ihre Seele war gewichen. Es war geschafft. Sie hatte ihr Lebensziel erreicht. Sie bändigte die grenzenlose Freude, die sich in ihr breit machte. Das unbezahlbare Gefühl des Stolzes erfüllte ihre Brust und ließ den Schmerz wenigstens ein wenig abflauen. Doch in ihren Augen zeichnete sich die Glanzlosigkeit leerer Trauer ab. Es war vorbei - bald auch für sie.


    ***


    Mit einem Dutzend Männer an der Seite marschierte die junge Frau den Pfad zur Amnestiespitze entlang. Sie trug einen offenen Mantel von Nachtschwarzem Stoff, ähnlich wie der Mirjanas. Doch verhüllte kein Stahl ihrem Körper. Unter dem Gewand verbarg sich lediglich ein einfaches Stoffhemd in Weinrot. Unterhalb der Gürtellinie war sie gänzlich mit dunklem Leder bekleidet. Auch ihr langes, goldenes Haar erinnerte an die Herrin dieser Festung, obwohl das Ihre gewellt war und nicht spiegelglatt. Es war nun wirklich kein Wunder, dass manch ein Unwissender die beiden verwechselte.

    Stramme Schritte führten sie durch die Pforte in den Berg hinein. Entschlossen und für jede Überraschung bereit erschien ihr Blick. Konzentriert auf ihren Weg und doch grübelnd. Der Hauptmann der Wache sagte, Mirjana hätte sehr nachdenklich gewirkt, als sie sich zur Amnestiespitze begeben hatte. Sie war kaum empfänglich gewesen für äußerliche Einwirkungen. Was mochte sie wohl erwarten?

    Ihr Herz setzte aus, obgleich sich ihre Gesichtszüge kaum veränderten. Unter den Männern machten sich schockierte Aufschreie und entsetztes Getuschel breit. Ihr Heiligtum war ein Schlachtfeld!

    Sieben ihrer Kameraden lagen hier einschließlich Gallgrim, ihrem ehrenhaften General. Doch während die Männer der einfachen Wachmannschaft teilweise stöhnten, sich vergeblich aufzuraffen versuchten oder man einfach nur die sich ständig hebende und wieder senkende Brust sah, rührte sich bei Gallgrim nichts. Die Blutlache unter ihm begann bereits zu gerinnen. Er war gefallen.

    Doch sein Anblick war es nicht, der alle Gemüter in die Schwärze stieß. Nur einige Schritte entfernt lag ein schmaler, eher zierlicher Körper im schwarzen Umhang und goldenem Haar auf dem Boden. Brust und Bauch waren aufgeschlitzt. Der Kopf war leicht zu ihnen geneigt, wodurch man die starren, leeren Augen sah.

    „Das ist nicht möglich“, raunte einer verzweifelt wie ein Kind.

    „Herrin...“, fiepte ein anderer Mann tonlos.

    Die Frau an der Spitze begann auf ihren Beinen zu wanken. Ihre Welt erschütterte in diesem Augenblick. Dort lag ihre geliebte Mutter Mirjana – tot. Sie war fort. Für immer weg. Nie wieder würde sie in ihre herrlich klaren Augen mit der Farbe der See blicken können. Nie wieder ihre zärtliche Hand spüren, die sanft ihre Wange strich. Nie wieder stolz Seite an Seite zu ihr stehen. Sie war an ihrer ewigen Aufgabe gescheitert und hatte mit dem Leben bezahlt. Tränen sammelten sich keine in ihren Augen. Irgendwie hatte sie es erahnt. Ewig wäre es niemals so weitergegangen. Irgendwann musste sich jemand gegen die getrübten Ansichten Mirjanas stellen. Doch sie hatte jeden Tag gebetet, dass es nicht geschehen würde. Hatte auf Frieden und Leben gehofft und sich in dem utopischen Glauben gewogen, dass sich alle Konflikte eines Tages auflösen würden. Bittere Enttäuschung. Schmerzvoller Verlust. Nicht mehr war das Resultat.

    „Ihr habt euch Zeit gelassen.“

    Die finstere, doch junge Stimme war nur leicht von Hohn angehaucht, klang ansonsten wie eine nüchterne Feststellung und gewann sofort jedermanns Aufmerksamkeit. Durch den erschütternden Anblick war ihnen die weibliche Gestalt gar nicht aufgefallen, die neben Mirjanas Thron stand. Sofort erspähten sie die klaffende Schnittwunde auf ihrem Rücken, den sie ihnen kehrte. Nur sichtbar, da der offensichtliche Schwertschlag einige ihrer hüftlangen Haare abgetrennt hatte. Auch ihre Hände waren völlig blutig. Mit einer griff sie nun nach einem Kelch auf dem vergoldeten Tisch. Es war der Wasserkelch, wie sich herausstellte, als sie die klare Flüssigkeit über ihr Gesicht und in den Nacken schüttete, um ihren schmutzigen Körper zu erfrischen. Das edle Gefäß ließ sie achtlos fallen. Dann griff sie nach dem Weinkelch und trank ihn in einem Zug leer. Die Leinen vor ihrem Mund waren in diesem Augenblick bis zum Kinn herunter geschoben, doch kaum war das Gefäß geleert, zog sie diese sofort wieder über ihr Gesicht. Auch dieser Kelch landete scheppernd auf dem Boden. Belanglos wischte sie sich mit dem Handrücken über ihre Wange und atmete geräuschvoll aus, während sie sich langsam umwandte. Die rubinfarbenen Augen mit ihrer Todeskälte legten sich auf die blonde Frau an der Spitze der Gruppe. Die Männer um sie herum waren Luft. Sie waren es nicht wehrt, von ihr beachtet zu werden.

    „Trägst du Schuld an diesem Gemetzel?“

    Die Stimme der Frau war monoton, fern von jeglichen Gefühlen. Sie klang leer. Das Mädchen, mit Blut beschmiert, trat provokant langsam vom Tisch weg und ging auf den Körper der toten Anführerin zu. Dies alarmierte die Mitglieder der Garde, die hastig ihre Lanzen ergriffen und ihre Schwerter zischend aus der Scheide befreiten. Davon ließ sich der Assassine jedoch nicht im Geringsten beeindrucken, geschweige denn aufhalten. Sie waren schließlich Luft.

    An Mirjanas Seite angekommen neigte sie leicht den Kopf und sah in ihre leblosen Augen. Es wäre lächerlich, einen bedeutungslosen Satz wie „sie war die Beste, gegen die ich je kämpfte“ oder dergleichen auszusprechen. Schließlich hatte sie vor ihr nur gegen die anderen Schüler ihres Dorfes sowie eben gegen Agnar und Gallgrim gekämpft und sie vermied irgendwelche Vergleiche. Sowohl der Kampf mit Agnar, als auch die heutigen waren auf ihre Weise unvergleichlich gewesen.

    „Du bist ihre Tochter, nicht wahr?“

    Die blonde Frau schluckte. Das Mädchen machte ihr Angst. Dabei war ihr nie jemand oder etwas begegnet, das ihr den Schweiß auf die Stirn getrieben oder einen Schauer über den Rücken gejagt hatte. Im zarten Alter von neunzehn Sommern hatte sie bereits den gefürchtetsten Kreaturen gegenübergestanden, die man auf diesem Kontinent finden konnte und nie annähernd solch Schrecken verspürt. Sie war ihr ganzes Leben lang furchtlos gewesen. Bis zum heutigen Tag. Dieses Mädchen mit ihren Augen, ihrer Ausstrahlung und dieser Stimme. Sie klang auf eine unbehagliche Weise versuchend, verlockend, dann aber auch unsagbar kalt und sie hatte das Gefühl ein Dolch mit ihrem Namen darauf wartete in ihrem Rücken, um ihr Leben zu beenden. Was verbarg sich nur hinter diesem Menschen?

    „Bin ich“, sprach sie nach langer Stille, in der die Fremde sie jedoch nicht erneut gefragt hatte. Geduldig, fast abwesend hatte sie den toten Körper begutachtet. Beinahe als würde sie dessen Schönheit bewundern.

    „Du wirst sie nicht anrühren!“

    Die für einen Mann viel zu hohe, schreiende Stimme ließ dessen Kameraden verschreckt zusammenfahren. Bei dem Assassinen bewirkte sie lediglich einen desinteressierten Seitenblick. Schon im nächsten Moment stürmte er los – die Lanze zielgenau auf den Feind gerichtet und einen erschütternden Kampfschrei auf den Lippen. Niemand machte Anstalten, den Angriff aufzuhalten. Es sollte ihr recht sein. Sie würde ihm seinen Platz zeigen.

    „Wie töricht“, hauchte sie dumpf in die Leinen vor ihrem Mund. Dann wartete sie ab und regte sich nicht von der Stelle. Nur einen Herzschlag bevor sie aufgespießt worden wäre, riss das Mädchen die Augen plötzlich weit auf, sodass sich der Wille zum Töten darin abzeichnete. Mit der linken Hand griff sie nach der Stange und wandte sich mit einer Drehung scheinbar mühelos an ihr vorbei. Ein schneller Schlag auf ihr angehobenes Knie ließ das Holz wie einen Zweig splittern. Es ging viel zu schnell. Nicht einmal konnte der Mann ihren Bewegungen folgen, die sie scheinbar so mühelos vollführte. Lediglich die abgetrennte Spitze seiner Waffe sah er kurz aufblitzen, bevor sie jene mit einer weit ausholenden Bewegung direkt aus der Drehung in seine Schulter rammte. Nur eine Sekunde hatte er Zeit um zu schreien und sich vom Gefühl des Schmerzes überwältigen zu lassen. Danach spürte er bereits einen satten Schlag auf seinem Nasenbein, den das Mädchen ihm durch einen Sprung mit ihrer Kniescheibe beibrachte. Der eigentliche Angreifer fand sich auf dem Boden wieder. Den Helm hatte er beim Sturz verloren, weshalb der Assassine ihn nun am Schopf packte und auf das Gestein schlug. Nahe der Besinnungslosigkeit nahm er seine blutende Nase ebenso noch wahr, wie das Gewicht, mit dem das Mädchen ihn zu Boden drückte und den Dolch, der ihm an die Kehle gesetzt wurde.

    „Vergeudet nicht meine Zeit und euer Leben, wenn es euch lieb ist“, zischte sie warnend. Sie hatte nun genug von den Spielchen mit diesen Narren und war nicht gewillt, sich länger mit ihnen quälen zu müssen. Sie musste den letzten Teil ihres Auftrages erfüllen. Herausfordernd sah sie zu Mirjanas Tochter. Der Dolch zeigte stramm auf sie.

    „Du.“

    Die übrigen Wachmänner an ihrer Seite ergriffen nun wieder fest ihre Waffen und stellten sich schützend vor ihrer Herrin auf. Eine undurchdringbare Wand aus Fleisch und Eisen baute sich vor dem Assassinen auf.

    „Du wirst heute niemanden mehr töten!“, rief einer heraus – nicht so überzeugt und entschlossen, wie er es gerne getan hätte. Missmutig senkte das Mädchen ihre Klinge wieder, baute sich aber warnend vor den Feinden auf. Beide Fäuste geballt und die Beine gespreizt. Der Mann am Boden wagte auch jetzt nicht, sich zu rühren.

    „Geht mir aus dem Weg.“

    Sie deutete auf die Leichen von Mirjana und Gallgrim, ohne den Blick von den Männern zu nehmen.

    „Oder ihr liegt daneben.“, warnte sie finster und furchterregend langsam. Die Männer schluckten. Schweiß rann ebenso ihre Haut hinab wie ein eisiger Angstschauer. Doch da trat die blonde Frau vor sie und bedeutete ihnen mit einer Armbewegung, dass sie zurückbleiben sollten. Als Tochter Mirjanas hatten die Männer ihr ohnehin Folge zu leisten. Mit ihrem Ableben war sie nun in der Hierarchie zur Drachenpriesterin aufgestiegen, was bedeutete, dass ihre Anweisungen nicht infrage zu stellen waren. Einige Schritte ging sie auf das Mädchen zu.

    „Was willst du von mir? Willst du mich auch töten?“

    Zunächst erhielt sie keine Antwort. Ein letztes Mal atmete die junge Attentäterin aus, bevor sie behutsam einen Finger unter die Leinen vor ihrem Gesicht schob. Sehr langsam, als wollte sie übermäßige Vorsicht walten lassen, zog sie diese herunter. Sie offenbarte ihr Gesicht. Sie zeigte sich ihrem Gegenüber in vollem Antlitz. Ihre Züge waren weich, leicht rundlich. Ein schmaler Mund mit dünnen Lippen schien fest in einer tiefen, mürrischen Position festzusitzen und die Wangen zeigten einen leicht blassen Hautton. Sie war jünger, als man wohl vermutet hätte. Die tödliche Ausstrahlung und der finstere Blick hatten ein völlig anderes Bild erwarten lassen.

    „Nein“, antwortete sie missmutig, beinahe schon gezwungen, als wäre es eigentlich ihr Wille, sie doch zu meucheln. Das Echo ihrer nun nicht mehr gedämpften Stimme erklang im Heiligtum und ließ die Männer erstarren. Selbst diese eine Silbe, ruhig und vorsichtig gesprochen, vermittelten ein einschüchterndes Gefühl der Bedrohung. Ob dies wirklich auf Wahrheit gründete, sei dahingestellt. Doch das, was sie nun tun musste, war nicht das, wofür sie ihr Leben lang trainiert hatte. Es war ihre Pflicht, ein Akt nach dem die Ehre verlangte. Ein Weg, den sie um jeden Preis gehen musste. Und niemals, unter gar keinen Umständen, nicht in hundert Zeitaltern würde sie die Ehre der Assassinen und ihres Dorfes beschmutzen.

    Mit einer flinken Bewegung aus dem Handgelenk warf sie der Frau ihren Dolch vor die Füße, sodass er mit der Klinge im Boden stecken blieb. Dann zog sie den zweiten hervor und warf ihn genau daneben.

    „Dich am Leben zu lassen ist der Tribut, den ein jeder von uns Mirjana schuldet. Schließlich verdanken wir ihr unsere Existenz.“

    Ihre lautlosen, geschmeidigen Schritte trugen sie zu der Frau, bis sie ihr direkt in die Augen sah. Das Zittern zu unterdrücken viel dieser schwer, beim Anblick dieser so furchteinflößenden Rubine. Doch die folgende Reaktion hätte sie im Leben nicht für möglich gehalten.

    Der stolze Assassine ließ sich auf beide Knie fallen, senkte das Haupt und breitete beide Arme aus.

    „Beende mein Leben mit deinen Händen.“


    Eine geschlagene Minute herrschte entsetztes Schweigen. Die Amnestiespitze wurde zum Schauplatz des unfassbar Absurden. Ein Mädchen – jung genug um die Enkelin einiger Männer in der Drachengarde zu sein – stellte all die gestandenen Ritter innerhalb der Mauern mit ihren tödlichen Fähigkeiten bloß und ermordete die Anführerin Mirjana sowie ihre Leibwache. Doch zeigte sie nicht nur kein Interesse am Drachensplitter, sondern forderte nun die Tochter eben jener nun toten Frau auf, über sie zu richten?

    „Je länger du zögerst, desto lächerlicher fühle ich mich. Ich bitte dich, schlag endlich zu.“

    Die junge Mädchenstimme klang so monoton und ernüchtert wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie klang nach einem Menschen, der sich mit einem dunklen Schicksal abgefunden hatte.

    „Wieso tust du das?“

    Die neue Herrin der Drachengarde klang erschüttert. Sie war erstarrt. Die Hände halb erhoben, wusste sie nichts mit ihnen anzufangen oder auf diese Aufforderung zu erwidern. Schreckte sie davor zurück, dieses Mädchen aufgrund ihrer Jugend hinzurichten? Obwohl ihr Familienblut an ihren Händen klebte?

    „Ich befolge die Regeln, nach denen ich mein ganzes Leben gelebt habe und die mir dieses Ende von meinem ersten Atemzug an vorherbestimmten. Ich erwarte weder, dass du sie verstehst, noch werde ich dir irgendetwas darüber erzählen. Tu es einfach und schließe den Kreis.“

    Die Regeln. Sie schmeckten bitter auf der Zunge des Assassinen. Wahrlich war ihr Leben nie leicht oder fröhlich gewesen. Mit Blut war sie gestillt und mit Stahl getrieben worden. Darauf trainiert, Schmerz und Tod nicht bloß furchtlos entgegenzutreten, sondern beides freudig zu umarmen. Wie den geliebten Gatten, den sie nie haben würde. Diese Regeln hatten sie stark gemacht, hatten sie zu etwas Mächtigem geformt. Und letztlich war der Tod ein fairer Preis für die Tat, die sie begangen hatte. Sie hatte ein wertvolles Leben genommen. Zurecht hatte sie dies, sicher – und die Ehre dieses ruhmreichen Sieges würde ihr Herz bis zu seinem letzten Schlag erfüllen. Dennoch verlangten Regeln und Recht danach, eben weil es so wertvoll war, ihren Kopf darzubieten. Doch jener Herzschlag schien sich mehr und mehr hinauszuzögern.

    „Nun mach schon“, forderte sie nun bissiger.

    „Tut es, Herrin.“

    Die Männer im Hintergrund lösten sich allmählich aus ihrer Starre und hießen die Geste der Mörderin wohl willkommen. Kein Zweifel, die waren auf Rache aus.

    „Tötet sie. Sie hat unsere Kameraden und unsere Herrin ermordet. Dieses Mädchen verdient den Tod!“

    „Schweigt!“

    Das Echo des erbosten, zornigen Schreis der schwarz gekleideten hallte durch die Amnestiespitze. Die Männer zuckten erschrocken zusammen. Noch nie hatte die sonst so ruhige und besonnene Tochter Mirjanas ihre Stimme derart erhoben. Noch nie hatten sie Wut in ihr aufkeimen sehen. Und nun in diesem so schrecklichen Moment richteten sich eben diese Emotionen gegen ihre eigenen Leute, obwohl vor ihr die Mörderin ihrer Mutter kniete?

    „Aber...“

    „Verschwindet. Geht zurück zur Festung,“ unterbrach sie die Proteste harsch, ohne die Ritter dabei anzusehen. Doch noch zögerten jene. Unklarheit, ob sie dies wirklich ernst meinte, herrschte unter ihnen.

    „Na los!“

    Nach diesem einschüchternden Schrei sahen sie ein, dass Widersprüche sinnlos waren. Sie wurden im Keim erstickt und ganz plötzlich hatte jeder Einzelne von ihnen es sehr eilig, die Höhlen zu verlassen – wenn auch widerwillig. Zwei von ihnen halfen ihrem verletzten Kameraden auf die Beine und stützten ihn auf dem Weg nach draußen, wobei sie einen weiten Bogen um das kniende Mädchen machten. Voll Hass und Abscheu sahen sie auf sie herab, doch die schien es nicht einmal zu bemerken. Diese Männer waren nach wie vor nichts als Luft für sie.

    Die darauffolgende Stille war erdrückend für den Assassinen. Wieso tat diese dumme Frau nicht, wonach sie verlangte und tötete sie einfach?

    „Hast du einen Namen?“, fragte sie das Mädchen nun im Schutz der Einsamkeit. Sie jedoch schüttelte den noch immer gesenkten Kopf.

    „Ein früher Tod ist seit jeher mein Schicksal. Ein solch kurzes Leben verdient keinen Namen. Daher habe ich ihn bereits abgelegt.“

    Nun hockte sich die Frau vor dem Körper, der mit dem Blut ihrer eigenen Mutter besudelt war. Sie wirkte fürsorglich, gutherzig. Mit ihrer Hand hob sie das Kinn des Mädchens und sah ihr in die Augen. Hatten ihr diese zuvor noch Angst bereitet, erregten sie nun Mitleid. Denn die Rubine hatten jeglichen Glanz verloren. Das Gesicht, in das sie blickte, schien bereits tot.

    „Und wenn ich dir nun sage, dass ich dein Leben verlängern will?“

    Die Worte, die eigentlich Hoffnung und Freude in ihr hätten auslösen sollen, schienen sie jedoch überhaupt nicht zu erreichen. Gar blickte sie abgeneigt, verärgert, und noch ein wenig leerer.

    „Absurd! Töte mich einfach. Ich habe dir etwas unsagbar Wertvolles genommen und schulde dir dieses Leben. Lass mich nicht mit solch einer Schuld weiter existieren.“

    Konnte oder wollte sie es nicht begreifen? Mirjana war ihrer aller Rettung gewesen, eine Heilige, die von einem gewissenlosen Assassinen ermordet worden war. Das war eines der höchsten Verbrechen, die man begehen konnte und es stand der Erbin Mirjanas zu, über sie zu richten, um ihrer Mutters Seele Genugtuung zu verschaffen.

    Wie paradox es dennoch war. Der Assassine sprach von einer solch hinreißenden Bindung von Mirjana und ihrer Tochter, als wäre diese für sie nachzuempfinden. Doch war ihre eigene Mutter für sie bereits vergessen. Gar hatte sie ihr bei ihrem letzten Zusammensein schier grundlos gedroht. Und auch jetzt fühlte sie keinerlei Wärme beim Gedanken an diese Person. Sie war einfach nur ein Mensch, der sie zur Welt gebracht hatte – nicht mehr. Dies machte sie in keiner Weise besonders.

    Sie erntete allerdings für ihre Forderung ein entschiedenes Kopfschütteln. Es erfüllte das Mädchen mit Unbehagen, dass diese Frau ihr so tief in die Augen sah, nun da sie den abschreckenden Ausdruck darin verloren hatte und nicht wiederfinden konnte. Sie fühlte sich schutz- und hilflos.

    „Kein Leben hat ein frühes Ende verdient. Jeder verdient die gleiche Chance, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Wenn du mir dein Leben schenken willst, würde dich zu töten nur bedeuten, es wegzuwerfen. Und wenn dir diese Chance nie gegeben wurde, so werde ich diese Tür für dich öffnen.“

    Spöttisch schnaubte das Mädchen nun. Diese närrische Idiotin. Hatte sie auch nur die leiseste Ahnung, was sie da sagte? Und vor allem zu wem sie es sagte? Doch aus irgendeinem Grund wollten keine harschen Worte über ihre Lippen kommen. Dabei wäre es vielleicht nicht unklug, sie zu provozieren, damit sie ihr endlich den Kopf abschlug. Doch etwas in ihrem Inneren hielt sie davon ab, diese Frau zu beleidigen. Etwas verbot es ihr und sie fühle sich nicht imstande, dieses Verbot zu brechen.

    „Warum solltest du das wollen?“, fragte sie schließlich, anstatt sie die Tochter einer verblendeten Hure zu nennen. Dabei regte sich in ihrer Stimme sogar fast ein Hauch von Demut, Respekt, aber auch unaussprechliche Hoffnungslosigkeit.

    „Ihr seid eine Gemeinschaft, die beschützen will. Ich dagegen bin zum Töten gut.“

    „Gleich welches Gesicht unsere Stärke hat, kann damit Gutes vollbracht werden. Und deine Regeln interessieren mich nicht im Geringsten. Ich lebe nach den meinen und diese verbieten mir, dein Leben hier zu beenden.“

    Nun richtete sie sich wieder auf und sah auf das Mädchen hinab. Jenes beobachtete sie nun genauestens, erwartete zeitgleich ungeduldig ihr Schicksal. Doch ihr Blick war nicht geringschätzig oder herablassend. Er versuchte ihr Zuversicht zu schenken, war voller Güte und Offenheit. Und so streckte sie ihr die offene Hand entgegen, forderte auf, sie zu ergreifen und sich zu erheben.

    „Lebe dieses Leben stattdessen an meiner Seite.“

    Heyho Rusalka, schön, wieder von dir zu lesen.


    Zitat

    dass du Kämpfe gut umschreiben kannst, zeigt sich auch wieder in diesem Kapitel. Ist nur etwas unkonventioneller als die bisherigen Pokémon-Kämpfe, aber die Koordination zwischen den Angriffen ist dir sehr gelungen und war anschaulich.

    Genau wie bei den Pokémonkämpfen, habe ich immer versucht, die Kämpfe so zu beschreiben, dass sie leicht vor Augen zu führen sind. Jeder Angriff und jede Bewegung sollen schnell nachzuvollziehen sein. Schön, dass es auch auf diesem WEg geklappt hat.


    Zitat

    Es ist praktisch ein Sinnbild dafür, dass Milas Unschuld...

    Stopp, stopp, stopp, Vollbremsung! Mila? :wtf:

    Ich hoffe das war bloß ein Tippfehler von dir. Das Mädchen hier ist nicht Mila! Ich habe aufgrund einer Szene im nächsten KApitel bewusst keinen Namen genannt, aber durch die Beschreibung war´s eigentlich offensichtlich. :blush:


    Zitat

    So gesehen war es unterhaltsam zu beobachten, wie sich ihre Einstellung im Lauf der Jahre verändert hat, wie sie immer verbissener auf ihre Ziele hinarbeitet und schließlich vor ihrem Vater nicht weiß, was sie machen soll.

    Der Kampf mit Agnar wird im Verlauf der Story noch das ein oder andere Mal Bedeutung zeigen. Es ist ein essenzieller Moment in ihrem Leben, der erst ermöglichen konnte, dass sie zu der Waffe werden konnte, die sie sein muss. Doch selbst ohne den Zwang würde sie dieses Ziel ebenso eifrig verfolgen, weil sie nie etwas anderes im Auge gehabt hat.

    Kapitel 25: Born with no life


    Mitternacht

    Knapp zwei Sommer nach Geburt des Drachensplitters

    In einem abgelegenen Dorf irgendwo im Königreich Hoenn...


    Stürmisch war jene Nacht in den Wäldern. Blitz und Donner zuckten und grollten, als tobe hoch über den Wolken eine Schlacht unter den Göttern. Vielleicht waren es aber auch nur die unbehaglichen Zornesschreie des mächtigen Himmelsdrachen. Wie sich jene anhörten, das wussten sie alle ganz genau. Sie hatten sie bereits gehört. Hatten ihn gesehen, wie er ihr Dorf in Flammen hatte aufgehen lassen und wie er Teile ihrer Familien ausgelöscht hatte. Sie waren von seiner Rache genauso wenig verschont geblieben, wie all die anderen Städte. Doch im Gegensatz zu ihnen, war niemand hier auf selbiges, auf Rache aus oder hatte den göttlichen Drachen verflucht. Hier lebten jene, die sich ihrer Schandtat bewusst waren und ihre Strafe akzeptierten. Hier in der tiefsten Wildnis des Königreichs Hoenn. Das Reich, das bald untergehen würde, sollte der König dem niederen Volk keine Hilfe zukommen lassen.

    Viele hatten während Rayquazas Rachefeldzug alles verloren. Ohne Heim und ohne auch nur einen Laib Brot hungerten sie auf den Straßen oder drängten sich in die ohnehin schon überfüllten Städte – jene, die noch bewohnt wurden. Raue Sitten herrschten in den letzten Monden. Die Herzen der Menschen waren kalt und hart. Man wurde auf den Straßen überfallen oder im Schlaf erdolcht, um seiner Habe wegen, die man mit Not aus seinem brennenden Hause hatte retten können. Es gab nicht genug Essen für die Bürger und keine Arbeit für die Bauern, da sie ihr Vieh verloren hatten – jene Pokémon, die ihnen die Arbeit ermöglichten.

    Doch dieser Ort blieb unerreicht von Armut. Vor diesem Dorf machte das Elend halt. Der Grund war einfach. Sie hatten immer so gelebt. Neunzehn Familien zählte ihr Dorf gegenwärtig. Nie waren es mehr gewesen, nie weniger. Es war unbeschreibliches Glück gewesen, dass nicht eine Familie während der letzten Monate vollständig ausradiert worden war. Jeder war ein Mitglied geblieben, dass den Namen weitertrug. Und heute Nacht würde ein weiteres Leben in diese Gemeinschaft geboren werden.

    Der Regen prasselte unaufhörlich gegen das Dach und die Außenwände jeder einzelnen Hütte. Das beste und stabilste Holz war für ihren Bau verwendet worden, um selbst solchen Unwettern standhalten zu können. Der Waldboden war weitestgehend sehr uneben, weshalb die Gebäude auf Stützpfeilern standen, die eine Armlänge maßen. Eine Tür war nicht vorhanden, nur ein offener Rahmen, durch den man von außen ins Innere blicken konnte. An diesem lehnte ein Mann. Groß und kräftig gebaut, die Haut dunkel und das Gesicht mit finsterer Miene in die verregnete Nacht gerichtet. Eine Hose aus dunklem Leder trug er samt Gürtel aus Pokémonleder. Füße und Oberkörper waren nackt, sodass Regentropfen sich in Strömen über seine breiten Schultern, den kräftigen Rücken und die Bauchmuskeln ergossen. Er stand da und lauschte den Geräuschen, die durch den Türrahmen klangen. Aufgeregtes Getuschel der ältesten Frauen des Dorfes, die das Nahende ungeduldig erwarteten, vermischten sich mit den wehklagenden Schreien einer werdenden Mutter. Sie übertönte den Regen, übertönte den Donner. Und schließlich erklang eine Stimme zum ersten Mal in dieser Welt. Die unverkennbare Stimme eines schreienden Babys drangen an sein Ohr.

    Ohne eine weitere Sekunde im Regen zu verharren, stieß sich der Mann vom Türrahmen ab und trat ein. Kurz schüttelte er das schulterlange, schwarze Haar, in das sich bereits erste Grautöne schlichen, um seinen Nacken davon zu befreien. Lästig war die nasse, klebrige Frisur. Vor ihm kniete im Schein von einem Dutzend Kerzen ein Halbkreis aus alten Frauen mit grauem, dünnen Haar und von Falten wie Furchen geprägten Gesichtern. In ihrer Mitte lag seine wunderschöne Frau auf einigen weichen Fellen. Ihr Haar war ebenso schwarz wie das seine, allerdings ohne graue Ansätze, aufwendig geflochten und noch ein wenig länger. In ihren Armen hielt sie das in eine Wolldecke gewickelte Kind. Sie sah ihn aus ihren blauen Augen an und die dünnen Lippen formten die Antwort auf eine unausgesprochene Frage.

    „Es ist ein Mädchen.“

    Wortlos nahm er seine Tochter entgegen. So behutsam es nur ging, hielten die großen, starken Hände das frische Leben und erlaubten eine genaue Betrachtung seines Antlitzes.

    „Bist du enttäuscht, Agnar?“

    Sowohl seine Geliebte – Hanifa war ihr Name – als auch die Ältesten um sie herum wussten von der Ernüchterung ihres Oberhauptes. Vor einiger Zeit noch hätte es ihn nicht im Geringsten gekümmert, ob er einen Sohn oder eine Tochter bekäme. Doch die Situation hatte sich geändert. Diese Geburt war kein Grund zur Freude. Sie war ihre Hoffnung und zugleich ihre Bürde, bedingt durch das, was das Leben für dieses Kind bereit hielt. Die Karte, die das Schicksal für sie gezogen hatte. So schwieg der Stammesführer. Ein gesunder Junge wäre so viel besser gewesen. Junge Männer gab es genug in ihrem Dorf, und doch waren sie alle schon zu alt, um eine Ausbildung dieser Intensität zu beginnen. Aber weitere Geburten waren in nächster Zeit nicht zu erwarten und Agnar hatte es ohnehin nicht verantworten wollen, ein anderes Kind als das Seine mit dieser Bürde zu belasten. Es musste genau dieses Kind sein.

    Eine der alten Frauen stand auf. Sie war in ein Gewand aus weitem, rotem Stoff gehüllt und trug an Hals und Handgelenken mehrere Ketten aus weißen Steinen. Ihr Haar, obgleich so grau und dünn wie das der anderen, hatte sie zu einem Zopf geflochten. In ihrer rechten Hand hielt sie einen hölzernen Stab mit einer perlenartigen, roten Verdickung am oberen Ende. Sie war die Dorfälteste – von seiner geliebten Hanifa abgesehen, das einzige Weib, dessen Meinung Agnar wirklich respektierte.

    „Versinke nicht in Verzweiflung, so wie es die Welt getan hat. Ich weiß du wolltest einen starken Recken großziehen und ihn die Kunst des Schwertes lehren. Aber dieses Kind ist unsere einzige Hoffnung.“

    Ihre dunklen, schwachen Augen sahen so eindringlich in die harten Züge seines Gesichts, wie kaum ein anderes Paar es vermochte und funkelten dabei mysteriös im Kerzenschein.

    „Wir haben die Götter bereits befragt. Dieses Mädchen ist nicht untauglich. Trainiere sie so gut du kannst und ich bin sicher, aus ihr wird ein hervorragender Assassine. Von deiner Ausbildung wird es abhängen, ob sie ihre Bürde erfüllen oder sterben wird.“

    Langsam richteten sich Agnars stählerne Augen auf die Älteste. Sein Blick war, als wolle er sie erschlagen, doch sie kannte ihn lange und gut genug. Er blickte die Menschen immer so an. Ebenso, wie er immer mit derselben, rauen, bedrohlichen Stimme sprach.

    „Sterben wird sie, wie jeder von uns. Das ist bereits Gewissheit.“

    Sodann richteten sich die Seelenspiegel wieder auf das Neugeborene und er sprach mit einer absoluten Überzeugung in der Stimme, während er zärtlich über ihre Wange strich.

    „Doch eines Tages wird sie Mirjana töten.“



    Kurz vor Sonnenuntergang

    Vierzehn Sommer nach Geburt des Drachensplitters


    Volle Konzentration erfüllte sie. Die finsteren Augen hafteten energisch an ihrem Gegenüber. Ihre Hände waren ruhig, ihr Atem gleichmäßig und kontrolliert. Sie dehnte ihre Finger, ließ die Gelenke knacken, ohne aus ihrer Kampfposition zu weichen. Ihre nackten Füße gruben sich in den Sand, bereiteten sich vor. So wie sich jeder Muskel in ihren Beinen spannte, meinte sie fast, ihre beengende Lederhose würde reißen. Immerhin hatte sie die Erlaubnis erhalten, wenigstens ihren Oberkörper frei bewegen zu dürfen, weshalb dieser nur an den nötigsten Stellen von weißen Bandagen verdeckt wurde. Ihr nachtblaues Haar war zusammengebunden, um ihre Sicht nicht zu behindern.

    Dann stürmte er heran. Wie ein Bulle kam er auf sie zu, ballte die Fäuste und holte zum vernichteten Schlag aus. Sie sah gleich ihre Chance. Er war auf Angriff fokussiert, vernachlässigte seine Deckung. Sie holte zu einem Tritt gegen die Schläfe aus. Die Bewegung war perfekt, dennoch nicht gut genug. Blitzschnell blockte der starke Mann mit dem linken Arm, der Rechte sauste auf ihren Körper zu. Für den winzigen Bruchteil einer Sekunde war sie versteinert, verwundert über die schnelle Reaktion. Hatte er sie kommen sehen? Doch blieb sie mit Leib und Seele in das Kampfgeschehen vertieft. Sie ließ den Oberkörper weit nach hinten fallen, ohne den Stand zu verlieren. Dem fatalen Schlag ausweichend, zog sie das rechte Bein an den Körper und setzte zu einem Tritt auf das Kinn an. Diesmal traf sie, erreichte jedoch nicht mehr als ein wütendes Schnauben von ihrem Gegner. Dieser schlug nun auf sie nieder, verfehlte allerdings erneut, als sich das Mädchen rückwärts abrollte, noch im Aufstehen zu einem Sprung ansetzte und dabei zweifach zuschlug. Erneut blockte er ihren Gegenangriff, ergriff dabei sogar ihr rechtes Handgelenk und schleuderte sie herum. Eine schmerzhafte Landung auf der ausgetrockneten Erde des abgegrenzten Duellrings blieb jedoch aus. Gerade noch rechtzeitig hatte sie sich ausrichten können, um den Sturz mit allen Vieren abzufangen. Dann setzte sie zu einer Drehung an und trat mit dem linken Bein zu. Sie schlug ihm die Parade mit den Unterarmen weg und öffnete den Weg für einen platzierten Körpertreffer mit dem rechten Fuß, noch bevor sie wieder festen Stand hatte. Allerdings wich er nicht einen Schritt zurück. Stattdessen nutzte er ihre fehlende Standhaftigkeit aus. So machte er einen raschen Schritt nach vorn, griff mit seinen monströsen Händen nach ihr, hievte sie hoch, als sei sie sein Spielzeug und schmetterte sie über die Schulter zu Boden. Kaum hatte der donnernde Schmerz eingesetzt, spürte sie schon, wie er seinen Fuß auf ihre Brust stemmte und sein Gewicht darauf verlagerte. Sie keuchte, als ihr die Luft brutal aus den Lungen gedrückt wurde. Sie war bewegungsunfähig. Der Kampf war vorbei. Einige Sekunden der Stille lang blickten sie einander in die Augen. Sie war die einzige unter ihnen, die schnaufte.

    „Wie nahe, Vater?“

    Ihre schweren Atemzüge waren das einzig Folgende auf ihre Frage. Es kam keine Antwort, nur ein prüfender Blick und Schweigen. Zunächst.

    „Wie nahe bin ich meiner Bestimmung?“

    „Wie lange mag es wohl dauern, bis du mir ebenbürtig bist?“

    Sie verstand die verborgene Antwort. Seit Beginn ihres Trainings war es ihr festgelegtes Ziel, Agnar im Kampf zu besiegen. Er würde das Maß sein, an dem sie sich zu messen hatte, bevor sie auch nur daran denken konnte, ihre Bestimmung zu erfüllen. Doch sie wollte es am liebsten sofort. Und das wusste Agnar.

    „Wir richten die Augen nicht auf den Horizont, sondern auf unser nächstes Ziel. Du hast noch einen weiten Weg vor dir und kindischer Übereifer beschämt dich ebenso wie mich selbst. Lerne dich zu zügeln, übe dich in Geduld.“

    Als wolle sie auf diese Weise um Vergebung bitten, schwieg das Mädchen, schloss die Augen und neigte leicht das Haupt. Die Geste war rein symbolisch, da sie noch immer am Boden lag.

    „Doch du bist wahrlich talentiert“, überlegte Agnar im Anschluss, sprach dabei sehr leise. Seine Worte ließen die Schülerin wieder aufstehen.

    „Sehr talentiert sogar. Du bist sehr viel besser, als ich es in deinem Alter war.“

    Eine kurze Pause folgte. Dem Mädchen genügte dies nicht im Geringsten. Talentiert oder nicht, begabt oder nicht, sie mussten so stark werden, wie nur menschenmöglich. Andernfalls war es ihr Versagen. Nun nahm er den Fuß von ihr und erlaubte ihr aufzustehen.

    „Wir werden das Training von nun an für dich erschweren. Wir beginnen ab morgen noch vor dem ersten Sonnenstrahl und enden, wenn ich es sage. Keine Sekunde eher. Auch wann du isst, wann du schläfst, alles geschieht auf mein Wort. Außerdem kämpfe ich ein wenig ernster. Und wenn du wehrlos zu Boden gehst, werde ich nun zuschlagen.“

    Einige Sekunden lang verinnerlichte das junge Mädchen diese Ankündigung tief bis in ihr Herz. Mit dem nächsten Tag würden mehr Schmerz, mehr Strapazen und mehr Erniedrigung beginnen. Sie würde nicht mehr mit Samthandschuhen angefasst, sondern wie eine ebenbürtige Gegnerin behandelt werden. Mit Respekt und ohne Zurückhaltung.

    „Danke. Ich werde dich nicht enttäuschen“


    Der Abend zog ereignislos dahin. Sie aß heute nicht mehr. Je früher der nächste Tag beginnen würde, umso mehr würde es ihren Körper träge machen. Ihre Mahlzeit vom Nachmittag musste reichen.

    Wie hypnotisiert sah sie den Älteren beim Training zu, während sie an die Mauer der Hütte lehnte, in der sie geboren worden war. Das Mädchen war – ebenso wie diese Jungen – noch nicht alt genug, um echte Klingen zu erhalten, doch mit den Übungsschwertern aus massivem Holz waren sie ihr noch immer um etwas voraus. Sie wünschte sich schon lange, endlich eine Waffe halten zu dürfen und sei es auch keine echte. Allein das Gefühl wollte sie kennenlernen. Ihr Vater beobachtete sie eindringlich, musterte ihren begierigen Blick, während sie den jungen Männern zusah.

    „Du wirst schon sehr bald viel stärker sein, als sie. Du wirst irgendwann stärker sein, als man jemals zu träumen gewagt hat.“

    „Verrätst du mir auch bald wofür?“

    Agnar zuckte beinahe zusammen, schaffte es aber, nach außen völlige Ruhe auszustrahlen. Er hatte gehofft, dass sie diese Frage erst in ein paar Jahren stellen würde. Sie war noch ein Kind – ein tödliches Kind, dass einen normalen Menschen bereits töten könnte – und es bestand die Gefahr, dass sie die Beweggründe noch nicht verstehen würde. Doch er hatte keine dumme Tochter großgezogen. Und dass sie ihm und seinem Training ohne Grenzen loyal war, hatte er schon vor langer Zeit erkannt.

    „Du wirst jemanden töten, dem wir unser aller Leben verdanken.“

    Nun wanden sich ihre Augen von den trainierenden Jungen ab und sahen ihren Vater aus einem skeptischen Seitenblick an. Einen Moment herrschte Schweigen. Dann...

    „Gut.“

    „Gut?“

    Sie nickte so knapp, dass man es leicht übersehen konnte.

    „Willst du den Grund nicht wissen?“

    „Sei nicht wissbegierig, sondern töte, aber töte nicht blind. Töte, wer den Tod verdient. Das war deine erste Lektion. Wenn ich dieser Person gegenüberstehe, werde ich mich von ihrer Schuld überzeugen. Und wenn sie es verdient hat, werde ich sie aufschlitzen.“

    Wahrlich hatte er keine Idiotin großgezogen. Für gewöhnlich durften die Schüler nicht zu viel über ihre Ziele erfragen, durften nicht zu viel wissen, durften keine Partei ergreifen. Sie durften nur hinterher in der Ehre baden, wenn sie Menschen töteten. Das war es, wofür man in diesem Dorf seit Generationen Krieger und Assassinen ausbildete. Das war es, was er ihr hatte beibringen wollen. Doch wer aus eigenem Scharfsinn solch wertvolle Standpunkte erfasste, war über die Lehre der Hinterfragung bereits hinausgewachsen. Und sie war es bereits nach neun Sommern.

    „Du wirst der Stolz unserer Geschichte sein. Du wirst der beste Assassine sein, den unser Dorf und die Welt je gesehen hat.“



    Sonnenhöchststand

    Sechzehn Sommer nach Geburt des Drachensplitters


    Ihr Körper war aufrecht, gerade, aber gespannt. Mit gesenktem Haupt wanderten ihre Augen ruhig und aufmerksam umher. Einer stand direkt vor ihr. Ein Weiterer nur vier Schritte daneben zu ihrer Linken. Ein Dritter in ihrem Rücken. Sie blieb in ihrer Position. Zwei der drei Feinde befanden sich direkt in ihrem Blickfeld. Den übrigen ließ sie in dem Glauben, sie wüsste nicht, was er hinter ihr täte. Sie waren allesamt sehr muskulös, unterschieden sich äußerlich kaum voneinander, da bei den männlichen Schülern seit jeher das Haar kurz geschoren wurde. Ihr Vater stand außerhalb des Duellrings, doch würdigtet sie ihn keines Blickes. Er war es heute nicht, den es zu bekämpfen galt. Es waren diese Jungen, die schon zwei oder drei Sommer mehr erlebt hatten, als sie selbst. Zu leicht. Sie kannte ihre Namen. Hork, Faruin und Jorn. Sie waren die drei besten ihres Jahrgangs und genossen unter allen Schülern den meisten Respekt. Nur nicht von ihr. Sie respektierte nur die Regeln und ihren Lehrmeister.

    Wie erwartet war es Jorn, der von hinten zuerst angriff. Sie nahm den Klang der Schritte und die Erschütterung im Boden wahr, so wie er auf sie zu rannte. Blitzschnell fuhr sie herum. Seine Faust sauste ins Leere. Stattdessen landete die ihre auf seinem Kinn. Dann schlang sich ein schlanker, weiblicher Arm um seinen Nacken und riss ihn auf die Knie. In einer fließenden Bewegung hatte das Mädchen sich sogleich wieder umgedreht und ihren Gefangenen mitgeschleift. Hork kam als zweiter schon in der nächsten Sekunde auf sie gestürmt. Mit einem Tritt in ihre ungeschützte Seite wollte er sie aus dem Gleichgewicht bringen. Sie jedoch reagierte völlig routiniert, fing den Fuß mit der linken Hand am Gelenk ab und ließ ihn nicht mehr los. Sie entließ Jorn aus ihrem Griff, um ihren Ellenbogen auf seine Wirbelsäule zu schlagen. Sofort sackte er zu Boden. Derweil trat sie Hork gegen das verbleibende Standbein, sodass dieser ebenfalls einknickte. Nun griff sie auch mit der rechten Hand nach dem Fuß, den sie noch immer festhielt und verdrehte ihm selbigen mit einer hundertfach geübten Technik. Ein widerliches Knacken bestätigte ihren Erfolg und ließ ihren Gegner einen lauten Schrei ausstoßen, obgleich er nur kurz war. Die Pein war so stark, dass er für einige Sekunden nicht einmal an einen Aufstehversuch würde denken können.

    Kaum lag er auf dem Erdreich, wandte sie sich wieder Jorn zu. Nicht einmal die Chance hatte er gehabt, sich aufzurichten, so schnell hatte sie den anderen Schüler ausgeschaltet. Nur den Kopf hatte er erhoben, womit er ihr Tür und Tor für den nächsten Angriff öffnete. Ihre rechte Kniescheibe rammte sie ihm nach einem kurzen Anlauf ins Gesicht. Einige Tropfen Blut schlugen ihr entgegen.

    Dann griff zum ersten Mal Faruin ein. Diesem nun den Rücken gewandt, sah sie ihn nicht kommen, handelte daher rein instinktiv. Sie hob den linken Unterarm über ihren Kopf, gerade rechtzeitig, bevor zwei zusammengefaltete Fäuste darauf landeten, deren eigentliches Ziel ihr Kopf gewesen war. Sicher hätte sein mächtiger Hieb ausgereicht, um ihr das Bewusstsein zu rauben. Einen kurzen Moment lang ließ sie ihm in Gedanken Spott und Verachtung zukommen. Anstatt gemeinsam mit seinen Brüdern anzugreifen, hatte er gewartet, bis sie ihm den Rücken gekehrt hatte. Dabei hätte der Narr wissen sollen, dass dies seine Chancen nicht steigerte. Sein Angriff war fehlgeschlagen und sein Körper ungeschützt. Gleich drei Mal schlug sie mit dem rechten Ellenbogen in Faruins Torso. Überrumpelt und schmerzvoll stöhnte er bei jedem Hieb auf und seine Hände lösten sich voneinander. Kaum, dass dies geschehen war, ergriff die eiskalte Hand des Mädchens mit stählernem Griff seinen Unterarm und drehte sich einmal flink um die eigene Achse. Dem Jungen wurde der Arm schmerzhaft verdreht, doch erst als sie den entscheidenden Schritt machte und ihn gewaltsam mit sich zog, entfaltete sich erst die wahre Wirkung. Der Kontrolle über seinen Körper beraubt, musste er der ihm vorgegebenen Richtung folgen, oder sie würde ihm den Arm ohne zu zögern aus dem Gelenk reißen. So wurde er hilflos über ihre Schulter geworfen und landete mit einem dumpfen Aufprall ebenfalls auf dem Boden. Mit perfekter Technik hatte sie ihn trotz körperlicher Unterlegenheit auf den Rücken befördert.

    Schon folgte erneut ein Angriff. Hork kam mit einem wütenden Schlag auf ihre rechte Schläfe. Sofort hob sie den Unterarm und hielt dem immensen Druck seiner Muskelkraft stand. Frustriert über den Fehlversuch, wagte er den gleichen Angriff nun auf der anderen Seite. Als hätte sie es erwartet, blockte das Mädchen auch diesen Schlag und setzte sofort zu einem Tritt in den Bauch an. Stöhnend sackte er mit Kopf und Oberkörper nach vorne. Doch anstatt seine nun offene Deckung auszunutzen, wirbelte sie rasch herum, sodass ihr Haar einen Schwung machte. Ihre Intuition hatte sie einmal mehr nicht im Stich gelassen. Sie blickte in das völlig überraschte Gesicht von Jorn, als sie seine Faust auffing. Gleich danach verzog es sich vor Schmerz, als sie sein Handgelenk nach oben druckte, worauf dieses mit einem lauten Knacken antwortete. Den Tritt von Hork, der auf ihren Hinterkopf zielte, nahm sie ebenfalls rechtzeitig wahr. Sie blockte mit ihrem Handknöchel, ging selbst in eine rasche Drehung über und demonstrierte, denselben Angriff in erfolgreicher Ausführung. So wie sie aus jener Drehung herauskam, schlug sie Jorn zwei Mal trocken in die Magengegend, bevor sie aus dem Augenwinkel wieder Faruin heranstürmen sah. Sie glitt ein eine leicht breitbeinige Position und hielt den Oberkörper tief. Die Faust ihres Gegners fing sie auf und zog selbigen ein Stück zu ihr herunter, nur um ihm dann ihre eigene mit aller Kraft aufs Kinn zu schlagen, was Faruin zurücktaumeln ließ. Aus ihrer tiefen Position heraus reckte sie dann das rechte Bein ausgestreckt in die Höhe und traf den noch leicht benommenen Jorn ebenfalls am Kinn. Dieser Treffer sorgte dafür, dass er sich erneut im Sand wiederfand und dabei einen Zahn ausspuckte, sowie einen Schmerzensschrei niederkämpfte. Doch da kam Hork schon wieder auf sie zu und streckte seine Hand nach ihr aus. Diese bekam allerdings nichts zu fassen, da das Mädchen sich unter ihr durch tauchte und mit einem besonders kräftigen Schlag in seinen Torso dafür sorgte, dass er Speichel spuckend seinen Oberkörper nach vorne beugte. Sie nahm sofort die Chance wahr und ergriff seinen Kopf. Mit einem schwungvollen Sprung vollführte sie eine Gegenbewegung, welche der Schüler widerwillig zu folgen hatte. Laut knackte es noch in der Luft bevor sein Kiefer auf den Boden knallte. Hätte sie den Angriff mit vollem Effet durchgeführt, wäre sein Genick wohl gebrochen. Damit war Hork ausgeschaltet. Davon würde er sich nicht so rasch erholen.

    Sofort drückte das Mädchen die Beine in die Höhe und schwang sich mit einem Ruck des gesamten Körpers wieder in eine aufrechte Kampfposition. Erneut ließ der nächste Ansturm nicht lange auf sich warten. Es war wieder Jorn, der mittlerweile aus Mund und Nase stark blutete. Diesmal wartete sie einen Moment ab, wich vor einer Kombination aus Schlägen und Tritten zurück oder duckte sich darunter weg, bis sie ihm plötzlich einen raschen Schritt entgegen kam, sich dabei leicht seitlich wandte, um seinem Fäusten auszuweichen und zwischen sie zu schlüpfen. So konnte sie selbst nicht zu einem Faustschlag ausholen, rammte dafür jedoch ihren Ellenbogen direkt auf seinen Kehlkopf. Röchelnd wich er zurück.

    Durch einen verräterischen Schritt erahnte das junge Mädchen derweil Faruin ein weiteres Mal direkt hinter ihr. Sie trat mit links zu, ohne sich umzudrehen, indem sie ihrem Oberkörper nach vorne beugte, um ihr Gewicht auszubalancieren. Ihr Fuß traf ihn so stark wie ein Bulle mit seinen Hörnern und entriss seiner Kehle ein hohles Stöhnen. Ohne das Bein abzusetzen ging das Mädchen dann in eine Drehung über und trat ihm anschließend gegen den Fußknöchel, sodass er einknickte und zu Boden fiel. Dann wechselte sie in einer fließenden Bewegung das Standbein, sprang in eine weitere Drehung und trat Jorn seitlich gegen den Kieferknochen. Sofort wurde es finster in dessen Wahrnehmung. Er spuckte erneut Blut und fiel wie ein gefällter Baum zu Boden. Sie landete fest auf beiden Beinen.

    Für einen langen Atemzug betrachtete die Schülerin nun die beiden Gegner, die kampfunfähig vor ihr im Staub lagen. Zwei hatten überall Blut im Gesicht, der andere hielt sich jammernd das Genick. Alles schien für diesen Moment still zu stehen. Dann jedoch bemerkte sie, wie Faruin hinter ihr erneut aufzustehen versuchte, sich dabei würgend eine Hand auf seinen Magen drückte. Würde dieser Dummkopf doch lieber im Dreck liegen bleiben. Glaubte er etwa noch an seinen Sieg? Hatte er das auch nur eine Sekunde getan?

    „Wie töricht.“

    Ein letztes Mal sammelte sie ihre Kraft, ballte sie Faust, drehte sich und schlug ihm mit aller Macht und in einem letzten, genüsslichen Moment des Kampfrausches auf den Wangenknochen. Es war der einzige Schlag, in den sie all ihre ungezügelte Kraft legte, sich nicht zurückhielt. Der ohnehin schon schwache Körper verlor das Bewusstsein und fiel regungslos zu Boden. Das Mädchen drehte sich mit der Wucht ihrer Bewegung in die Ausgangsposition zurück.


    Leicht breitbeinig und die Fäuste noch immer geballt, allerdings unten haltend, sah sie zu ihrem Vater hinüber. Einige Tropfen Blut klebten an ihrem Körper, auf ihrer Wange. Dieser hielt ihrem eiskalten und beinahe wütenden Blick mühelos stand. Schließlich hatte er ihr diesen Blick aufgezwungen. Missbilligend stieg sie über zwei der stöhnenden Jungen hinweg und marschierte auf Agnar zu. In ihrem Gesicht stand deutliche Unzufriedenheit. Ebenso klang auch ihre Stimme, doch war sie trotzdem ruhig und beherrscht, wie immer. Unmissverständlich war ihr Unmut, obgleich sie in der gleichen Lautstärke sprach, wie sie es stets zu tun pflegte.

    „Wie lange hast du noch vor, mich gegen diese Schwächlinge kämpfen zu lassen?“

    „Du tätest gut daran, nicht ganz so arrogant auf sie herabzublicken. Schließlich warst du mehrfach in Bedrängnis“, belehrte er, schien aber nicht auf Vernunft oder Verständnis zu stoßen.

    „Diese Welpen sind keine Herausforderung. Ich kann sie Tage und Nächte niederschlagen, ohne einen Kratzer. Bevor sie mich wahrhaftig bedrängen, sterbe ich durch einen Blitzschlag von Zapdos.“

    „Nimm den Namen solch mächtiger Wesen nicht so leichtfertig in den Mund. Andernfalls kann es passieren, dass sie dein kümmerliches Leben zerschmettern, um dich zu strafen.“

    Agnar gefiel diese aufsässige Seite seiner Tochter nicht. Noch nie hatte sie ihn für sein Training kritisiert. Doch das vorlaute, junge Weib schien sich ein wenig zu überschätzen, wie es den Anschein hatte.

    „Ich will stärker werden. Ich will lernen, wie man das Fleisch seiner Feinde teilt und ihr Inneres zum Vorschein bringt.“

    Nun stand sie direkt vor ihm. Obwohl für ihr Alter sehr groß, maß sie zwei Köpfe weniger als Agnar, wenn nicht mehr. Dabei stand der langsam aber dennoch unübersehbar alternde Mann längst nicht mehr so stramm und aufrecht, wie früher noch. Er hatte schon größer gewirkt.

    „Ich will, dass du mich endlich die Klingen lehrst!“

    Ihr Blick war fordernd und trotzig. Sie wollte mehr, als sie derzeit bekam. Wofür trainierte sie so hart, wofür machte sie so rasche Fortschritte, wenn sie nicht auf die nächste Stufe gebracht wurde? Sie hatte oft genug bewiesen, wie gut sie war. Die meisten Mädchen, die ihr Alter erreichten, sich bald der Schwelle zum Erwachsenwerden näherten, wurden von diesem Zeitpunkt an nach und nach unbrauchbar für den Kampf. Indem sie zur Frau wurden, verdorrten ihre Fertigkeiten, die sie sich antrainiert hatten und verloren ihre Kampfinstinkte. Nichts dergleichen war bei ihr geschehen. Der einzige Unterschied zu früheren Jahren war, dass ihr dunkles Haar länger und allmählich blasser wurde und sie ein paar Bandagen mehr benötigte, um ihren Oberkörper zu verhüllen. Doch im Weg war ihr reifender Körper ihr noch nie gewesen. Sie war besser, als der Rest und daher verdiente sie es, noch besser werden zu dürfen.

    Prüfend sah Agnar auf sie herab. Waren Stärke und Geschick noch so überwältigend, sollte sie für Respektlosigkeit nicht belohnt werden. Doch wenn sie auf härteres Training brannte, so würde sie es kriegen. Es war wohl an der Zeit, sie von ihrem Ross zu holen. Er wandte sich ab und sprach, ohne seine Tochter anzusehen.

    „Geh zu Esmiralda. Sie soll dir einen Dolch geben. Mit dem wirst du heute Fleisch für das Dorf jagen. Bevor du es herschaffst, gehst du dich säubern. Ich will nicht, dass du das Abendmahl mit dem Gestank von Schweiß und Blut ruinierst. Ich erwarte reiche Beute, sonst kannst du gleich im Wald bleiben und zwischen seinen Bewohnern nächtigen. Sollte das passieren, bete lieber, dass sie deine Überheblichkeit riechen und du ihnen zuwider bist.“

    Damit war er fort. Sie blieb zurück. Ein leichtes Zucken ging über ihr Gesicht, das man fast als Lächeln betiteln konnte - fast.

    „Na endlich.“

    Ihr war wohl bewusst, dass ihr Vater sie nicht belohnen wollte. Er rechnete nicht damit, dass sie Beute brachte, sonst hätte er ihr nicht nur einen lächerlichen Dolch versprochen. In diesen Wäldern gab es zuhauf Geschöpfe, die mit einer solch mickrigen Klinge anzugreifen den sicheren Tod bedeutete. Doch nicht für sie. Sie würde Beute bringen und sie würde – wie Agnar es versteckt befohlen hatte – zum Abend wiederkehren, um am Feuer mit dem ganzen Dorf zu essen. Sie würde es sich gut schmecken lassen. Außerdem durfte sie auf diese Weise eine richtige Waffe aus Eisen halten, kein Holzschwert, wie die anderen Schüler. Und sie würde den Moment genießen, wenn sich der Dolch in den Leib ihres Opfers bohren würde. Sie fragte sich, ob es vergleichbar anfühlte, wenn man einen Menschen erstach. Wahrscheinlich nicht. Einen Menschen umzubringen, war sicher weit besser. Doch auch dieser Tag würde kommen.



    Dämmerung

    Siebzehn Sommer nach Geburt des Drachensplitters


    Agnar hielt das Schwert, so groß und schwer es doch war, nur mit seiner rechten Hand als sei es ein Stock. Mit überragender Leichtigkeit wuchtete er es durch die Luft, schlug wieder und immer wieder zu. Gnadenlos setzte er seine Tochter – derzeitig war sie in erster Linie seine Schülerin – unter Druck, zwang sie immer weiter, in die Enge. Fieberhaft versuchte sie ihre Konzentration zu wahren, sich nicht überwältigen zu lassen, immer bloß den nächsten Schlag abzuwehren. Mit einem einfachen Dolch war dies jedoch überaus schwierig. Sie besaß nicht die nötige Reichweite, um einen Gegenangriff zu starten und schaffte es nur mit Mühe und Not, die größere Klinge zu parieren, weshalb sie sich mehr auf Ausweichmanöver konzentrierte. Das Gewicht, welches auf sie einschlug, war mit einer solch mickrigen Waffe kaum von seinem Weg abzubringen und durch Agnars unbändige Kraft, mit welcher er die seine schwang, besaß sie auch keinerlei Vorteil in Sachen Geschwindigkeit.

    Doch dann folgte ein Streich mit der Rückhand auf ihre rechte Schulter. Er kam von unten heraus, daher witterte sie ihre Chance. Einen raschen Schritt machte sie zur Seite, wich somit dem Schwert aus und schlug selbiges nach oben. Blitzschnell wollte sie reagieren und die nun offene linke Seite attackieren. Noch nie war es ihr gelungen, Agnar eine tiefe Wunde zuzufügen. An dem Tage, an dem sie dies schaffte, würde ihre Ausbildung die nächste Stufe erreichen. Und nun hatte sie die Gelegenheit. Sie hielt den Dolch mit der Klinge nach unten gerichtet, preschte nun mit einem einzigen Schritt nach vorn und richtete die Spitze auf seinen Arm. Doch der Moment des Triumphs blieb verwehrt. Den noch immer vorhandenen Schwung seiner Waffe hatte Agnar genutzt, um in eine rasche Drehung zu vollführen und den Angriff seiner Schülerin mit ebenfalls tief gerichteter Klinge zu blocken. Das scheppernde Geräusch des kollidierenden Stahls missfiel ihr, bedeutete ihren Misserfolg. Sich davon jedoch nicht entmutigen lassend, schlug sie mit ihrer freien, rechten Hand nach seinem Körper. Blitzschnell hatte Agnar jedoch die Hand erhoben und ihre Faust aufgefangen. Es folgte ein Tritt mit dem rechten Knie in ihre Magengegend. Dieser war von so roher Gewalt, dass sie einige Zentimeter vom Boden abhob und mit einem keuchenden, erstickten Laut Blut und Speichel ausspuckte. Als nächstes spürte sie den scharfen Schnitt von Agnars Schwert auf ihrem Oberschenkel. Sie schrie nicht, obgleich sie bitteren Schmerz empfand. Doch an jenen hatte sie sich gewöhnt. Dies sah man ihr auch an, war doch ihr ganzer Körper sicher schon mit einem Dutzend Narben versehen, die ihr während des jahrelangen Trainings zugefügt worden waren. Dennoch wich sie einen Schritt zurück.

    „Hör auf dir einzubilden, du würdest meine Stärken im Kampf kennen. Noch hast du mich nicht an den Punkt getrieben, da ich mit ganzer Kraft kämpfen muss. Also sei nicht so unbedacht im Angriff, wenn du dir der Fähigkeiten deines Gegenübers nicht gewahr bist“, belehrte er sie. Ihr Blick änderte sich kein bisschen. Noch immer sah sie ihn aus feindseligen Augen an, als wolle sie ihn durch ihre Macht ausweiden.

    „Sieh deinen Gegner als übermächtig an, um deiner Überheblichkeit entgegenzuwirken und selbige bei ihm zu säen. Aber verliere nie die Überzeugung, dass du ihn töten wirst. Jede Stärke bedeutet auch immer eine Schwäche, die es herauszufinden gilt.“

    Jede Stärke bedeutete eine Schwäche. Diese Worte wiederholte sie mehrfach in ihren Gedanken. Wo sollte Agnars Schwäche liegen? Mit einem solchen Schwert wäre jeder normale Mensch viel zu langsam, um gegen sie bestehen zu können. Die Klinge war breiter als sein Arm und der Knauf reichte ihm stehend bis zum Brustbein. Agnar jedoch stand ihr im Punkt Schnelligkeit nicht nach, schwang seine Klinge geschickt und nahm den Schwung aus jedem Schlag für den nächsten mit. Außerdem musste sie sehr nahe an ihn heran, um ihren Dolch in sein Fleisch zu treiben. Vielleicht...

    Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Keine zwei Schritte hinter ihr steckten die Fackeln des Duellrings im Sand. Den Ring zu verlassen, bedeutete zehn Strafschläge auf den Rücken und nicht zuletzt die Schmach des Rückzuges.

    „Nun zeig mir, was du kannst.“

    Das Mädchen verengte die Augen, als sich die Schwertspitze ihr entgegen richtete. Vielleicht war seine Schwäche ja, dass er glaubte, er habe keine? Dass sie als Schülerin zu dumm und einfältig oder schlicht zu schwach sei, gegen ihn zu bestehen? Doch entsprach es nicht der Wahrheit? Selbst wenn dem so war, wie könnte sie dies ausnutzen?

    Ihre Körperhaltung entspannte sich ein wenig. Sie sah den Dolch in ihrer Hand an und dann wieder zu Agnar. Überheblichkeit in seinem Gegner säen. Schwächen erkennen. Sein Rang als Lehrmeister bedeutete doch im Grunde nichts, war weder Rüstung noch Schild. Kein Gesetz, keine Regel schützte ihn vor Verletzungen. Es war nur er selbst, den sie überwinden musste. Sie kämpfte gegen Fleisch und Blut. Somit waren die Voraussetzungen dieses Kampfes dieselben, wie in jedem, den sie bestritten hatte und noch bestreiten würde.

    Einen kurzen Moment lang überlegte sie, dann warf sie ihre Waffe fort. Mit der Klinge blieb sie im Boden stecken, nur einige Schritte entfernt.

    „Was soll das?“, verlangte der Stammesführer teils verärgert und teils gleichgültig zu wissen. Das Wort „Aufgabe“ hatte er sie nicht gelehrt. Also was hatte dies zu bedeuten? Nach einigen stillen Momenten nahm sie unglaublich langsam wieder ihre Kampfhaltung ein. Die unbekleideten Füße gruben sich in die Erde, als sie in eine breitbeinige Position überging. Sie dehnte die Fingerknöchel und hielt ihre Hände kampfbereit im Anschlag. Ihre Augen hafteten nun fest auf den seinen, waren durch nichts abzulenken.

    Agnar war verwirrt, ließ sich seine Ratlosigkeit aber nicht anmerken. Stattdessen umfasste er sein Schwert nun wieder fester.

    „Was immer du vorhast, ich mache weiter.“

    Keine Reaktion von der Schülerin. Dann sei es so. Der erfahrene Krieger stürmte vorwärts, die Klinge sauste auf ihren Oberkörper zu. Er schwang sie waagerecht. Zurückweichen war unmöglich. Zur Seite schaffte sie es ebenfalls nicht. Ließ sie sich zu Boden fallen, wahr sie hilflos. Welche Alternative blieb ihr?

    Aus dem Stand heraus drehte das Mädchen ihren Körper leicht seitlich, holte mit jedem einzelnen, verfügbaren Muskel so viel Kraft und Schwung wie möglich und tatsächlich sprang sie über Agnars Schwert hinweg. Sie befand sich nur Zentimeter über dem tödlichen Schwert, entging selbigem sowie einer tiefen Wunde nur um Haaresbreite. Durch die Bewegung rotierte ihr Körper in der Luft einmal um die eigene Achse und trat ihrem Lehrmeister daraus gegen das Kinn. Dieser konnte kaum wissen, wie ihm geschah. Sie hatte ihn ausgetrickst, hatte Wehrlosigkeit simuliert und mit einer überraschenden Täuschung sowie einer unvorhersehbaren Bewegung einen Treffer gelandet.

    Doch davon ließ er sich nicht beeindrucken – nicht so leicht. Ein wenig war er ins Taumeln geraten, wodurch ein weiterer Schwertstreich zu spät kommen würde. So machte er eine Drehung auf dem Fußabsatz und trat auf Kopfhöhe zu. Kaum gelandet, schien seine Schülerin jedoch bereits damit gerechnet zu haben, da sie beide Arme schützend erhoben hatte. Das Schienbein prallte wirkungslos ab. Doch schon im nächsten Moment stach er wieder mit seiner Klinge zu. Doch wieder ging der Schlag ins Leere. Geschmeidig und wendig hatte sie sich nach hinten fallen lassen und mit einer Hand in der Rolle den Dolch ergriffen, der noch im Boden steckte. Als sie wieder auf den Füßen landete, ihre Waffe wieder in der Hand, machte sie einen Satz nach vorne und griff an. Agnar hob reflexartig das Schwert.

    Aus einer Drehung heraus schlug das Mädchen zu. Sie zielte tief, als sie an ihrem Gegner vorbeirauschte, schlitterte durch den Sand und verblieb in einer hockenden Position. Mit der linken Hand stützte sie sich zusätzlich auf den Boden, in der rechten hielt sie den Dolch, den Arm vor dem Gesicht und den Kopf gesenkt. Für einen Moment ließ sie die letzten Sekunden gedanklich Revue passieren. Ließ den Ablauf noch einmal vor ihrem inneren Auge abspielen und sah sich selbst dabei zu. Und erst jetzt realisierte sie ihr Handeln, als wäre sie gar nicht mehr Herrin über sich selbst gewesen. Ihr Sprung, der Block, das Aufnehmen ihrer Waffe und schließlich der Angriff. Es war tatsächlich ihr eigenes Handeln gewesen, ohne nachzudenken und aus reiner Intuition heraus. Als sie aufsah, erblickte sie das Blut an ihrem Dolch. Nun drehte sich Agnar zu ihr um.

    „Noch nicht gut genug.“

    Resignierend, jedoch den Ausgang des Duells vollkommen akzeptierend, erhob sich die Schülerin. Sie hatte alle Register gezogen. Und doch blieb ihr nur die Niederlage.

    „Wie wahr.“

    Sie spürte, wie das Blut ihren Körper hinunterlief. Über ihrem linken Schlüsselbein hatte Agnars Schwert sie erwischt. Ein wenig tiefer noch und es wäre auch mit dem Knochen geschehen. Ihre Bandagen um die Brust wären ebenfalls beinahe aufgeschnitten worden, hingen nun bloß noch schlaff und nicht mehr fest.

    „Aber dennoch hast du heute einen großen Schritt getan“, sprach ihr Vater dann. Er besah sich der Schnittwunde an seinem linken Unterschenkel. Sie hatte weitaus tiefer in ihn hineingeschnitten, als er es bei ihr getan hatte. Dies würde er einige Tage spüren.

    „Ich glaube, du hast heute etwas sehr Wichtiges begriffen.“

    „Das habe ich.“

    Ja, begriffen hatte sie in der Tat. Stärke und Überlegenheit waren oft nichts als Illusion. Dass sie keine Muskeln brauchte, um Männer zu besiegen, die wesentlich kräftiger und schwerer als sie waren, darüber war sie sich längst im Klaren. Beim Tanz mit den Klingen zählten jedoch ganz andere Gesetzte. Taktik und Manipulation war ebenso wichtig wie die kämpferischen Fähigkeiten. Der Gegner durfte nur denken, was sie ihm zu denken erlaubte. Diese Lektion würde sie nie vergessen. Ebenso den Moment, in dem sie Agnar beinahe besiegt hatte.



    Morgengrauen

    Neunzehn Sommer nach Geburt des Drachensplitters


    „Ich sage dir noch einmal, es war zu früh. Viel zu früh!“

    Die Dorfälteste schien auch nach Stunden noch immer nicht müde zu werden, ihre Ansichten wieder und wieder zu äußern. Gar hatte sie bereits gestern, als er ihr sein Vorhaben eröffnet hatte, bereits damit begonnen. Agnar hatte ihr seines Erachtens unmissverständlich klar gemacht, dass er ihre Worte respektiere, aber dennoch anderer Meinung war.

    „Im Gegenteil. Es war längst überfällig.“

    Die graue, alte Frau in dem roten Gewand begann aufbrausend zu werden. Wütend schlug sie mit dem unteren Ende ihres Holzstabs auf den Boden. Bislang hatte Agnar noch das bisschen Anstand behalten, sie einfach zu ignorieren. Nun aber, da er diese Behauptung aussprach, empfand sie es als Beleidigung ihr sowie als Unrecht seiner Tochter gegenüber.

    „Überfällig sagst du? Die Schüler werden für gewöhnlich erst nach zwanzig Sommern losgeschickt, um einen Waldbären zu jagen! Und wieder hast du ihr nichts als einen Dolch erlaubt. Du hast sie in den sicheren Tod geschickt, starrköpfiger Agnar.“

    Das Stammesoberhaupt schwieg zunächst. So lange die Generationen ihres Dorfes zurückdenken konnten, war das Töten eines mächtigen Waldbären und das Stehlen einer seiner Klauen das Ritual, die Prüfung für die angehenden Krieger und Assassinen, in der man sich zu beweisen hatte, um die letzte Stufe der Ausbildung zu erreichen. Ein Erfolg war beinahe schon gleichbedeutend mit dem Abschluss des Trainings – aber eben nur beinahe. Ein Misserfolg bedeutete meist den Tod. Waren die kämpferischen Fertigkeiten einmal ausgereift, galt es nur noch mentale Stärke und taktisches Geschick zu schulen. Für diese Schülerin allerdings wäre dies unnötig. Ihr letzter Schritt würde ein wenig anders aussehen.

    Agnar verschränkte die Arme vor der wie immer nackten Brust. Sein schwarzes Haar, das immer mehr Grau aufwies, hatte er heute zusammengebunden, wodurch es sanft mitschwang, als er leicht den Kopf schüttelte.

    „Du irrst. Ich habe ihr sehr wohl mehr erlaubt. Sie bestand selbst darauf, kein Schwert zu führen. Sie wollte bloß ihre beiden Dolche bei sich haben. Ich schätze durch das Training mit ihnen, hat sie sie liebgewonnen.“

    Die Älteste grunzte missmutig und stieß einen raschen Atemzug aus. Dieses Mädchen war ebenso unbedacht,

    wie ihr alter Herr. Froh sollte sie eigentlich sein über jede noch so kleine Hilfe, die sie von ihm bekam und von ihm gestattet wurde. Im Gegenzug war es nämlich an ihr, alles Weitere zu erlernen. Das Schleichen, das Jagen, das Lesen von Fährten, das Überleben in der Wildnis. All dies wurde den Schülern zwar gelehrt, doch mussten sie es in der Praxis allein umsetzen. Ihnen wurde nur gezeigt, welche Pflanzen nützlich und welche zu meiden waren. Für alles Weitere mussten sie ihren Verstand gebrauchen und zu improvisieren wissen. Wer versagte, starb. Und sie, die nun als jüngste Schülerin in der Geschichte des Dorfes einen Waldbären jagte, lehnte eine echte Klinge ab, um mit Küchenwerkzeugen zu kämpfen? Waffen, die höchstens zum Schlachten von Vieh geeignet waren? Im Grunde jedoch lag die Schuld dennoch bei Agnar, da er sie so hatte losziehen lassen.

    „Sollte sie nicht zurückkehren, werde ich dessen ungeachtet dich für ihren Tod verantwortlich machen. Folglich werde ich meinen Stab dann auf deinen Kopf schlagen, anstatt auf die unschuldige Erde.“

    „So soll es sein.“

    Wieder wurde die alte Frau etwas zorniger. Zum ersten Mal sah sie Agnar direkt in die Augen, wofür sie den Kopf weit in den Nacken legen musste, war sie doch kaum mehr als halb so groß.

    „Du leichtsinniger Schwachkopf! Du benimmst dich, als sei dir ihr Leben völlig egal. Was, wenn sie...“

    „Vor einigen Tagen...“, unterbrach der kräftige Mann in völliger Ruhe.

    „Vor einigen Tagen habe ich sie bei Gesprächen mit anderen, älteren Schülern belauscht. Die drei sagten ihr, man könne einen Bogen oder einen Speer in der Wildnis verstecken, um damit zu jagen. Sie sagten, man könne die Klaue eines jungen Waldbären stehlen und sie würde ebenso genügen, wie eine größere. Und sie verrieten, wo Waldbären manchmal zum Sterben hingehen würden, um von einem alten oder gar bereits toten Exemplar eine Klaue zu rauben.“

    Agnar pausierte für einen Moment und starrte in den Wald hinein. Sobald man seine Grenze zu ihrem Dorf übertrat, befand man sich in tödlicher Gefahr. Durch große Fackeln und das Verbrennen einiger Kräutermixturen hielten die Alchimisten wilde Bestien von ihren Häusern fern. Nun, da bereits die Dämmerung anbrach, war jede einzelne davon entzündet und großzügig mit den sonderbaren Gewächsen gefüttert worden, sodass das ganze Dorf nach ihnen roch. Genau dies war das Ziel. Wenn die Dunkelheit erst einmal hereinbrach, würden die Jäger des Waldes kühn werden, sofern jetzt nicht schon genügend verbrannt wurde. Befand man sich außerhalb dieser aromatischen Schutzbarriere, war man potenzielle Beute für unzählige, gefährliche Räuber, die einen Menschen auf hundert Arten umzubringen vermochten. Jeder wusste dies.

    „Soll ich dir sagen, was sie geantwortet hat?“

    Er wartete nicht auf die Bestätigung der Ältesten. Allein da sie sich ein wenig beruhigt zu haben schien, fühlte er ihre Neugier.

    „Sie fragte die anderen Schüler, wie sie denn ihr Spiegelbild betrachten könnten. Sie fragte, welcher Ausbilder ihnen diese feigen, niederträchtigen Methoden nahegelegt habe und wie sie sich selbst so erniedrigen konnten. Sie bezeichnete sie als unwürdige Feiglinge und ehrlose Hunde. Sie betonte mehrfach, dass sie nur ihre Dolche mitnehmen würde. Dass sie so auf die Jagd gehen würde, wie sie gerade vor ihnen stünde und dass sie die Klaue des größten und kräftigsten Waldbären stehlen würde, den sie würde finden können.“

    „Wie haben die Schüler reagiert?“

    Die Frage klang stark beiläufig und sie selbst an der Antwort nicht wirklich interessiert. Tatsächlich war es jedoch so, dass die graue Frau die Antwort unbedingt erfahren wollte, Agnar aber ungern danach fragte. Viel lieber würde sie ihm weiter seinen Fehler vorhalten wollen und ihre Drohung, die den Stab in ihrer Hand miteinbezog, wahr machen.

    „Sie haben sie zum Kampf gefordert. Die Heiler waren lange mit ihnen beschäftigt.“

    „Ist dies deine Begründung? Vertraust du allein den Worten einer hochnäsigen Schülerin? Sie ist lange nicht so gut, wie sie von sich glaubt. Sie muss noch viel stärker werden, denn wenn wir sie verlieren...“

    Die Dorfälteste brach ab. Das Knacken von Ästen und das Rascheln von Laubblättern drang an ihr noch immer starkes Ohr. Agnar reagierte nicht im Geringsten. Für einige Sekunden hielten die Geräusche an, ohne dass etwas aus dem Unterholz trat. Dann erschien eine Silhouette zwischen den Bäumen. Sie war schlank, ging aufrecht und maß noch gut einen Kopf weniger als Agnar. Sie bewegte sich mühsam, machte viel Lärm und strauchelte ein wenig.

    Erst als sie gänzlich aus dem Schatten der Blätter trat, erkannte auch die Älteste jene Gestalt als Agnars Tochter und Schülerin. Ihr Antlitz war geziert von Kaskaden aus Blut, die sich über sie ergossen haben mussten. Der schwachen Frau stockte der Atem bei dem Anblick. Ihr dunkles Haar war von der roten Flüssigkeit völlig verklebt, haftete an ihren Wangen, an ihrem Hals, über ihrem Gesicht. Für die Jagd hatte sie einen Lederharnisch bekommen. Dieser war ebenfalls von Blut durchtränkt und die rechte Seite war eindeutig von einer Pranke aufgeschlitzt worden. Die klaffende Wunde darunter war widerwärtig. Aus ihr rann das Blut trotz des provisorischen Verbandes noch immer heraus, lief ihr rechtes Bein herunter und tropfte zu Boden. Der Hüftgurt, an dem sie bei Aufbruch ihre Dolche getragen hatte, war fort, wohl durch denselben Schlag durchtrennt und verloren gegangen. Die linke Hand wies einen tiefen Schnitt zwischen Daumen und Zeigefinger auf, war so gut wie unbrauchbar. Die Finger zuckten unkontrolliert, sodass sie beide Dolche in der rechten trug. Nicht einen Flecken des grauen Stahls konnte man erkennen. Alles war mit einem Schleier aus Rot überzogen. Und am ganzen Körper, Gesicht und Gliedmaßen zähle man blutige Kratzer und Schnitte. Quälend langsam kämpfte sie sich voran. Hielt den Kopf stark gesenkt und hinkte bedenklich. Sie wirkte mehr tot als lebendig. Doch nicht ein Ton entkam ihr. Kein Keuchen, kein Stöhnen, kein Wehklagen.

    „Ich traue meinen Augen nicht.“

    Agnar reagierte so gegensätzlich, wie menschenmöglich. Nicht eine Miene verzog er bei dem Anblick des Mädchens, dass scheinbar durch die Hölle und wieder zurück gereist war, um jetzt vor ihnen zu stehen.

    „Sie ist schneller zurückgekehrt, als ich erwartet hatte“, murmelte er leise vor sich hin, sodass es nur die Frau an seiner Seite hörte. Die Jägerin sackte nun zusammen, fiel auf das rechte Knie und stützte sich mit der unverletzten Faust auf den Boden. Sie hustete, röchelte, spuckte nebensächlich Blut aus, richtete sich aber bereits nach ein paar Sekunden wieder auf. Scheinbar beiläufig wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund und spuckte einige weitere Spritzer aus dem Mundwinkel. Doch irgendwie wirkte es komisch. Irgendwie wollte man meinen, sie täte sich schwer dabei. Als hätte sie etwas im Munde, das sie behinderte.

    Nun stand sie direkt vor Agnar und der Ältesten. Der starke Geruch von Blut, Dreck und Tod schlug den beiden entgegen. Langsam ob sie das Haupt, sodass zum ersten Mal ein freier Blick in ihr Gesicht gewährt wurde. Zwischen ihren Zähnen steckte die größte Klaue, die sie jemals gesehen hatten. Sie war ebenfalls benetzt vom Blut und außerdem vom Speichel des Mädchens. Beinahe das Doppelte einer normalen Klaue maß sie, war gar viel länger als die Dolche der Schülerin. Wütend schnaubte diese, atmete gereizt und erschöpft. Die Rubine ihrer Augen hafteten auch unter ihrem schweren Atem auf Agnar, wie die eines Raubtieres. Es war wieder dieser kalte Blick des Todes – noch wild und trunken vom Blutrausch –, den sie im Kampf immer aufsetzte und wie jedes Mal war er erfreut, ihn zu sehen.

    „Gut. Geh dich säubern und lass dich von den Heilern ansehen. Leg dich danach für heute zur Ruhe. Morgen früh erwarte ich dich zum Training.“

    Er klang nicht im Geringsten zufrieden. Als wäre ihre Tat selbstverständlich, war sie hiermit für ihn Vergangenheit und somit unbedeutend. Zumindest hatte man diesen Eindruck. Die Wahrheit sah anders aus.

    Kommentarlos wandte sich das blutgetränkte Mädchen ab und marschierte ich Richtung der Heilerhütte. Die Klaue würde sie behalten, als Andenken an das Leben des mächtigen Waldbären, der nun tot auf einer Lichtung lag. Er hatte sie mit seinem Leben geehrt. Dafür würde sie sich dankbar zeigen. Außerdem würde sie einigen Frauen den Weg zum Kadaver weisen, die Fleisch, Fell und Knochen mit sich nahmen. Von allem war genügend vorrätig, doch es lag in der Verantwortung eines Jägers, seine Beute vollständig zu verwerten.

    So wie sie außer Hörweite war, sah die schockierte, alte Frau wieder zum Stammesoberhaupt auf.

    „Bedeutet das nun...?“

    „Ja, das tut es.“

    Zum ersten Mal seit Jahren wurde Agnars Gesicht todernst. Ein Hauch von Sorge und Trauer war ebenfalls darin zu lesen. Die Zeit war reif, da sie ihr Ritual empfing. Einen letzten, bedenklichen Blick wandte er über die Schulter, um seiner Tochter hinterher zu sehen.

    „Sie ist soweit.“



    Einbruch der Dunkelheit

    Eine Woche nach der Prüfung


    „Was soll das heißen?“

    Hanifas Mimik sprach eindeutig die Sprache der Trauer. Sie hatte zwar keine besonders starke Beziehung zu ihrer Tochter, aber dennoch konnte sie eben diese eine Tatsache mit Sicherheit bestimmen. Ebenfalls war sich das Mädchen gewahr, dass sie sich nicht verhört hatte. Nichts desto trotz wollte sie die Botschaft nicht wahrhaben, weshalb sich Hanifar wiederholte.

    „Agnar ist nicht länger das Oberhaupt unseres Dorfes.“

    „Wieso nicht?“, verlangte sie zu wissen. Sie sprach in unglaublich scharfem Ton. Nur äußerst selten spiegelten sich Emotionen in ihren Gesichtszügen, doch in diesem Augenblick war sie von immenser Wut erfüllt, die sie einfach nicht unterdrücken konnte und auch nicht wollte. Das war absurd!

    „Er ist gealtert, das ist wahr. Aber er ist noch immer der stärkste Krieger des Dorfes. Wer sollte ihn ablösen können?“

    Hanifa hielt die Augen geschlossen und erwiderte ohne eine Spur von Zögern oder Unsicherheit. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde das junge Mädchen sagen, sie habe sich längst mit der Tatsache abgefunden, dass ihr Mann entmachtet worden war.

    „Es war seine eigene Entscheidung. Der Rat der Ältesten wird sich morgen versammeln, um einen neuen Clanführer zu wählen.“

    „Das ist lächerlich!“, schrie sie nun aufgebracht. Ihre wütende Stimme war selbst außerhalb der Hütte deutlich zu vernehmen. Es war jene Hütte, in der sie geboren worden war. Dieser unbedachte und ungezügelte Ausbruch rief ihr jedoch in Erinnerung, was der Waldbär ihr vor einigen Tagen noch hinterlassen hatte, als ein leichter, stechender Schmerz in ihrer rechten Seite aufkeimte und sie sich die betroffene Stelle hielt. Dabei verzog sie allerdings keine Miene.

    Hanifa seufzte. Dass diese Botschaft bei ihrer Tochter auf wenig Verständnis stoßen würde, dessen war sie sich bewusst gewesen. Doch nun sah es so aus, als wolle sie, getrieben von ihrer Wut, aufspringen und jemanden umbringen. Völlig ungewohnt für sie, hielt sie doch seit Jahren jegliche Gefühlsausbrüche im Zaum, verriegelt hinter einer kaltblütigen Maske, die für nichts als den Kampf lebte. Jedoch blieb sie vollkommen ruhig sitzen, ballte allerdings die Hände, welche auf ihren Knien ruhten, krampfhaft zu Fäusten.

    „Warum sollte er aus eigenem Entschluss zurücktreten? Welchen Grund kann er dafür haben?“

    „Dies sollst du ihn selbst fragen.“

    Ihre Stirn legte sich in Falten. Eine winzige Spur von Neugier und Verwirrung machte sich in dem jungen Mädchen breit, was bewirkte, dass ihre Hände sich entspannten und sie zu ihrer Mutter aufsah.

    „Er wartet am östlichen See auf dich. Er lässt dir ausrichten, dass du gänzlich gerüstet erscheinen sollst. Nimm also auch Dolch und Harnisch.“

    „Wieso gerüstet? Und wieso dort?“

    Mit zunehmenden Abartigkeiten wurde das Mädchen wütender. Warum sprach ihre Mutter, ohne eine echte Antwort zu geben? Warum war Agnar nicht hier? Und vor allem, warum war er zurückgetreten?

    „Dies herauszufinden, liegt an dir.“

    Einen Moment lang zögerte sie. Die Situation strapazierte ihre Geduld. Aus heiterem Himmel wurde sie mit verstörenden Informationen konfrontiert und dann wurden auch noch Forderungen an sie gerichtet, ohne dass man ihr ausreichend erklärt hatte. Doch es gab wohl nur einen Weg, um Klarheit zu erlangen.

    Abfällig schnaubte sie und erhob sich rasch. Ohne ein weiteres Wort kehrte sie ihrer Mutter den Rücken und verließ die Hütte. Vielleicht, so dachte Hanifa, würde ihr Zorn ihr in dieser Nacht von Nutzen sein.


    Der See im Osten ihres Dorfes war ein wohl bekannter, wie auch wunderschöner Ort. Am Tage spiegelte das kristallklare Wasser die Sonnenstrahlen so sehr, dass man erblinden mochte, sah man zu lange dem schillernden Lichtspiel zu, da die Sonne bei ihrem höchsten Stand haargenau über dem See hing. Daher hatte man ihn „Sonnenspiegelsee“ getauft. Nun in der Nacht beschränkten sich die funkelnden Tänze der Wasseroberfläche auf Mond und Sterne, hatten damit ihren eigenen Reiz. Die mächtigen Laubbäume hielten einige Meter Abstand zum Ufer und erlaubten eine weiteläufige Betrachtung dieses Ortes. Nahe des Westufers – jene Richtung, aus der sie kam – lag eine kleine Insel in deren Zentrum ein kleiner, jedoch prächtig gesunder und blühender Laubbaum gedieh. Waren die kalten, dunklen Tage des Jahres vorüber, so trug er herrliche Blüten in Zartrosa, die bald darauf den See in eine Blütendecke hüllten, wenn sie zu fallen begannen. Nun jedoch trug er dasselbe saftige Grün an seinen Zweigen, wie es der ganze Wald tat. Nur wenige Meter trennten sie von Rande des Sees, sodass das Wasser von ihr aus bis zum Ufer nur bis zu ihren Knien reichte.

    Die Schülerin trat leise und doch von immensem Frust erfüllt aus dem Dickicht. Sich auch im dichtesten Wald lautlos zu bewegen, um aus dem Hinterhalt angreifen zu können war eine der wichtigsten Fähigkeiten eines Assassinen. Dass sie selbst solch schwieriges Terrain im Schlaf meisterte, dessen hatte sich auch der gewaltige Bär vor einigen Monden gewahr werden müssen.

    Ohne zu zögern schritt das Mädchen voran, trat in das kühle Wasser des Sees, bewegte sich dabei so gekonnt elegant, dass es kaum schäumte oder spritzte. Schon nach wenigen Metern hatte sie wieder Gras unter den Füßen, da sie die kleine Insel betreten hatte. Jedoch fühlte sie es nicht, da sie nicht wie sonst Barfuß war, sondern einfache Stiefel aus leichtem Leder trug. Den Harnisch aus demselben Material hatte Hanifa ihr ja zudem aufgezwungen. Im Schleier der Nacht sah ihr ohnehin schon dunkles Haar aus wie ein verschlingender Todesmantel aus reiner Finsternis, der ihr Gesicht verhüllte. Letztlich blieb sie stehen. Agnar war direkt vor ihr. Ihr den Rücken gekehrt und seine Hände auf dem Knauf seines Schwertes ruhend, dessen Spitze im Boden steckte. Seine Augen waren geschlossen, als kehre er gerade in sich.

    „Du fragst dich sicher, warum ich dich hierher habe kommen lassen“, sprach er monoton, ohne ein Wort der Begrüßung.

    „Ich frage mich so manches.“

    „Das kann ich dir nicht verübeln.“

    Agnars Kopf hob sich, um die Sterne am Himmel zu erblicken. Bei Dunkelheit war selbst des Vaters Haar in einen gänzlich schwarzen Schein getaucht, obwohl sein Schopf doch mittlerweile stark ergraut war. Die Nacht war klar und wunderschön – überhaupt nicht angemessen für dieses Ereignis. Welch eine Verschwendung.

    „Ich verlange Antworten“, forderte die Schülerin bissig. Auch wenn Agnar sie nicht ansah, so hatte sie trotzdem ihren tödlichen Blick aufgesetzt, allein ihres Unmuts wegen. Der ehemalige Clanführer seufzte laut.

    „Du bekommst eine einzige Antwort und sie wird all deine Fragen klären. Doch ich bin mir nicht sicher, wie du sie aufnehmen wirst.“

    „Nun sprich schon.“

    Man merkte dem Mädchen ihre gereizten Nerven an. Langsam aber sicher ballten sich ihre Hände fester zu Fäusten und sie unterdrückte hörbar eine höhere Lautstärke in ihrem Ton.

    „Ungeduldig wie immer. Nun gut.“

    Agnar mühte sich nach wie vor nicht, sich umzudrehen, die Schülerin anzusehen.

    „Du wirst heute deine Ausbildung beenden oder den Tod finden.“

    Leicht hoben sich ihre Brauen. In euphorischer Erwartung machte sie sich die Bedeutung von Agnars Worten klar. Heute Nacht war es also soweit. Es würde enden – nein, beginnen! Ihr Leben als Assassine. Sie würde die süßen Früchte ihrer Lebensarbeit ernten. Dessen, wofür sie trainierte, seit sie eine Faust bilden konnte. Die unzähligen, kräftezehrenden Übungen, um ihren Körper zu stärken, ihre Ausdauer zu steigern, ihre Sinne zu schärfen.

    „Nur noch eine Prüfung musst du bestehen.“

    Mit der rechten Hand fasste er nun langsam den Griff seines Schwertes. Dann, blitzschnell, wandte er sich um, zog dabei die Klinge durch die Erde, welche sie mühelos durchpflügte und schlug von unten heraus auf seine Tochter ein. Ihre über Jahre erlernten Reflexe setzten ein. Sie ging leicht in die Knie, um den Körper in eine Rücklage versetzen und dennoch im Gleichgewicht bleiben zu können. Die Schwertspitze zischte kaum eine Fingerbreite an ihrem Gesicht vorbei, schnitt lediglich einige Haarspitzen ab.

    Schon im nächsten Herzschlag sprang sie einen Schritt zurück, um einem möglichen zweiten Schlag zu entgehen und zückte ihre Dolche. In einer knienden Position sah sie zu Agnar auf, kämpft dabei den Schmerz ihrer Wunde nieder.

    „Was soll das?“, fragte sie erzürnt. Ein so plötzlicher, feiger Angriff sah ihm ganz und gar nicht ähnlich. Was sollte das für eine Prüfung sein? Unmöglich konnte er einen einfachen Trainingskampf wollen. Solche hatten sie schon zu hunderten ausgetragen.

    Agnar sah nur mit ernster Miene auf sie herab. Das vernarbte und inzwischen von Falten durchzogene Gesicht wirkte mit einem Mal eisern und kalt wie nie zuvor. Die Schwertspitze richtete sich auf das Mädchen.

    „Deine letzte Prüfung bin ich.“


    Die junge Schülerin war konsterniert, fühlte sich, als verliere sie den Boden unter den Füßen und fiele in ein endlos tiefes Loch. Darin bestand ihre letzte Prüfung? Sie sollte...

    „Was ist los?“

    Agnar wirkte höhnisch, zeitgleich aber auch verärgert.

    „Ich hatte mit ein wenig mehr Begeisterung gerechnet.“

    Das war nicht sein Ernst. Das meinte er nicht wahrhaftig so, wie er es sagte. Das war absurd!

    „Du willst, dass ich...“

    „Nein, du willst es. Dies ist der Moment. Heute Nacht wirst du die Bedeutung deines Lebens ergründen.“

    Der stämmige Veteran der Kampfkunst griff nun, zum ersten Mal seit sie beide miteinander trainierten, mit beiden Händen das Schwert und ging in eine leicht gebückte Haltung über.

    „Ich werde heute zum ersten und letzten Mal mit all meiner Kraft gegen dich kämpfen. Versagst du, so ist dein Leben vorbei und du wärst ohnehin nicht stark genug, um deiner Bestimmung entgegenzutreten. Erweise dich deines Lebens und seiner Aufgabe als würdig, oder stirb in diesen Wassern.“

    Agnars Worte endeten. Sein Angriff begann. Er startete mit einem Schlag auf ihre rechte Schulter. Unter jenem duckte sie sich hinweg, machte direkt danach eine instinktive Ausweichdrehung, da sie den nächsten Schlag erahnte. Ihre Intuition hatte sie vor dem Verlust ihres Kopfes gerettet, doch schon im nächsten Moment sauste die Klinge, die eben noch um einige wenige Zentimeter zu kurz gereicht hatte, bereits wieder auf sie zu. Jeder einzelne Streich verursachte zischende Laute in der Luft, als würde sie selbst zerteilt werden. Das Ziel war diesmal ihr Oberschenkel. Einen Ausweichsprung nach hinten oder über den tödlichen Stahl hinweg hätte sie nicht mehr geschafft, weshalb sie beide Dolche fest ergriff, mit der Klinge nach unten gerichtet, und den Schlag parierte. Das sonst so vertraute Scheppern der Klingen und die Erschütterung, die sie in den Armen verspürte, war so intensiv wie nie zuvor. Kein Zweifel – Agnar machte ernst.

    „Enttäusche mich bloß nicht. Solltest du heute sterben, hätten wir beide unsere letzten Jahre verschwendet.“

    Das Mädchen rang mit sich selbst. Ihr Blick war noch niemals so unsicher gewesen. Dennoch, aus reinem Überlebenswillen, wirkte sie so aggressiv und energisch wie immer und versuchte Agnar ihren Willen zu töten in ihren Augen zu zeigen. Doch er fand diesen Willen nicht. Nirgends konnte er ihn lesen. Die Rubine wirkten blass und matt, voller Verunsicherung. Sie konnte sich nicht überwinden. Ihr fehlte die Entschlossenheit.

    Der Druck auf ihren Waffen erstarb. Ihr Vater und Lehrmeister war in eine Drehung übergegangen und schlug nun auf Körperhöhe von der anderen Seite zu. Mit einer Rolle entging sie erneut dem tödlichen Angriff und brachte sich außer Reichweite. Einige Schritte taumelte sie jedoch aus reiner Unsicherheit, nicht aus Erschöpfung oder Missgeschick. Ihre Füße standen wieder im Wasser des Sees. Agnar sah mit grimmiger Entschlossenheit auf sie herab. Seine Stimme jedoch wurde mit einem Mal unglaublich zart. So rau wie eh und je, aber dennoch sanft.

    „Gib deinem Leben einen Sinn. Und lass auch mein Leben einen Sinn gehabt haben. Du bist unsere letzte Hoffnung.“

    Völlig unpassend zu seiner Mimik waren diese Worte. Und obwohl das Mädchen sehr berührt von dieser ihr bislang unbekannten Seite ihres Vaters war, konnte ihr Gesicht kaum andere Gefühle als solche für den Kampf zeigen. Nie im Leben hatte sie gelächelt, nie hatte sie gelacht. Von ihrem ersten Atemzug an war ihr Dasein von Leid geprägt gewesen. Sie hatte Schmerz, Kummer und Erniedrigung ertragen müssen, um zu einem Kampfwerkzeug geformt zu werden. Und nun war sie dies – ein Kampfwerkzeug. Ein Kampfwerkzeug, das sich nicht überwinden konnte, seinen Daseinszweck zu erfüllen.

    „Ich werde bis zu meinem letzten Atemzug kämpfen und dir alles abverlangen, was du gelernt hast.“

    Agnars Stimme war unglaublich leise geworden. Wären ihre geschärften Sinne dem einen gewöhnlichen Menschen nicht haushoch überlegen, hätte sie die folgenden Worte wohl gar nicht vernommen.

    „Aber ich will nicht, dass du stirbst. Du bist meine Tochter und ich liebe dich mit Körper, Geist und Seele.“

    Nun passierte es, da ein zuvor nie zu beobachtender Ausdruck in das Gesicht der jungen Schülerin trat. Die Augen waren weit aufgerissen und aus dem leicht geöffneten Mund zog sie scharf Luft ein. Ihre Unterlippe zitterte leicht und ein feiner Rotschimmer machte sich auf ihren Wangen breit. War das Verwunderung? Nein – etwas Stärkeres. Ein Schock vielleicht? Auch nicht, dafür fühlte es sich zu warm an. Wie nannte man dieses Gefühl? Sie wusste es nicht. Sie hatte nie etwas über Gefühle gelernt.

    „Ich liebe dich von ganzem Herzen, meine teure Tochter. Also bitte stirb heute nicht“, wiederholte Agnar.

    Es brauchte einige Sekunden, bis sie sich der Bedeutung jener Worte bewusst geworden war. Doch als sie jene Bedeutung endlich entschlüsselt hatte, kam ihr etwas Anderes in den Sinn. Nämlich, dass sie unwichtig war. Sie zählte im Hier und Jetzt nicht, war nicht von Bedarf. Dies sollte kein warmherziges Zueinanderfinden von Vater und Tochter werden. Es war ihr Ritual, ihre letzte Prüfung – und sie wollte sie bestehen.

    Für einen kurzen Moment schloss das Mädchen die Augen, um sich zu sammeln. Als sie ihre Lider wieder öffnete, stand ihr eine eiskalte Mimik, ins Gesicht geschrieben und ihre Augen funkelten böswillig.

    „Gut.“

    Ganz langsam ging sie in ihre routinierte Kampfposition über. Die Arme überkreuzten sich. Das linke Bein leicht nach vorne gestreckt. Ein wenig in die Hocke gehend, fixierte sie aus tiefem Blick ihren Gegner. Mehr war er von jetzt an nicht mehr. Nicht ihr Vater stand vor ihr, sondern ihr Gegner, ihre letzte Hürde. Der eine Dolche zeigte gen Nachthimmel, der andere nach wir vor mit der Klinge nach unten. Nun straffte sie ihre Beinmuskeln, ging mit dem Körper ein Stück nach hinten, um ihre Haltung besser auszubalancieren und richtete die Spitze beider Dolche auf Agnar.

    „Ich werde es tun.“

    Ein zufriedenes Lächeln machte sich auf dem Gesicht des ehemaligen Stammesführers breit.

    „Ich werde dich töten – und meine Ausbildung beenden.“



    Nacht

    Am Ufer des Sonnenspiegelsees...


    Wie lange mochte der Kampf sich nun hinziehen? Zwei Stunden vielleicht? Gar drei? Die halbe Nacht? Ihr kam es so vor, als könne jeden Moment die Sonne ihre Strahlen über den Horizont schicken, um den Morgen anzukündigen. Nie hätte sie erwartet, dass Agnar und sie einander so ebenbürtig waren. Nicht allerdings überraschte sie die Zähigkeit ihres Gegenübers, sondern ihre eigene. Einen Kampf gegen Agnar so lange durchzustehen, hätte sie für unmöglich gehalten.

    Sie kniete im seichten Wasser, begrüßte die Frische, mit der es ihrem Körper umarmte und gleichzeitig die verschiedensten Wunden an ihren Beinen kühlte. Jeder Atemzug schien auf ihre noch nicht ganz verheilte Wunde unter den Rippen zu drücken, wie ein schwerer Stein. Blut lief ihre rechte Schläfe hinunter. Eine hässliche Platzwunde nach einem Schlag mit dem Ellenbogen, als Agnar ihren Angriff durchschaut hatte. Auch an ihrem linken Arm lief die warme Flüssigkeit herab, ergoss sich in das klare Wasser und beschmutzte seine Reinheit. Hier hatte ihr Lehrmeister sie mit seiner Klinge gestreift, jedoch war es nur ein Kratzer. Zudem hatte sich die Wunde in ihrer Seite, die sie bei ihrer Jagd von ein paar Tagen davongetragen hatte, wieder geöffnet.

    Sie hatte im Gegenzug keinen Treffer mit ihren Dolchen landen können. Lediglich Agnars Unterlippe war nach einem satten Tritt aus der Luft aufgeplatzt. Beiläufig spuckte dieser Blut aus, ohne dabei seine Tochter aus den Augen zu lassen.

    „Du verlangst mir wahrlich alles ab.“

    Langsam erhob sich das junge Mädchen, hatte das Haupt nun gesenkt und wankte auf ihren von Schnitten, Schrammen und Schürfwunden übersäten Beinen. Ihre Kraft versiegte allmählich.

    „So du auch mir.“

    Ihr Atem war laut, erschöpft, sie keuchte. Auch Agnar war die Müdigkeit anzusehen. Immer wieder ertappte sie ihn dabei, wie der Griff um das Schwert in seinen Händen sich für einige Zeit lockerte, bis er sich dessen gewahr wurde, und sich alle Mühe gab, wieder fest zuzupacken. Doch er hatte nun genug. Im Stand der Sinn nach dem Ende.

    „Lassen wir das Schicksal nicht länger warten. Wenn wir uns Zeit zum Ausruhen lassen, haben wir als Kämpfer versagt.“

    Es war irgendwie absurd. Nie hatte Agnar ihr im Training auch nur eine einzige Sekunde der Ruhe gegönnt. Hatte sie einen Atemzug lang nicht aufgepasst, so hatte er sie gnadenlos zu Boden geschlagen oder ihr eine schmerzhafte Schnittwunde beigebracht. Doch sie wusste, warum dieser Kampf anders war. Er sah sie als ebenbürtige Gegnerin an und nicht länger als Schülerin. Vielleicht schätzte er sie sogar als die Stärkere ein. Sie war aus seinem Schatten getreten.

    „Du sprichst mir aus der Seele. Ich bin nicht gewillt, das Erreichen meines lang erwarteten Ziels noch weiter hinauszuzögern.“

    Einmal atmete sie tief durch, konzentrierte ihre verbliebene Kraft und spannte ihre Muskeln. Ihre Dolche hielt sie nun wieder beide nach unten gerichtet. Den linken Arm hielt sie quer über ihrem Körper, den rechten vor das Gesicht, sodass man nur ihre tödlichen Augen sah. Mit urplötzlich gewonnener Sicherheit marschierte sie gemächlich auf den Krieger zu, der das sich inzwischen so schwer anfühlende Schwert anhob. Mit unendlicher Freude blickte er in ihre Seelenspiegel und las darin den Willen zu töten. Sie war so fest entschlossen. Sie wollte siegen, um jeden Preis. Sie wollte jetzt siegen!

    Dann griff sie an. Mit dem Dolch in ihrer linken Hand stach sie in Richtung Unterbauch. Rasch wirbelte Agnar seine Klinge herum und parierte den Stich. Dann folgte ein Schlag von oben heraus mit der Rechten auf seine Schlaghand, um ihn zu entwaffnen. Jedoch missglückte auch dieser Versuch an festem Stahl. Aus diesem Angriff heraus drehte sich das Mädchen um die eigene Achse, veranlasste den Gegner zu einem alarmierten Schritt nach hinten. Doch trotz seiner Vorsicht war er auf diesen Angriff nicht vorbereitet. Noch in der Bewegung sprang sie vom Boden ab, in eine Höhe, die seine Körpergröße leicht übertraf und schlug zu. Das Schwert wog für seine brennenden Muskeln einfach zu schwer, um es so plötzlich in diese Höhe zu reißen. So fiel ihm nichts anderes ein, als seinen Unterarm schützend über sich zu halten. Der erwartete Schmerz trat prompt ein. Das heiße Gefühl des Stahls, der sich durch Haut und Fleisch Schnitt war ihm bekannt genug. Ein kurzer Schmerzensschrei drang gegen die zusammengebissenen Zähne. Sie hatte wahrlich viel Kraft in den Angriff gelegt, sodass sein körperlicher Schild nach unten geschlagen wurde. Erneut war sein Körper ungeschützt und er sah den nächsten Stich kommen. Doch den Atemzug, den er durch sein Opfer gewonnen hatte, hatte Agnar genutzt, um seine Kraft im Schwertarm zu mobilisieren. Einhändig schlug er die heranrauschende Klinge zur Seite, vollführte nun ebenfalls eine Drehung, wobei er gekonnt sein Schwert in seinem Rücken wirbeln ließ, um Schwung zu sammeln. Ein seitlicher Hieb folgte, doch der gesammelten Kraft zum Trotz wich sie diesmal nicht aus, parierte auch nicht mit ihren Dolchen, sondern stemmte sich mit beiden Händen gegen den Arm, um ihn zu stoppen. Für einen winzigen Moment erfasste sie eine starke Selbstkritik. Wie dumm war sie denn? Wieso hatte sie nicht direkt zugestochen? Sie hatte die falsche Reaktion gezeigt. Diese Wut auf sich selbst entlud sich in ihren Armen. Sogleich spürte Agnar einen satten Schlag ihrer Faust in der Magengegend. Dies wurde vergolten, indem er sein Knie in ihre verletzte Seite trat. Ein hohlen aufstöhnen und widerlicher Schmerz war der Preis. Es war, als würde die Wunde der vergangenen Jagd ein weiteres Mal aufgerissen. Doch die Schülerin erkannte eine einmalige Gelegenheit. Sie durfte die Chance nicht verstreichen lassen. Sein Körper war zwar ungeschützt, jedoch außer Reichweite ihres Armes. So stieß sie einen Dolch so tief sie konnte in seinen linken Unterarm. Diesmal schrie er laut und aus tiefster Kehle und ließ die Waffe plätschernd ins Wasser fallen. Nun hatte sie ihn schwer verwundet. Nun hatte sie die Oberhand gewonnen. Der Schrei brach ab, als seine Tochter aus einer weiteren Drehung heraus einen hohen Tritt auf seinen Unterkiefer platzierte. Ihre Waffe ließ sie rücksichtslos in seinem Fleisch stecken. Agnar taumelte zurück, ging mit einem Bein in die Knie und stützte sich mit dem unverletzten Arm. Er stöhnte und knurrte, biss energisch die Zähne zusammen. Er betrachtete seinen linken Unterarm. Die Klinge saß vollständig darin fest, trat auf der Rückseite wieder aus. Sein Blut rann in Strömen seine Haut herab ins Wasser. Jenes reichte ihm in seiner knienden Position bis zur Hüfte. Er merkte, dass er weit zurückgedrängt worden war. Das Wasser begann tief zu werden.

    Seine Gegnerin besah sich ihrem so gut wie hilflosen Gegenüber mit unberührter Miene. Nun war es fast vorbei. Es fehlte nur noch der Gnadenstoß, dann würde es geschafft sein. Nichts anderes hatte sie im Sinn. Doch sie erwartete nicht, dass seine Gegenwehr nun ersterben würde. Das würde nicht zu ihm passen. Agnar würde mit aller Kraft kämpfen, bis sie sein Herz endgültig zum Schweigen gebracht hatte. So schrie er nun vor Schmerz gleichermaßen wie von Kampfgeist erfüllt auf, als seine rechte Hand sich um den Griff des Dolches legte und ihn herauszog. Nur langsam kam die blutrote getränkte Klinge zum Vorschein, stellte seine Kraft und seinen Verstand auf eine schier unmenschliche Probe. Ein Gefühl, vergleichbar mit einem hohlen Schlag in den Eingeweiden machte sich in ihm breit. Ihm wurde kalt, er zitterte, konnte seine Bewegungen kaum noch kontrollieren. Beinahe verlor er vor Entkräftung das Bewusstsein, doch er kämpfte die herannahende Ohnmacht nieder wie einen verhassten Feind. Er befahl seinem Körper Gehorsam und Standhaftigkeit. Kaum realisierte er es, als er die Waffe seiner Tochter endlich aus seinem Arm herausgezogen hatte. Doch so wie ihn die Gewissheit erreicht hatte, sprang er von urplötzlicher Energie erfüllt auf und holte in einer blitzartigen Bewegung zu einem Wurf aus. All seine Kraft und Konzentration begleiteten diesen einen Versuch. Sein letztes Aufbäumen, sein letzter Angriff. Er zielte auf ihren Hals und warf. Zischend durchschnitt die Klinge die Luft. Für das bloße Auge war sie als kaum mehr als ein undefinierbares, rotierendes Etwas zu erkennen. Und niemand wäre je schnell genug gewesen, um diesem tödlichen Geschoss zu entgehen. Binnen einer einzelnen Sekunde überwand es die gesamte Distanz bis hin zu seiner inaktiven Besitzerin, welche gleich von ihrem eigenen Dolch aufgespießt werden würde. Ihr Blick änderte sich zu keinem Moment. Er war kalt, mordlüstern, emotionslos und von dem antrainierten Willen zu töten gezeichnet. Doch alles ging viel zu schnell. Agnar sah das Ende.

    Jetzt hatte er seine Tochter getötet. So wurde er sich gewahr. Sie war unachtsam gewesen, für diesen einen Moment. Sie hatte sich zu überlegen gefühlt, hatte den Kampf als entschieden angesehen. Welch eine Närrin. Sie bezahlte teuer.

    Durch den erneut aufkeimenden Schmerz in seinem Arm kniff Agnar die Augen zusammen und stöhnte gequält. Er drückte die Hand auf die blutende Wunde und kämpfte den Schwächeanfall nieder. Sein Herz pochte nur noch langsam, fühlte sich aber unglaublich stark an, wie es mit enormem Kraftaufwand gegen seine Brust hämmerte. Und als er zwischen all der Pein erneut aufsah, blieb ihm der Mund offen stehen. Seine Augen weiteten sich und seiner Erschöpfung zum Trotz stockte sein Atem. Nicht einen Schritt hatte seine sich Tochter bewegt. Sie stand noch genauso da, wie zuvor, als er in die Knie gegangen war. Sie hatte sich nicht aus ihrer überlegenen, souveränen Haltung gerührt – mit Ausnahme ihre rechten Arms. Den hatte sie erhoben, sodass die geschlossene Faust nun ihre untere Gesichtshälfte verdeckte. Und in ihr steckte der geworfene Dolch. Doch er hatte sie nicht durchbohrt. Sie hatte lediglich ein kleines Opfer gebracht, so wie Agnar, als er ihren Schlag mit dem Unterarm pariert hatte. Doch sie... sie hatte den Dolch aufgefangen!

    Agnar keuchte und stöhnte nur fassungslos. In einer solchen Ruhe diesen Dolch mit der Hand aus der Luft zu fassen erschien ihm übermenschlich. Allein der Reflex, war bemerkenswert. Und dann, dann stahl sich ein glückliches Lächeln auf sein Gesicht, als ihn die Erkenntnis ereilte. Sie hatte nicht einen Moment lang die Konzentration verloren, war nie unachtsam gewesen. Sie hatte es ihn nur glauben lassen. Ihn manipuliert, wie er es sie einst gelehrt hatte. Welch ein Idiot er doch war. Wie hatte er nur glauben können, sie wäre übermütig?

    „Ich habe dich gut ausgebildet“, stellte er leise und mit vollster Zufriedenheit fest. Nein, mit aufrichtigem Glück tat er dies!

    Dessen ungeachtet war der Kampf nicht vorbei. Die Entscheidung war gefallen, der Sieg der Schülerin über den Meister nur noch Formsache. Doch noch atmete Agnar.

    „Beende es, meine geliebte Tochter“, bat er leise flüsternd und kämpfte sich mühsam auf die Beine. Kaum stand er, so griff das Mädchen an. Die gefangene Klinge aus ihrer blutenden Hand warf sie ihrerseits auf Agnar zu. Selbst wenn er noch hätte reagieren können, so hätte er es nicht getan. Er war dieses Kampfes müde. Er lächelte seinem Tod entgegen. Er spürte kaum, wie sich ihre Waffe ein zweites Mal in ihn hineinbohrte. Ein flaues und stechendes Gefühl machte sich dennoch in seiner Brust breit, doch er fühlte nur leichten Schmerz. Schon gleich danach stürmte sie heran. Mit einem letzten, lächelnden Seufzen, das ihm das Blut aus dem Mund trieb, tat er, was sein Kriegerstolz ihm befahl und hob seine unbewaffneten Hände, um sich dem Angreifer zu stellen. Er ging einen entschlossenen Schritt auf sie zu und sah ihr ein letztes Mal in die Augen. Die Augen seiner Tochter, welcher er so gerne ein schöneres Leben geschaffen hätte. Doch für die unmenschliche Bürde, die sie von nun an zu tragen hatte, war sie bestens vorbereitet. Er war stolz auf sie. Das Allerletzte, was er sah in dieser Welt, war eine einzelne Träne, die dem Mädchen, welchem sein Leben gehörte, über die Wange lief.

    Am Fuße des edlen, wunderschönen Baumes, der auf der Insel mitten im See wuchs, blühte eine kleine, weiße Blume. Über ihr tanzten, geworfen durch das helle Licht des klaren Vollmondes, die Schatten zweier Menschen. Und der eine Schatten trieb einen schmalen, spitzen Gegenstand in den Hals des anderen. Nach einer stillen Sekunde brach der Schatten zusammen. Der klang des Wassers vermeldete einen Fall. Ein Bluttropfen landete auf der weißen Blüte.

    Hatte schon gar nicht mehr damit gerechnet, nochmals Kommentare beantworten zu dürfen :thumbsup:


    Zitat


    scheint so, als würde die Story nun langsam losgehen. Zumindest erklärt sich hier jetzt endlich mal der Titel der Geschichte und wie Rayquaza eigentlich da drin hängt.

    Losgehen. In Kapitel 24 :assi:

    Ich würde diese Passage nicht als Beginn betiteln. Der Plot rund um Rayquaza hatte spätestens angefangen, nachdem Ryan den Drachensplitter gefunden hatte. Nur konnte der Leser das da noch nicht wissen.


    Zitat

    Ich find vor allem diese Legende interessant, weil das sowas ist, was über die lange Zeit einfach vergessen wird oder wenn überhaupt nur noch bruchstückhaft da ist. Es ist wie die Reise in eine vergangene Zeit und durch die Verbindung dieser alten Geschichten mit Rayquaza kommt dadurch eine passende Stimmung auf. Das hast du gut umgesetzt.

    Erstmal danke für das Lob. Diese ganze "Enthüllung" durch Mila hat mir auch unglaublich viel Spaß gemacht und in der Regel merkt man das beim Lesen.

    Witzig, dass du gerade an dieser Stelle Reisen in die Vergangenheit ansprichst, denn, so viel sei verraten, das nächste (Doppel)kapitel wird die Vergangenheit von Mila und vor allem Sheila mehr erläutern. Gerade der Schlusssatz des Kapitels könnte das ja schon vermuten lassen.


    Zitat

    Übungskämpfe mit den Pokémon finde ich eh immer sehr interessant, aber wie du es gemacht hast, hab ich das bisher eher selten gelesen. Du lässt halt wirklich die Pokémon in den Vordergrund rücken und nicht die Auseinandersetzung an sich, was man auch gut bei der Nachbesprechung sieht.

    Hätte mir mal vor ein paar Jahren jemand gesagt, dass mir meine Zeit als Fußballer mal in dieser Form nützlich ist...:upsidedown:

    Ich denke jeder, der selbst mal einen Trainer hatte, weiß, wie man sowohl das Team im Ganzen als auch seine Mitglieder im Einzelnen anpacken muss, um Fortschritte zu erzielen. Dass jedes Pokémon dabei individuell behandelt werden muss, ist für mich selbstverständlich, wenn sie so grundverschieden sind. Ich gebe mir bei jeder Gelegenheit Mühe, ihnen in solchen Momenten eine Persönlichkeit zu geben.


    Zitat

    Wir lesen uns!

    Du weißt, wo du mich findest ;P

    Noch keiner kommentiert hier?


    Ja ich kenn dich noch gut genug :D


    Auferstanden aus der Asche, kann man sagen? Neben Bastet kann ich bei dir das größte Sammelsorium aus angefangenen, vielversprechenden, aber nicht (ansatzweise) vollendeten Fanfictions aus meinem Gedächtnis kramen. *Daumen drück, dass es dieses Mal klappt.


    Zum Startpost:

    Dass deine neue Geschichte in Alola spielt, ist für mich persönlich jetzt nicht der allergrößte Anreiz. Da fährt Bastet mit der Johto-Region bei mir an bestmöglicher Stelle. Tut mir Leid, ich hab nur die Erfahrung mit Geschichten gemacht, die aus dem Hype der aktuellen Generation entstanden sind und dann nie konsequent weiterverfolgt wurden. Doch ich will ja wie gesagt darauf setzen, dass du anstrebst, dein Werk zu vollenden.

    An solchen Sachen wie den Steckbriefen merkt man deine Zusammenarbeit mit Bastet. Ein breiter Charaktercast, ausführliche Informationen (was habt ihr beide eigentlich ständig mit den verschiedenen, sexuellen Orientierungen? XD), also fast schon zu viel Info, als dass man sich diese einprägen kann. Auch dir rede ich mal ins Gewissen, dass du darauf achtest, all dieser Infos zum Trotz, zum Gegebenen Zeitpunkt in der Geschichte relevante Fakten und Daten zu erwähnen. Das macht den Text eh lebendiger.


    Zum Prolog:

    Ich bin ehrlich gesagt nicht ganz sicher, was ich davon halten soll. Eigentlich ist so eine gute Nacht Geschichte, die einem Kind vorgelesen wird, eine gängige und schöne Methode, so eine Story rund um Mythen und Legenden zu beginnen. Aber irgendwie hat´s noch nicht richtig bei mir gefunkt. Vielleicht, weil ich mit Alola nicht ganz so warm geworden bin, wie mit anderen Regionen. Vielleicht aber auch, weil ich diese Erläuterungen zu Legendären in der Vergangenheit etwas zu oft gesehen habe (damals halt mit Mew, Arceus etc.). Und durch diese Erzählweise lässt sich kaum eine Neugier weckende Stimmung oder Atmosphäre aufbauen.

    Dem Sinn ist dein Prolog allemal dienlich, aber richtig gecatched hast du mich noch nicht.


    Tja, da muss ich wohl beim ersten Kapitel wieder reinschauen, um mehr darüber zu erfahren, was du hier aufbaust ;D

    Moin, moin und hallo.

    Man sieht - oder in diesem Fall liest - sich wohl wirklich immer zwei Mal im Leben XD


    Ich muss ja sagen, das ich von deinem Startpost ziemlich erschlagen wurde. Dabei hab ich mir die Erklärung zur Pokémonwelt nur SEHR sporadisch überflogen. Eigentlich hab ich sogar fast alles übersprungen. Ich vertraue einfach darauf, dass du Storyrelevante Informationen in der Geschichte zu gegebenen Zeitpunkten kommunizieren wirst. Pass nur auf, dass dir dabei nichts entfällt.

    Nachdem ich mich (leider ebenfalls nicht vollständig) durch die Charaktersteckbriefe gekämpft habe, war einfach kaum noch etwas von meiner Aufmerksamkeitsspanne übrig. Ich sollte das jetzt vermutlich nicht so sagen, da ich in meiner nächsten FF selbst ganze 37 Charaktere habe, aber dennoch: Musstest du uns die ganze Palette auf einmal reindrücken? :wacko:

    Ich gehe mal davon aus, dass die meisten von denen erst im Verlauf der Story auftauchen werden. Da hätte man doch den Startpost zum gegebenen Zeitpunkt editieren und am Kapitelanfang darauf hinweisen können, dass du genau das getan hast. So hab ich es jedenfalls bei mir geplant, da ich denke, dass das für Leser deutlich entspannter ist. Diese Bandbreite an Figuren kann sich kein Mensch in kurzer Zeit einprägen, vor allem, da du die Steckbriefe so wunderbar ausführlich gestaltet hast. So wie ich dich kenne, wirst du jeden auch in der Geschichte noch einmal ausreichend vorstellen, was an sich natürlich gut so ist, aber dann diese Info-Wall ein wenig überflüssig macht.


    Zum Prolog

    Die Beschreibungen und die Thematik gefallen mir sehr gut. Man liest nicht so oft von einem verzweifelten Professor dieses Schlages, der Böses tut, um Gutes zu bewirken. Sehr ansprechend finde ich auch, dass es ja eine bekannte Figur ist - in gewisser Weise sogar eine prägende -, der du einen Namen gegeben hast. So etwas gefällt mir und ich hätte gern noch mehr über ihn erfahren.

    In wiefern sein trauriges Schicksal bzw. die Erschaffung von Mewtu für diese Geschichte relevant sein wird, ist mir noch nicht wirklich klar. Bei Die Chroniken Johtos wäre er jetzt auch nicht der erste Legendäre gewesen, der mir in den Sinn kommt.


    Zum 1. Kapitel

    Sinan, du kleiner Mistkerl bist wohl auch nicht tot zu kriegen. Es ist irgendwie schon nostalgisch, wenn man so lange seine Geschichte gelesen hat, diese dann beinahe in Vergessenheit gerät und man nun einen neuen Ansatz für diese Figur bekommt. Natürlich freut mich das und ich hoffe innig, dass du diesmal die Geschichte auch wirst beenden können. Aber ein wenig find ich´s auch schade, da ich seine Beziehungen zu vielen der damaligen Charaktere echt gemocht habe und sich generell schon ein festes Bild von ihm in meinem Kopf befindet. Denke zwar nicht, dass du an ihm jetzt so viel verändern wirst, aber eine gewisse Veränderung wird sich ja wohl kaum vermeiden lassen.

    Sein erster Auftritt ist aber noch in einem gewohnten Rahmen, der mir gut in den Kram passt. Auch wenn ich mich nicht erinnern kann, ob er in deinen früheren Werken auch schon so abweisend zu Kindern gewesen ist. Doch dass du diesen Straßenslang gut einfangen kannst, ist ja nichts Neues, weshalb die Dialoge hier sehr stimmungsvoll ausfallen. Neue Leser werden jetzt nicht den Einblick haben wie ich, der genau weiß, was mit Sinans Familie passiert ist und auch wie und was das für ein Datenträger ist etc., doch das sollte für den Anfang auch nicht zu relevant sein. Man muss ja erstmal den Protagonisten kennenlernen.

    Da fand ich es aber schon überraschend, dass gleich zu Beginn ein solcher Unfall passiert und du sofort mit einem Cliffhanger des Befindungslevels "kleiner Zeh gestoßen" anfängst. Doch der ganze Tathergang war für mich noch ausbaufähig. Es las sich ein bisschen wie: der Mann fällt um, stoßt sich, ist jetzt wohl tot - ach Kacke aber auch. Gerade da man schon merkt, dass das weder Sinans Absicht war, noch etwas, dass ihm häufiger passierte und einfach an ihm vorbeizog, hättest du die Szene noch etwas ausschreiben können. Der Kapitellänge hätte es auch nicht geschadet.



    Ich sage abschließend mal welcome back und werde die Geschichte bestimmt weiter verfolgen. Also wiederschauen, reingehauen.

    Kapitel 24: Revelation

    „Melody?“
    Sie war es. Sie war es wirklich.
    Schon sprang ihn ein weiblicher Körper an und schloss in die Arme. Fest spürte er sie in seinem Nacken und ihr Gesicht an seine Schulter schmiegend. Einen einzelnen Schritt taumelte er zurück, noch immer fassungslos und verunsichert. Zum Einen misstraute er aus irgendeinem Grund seinen Augen. Zu Anderen war ihm die Situation einfach zu absurd. Was in aller Welt war das denn für ein Zufall? So was gab es doch eigentlich nicht?
    „Ich hab dich so vermisst.“
    Melodys Stimme erklang arg gedämpft, da sie in den Stoff seines Shirts hinein murmelte. Doch es genügte Ryan. Genügte, damit er diesen Moment als real, als unverfälscht klassifizieren konnte. Endlich, endlich, so dachte Melody, nahm auch er sie fest in den Arm und lachte überglücklich. Es war... jenseits von allem, was die Geschicke dieser Welt schon vollbracht hatten. Er hätte sie niemals auch nur auf diesem Kontinent vermutet und vor ein paar Sekunden hatte sie lediglich eine einzige Tür voneinander getrennt. Doch selbst dies schien unerreichbar weit entfernt, verglichen mit dem gegenwärtigen Augenblick. Arm in Arm, vereint, zusammengeführt. Es war wohl keine Übertreibung zu behaupten, Ryan hatte gerade die größte Überraschung seines Lebens erfahren.
    Langsam, fast etwas widerwillig, da sie sich eine gefühlte Ewigkeit nach seiner warmen Umarmung gesehnt hatte, legte Melody den Oberkörper etwas zurück und ließ ihre Arme hinunter zu seinem Rücken gleiten, um ihn ansehen zu können. Ihre Augen schimmerten. Ein winziger Anflug von Freudentränen. Doch ihr fehlten schlicht und ergreifend ein wenig die Worte. Was konnte sie sagen? Welche Worte waren angemessen? Im Grunde keine. Doch sie wollte, musste etwas sagen.
    „Du siehst gut aus.“
    Sie hatte sich für etwas total banales entschieden. Doch sie sprach diesen knappen Satz mit so überschwänglicher Freude aus, dass Ryan darin zergehen könnte.
    „Und du erst, Melody. Ich fasse es nicht, du bist... du bist echt...was machst du denn hier?“, mochte er sofort wissen und hetzte die Worte eiligst aus seinem Mund. Er konnte sein Glück kaum fassen und reagierte peinlich übertölpelt. Er redete hastig, wie ein verknallter Schuljunge.
    „Na dich sehen“, lachte sie ihn fröhlichst an und fiel ihm gleich wieder um den Hals.
    „Mann, ich glaub´s nicht. Du bist doch verrückt“, lachte Ryan nun ebenso und hob sie in seinem Glück ein wenig in die Luft und drehte sich einmal mit ihr.
    „Ich schieß mal ins Blaue und sag ihr kennt euch?“
    Erst jetzt wurde sich Melody der zweiten Person und Ryan seiner peinlichen Reaktion wirklich gewahr. Letzterer konnte darauf ausnahmsweise pfeifen, dafür war seine Freude zu überschwänglich. Doch das Mädchen in seinen Armen war nun ihrerseits an der Reihe, die Existenz der Person vor ihr in Frage zu stellen.
    „Du, Andrew?“
    Ryan sah zwischen beiden hin und her, bis sein Blick fragend bei Andrew hängen blieb.
    „Ihr zwei?“
    Wie jetzt? Andrew und Melody kannten sich? Der antwortete mit einer überdeutlichen Geste, dass es eigentlich an ihm war, diese Frage zu stellen.
    Ihrzwei?“
    Das war wohl aus seiner Perspektive berechtigt. Melody schien über das offensichtliche Unwissen Andrews bezüglich ihrer Person wenig überrascht. Sie und Ryan hatten geschworen, ihre gemeinsame Geschichte geheim zu halten. Zu heiß war das Eisen, aus dem sie geschmiedet wurde und zu gefährlich für die Öffentlichkeit und das Ohr dubioser Menschen.
    „Schätze wir haben was zu erzählen“, erkannte Ryan. Zu seinem Leidwesen musste er beobachten, wie die strahlenden Gesichtszüge Melodys schwanden und sich ein Schatten über ihr Gesicht legte. Eine trübe Wolke, die sich vor die Sonne ihres Wiedersehens schob.
    „Nicht nur über uns.“
    Gleichmäßige Schritte ertönten im Flur hinter ihr. Eine Person näherte sich ihnen und auch Ryans Freude wich einem unguten Gefühl, vergleichbar mit einer Mischung aus Schuld und Angst.
    „Es trübt mich zutiefst, eure Wiedervereinigung unterbrechen zu müssen. Doch ich schlage vor, dass wir uns an einen ruhigeren Ort begeben.“
    Von Sarkasmus oder Missachtung keine Spur in diesen Worten. Sie klangen aufrichtig, überzeugt und offenkundig sprachen sie im Interesse aller. Anders hatte er es von ihr auch nicht erwartet.
    „Mila.“
    Grüßend deutete sie eine leichte Verbeugung an.
    „Es ist gut Euch zu sehen, Ryan Carparso. Euch ebenso, Andrew Warrener.“
    Letzteren schien die Situation mehr und mehr zu überfordern.
    „Kennen wir uns?“
    „Nein“, antwortete Mila schlicht und hatte auch nicht vor, mehr hierzu beizusteuern.
    „Bitte, Ryan Carparso, suchen wir Ruhe vor neugierigen Ohren.“
    Nicht nur vor solchen würde er gerade liebend gern flüchten.


    Menschen hatten wohl unterschiedliche Auffassungen von Gefangenschaft. Neben der typischen Vorstellung von einem Knast existierten noch dutzende Definitionen, Umschreibungen oder Umstände für dieses Wort. Ryan sah sich selbst gerade ebenso als Gefangenen an. Gefangen in dem Raum, den er für die nächsten Wochen mit Andrew über Nacht teilen würde und eigentlich ein Rückzugsort für ihn sein sollte. Doch nun sah er sich, so ohne Ausweg auf seinem Bett sitzend, in die Ecke gedrängt. Beinahe schon eingepfercht.
    „Wo ist... deine Partnerin?“
    Einen Moment lang hatte er nach ihrem Namen überlegt, bis ihm einfiel, dass er ihn nicht kannte. Mila schloss gerade die Tür hinter sich und baute sich direkt vor ihr auf, als wolle sie mögliche Fluchtversuche unterbinden. Dies trug nicht gerade zu Ryans Wohlbefinden bei.
    „Behält die Umgebung im Auge. Wir wollen schließlich nicht belauscht werden, oder?“
    Es war deutlich zu spüren, dass sie ihre Worte bewusst gewählt hatte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie bereits etwas von einem Agenten Team Rockets erwähnt.
    „Leute, ich hab keine Lust mehr“, stöhnte plötzlich ein sehr genervter Andrew, der zwischen den beiden stand. Seine Laune überspielte er zumindest ein bisschen mit seinem unvergleichlichen Humor, war im Unterton jedoch angehaucht von einer Prise „Ihr-könnt-mich-gleich-alle-mal“.
    „Entweder mir sagt jemand mal sofort, was hier Sache ist oder ich bin weg und ihr klärt euren Kram allein – ganz einfach.“
    Ryan sah hilfesuchend zu Mila doch ihr Blick war entgegen von allem, was er erhofft hatte. Erwartungsvoll, auffordernd, eisenfest blockte sie seine stumme Bitte ab. Verlegen räusperte er sich und suchte nach den richtigen Worten. Gab es denn überhaupt richtige Worte, um all dies zu erklären?
    „Ähm, das hier... ist Mila“, begann er zögernd auf sie deutend.
    „Hi, Mila. Andrew, aus Johto. Freut mich. Weiter?“
    In Ryan kam der Wunsch auf, Andrew rauszuschmeißen. Nicht, dass er seine Ungeduld und seinen Missmut nicht verstehen konnte. Doch ihm war das hier eh schon unangenehm genug. Das war zumindest die gediegene, untertriebene Version seiner Gefühlslage. Dass ihm der Arsch gehörig auf Grundeis ging, wäre schon treffender. Melody, die neben ihm Platz genommen hatte und ihm beistehend eine Hand auf die Schulter legte, konnte daran leider auch nicht viel ändern. Dennoch war er dankbar für ihre Nähe.
    „Ich hab sie getroffen, kurz bevor du aus dem Krankenhaus raus bist. Sie ist... ähm...“
    Noch so eine Sache, die er nicht wusste, obwohl er davon ausging, sie wissen zu müssen. Vielleicht sollte er zunächst einige seiner eigenen Fragen klären, bevor er die von Andrew beantwortete.
    „Was bist du genau?“
    Da war es wieder. Das verfluchte Lächeln, das nach einem Moment noch ein wenig breiter wurde. Mila hatte es ihm bei ihrer ersten Begegnung bereits mehrfach gezeigt. Ryan mochte es nicht. Es war ihm verdächtig öffnend, vertraulich, ehrlich. Doch er wollte es nicht als solches anerkennen.
    „Die Drachenpriesterin.“
    Bestimmt eine halbe Minute herrschte totale Stille. Die Gesichter der drei Jugendlichen sprachen für sich. Irrglaube – in reifster Form. Ob sie davon ausgingen, dass sie log oder ob sie ihren Ohren misstrauten, konnte selbst Mila nicht bestimmen. Sehr wohl aber die nervösen Blicke, die sie untereinander wechselten. Sie erwarteten wohl mehr als Antwort, doch mehr hatte sie nicht vor auszusprechen, bevor nicht einer der drei etwas erwiderte. Es war schließlich Andrew, der eben dies tat.
    „Ich hör heute schlecht. Hat die das grade gesagt?“, wandte er sich an Ryan. Der war selbst nicht sicher, ob sie das hatte. Dabei war er schon davon ausgegangen, ihn könnte bezüglich dieser Frau wohl kaum noch etwas überraschen.
    „Etwas mehr Kontext wäre hilfreich, Mila.“
    „Gewiss.“
    Sie machte zwei langsame Schritte auf ihn zu und legte ihre Hände ins Kreuz.
    „Holt dazu bitte raus, was Ihr bei Euch tragt, Ryan Carparso.“
    Alle Augenpaare legte sich auf ihn. Himmel, was er jetzt dafür geben würde, sich einfach in Luft auflösen zu können. Das war genau das, wovor er sich am meisten gefürchtet hatte. Ihm war klar, von welchen Gegenstand sie sprach und wollte eigentlich sämtliche Gespräche ihn betreffend am liebsten umgehen. Reines Wunschdenken, wie er schon erkannt hatte. Sehr zögerlich wanderte eine behandschuhte Hand an einen der Reißverschlüsse seiner Jacke und öffnete ihn langsam. Noch langsamer glitt seine Hand schließlich hinein. Ein letzter, flehender Blick richtete sich noch an Mila, doch ihr Nicken ließ keine Ausflüchte zu. Das Zimmer wurde in naturgrünes Licht getaucht. Ausgehend von einem schillernden Kristall, der nebelartige Schleier in sich gefangen hielt. Andrew und Melody stockte der Atem. So viele Fragen, die sich in diesem einen Moment auftaten. Und nicht festzumachen, welche davon zuerst gestellt werden musste.
    „Was Ihr hier in Eurer Hand haltet, ist der Grund warum wir, also meine Partnerin und ich, gegen Team Rocket kämpfen.“
    Jeder von ihnen hörte Mila aufmerksam zu, doch konnten sie dies nicht tun, ohne den Blick von diesem wunderschönen, strahlenden Objekt abzuwenden.
    „Es ist das Herz des Drachengottes Rayquaza.“
    Und fort waren die Fesseln an ihren Augen. Denn alle wanderten sie zu der blonden Frau und sollte man bei der Aussage mit der Priesterin schon Zweifel in ihnen gelesen haben, musste hierfür eine neues Wort her. Diese Erklärung klang lächerlicher als alles, was sie Ryan noch auf Faustauhafen erzählt hatte. Doch genau wie schon zuvor an jenem Ort konnte er sich nicht dazu überwinden, ihr nicht zu glauben. Ob es Andrew und Melody genauso erging, zweifelte er jedoch stark an.
    „Ich sagte Euch bei unserem letzten Treffen, dass ihr einen dornigen Weg auf euch werdet nehmen müssen, Ryan Carparso. Dieser Gegenstand ist Ursache und Schlüssel dieses Konfliktes, in den ihr unwiderruflich geraten seid.“
    „Sorry, Mila“, unterbrach Andrw plötzlich. Das mit der Entschuldigung meinte er wahrscheinlich ernster, als sich erahnen ließ. Dennoch musste er ihr einschneiden.
    „Seit wann hast du das verdammte Ding, Ryan?“
    Schuldbewusst presste der die Lippen aufeinander und wandte den Blick ab. Ihm war natürlich klar, mit welcher Reaktion er jetzt zu rechnen hatte.
    „Ich hab ihn in Team Rockets Versteck in Wurzelheim gefunden.“
    „Na geil.“
    Kapitulierend warf Andrew die Arme in die Luft.
    „Bist du eigentlich vollkommen bescheuert, so etwas einfach einzustecken?“
    „Als hätte ich ahnen können, was es wirklich ist. Ist ja nicht so als Stünde das da drauf.“
    Andrew akzeptierte diese Ausrede keinesfalls.
    „Scheißegal was es ist. Du hast was gestohlen, falls dir das klar ist, du Idiot.“
    Abfällig schnaubte der Angeklagte. Das interessierte ihn nun wirklich mitunter am wenigsten in dieser Sache.
    „Ich hab was genommen, was eh schon geklaut war und es eben behalten.“
    Andrew war kurz davor an die Decke zu gehen. Was war eigentlich in Ryans hohlen Schädel gefahren? Das änderte doch rein gar nichts an seiner dummen Tat!
    „Willst du mich verarschen, oder kapierst du echt nicht, was du falsch gemacht hast?“
    Es war nicht so, dass er es nicht kapierte. Viel mehr so, dass er diese falsche Tat, dieses Verbrechen – so musste man es nennen – in Kauf genommen hatte, um diesen sogenannten Drachensplitter behalten zu können. Andrews Predigt, die in seinen Augen eigentlich Mila halten müsste, fiel in denselben Bereich. Jeden Vorwurf und Anschiss hätte er über sich ergehen lassen. Nicht aber, wenn Mila anwesend war. Die hatte sich bis eben in die Position einer schweigsamen Beobachterin gebracht und geduldig abgewartet. Nun legte sie Andrew eine sanfte Hand auf die Schulter und brachte ihn damit zur Ruhe. Ohne ihn dabei anzusehen, trat sie vor Ryan und ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihm zu sprechen. Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte weiter auf ihn herabgesehen. So war es schwieriger, ihren Blicken auszuweichen.
    „Ich bin wohl kaum in der Position, einen Diebstahl verurteilen zu können. Dafür habe ich selbst zu viele Verbrechen begangen. Aber Euch muss klar sein, dass ihr nun dennoch dafür geradestehen müsst.“
    Ryan fuhr die behandschuhte Hand in sein Haar und seufzte resignierend. Er kam aus der Sache nicht mehr raus. Geradestehen sollte er also. Und was stellte sie sich konkret darunter vor?
    „Wie? Soll ich ihn dir einfach geben? Ist das alles, damit wir getrennte Wege gehen können?“
    „Sicher nicht. Die Situation ist leider weit komplexer.“
    Mila richtete sich wieder auf, legte die Hände ins Kreuz und wankte abwesend ans Fenster. Die untergehende Sonne war von ihm aus zu sehen und beschien sie durch das Glas mit rötlichem Licht.
    „Wir stehen kurz vor einem Krieg.“
    Melody sog neben Ryan scharf Luft ein und schlug eine Hand vor den Mund. Er spürte, wie sich ihr Griff um seinem Arm verkrampfte. In diesem Moment dachte er daran, dass sie diese Frau mit ihren faszinierend ehrlich Worten selbst schon ein Stück weit kennengelernt hat und wusste, woran sie bei ihr war. Melody verdächtigte sie, ebenso wie Ryan, nicht eine Sekunde lang der Lüge. Wenn Mila sagte, dass ein Krieg kam, so glaubten sie beide ihr. Genau wie bei allem anderen. Einen gab es jedoch, dem es anders erging.
    „Ein Krieg? Das ist nicht dein Ernst?“
    Andrew vergaß im Angesicht der ihm immer noch obskuren Situation die Höflichkeiten, indem er Mila duzte. Die störte sich scheinbar nicht im Geringsten daran. Doch dass derartige Formalitäten für sie von Belangen wären, hatte auch keiner von ihr erwartet. Zunächst schien sie die Frage zu ignorieren oder aber als rhetorisch einzuschätzen. Nur einen Moment bevor Andrew klarstellen wollte, dass dies nicht der Fall war, öffnete Mila auf einmal das Fenster und trat einen Schritt zur Seite. Ein tief klackerndes Geräusch drang von draußen zu ihnen herein. Ein Schritt auf den Dachziegeln über ihnen, wie sich erahnen ließ und schon hangelte sich eine feminine Gestalt von oben herab und schwang sich ins Innere des Zimmers. Die drei Jugendlichen erschraken ein wenig, Andrew trat gar einen alarmierten Schritt zurück. In einer hockenden Position suchten die rubinroten Augen sofort die von Ryan. Sie waren alles, was nicht unter dem Blauen Schal verdeckt wurde.
    „Verdammt, wer bist du denn jetzt?“, verlangte ein noch immer sehr überraschter Andrew zu wissen. Tatsächlich war er der einzige im Bunde der drei, der sie jetzt gerade zum ersten Mal traf. Ryan räusperte sich nervös. Ihre Anwesenheit machte die Situation für ihn nicht erträglicher.
    „Das ist Milas Partnerin...“
    Er hatte gesprochen, als wollte er ihren Namen hinzufügen und unbewusst war das seine Absicht gewesen. Doch da merkte er wieder, dass er nicht wusste, wie er lautete. Er bereute es im selben Moment, da Andrew ihn erwartungsvoll ansah und unverkennbar nach einem Namen verlangte.
    „Sie heißt...“, setzte Ryan absolut unwissend erneut an und sah fragend zu Mila herüber. Dass er das Mädchen nicht zum Reden würde bewegen können, hatte er sich bereits gedacht, doch dass selbst Mila schwieg, war definitiv entgegen seiner Erwartung.
    „Na wie denn jetzt?“
    Schnell huschte Ryans Blick zwischen Mila und Andrew hin und her. Warum sagte sie nichts? Warum überließ sie ihn sich selbst mit der Erklärung?
    „Äh, sie heißt..., äh...“
    Er schnippte mit den Fingern, als läge ihm der Name auf der Zunge. Irgendeiner musste her.
    „Sie heißt Si..., ähm Sheila.“
    Gott was war hier gerade passiert? Wieso hatte er denn das nun gesagt? War er denn von Sinnen?
    „Ihr Name ist Sheila“, wiederholte Ryan aus ihm unbekannten Gründen. Hätte er doch einfach gesagt, er wüsste es selbst nicht. Hatte ein Anflug von Panik ihm so die Zunge gelöst?
    Ein furchtsamer Blick ging zu dem Mädchen, dem er der allergrößten Wahrscheinlichkeit nach gerade einen falschen Namen verpasst hatte. So trafen sich ihrer beider Augen erneut. Doch seltsamerweise waren sie noch genau so, wie vor ein paar Sekunden, als sie hereingesprungen war. Sie hatten sich kein bisschen verändert. Einen Moment lang hielten sie den Kontakt, bevor sich das Mädchen langsam und plötzlich völlige Gleichgültigkeit ausstrahlend aufrichtete, während das Fenster hinter ihr wieder geschlossen wurde.
    „Und?“
    Die frisch getaufte Sheila trat sachte an die Wand heran, um daran zu lehnen und die Arme vor der Brust zu verschränken.
    „Die Umgebung ist sicher“, berichtete sie knapp. Ein Nicken nahm es zur Kenntnis, bevor Mila wieder in die Mitte des Raumes schritt.
    „Ernst ist es mir absolut“, knüpfte sie an die vorige Frage an. Alles bezüglich ihrer Partnerin und deren neuen Namen ließ sie völlig unkommentiert. Ryan nahm sich fest vor, sie später zur Rede zu stellen.
    „Doch bevor ich euch erzähle, welche Tragweite dies hat, muss ich wissen, ob es euch ebenfalls ernst ist. Ob ihr bereit seid, für das, was ich euch erzähle und ob ihr bereit seid, zu kämpfen.“
    Prüfend sah sie alle drei an. Ryan zuletzt und an ihm blieb ihr Blick auch stehen, eine Antwort erwartend. Er dachte ohnehin nicht, dass er eine großartige Wahl hätte. Die konnte er sich nicht leisten. Und obwohl ihm diese ganzen Umstände und Offenbarungen, vagen Erklärungen und Vorwürfe schon in Faustauhafen zerfressen hatten, gab es da etwas, das noch stärker an ihm nagte. Und das war das Gefühl der Schuld. Gleich was er zuvor gesagt oder nicht gesagt hatte. Was er abgestritten und kleingeredet hatte. Er wusste selbst um seine Tat. Und in diesem Augenblick, in dem Mila ihn abwartend, keinesfalls fordernd oder erwartungsvoll, ansah, wuchs in ihm der Wunsch, seine Tat wieder gut zu machen. Er wurde in diesem Moment weder gedrängt noch getrieben und doch gab es keine andere Option. Er gestatte sich selbst keine weitere als die, für seine Tat gerade zu stehen.
    „Sag uns, was hier los ist.“
    Andrews Seitenblick bemerkte er gar nicht, doch seine Meinung würde er in diesem Fall nicht anhören. Egal wie sie aussähe, sie würde seinen eigenen Entschluss nicht beeinflussen. Wenn er hinterher sagte, dass er mit all dem nichts zu tun haben wolle, würde er das ohne jeden Missmut akzeptieren und alleine die Konsequenzen tragen. Gerade als er diesen Gedanken beendet hatte, spürte er wieder Melodys warme Hände auf dem Rücken seiner eigenen. Sofort zog es seinen Blick zu ihr. Ihre Augen strahlten einen stärkenden, unerschütterlichen Glanz aus. Sie versprachen ihm hier und jetzt ihre bedingungslose Unterstützung, was auch immer gleich passieren würde. Ryan war für einen Moment wie gelähmt. Wie konnte es sein, dass er nach so kurzer Zeit beinahe ihre Augen vergessen hätte?
    „Es ist zwar nur sehr wenigen Menschen auf der Welt bekannt, aber der Drachengott Rayquaza hegt bereits seit hunderten von Jahren einen tiefen Groll gegen die Menschen“, begann Mila schließlich.
    „Damals, als Ritter, Jäger und Helden sich aufmachten, um für Ruhm und Gold oder aus Furcht und Hass Drachen zu töten. Viele tausend ihrer Art wurden innerhalb von wenigen Jahren hingemetzelt. Und mit jedem schwindenden Leben wuchs der Zorn Rayquazas. Zorn auf die Menschen, Zorn auf ihr Denken, Zorn auf ihr Handeln, Zorn auf ihre Existenz. Und nach einem Jahrhundert des leidvollen Zusehens, fasste der Drachengott schließlich den Plan, die Menschheit auszurotten.“
    Ryan schluckte schwer. Dass dieses Ereignis nun schon mehrere hundert Jahre in der Vergangenheit liegen musste, war die eine Sache. Doch ihm stellte sich unwillkürlich die Frage, was wohl passiert wäre, hätte Rayquaza Erfolg gehabt. Oder hat er seinen Plan vielleicht aus eigenem Entschluss aufgegeben? Es war Melody, die seine eigene Frage letztlich stellte.
    „Hat er den Menschen doch vergeben, oder warum hat er es nicht getan?“
    „Oh, er hat es getan. Oder war eher zielstrebig dabei, seinen Plan zu verwirklichen.“
    Die beiden tauschten untereinander und auch mit Andrew schweißtreibende Blicke aus. Keiner wusste besonders viel über Rayquaza, außer, dass die meisten als das Oberhaupt aller Drachenpokémon handelten und in einigen Religionen als Gott verehrt wurde. Allmächtige Fähigkeiten traute man ihm allgemein nicht wirklich zu, jedoch wart ihm seit jeher eine unglaubliche, zerstörerische Macht nachgesagt.
    „Ich weiß nicht genau, wie viele Menschen seinem Zorn zum Opfer gefallen sind, doch die Zahl ist sicher erschütternd“, erzählte Mila mit einer leicht trauernden Stimme weiter. Nahm sie gar so viel Anteil an dem – zugegeben tragischen – Schicksal der Menschen von damals?
    „Von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf brannte er alles nieder und löschte Familien, Sippen, fast sogar ganze Königreiche aus. Er war zum Gott des Krieges und des Todes geworden und zerstörte, vernichtete so grauenvoll und gnadenlos...“, sie brach ab. So richtig wollte auch keiner, dass wie weiter ins Detail ging. Jeder Idiot merkte, welch dunkle Gedanken sie mit diesem Ereignis verband.
    Andrew schüttelte es. Man stelle sich vor, Rayquaza würde zu heutigen Tagen einen solchen Entschluss fassen. Man stelle sich vor, ein riesiger, grüner Drache flog über die Städte und ließ alles in einer Flut aus Feuer und Gewalt versinken. Zu behaupten dies wäre beängstigend, war ungefähr so zutreffen wie die Aussage, dass die Oberfläche der Sonne warm sei.
    „Doch ja, Melody“, fuhr Mila dann nach einem stillen Moment fort, in dem sie genau beobachtet hatte, wie ihre Geschichte auf jeden einzelnen wirkte. Sie waren seit Jahren die ersten, die davon hörten.
    „Rayquaza hat den Menschen eine weitere Chance gewährt. Er hat sie – hat uns verschont. Nur durch die Aufrichtigkeit und den Mut einer einzelnen Frau. Eine Frau, die in Begleitung ihres Drachengefährten um Rayquazas Gnade flehte und ein Umdenken unter den Menschen zu erreichen versprach. Eine ehrenvolle und stolze Kriegerin namens Mirjana. Sie wurde die erste Drachenpriesterin.“
    All diese Informationen zu verarbeiten, war nicht gerade einfach. Mehr und mehr wurde allen bewusst, welche Tragweite die Situation besaß und auf was sie sich gefasst machen mussten.
    „Was hat das mit dem Drachensplitter zu tun?, verlangte Ryan zu wissen.
    „Du sagtest, er sei sein Herz, richtig?“
    „Ein Teil davon, um genau zu sein. Seine Existenz band die Drachenpriesterin jedoch an sich. Er verlieh ihr fortan ewige Jugend, damit sie ihn über die Zeitalter hinweg schützen konnte. Er ist außerdem ein Symbol für seine Gnade, seinen guten Willen. Doch der entstandene Frieden war brüchig.“
    Ihre Gesichtszüge wurden finsterer, beinahe melancholisch. Ihre himmelblauen Augen hatten den Glanz verloren und ihr Blick schien sich in irgendeinem Fernen Punkt zu verlieren.
    „Viele Menschen wollten nach dem Blutbad nichts von Gnade und Frieden wissen. Im Gegenteil. Der Hass war größer denn je. Einige schmiedeten sogar Pläne, Mirjana zu benutzen, um Rayquaza zu hintergehen und umzubringen. Vergeblich hatte Mirjana versucht die Narren von ihrem törichten Unterfangen abzuhalten. So hatte sie aus Angst, Rayquazas Zorn würde sich erneut gegen sie richten, keinen anderen Weg gesehen, als jenen Menschen das Leben zu nehmen.“
    „Sie hat diese Leute einfach umgebracht?“
    Melody klang ungläubig. Sie hatte im ersten Moment tiefen Respekt für diese Mirjana empfunden. Sich allein einem rasenden Drachengott zu stellen und ihn zu besänftigen, war bei Leibe nichts, was jeder konnte. Allein den Mut des Versuches würde wohl nur ein Bruchteil aller Menschen aufbringen können, doch es war nicht nur beim Versuch geblieben, sie hatte Erfolg gehabt! Und dann war sie solch radikale Wege gegangen?
    „Zu oft und nicht selten wurde ihr Arm von ihren Emotionen und ihrer Angst gelenkt. Ich kann das nicht rechtfertigen. Ich stehe hier nur als eine weitere von vielen Seelen, die die Last ihrer Bürde höchstens im Ansatz zu erahnen vermag. Doch sie hatte es aus einem noblen Grund heraus getan. Sie war bereit, alles Leid und jede Schuld auf sich zu nehmen, damit die Menschheit fortbestehen konnte. So grausam ihre Methoden auch waren, ist es gut möglich, dass es keinen anderen Weg gegeben hatte. Nicht, wenn sie ihr Wort halten wollte.“
    „Du sprichst bemerkenswert präzise davon.“
    Alle Augen richteten sich auf Ryan. Seine Worte hatten beinahe anklagend geklungen und ebenso schaute er Mila an. Erstaunlich, wenn er daran dachte, wie schwer ihm das bisher gefallen war. Doch er meinte etwas zu erkennen. Mila verschwieg ein wichtiges Detail, das sie ihnen unbedingt preisgeben musste. Das sagte ihm zumindest sein Gefühl.
    „Wie kannst du so alte Ereignisse so genau erzählen und dir sicher sein, nicht falsch zu liegen?“
    An dieses breiter werdende Lächeln würde er sich wohl nie gewöhnen. Doch diesmal fand er, dass es anders war. Er meinte fast so etwas wie Zufriedenheit darin zu erkennen. Ja, als sei sie zufrieden mit seiner Auffassungsgabe. Stimmte seine Vorahnung etwa doch?
    „Noch einige Monate bevor Mirjana die Aufgabe als Wächterin des Drachensplitters übernahm, gebar sie eine gesunde Tochter. Der Vater blieb allen Folgegenerationen unbekannt und so zog sie das Kind alleine auf. Es ist jedoch sicher, dass auch er unter Rayquazas Zorn gefallen war.“
    Ryan spürte, dass sie mit dieser Erklärung auf etwas hinarbeitete, ihm vielleicht den gesamten Umfang der Antwort auf seine Frage klar zu machen gedachte. Daher wartete er geduldig ab und ließ sie erzählen.
    „Die Magie des Splitters schützte eben nur vor dem Alter, nicht jedoch vor dem Tod selbst. Letztlich hatte sich Mirjana zu viele Feinde gemacht und so holte er auch sie zu sich. Daraufhin leistete die Tochter, die zu diesem Zeitpunkt fast in Mirjanas Alter schien und doch viele Jahre jünger war, den altehrwürdigen Schwur, der sie als neue Drachenpriesterin bestimmte und somit ihrerseits ewige Jugend verlieh.“
    „Wer war ihre Tochter?“, fragte nun Andrew. Es war keine Häufigkeit, dass er einer Geschichte so still und wissbegierig lauschte. Doch er hatte schon immer das Gespür für ernste Situationen besessen und sein sonst so lebhaftes Verhalten zurückgestellt. Und Ryan spürte deutlich, dass es seinem besten Freund kein bisschen anders erging, als ihm selbst.
    „Wer war ihre Nachfolgerin?“, konkretisierte er, da Mila auch nach einigen Sekunden Stille walten ließ.
    „Es gab nur eine weitere Drachenpriesterin nach ihr.“
    Es fiel ein Groschen. Er schlug auf, auf eine Fels irgendwo zwischen dem Verstand von Ryan, Andrew und Melody und summte ein schallendes Echo. Draußen vor dem Fenster schwand gerade der letzte Rest sonnigen Tageslichts hinter dem Horizont und tauchte die Szenerie in das diffuse Licht einzelner blasser Sonnenstrahlen, die sich noch über ihn hinwegsetzten.
    „Ihr Name lautet Mila.“


    Auch nach einer geschlagenen Minute war es still im Raum. Nicht jedoch, da einer von ihnen Mila nur eine Sekunde misstraute. Sie hatten alle inzwischen begriffen, dass Mila nicht log und die Situation bei weitem viel zu ernst für Scherze war. Doch auch schien keiner so richtig schlüssig, was man in solch einem Moment nach solch einer Nachricht erwiderte. Wie viele Menschen hatten wohl eine vergleichbare Geschichte verarbeiten müssen? Spontan würde ein jeder von ihnen auf Null raten.
    „Ja, Mirjana war meine Mutter und sie...“, Mila deutete auf ihre noch immer stillschweigende Partnerin in der Ecke. „...machte ich zu meiner Gefährtin. Wir beide sind inzwischen über sechshundert Jahre alt.“
    Ryan stützte die Ellenbogen auf die Knie und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Zwei Menschen aus einer anderen Epoche. Zwei unsterbliche Kriegerinnen, die einem gottähnlichen Drachen dienten. Er hatte bereits Dinge mit eigenen Augen gesehen und erlebt, die ihm wohl kaum eine Seele auf dieser Erde glauben würde, hätte er jemals davon erzählt. Doch das war auch für ihn ein schwerer Brocken.
    Melody sah ihn desillusioniert von der Seite an. Sie wollte in diesem Moment nichts sagen. Ihr fiel auch nichts ein, was irgendjemandem hier helfen oder sonst wie von Nutzen sein könnte. Dafür war sie nicht genug in die Situation involviert. Dieses Gefühl beschlich sie zumindest, doch Tatsache war wohl, dass sie mit ihrer Anwesenheit während Milas Erklärung genau das war. Doch dessen würde sie sich wohl erst im Laufe der Nacht bewusst werden.
    Andrew hatte die Hände in die Hüften gelegt und starrte abwesend zur Zimmerdecke. Er fühlte sich an seine Kindheit zurückerinnert. Sein Vater war sehr belesen und interessiert an alten Sagen und Legenden und hatte ihm an manchen Abenden, anstatt eine Geschichte vorzulesen, wie es bei anderen Kindern zu dieser Lebenssparte üblich war, über die Götter erzählt. Andrew hatte dem immer teils ehrlich interessiert, teils belustigt gelauscht. Es waren meist unglaubliche Geschichten gewesen, die ihn regelrecht in Ehrfurcht hatten erstarren lassen, doch war er immer davon ausgegangen, dass er niemals zu der Handvoll Menschen unter Millionen gehören könnte, die tatsächlich mit ihnen in Kontakt kamen. Die fortwährende Legenden weiter schrieben. Und jetzt stand er hier inmitten einer solchen Legende. Die Umstände machten ihn jedoch deutlich weniger froh darüber, als er je gedacht hätte.
    Langsam wanderte Milas linke Hand hinauf an den rechten Oberarm. Dort, wo der braune Lederhandschuh endete, befand sich einer Schnalle, die sie beherzt öffnete und ihn behutsam auszog.
    „Dies ist das Zeichen, das den Schwur bekundet.“
    An ihrem Zeigefinger steckte ein silberner Ring in Form eines Drachenkopfes. Er glänzte wie akribisch poliertes Platin und in seinen Augen saßen kleine Smaragde.
    „Mit diesem Ring wart die Drachenpriesterin ernannt und gleichzeitig die Macht gegeben, einen Menschen zu ihrer rechten Hand zu ernennen und ebenfalls mit einem verlängerten Leben an ihre Aufgabe zu binden.“
    Sie sah zu der Attentäterin, die nach wie vor schweigend, fast desinteressiert alldem beiwohnte.
    „Ich machte ihr vor langer Zeit das Angebot, ihr Leben an meiner Seite zu führen. Eine der besseren Entscheidungen in meinem langen Dasein, wie ich betonen muss. Sie hat mir nicht nur durch unzählige Gefahren hindurch die Treue gehalten und mir dabei mehrfach das Leben gerettet, sondern ist mir ein unersetzlicher Mensch geworden.“
    „Und wie kam sie dazu?“
    Erneut trat Stille ein. Zwei rubinrote Augen blitzen erstmals mit Interesse auf und fixierten den blonden Trainer, der fest Mila ins Visier nahm und den Blick des Mädchens nur kurz erwiderte. Ryan hatte aufgehört, ihre Worte zu hinterfragen, Spekulationen anzustellen und alles auf die Goldwaage zu legen. Er hatte sich entschieden, die Dinge, die er mit seinem Diebstahl wohl teilweise mit ins Rollen gebracht hatte, zu akzeptieren. Doch diese Sache wollte er klären. So unbekannt und schleierhaft, wie ihm die von ihm benannte Sheila noch war, weigerte er sich, den beiden zu vertrauen. Mila hatte bereits einmal bekundet, dass es sie nicht interessierte, ob er ihnen sein Vertrauen schenkte, doch er wollt es ihnen schenken können. Dazu musste er die grundlegenden Dinge über sie wissen.
    „In welcher Verbindung stehst du zu Mirjana?“, richtete er die Frage, die ihm am meisten auf der Zunge brannte nun direkt an Sheila. Es war ihm selbst noch immer komisch dabei, selbst wenn er sie nur in Gedanken so nannte. Doch besser er gewöhnte sich gleich daran. Denn würde man beabsichtigen, sie anders anzusprechen, hätte einer der beiden protestiert – was sie auch jetzt nicht taten.
    Mila sah zu ihrer Partnerin herüber und nickte kaum merklich. Erlaubnis oder vielleicht Befehl, die Antwort selbst zu geben. So kalt und gespenstisch wie Ryan es selbst von ihr nicht erwartet hätte, tat sie eben dies und wirkte dabei doch belanglos und monoton, als sei es ach so banal.
    „Ich habe sie getötet.“

    Kapitel 23: Talent und Fleiß


    So schwer. So irrsinnig schwer waren ihre Glieder. Die Muskeln wollten ihr kaum noch gehorchen. Sie stank nach Dreck und Schweiß und sehnte sich nach nichts mehr als dem Ende. Doch von dem Kampf erlöst werden oder ihn gar verlieren, das kam nicht in Frage. Zitternd protestierte ihr rechtes Knie, das auf den Boden gesunken war, als sie sich unter Strapazen erhob und eine sehr wackelige Kampfposition einnahm. Nur noch ein kleines bisschen. Ihr Gegner war ebenso erschöpft. Wenn nicht noch mehr.
    Dieser brauchte bereits alle Viere, um der Erdanziehungskraft zu widerstehen. Dabei fühlten diese sich an, als seien sie mit schweren Gewichten bestückt. Seine Lungen schmerzten und sein Herz hämmerte wild in seiner Brust. Verzweifelt versuchte er, sich nicht vom Adrenalin überwältigen zu lassen, die Ruhe zu bewahren und überlegt zu handeln. Was ist nun der beste Schritt, diesen Kampf zu gewinnen? Keine andere Frage ließ er in seinem Verstand verweilen.
    Moorabbel und Kirlia hielten kampfeseifrig Blickkontakt, warteten, lauerten auf das berüchtigte Blinzeln des Gegners. Und da kam es. Das anmutige Psychowesen stellte den vorderen Fuß leicht quer. Das Amphibium erkannte den Zug wieder. Zu häufig vollführte sie immer wieder dieselben Manöver. Moorabbel sprintete los. Sowie er das tat, ging Kirlia in einer Drehung über, streckte die Arme und materialisierte in jeder Hand einen dunkelvioletten Energieball. In einer fließenden Bewegung schleuderte sie beide auf ihren Gegner. Der machte sich ohne viel Federlesen sehr klein, schlidderte durch die Erde und duckte sich so unter dem ersten Hinweg. Dann formte er seinerseits eine Kugel in der Hand, welche allerdings von blauer Färbung war. Mit einem wilden Sprung warf er den Arm nach vorne und schmetterte sie dem Spukball entgegen. Die Aquawelle entfaltete ihre Wirkung, entlud sich zu einer Wand aus kaltem Wasser und spülte alles auf ihrem Weg hinfort. So auch Kirlia, die diesen Massen schier nicht standhalten konnte. Doch dieser Treffer forderte seinen Tribut. Die finsteren Kräfte des Spukballs waren nicht verpufft. Morrabels Arm wurde mit einem schmerzenden Stechen belegt und er selbst von der Druckwelle der Kollision zurückgeschleudert. Der lilafarbene Rauch, welcher noch für die Dauer des Schmerzes von der blauen Haut aufstob, zeugte von der Wirkung von Kirlias Attacke. Wieder einige Meter auseinander konnten beide unter größten Anstrengungen nur noch den Oberkörper aufrichten. Zähneknirschend und energisch stöhnend und klagend suchten sie erneut den Blick ihres Kontrahenten. Bald würde der Sieger des Kampfes ermittelt werden, indem einer diesem Blick nicht mehr standhielt. Damit war es genug.
    „Sehr gut, ihr beiden. Das war´s.“
    Ryan klatschte nicht nur um das Ende ihres gemeinsamen Trainings zu verkünden, sondern auch ihrer Leistung halber. Die zwei hatten wirklich alles gegeben und mit bemerkenswertem Eifer gekämpft. Würde er sie hier nicht stoppen, wäre eine baldige Verletzung ein fast unausweichliches Resultat. Eigentlich war eine gewisse Grenze schon seit einigen Minuten überschritten, doch dieses Duell hatte Ryan regelrecht fasziniert und ihn seine Rolle als sogenannter Schiedsrichter zeitweilig vergessen lassen. So einen Kampfeswillen hatte er nicht zu beobachten erwartet.
    „Ihr wart wirklich gut. So wollte ich das sehen.“
    Er trat auf das Kampffeld – eines von dreien, die sich im Hinterhof des Pokémoncenters befanden – und zwischen die beiden, winkte sie dabei zu sich ran. Nun, da ihnen Ruhe vergönnt war und nicht länger der ganze Körper unter Spannung stand, fielen einfache Schritte bereits leichter für die Pokémon. Ein klein wenig wurmte es aber insgeheim beide, den Stärkeren unter ihnen nicht ermittelt haben zu können. Ryan ging in die Hocke und empfing seine Schützlinge mit lobendem und respektvollem Streichen von Kopf und Rücken.
    „Das war Kämpfen auf hohem Niveau“, beteuerte er weiter und sah den Pokémon dabei ganz bewusst fest in die Augen. Solche Dinge sagte er nicht einfach so. Er pflegte seit langem schon einen harten Drill beim Training, doch erbrachte Leistung sowie Willen und Fleiß hatte er auch immer angemessen zu loben gewusst.
    „Ihr besitzt ein wahnsinniges Talent. Mit so einer Basis könnt ihr es weit bringen.“
    Sporadisch begann er Blessuren und leichte Wunden vorsätzlich zu untersuchen und förderte für deren Behandlung Salben und Spray aus seinem Rucksack zutage. Moorabbel hatte bereits gelernt, was diese bedeuteten – an erster Stelle Schmerz und üblen Geruch. Damit hatte er jedoch kein Problem, wenn es seine Blessuren linderte. Ob Kirlia diese Einstellung teilen würde, stand in einem anderen Buch. Tatsächlich zog sich das kindliche Wesen bei dem ersten Stechen in ihrer Nase einen alarmierten Schritt zurück. Sofort bemühte sie sich aber um Haltung, als sie erkannte, dass ihr Kamerad – sie nannte ihn allein des Befehls ihres Trainers wegen so – davor nicht zurückschreckte. Ryan überraschte diese Reaktion kaum.
    „Du wirst dich dran gewöhnen, Kirlia. Keiner mag es beim ersten Mal, aber du wirst die Wirkung schätzen lernen.“
    Vorsichtig trug er die kühle Masse auf ihrer Haut auf. Leichtes Zucken und Protestieren ignorierte er dabei, als hörte er es gar nicht. Kirlia war wirklich eine Spur zu Stolz für ihr eigenes Wohl.
    Ryan legte sich währenddessen in Gedanken einige Worte zurecht, mit denen er die zwei bezüglich ihrer Defizite zu konfrontieren gedachte. Talent, Einsatz und Leistung hin oder her, hatten sie noch einen weiten Weg vor sich. Selbstverständlich, wie man festhalten musste. Es waren noch recht junge Geschöpfe, aber mit hervorragenden Anlagen und vorbildlicher Einstellung. Sie waren Rohdiamanten, die von einem fähigen Trainer geschliffen werden mussten.
    „Ich will mal mit den Negativpunkten anfangen“, setzte er nun wieder weniger euphorisch und begeistert an.
    Moorabbel und Kirlia blickten ihn aufmerksam an. Die kleine Göre vielleicht mit etwas weniger Gehör, da sie von den angeblich heilenden Substanzen auf ihrer Haut dezent angewidert war. Doch Ryan wandte sich zunächst dem Wasserpokémon zu.
    „Du handelst mir auf jeden Fall noch zu impulsiv. Schön und gut, wenn du so eifrig zur Sache gehst und dabei keinen Moment zögerst. Aber du versuchst jede noch so kleine Chance wahrzunehmen, um einen Treffer zu landen und gehst hohe Risiken ein. Wir kämpfen geduldiger und überlegter.“
    Im Laufe seiner Karriere hatte es nicht wenige Momente gegeben, in denen Ryan die Idee verfolgt hatte, seine Taktik mehr den kämpfenden Pokémon anzupassen. Nicht nur seinem eigenen, sondern auch dem des Gegners. Immerhin hatten verschiedene Spezies verschiedene Stärken und Schwächen. Doch jedes Mal war er zu der Erkenntnis gekommen, dass sein Stil keine Art von Kämpfer bevor- oder benachteiligte. Er ließ seine Gegner gerne Auflaufen und ihre Schwächen entblößen und dies ließ sich mit vielerlei Taktiken bewerkstelligen. Ob mit Nah- oder Fernkämpfern, ob mit einem schwergewichtigen Kraftpaket oder einem filigranen Techniker. Mit jedem fand er Mittel und Wege, seine Gegner abzuwehren oder ihnen auszuweichen und dann im kritischen Moment zuzuschlagen. Doch das konnte nicht gelingen, wenn Moorabbel seinerseits ins offene Messer sprang.
    „Wenn wir zusammen kämpfen, sprich du nach meinen Anweisungen handeln musst, sollte das kein Problem sein. Aber es gibt Situationen, in denen du gedankenschnell sein und dann eigenständig richtig reagieren musst. Und dann ist es besser, wenn man defensiver denkt.“
    Das Wasserpokémon nickte immer wieder und hing an jedem Wort seines Trainers. Er hatte bereits gelernt, dass er von Ryans Erfahrung nur profitieren konnte. Selbst wenn das bedeutete, die eigene Kampfeslust etwas zu zügeln. Dieser Mensch hatte mehr Kämpfe erlebt, als sich das Amphibium vorstellen konnte. In erster Linie ordnete er sich ihm deswegen unter und nicht wegen einer Hierarchie von Pokémon zu Trainer.
    „Aber ich bin wirklich begeistert, von deiner Auffassungsgabe“, setzte Ryan nach kurzer Pause an und begann dabei aufrichtig zu lächeln.
    „Du hast ein wahnsinniges Gespür für den Gegner und erkanntest immer früh, was Kirlia vorhatte. So etwas nennt man den Kampf lesen. Und das ist gerade für unseren Stil unglaublich wertvoll. Wir werden uns künftig darauf konzentrieren, deine Attacken zu verbessern. Wenn du in der Lage bist, einen Gegner mit zwei, drei gezielten Treffern zu überwältigen, wirst du zu einer Festung.“
    Insgeheim dachte er damit ein wenig weit voraus. Als vollentwickeltes Sumpex würde dieser Plan noch viel besser aufgehen. Als Moorabbel besaß er noch etwas zu wenig Kampfgewicht und war schlicht noch nicht kräftig genug. Doch das würde er ausgleichen können, indem er defensive Attacken wie Schutzschild förderte und clever einsetzte.
    „Genau das ist etwas, was dir ein wenig fehlt, Kirlia.“
    Die Psychodame machte eine leicht empörte Geste. Unverschämtheit. Sie hätte den Kampf doch sicher gewonnen, hätte er nicht dazwischengefunkt. Dieser plumpe Sumpfhüpfer war doch schon am Ende gewesen.
    „Du beherrschst sehr gute Attacken und setzt sie auch sehr gut ein. Aber du hast ein recht durchschaubares Angriffsmuster. Wenn etwas nicht ganz nach deiner Vorstellung funktioniert, gerätst du schnell in Bedrängnis. Dabei bist du eigentlich sehr agil und geschickt. Mach davon Gebrauch. Wenn du gewollt hättest, hättest du Moorabbel richtig an der Nase herumführen können.“
    Anfangs hatte Ryan sogar vermutet, dass Kirlia genau das vorgehabt hatte. Gerade weil ihr Gegner etwas ungestüm und übermütig attackiert hatte, wäre es für einen erfahrenen Kämpfer unschwer gewesen, dieses Duell herumzureißen. Doch jene Erfahrung fiel nicht vom Himmel. Sie brauchte mehr Zeit und mehr Training.
    „Und vor allem darfst du dich nicht dran aufhängen, wenn eine Aktion nicht nach Plan verläuft. So etwas wie einen perfekten Kampf gibt es nicht. Ihr werdet immer auch einstecken müssen. Das gehört zum Rhythmus eines Kampfes. Aber das bringen wir dir schon noch bei“, versprach der junge Trainer abschließend. Er konnte eindeutig sehen, dass ihr diese Belehrungen und die Kritik missfielen. Doch sie würde lernen, sich seine Ratschläge zu Herzen zu nehmen. Denn den Willen stärker zu werden, hatte er längst in ihr gefunden. Und dafür würde sie ihre Sturheit beiseiteschieben.
    Gerade wollte Ryan erneut ansetzen, da war plötzlich eine enorme Hitze auf seinem Rücken sowie ein leichtes Beben, das die Erde durchstieß, zu spüren. Begleitet wurde dies von dumpfen Schlägen auf dem Boden und dem Knistern lodernder Flammen. Moorabbel und Kirlia erschraken ein wenig, während ihr Trainer höchstens halbwegs interessiert über die Schulter blickte. Despotar und Hundemon standen sich in einigen Metern Abstand gegenüber und sahen einander tief in die Augen. Es war keinerlei Abscheu, Hass oder wilder Zorn, der darin brannte. Lediglich gesunder, aber dennoch harter Konkurrenzkampf unter Kameraden. Eine schwarze Schneise auf dem Boden verriet deutlich, wo Hundemons Flammenwurf gewütet hatte. Der Schattenhund selbst stand umringt von schwerem Gestein, das Despotar auf ihn geschleudert und selbiges sich bei diesem Fehlversuch tief in die Erde geschlagen hatte. Viel Zeit zum Ausruhen gönnten die Kontrahenten einander nicht. Hundemon sammelte bei sich eine dunkle, wabernde Energiemasse, während Despotar mit einer schwungvollen Bewegung seines ganzen Körpers einen Sandsturm heraufbeschwor. Dieser kollidierte nur eine Sekunde später mit der Finsteraura und wurde zu einem unberechenbaren Sturm aus Schattenenergie. Ryan hielt sich eine Hand vor und bedeutete mit der anderen Kirlia und Moorabbel, hinter ihm zu bleiben. Reißende Winde und Schlieren dunkler Unlicht Kraft schlugen um sie, waren glücklicherweise aber auf dieser Distanz nicht mehr gefährlich. Nur einen Moment hielt der Spuk an, bevor wieder Ruhe herrschte und mit Blicken gefochten wurde.
    „Hey, hey, ihr zwei. Ich sagte ihr sollt euch fit halten, aber es nicht übertreiben. Vor dem Turnier darf sich hier niemand verletzen.“
    Ryan ging einige Schritte auf die kampferprobten Pokémon zu, die für Erfahrung und auch einen gewissen Grad an Stärke in seinem momentanen Team zuständig waren. Er hatte zwar vor, nach Möglichkeit seine Neulinge mehr an den Kampf heranzuführen und ihre Fähigkeiten zu fördern. Doch er würde sie nicht in ein Match schicken, das zu gewinnen er ihnen nicht zutraute. Sollte sich dennoch so eines ankündigen oder sonst ein unerwarteter Fall eintreten, hatte er zwei mehr als fähige Kämpfer in der Hinterhand. Und diese hatten anscheinend zu viel Auszeit gehabt, weshalb sie nun vor Energie strotzten.
    „Hört zu. Ich sehe, ihr wollt wieder loslegen und ich verspreche, das werdet ihr bald auch. Aber bis zum Turnier sind es noch knapp drei Wochen und davon brauche ich so viel Zeit wie möglich, um Kirlia und Moorabbel voran zu bringen.“
    Beide lauschten aufmerksam, änderten aber ihre Position nicht. Nur einen Seitenblick bekam Ryan von ihnen und er wusste, dass er mehr auch nicht zu erwarten hatte. Dafür waren sie einfach zu distanziert, wenn sie erst einmal die Luft des Kampfes schnupperten.
    „Verzeiht das eurem egoistischen Trainer halt mal. Haltet euch in Form und findet wieder einen Trainingsrhythmus. Auch wenn ihr nicht sehr lange Urlaub hattet, merkt euer Körper das und er wird euch ganz schnell auf den Teppich holen, wenn ihr zu viel von ihm verlangt. Geht es langsam, aber konsequent an. Mehr erst mal nicht. Und keine ernsten Kämpfe.“
    Den letzten Satz betonte er mit einem erhobenen Finger. Das Zeichen, dass er es ernst meinte und keine Ausflüchte dulden würde. Ein bisschen autoritär musste Ryan vor seinen Pokémon – besonders vor diesen beiden – manchmal einfach wirken. Höfliche Bitten oder halbherzige Anordnungen würden nämlich ignoriert und er selbst nicht respektiert werden. Das würde sich auch nie ändern, egal wie lange er sie schon trainierte. Solch mächtige und wilde Geschöpfe würden nur auf sein Wort hören als wäre es das von Arceus, so lange er sich wie ein Anführer verhielt. Was nicht bedeutete, dass sie sich von ihm abwenden oder im Stich lassen würden. Ihr Zusammenhalt würde im Ernstfall jede Hierarchie, jeden Zwist und jeden Rang nichtig machen. Doch komplett bedingungslosen Gehorsam bei jedem Verhalten brauchte er gar nicht erst zu erhoffen. Für solchen müsste er in den Wald gehen und kleine Ratten oder Käfer fangen.
    Insgeheim spotteten Hundemon und Despotar ein klein wenig über den Vorwurf. Meinte ihr Trainer denn, sie hätten seit seiner Abreise nur faul in der Sonne gelegen? Ihre Leidenschaft würde sich nicht bremsen lassen, nur weil weder er noch ein tatsächlicher Gegner da war. Und was sie ihrem Körper zumuten konnten, wussten sie selbst doch wohl am besten. Und dennoch gaben sie ihm ein einverständliches Nicken. Einerseits weil sie verstehen konnten, dass er Risiken vermeiden wollte. Schließlich wäre es auch nicht das erste Mal, wenn einer von ihnen den einen berühmten Schritt zu weit ging und das Training mit etwas mehr als nur leichten Blessuren endete. Das wollte auch von ihnen keiner so richtig. Dafür respektierten sie einander zu sehr und zu behaupten, es würde keine Kameradschaft oder sogar Freundschaft unter ihnen existieren, wäre definitiv gelogen. Doch der Hauptgrund für ihren Gehorsam war eben nicht nur der Respekt füreinander sondern der Respekt ihrem Trainer gegenüber. So wie jetzt und nicht anders wünschten sie ihn sich. Er war hart, aber fair. Anspruchsvoll, aber auch verständnisvoll. Antreibend, aber auch fürsorglich. Alles davon eben immer dann, wenn es angebracht war. Er hatte ein Gespür für jeden von ihnen, wusste was sie brauchten und wollten und auch wann. Einen viel besseren Trainer hätte sich keiner von ihnen wünschen können.
    „Fein“, war alles, was Ryan dazu kommentierte. Wenn seine Pokémon gehorsam versprachen, würden sie ihn auch leisten. Selbst wenn es ihnen nicht immer gefiel. Damit war das Gespräch für ihn durch und alles gut. Er machte kehrt und schritt wieder auf Moorabbel und Kirlia zu, die ziemlich perplex wirkten. Nicht nur da diese beiden Pokémon, die so stark und erfahren waren, anstandslos auf das hörten, was Ryan ihnen sagte, sondern auch ihrer Kraft wegen. Sie hatten lediglich einen kleinen Hauch dessen gespürt, was tatsächlich in ihren Angriffen steckte und dennoch hätte es sie beinahe von den Füßen gerissen. Während das Amphibium zur Salzsäule erstarrt war und mit offenem Mund beobachtete, wie das Training des Schattenhundes und der riesigen Felsechse fortgesetzt wurde, hatte das feminine Psychopokémon die Hände zusammengefaltet und sah ihnen mit großen, glitzernden Augen zu. Ryan registrierte das natürlich und drehte sich ein weiteres Mal kurz um.
    „Seht ihr das?“, fragte er schließlich, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Dann ging er in die Hocke und sah beide fest an.
    „Ich hab euch hoffentlich mehr als klar gemacht, wie viel Talent ihr besitzt.“
    Beide bejahten, ohne einen Moment nachzudenken oder zu zögern. Daraufhin deutete Ryan mit dem Kopf einmal in die Richtung der Kämpfenden.
    „Was ihr da seht, entspringt vielleicht zu zehn Prozent Talent. Die übrigen neunzig Prozent davon sind harte Arbeit.“
    Einen Moment lang sagte er nichts weiter, um Gelegenheit zu geben, diese Wort zu verstehen und zu verarbeiten. Es war auf eine gewisse Weise vielleicht etwas niederschmetternd, so etwas zu hören, doch war es nichts als die Wahrheit. Wenn sie sich auf ihr Talent zu sehr verließen, würden sie übermütig werden und der Rückschlag der dann erfolgen würde, sobald sie jemanden gegenüberstanden, der schlicht und ergreifend stärker war als sie, wäre allemal niederschmetternder als diese kleinen Worte. In gewisser Weise war es auch abhängig von der Auffassung. Er hatte schon einigen seiner Pokémon exakt dasselbe gesagt und manche von ihnen hatten sich direkt herausgefordert gefühlt und besagte harte Arbeit leisten wollen. Auf manche wirkte es also auch motivierend.
    Für Moorabbel und Kirlia war das heutige Training beendet. In ihrem erschöpften Zustand wäre es unverantwortlich, sie weiter kämpfen zu lassen. Sie hatten sich ihre Ruhe verdient. Mindestens bis zum Abend, wenn er den Tag mit einem kurzen Abschlusstraining ausklingen lassen würde. Ryan gab die beiden routinemäßig bei Joy ab und entschuldigte sich bereits vorab für den Zustand des genutzten Kampfplatzes – Hundemon und Despotar hatten bereits einiges angerichtet und wohl würden sie es nicht bei ein paar Brandspuren und Schlaglöchern belassen. Er hoffte doch sehr, dass er noch einen als Kampffeld zu identifizierenden Ort vorfinden würde, wenn er gleich wieder raus ging. Ärger gab´s keinen. Nur eine kleine Predigt über gehorsam bezüglich der Pokémon und Anstand gegenüber dem Gastgeber, also dem Center und Joy persönlich. Dass diese Unterkunft ihm schließlich nicht aus Nächstenliebe gewährt wurde, schien für die Schwester keine Rolle zu spielen.
    Als der junge Trainer den Tresen verließ und den Seitenausgang ansteuerte, durch den er zurück in den Hinterhof gelangen würde, erhaschte er einen Seitenblick auf die Gruppe Jugendlicher in der Sitzecke. Bereits bei seinem Eintreten hatte er die Blicke auf sich ruhen gespürt und ihr Tuscheln war schwer zu überhören, herrschte doch ansonsten in diesem riesigen Center totale Leere und folglich Stille. Das würde sich in den nächsten Tagen und Wochen jedoch ändern, wenn die Teilnehmer des Summer Clash nach und nach eintrafen. Das Center war bereits nur für eben jene reserviert und vergab bis zum Ende des Turniers keine Zimmer an „außenstehenden“ Gäste. Nur im Notfall, sprich bei einem schwer Verletzten Pokémon, das dringend Hilfe benötigte, nahm sich Joy dessen an. In allen anderen Fällen musste man ein anderes Center aufsuchen, von denen es in der Metropole praktischerweise fast zu viele gab. Bei den nationalen Ligen war es Gang und Gebe, dass allein den Teilnehmern unweit des Stadions diese medizinischen Dienste sowie eine komfortable Unterkunft zur Verfügung gestellt wurden. Dazwischen gab es weltweit nur wenige Turniere, welche dies boten. Doch es war ein weiteres Anzeichen für das Prestige des Summer Clash. Nicht nur die jüngsten Mitglieder seines Teams, sondern auch Hundemon und Despotar würden hier sicher auf harte Gegner treffen. Für einen Trainer seines und auch Andrews Kaliber sollte der Sieg bei so einem Wettkampf immer das Ziel sein. Doch hier würden sie es nicht mit Fallobst zu tun bekommen. Der erwünschte Sieg würde hart erkämpft werden müssen. Sehr hart.
    Über die Jungen und Mädchen, welche Ryan aus der Ferne scharf beobachteten, konnte selbiger nur müde Schmunzeln. Da Joy viel zu entspannt und beschäftigungslos wirkte, um einen der erwähnten Notfälle vermuten lassen zu können, musste es sich bei ihnen ebenfalls um Teilnehmer handeln. Und erfreut schienen sie nicht gerade über seine Anwesenheit. Ein Umstand, der Ryan immer wieder gefiel. Es heizte ihn zusätzlich an, wenn er aus erster Hand erfuhr, dass er ein ungern gesehener Gegner war. Vielleicht würde er das Training seiner beiden Routiniers heute doch noch etwas anziehen.


    Andrew hatte diesen Tag, der bereits die Mittagsstunde erreicht hatte, bislang nur für das Frühstück das gemeinsame Zimmer im Pokémoncenter verlassen. Sie hatten das Glück, eines der letzten Doppelzimmer erwischt zu haben, denn sobald der Ansturm an Teilnehmern anstieg, würden diese ausgebucht sein. Diejenigen, die spät eintrafen, würden sich Gruppenzimmer für 4 bis 6 Personen mit Fremden teilen müssen. Derzeit konnte man die täglichen Zuwanderer an einer Hand abzählen, doch sobald sich das änderte – und es würde sich ändern – könnte das Center niemals die nötigen Kapazitäten bereitstellen, wenn hier nur Einzel- und Doppelzimmer vorhanden wären. Ein lästiger, wenn auch verständlicher Umstand, wie Andrew befand und umso froher war er über ihr Glück. Denn vor den Augen eines fremden Trainers würde er Dragonir nicht so liebevoll pflegen können, wie er es gerade tat. Nicht dass es etwas zu verstecken gäbe, doch ihm war einfach unwohl dabei, solche Dinge unter Beobachtung von Unbekannten zu tun. Eine seiner nicht wenigen Macken.
    Gerade wischte er sich mit einem Lappen eine dickflüssige Substanz von den Händen, mit der er das blau-weiße Schuppenkleid eingerieben hatte. Diese war extra für Pokémon hergestellt und sorgte nicht nur für makellosen Glanz der Schuppen, sondern wurde von den meisten Gattungen auch als sehr wohltuend empfunden. Die Drachenschlange hatte leider nicht die erhofften gesundheitlichen Fortschritte gemacht, seit sie Faustauhafen verlassen hatten. Diese wenigen Tage wären für viele Spezies auch nicht ansatzweise genug, um sich von einer Verletzung diesen Grades zu erholen und in Gänze war das natürlich auch in Dragonirs Fall unmöglich. Doch die von Joy so sehr gepriesenen Fähigkeiten der Selbstheilung und Genesung hatten ihn wohl einfach zu optimistisch werden lassen. Jedenfalls aß sie noch immer nicht viel und schlief auch über den Tag sehr lange. Zwei bis drei Mal täglich ging er mit ihr an die Luft und ließ sie eine Weile fliegen, damit sie etwas Bewegung bekam. Attacken ließ er noch keine einsetzen. Ob Dragonir beim Summer Clash würde kämpfen können, stand ebenfalls noch in den Sternen. Doch wenn Andrew die Reichweite dieses Turniers und das Prestige, mit der er es in Form anderer Trainer und deren Pokémon zu tun bekommen würde, standen die Chancen eher schlecht. Die folgende Woche würde wohl die Richtung deuten. Wenn er mit Dragonir wenigstens eine Woche lang auf gewohntem Niveau trainieren könnte, sah er keinen Grund, sie nicht einzusetzen.
    Um die Gesundheit seines restlichen Teams war es glücklicherweise besser bestellt. Psiana, Magnayen und Schwalboss trainierten derzeit allesamt regelmäßig und zeigten zufriedenstellende Resultate. Die beiden Letztgenannten hoffte er bis zu Beginn des Turniers noch ein, zwei Schritte voranbringen zu können. Man durfte nicht vergessen, dass sie bei weitem nicht so lange Teil seines Teams waren wie die Psychokatze. Sie würden in den nächsten Wochen mit hoher Wahrscheinlichkeit an ihre Grenzen gehen müssen, um den Clash zu gewinnen.
    Die Drachenschlange war während seiner Überlegungen und Planungen mit dem Kopf in seinen Armen liegend eingeschlafen. Sie hatte heute bereits einige Übungen für die körperliche Fitness hinter sich, weshalb ihr die Ruhe vergönnt war. Andrew würde ganz gern dasselbe tun, doch auf ihn und vor allem seine übrigen Pokémon wartete heute noch Arbeit. Gerade rief er das schlafende Geschöpf in den Pokéball, da drang durch das geschlossene Fenster ein dumpfer Knall von draußen hinein. Ryan war schon seit einer ganzen Weile am Trainieren und hatte offenbar entschieden, Hundemon und Despotar heute die Zügel doch noch abzunehmen. Seit einer guten Stunde vernahm er immer wieder das Knallen, Donnern und Krachen ihres Trainingskampfes. Und beim jedem Mal zuckten seine Finger, eine geballte Faust andeutend. Andrews Vorfreude auf den Clash stieg mit jeder Stunde. Doch von der zu überbrückenden Zeit würde er besser so viel wie möglich nutzen.
    Mit der wachsenden Euphorie in seiner Brust schnappte er sich Psianas, Schwalboss und Magnayens Pokébälle und stürmte aus den Zimmer. Die Treppen hinunter in die Empfangshalle überwand er fast mit einem einzigen Satz, womit er sich nebenbei noch die Bestätigung abholte, dass seine anfängliche Übelkeit dahin war. Mal schauen, ob Hundemon und Despotar als Sparringspartner noch zu gebrauchen waren.


    Der Tag schritt alles andere als ruhig voran. Zumindest für die Besucher des Pokémoncenters am Prime Stadium in Graphitport. Schuld daran waren lediglich zwei scheinbar nicht müde zu bekommende Trainer, die es sich ganz offensichtlich zur Mission gemacht hatten, sämtliche Kampfplätze im Hinterhof des Centers zu verwüsten. Über Stunden hinweg sprangen, rannten, grollten, brüllten und kämpften ihre Pokémon als ging es heute um alles. Die nach und nach eintreffenden Teilnehmer des Turniers – die Zahl war noch recht überschaubar – erhielten einen frühen Ersteindruck von dem, was sie erwarten würde. Während ihres Trainings hatten Ryan und Andrew nur eine kurze Verschnaufpause eingelegt und zwischendurch ihren Partnern und auch sich selbst eine Stärkung gegönnt. Wer hart arbeitete, musste schließlich auch essen. In dieser Zeit waren sie Strategien durchgegangen und hatten die Ergebnisse des Trainings gedanklich ausgewertet und eingeschätzt sowie gleichzeitig einen ersten Plan erstellt, woran es die nächsten Tage noch zu arbeiten galt. Wenn die beiden erst einmal völlig in ihre Sache vertieft waren, gab es im Grunde keine Pausen für sie. Selbst während der raschen Nahrungsaufnahme galt jeder Gedanke dem nächsten Schritt auf ihrem Weg zum erhofften Turniersieg. Danach wurde gleich wieder rangeklotzt. Die Dämmerung war indessen schon weit vorangeschritten, sodass ein feuriges Abendrot die beiden Trainer in sein warmes Licht tauchte, während diese dabei waren, den langen Tag allmählich ausklingen zu lassen. Die letzte Trainingseinheit gestaltete sich immer gleich, wenn sie die Plätze eines Pokémoncenters nutzten. Sie nannten sie liebevoll: Aufräumen. Es war zwar nicht so, dass Joy verursachte Schäden und Kampfspuren selbst beseitigte. Nein, dafür gab es extra bezahlte Kräfte. Doch man mussten selbigen ja das Leben nicht unnötig erschweren. Außerdem wollten andere Trainer denselben Platz für denselben Zweck nutzen. Wo gehobelt wurde, fielen Späne, das war selbstverständlich. Doch ebenso selbstverständlich war, dass man diese nicht schulterzuckend liegen ließ. Es war nur sozial, wenigstens für ein bisschen Ordnung zu sorgen, bevor man ging. Hier ein paar Schlaglöcher auffüllen, da einige Brandspuren verwischen, einmal mit dem Rechen über den Platz und schon sah dieser wieder annehmbar aus. Ryan und Andrew packten dabei nicht weniger mit an, als ihre Pokémon. Das gehörte einfach mit zum Ganzen dazu.
    Andrew klopfte sich den Staub von den Händen und sah sich einigermaßen zufrieden um. Natürlich war der Ascheplatz nicht mehr so eben und unberührt wie noch am Morgen, doch wäre das der Fall, hätte auch keiner von ihnen mit dem Training zufrieden sein können.
    „Denke das reicht“, merkte er an und rief somit zum Feierabend auf. Ryan nickte dies ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seit einiger Zeit war er nur noch im T-Shirt, welches heute garantiert noch in die Wäsche wandern würde. Manch einer würde wohl nicht verstehen, warum der Trainer fast genauso ins Schwitzen geriet, wie seine Pokémon, doch wenn man wirklich mal selbst mit Leib und Seele mit seinen Partnern zusammenarbeitete, verstand man gleich. Er stand eben nicht nur gelangweilt daneben und gab Anweisungen wie ein Sergant Grundausbilder. Hinzu kam, dass er, ebenso wie Andrew gewisse Kraft und Ausdauerübungen, die fester Bestandteil ihres Trainingsprogramms waren, selbst mitmachte. Es gab ein Einheitsgefühl und stärkte das Vertrauen von Pokémon zu Trainer, wenn letzterer nicht nur daneben stand, sondern mit ackerte.
    Doch für heute war es genug. Joy sollte sich gleich der ganzen Gruppe annehmen und dann stand ein ruhiger Abend auf dem Programm.
    „Gutes Training. Morgen machen wir genauso weiter. Dann konzentrieren wir uns auf eure Ausdauer“, adressierte er seine beiden Schützlinge. Die nahmen es nüchtern zur Kenntnis. Sie waren lange genug an Ryans Seite, die Worte richtig zu deuten. Sie waren beide etwas früh ermüdet und hatten gegen Ende des Trainings kaum noch die Energie für einen satten Angriff gehabt. Das war es, was er teilweise befürchtet und anfangs mit seiner Warnung angedeutet hatte. Übungen und Kämpfe untereinander schön und gut, doch während ihrer Abwesenheit hatten sich ihre Körper das stramme Programm von Ryan leicht abgewöhnt. Es war an und für sich einfach nicht ganz dasselbe, wenn man unter sich Duelle austrug und sich „ein wenig fit hielt“ und dann auf einmal wieder ein fordernder, anspruchsvoller Trainer die Zügel in der Hand hielt. Doch daran würden sie sich schon wieder gewöhnen. Das brauchte höchstens ein paar Tage und dann galt es nur noch, die eigenen Fähigkeiten in der kurzen Zeitspanne noch weit wie möglich zu steigern.
    Für Andrew war das Resultat ein ähnliches gewesen. Es war verständlich, dass seine Pokémon nach der Zwangspause in Faustauhafen ebenfalls nicht auf 100 Prozent sein konnten. Doch mit dem Engagement und der Leistungsbereitschaft durfte er mehr als zufrieden sein. Im Team zu trainieren war auch daher von Vorteil, da man sich gegenseitig zu Höchstleistungen anstachelte. Kameradschaft hin oder her, letztlich wollte doch keiner zurückfallen und seinen Rang als Teamstärkster – den abgesehen von der bescheidenen Natur Dragonirs jeder einzelne von ihnen für sich beanspruchte – hergeben.
    Ryan schulterte den Rechen und die abgenutzte Schaufel, die ihm bei den Aufräumarbeiten als Mehrzweckwerkzeug gedient hatte, nahm auch die von Andrew entgegen und verfrachtete sie in dem Schuppen in der hintersten Ecke des Hofes. Während die graue Umhängetasche wieder an die Schulter ihres Besitzers wanderte, warf selbiger seinem Kumpanen die grüne Jacke entgegen, als sie sich vor der elektrischen Schiebetür trafen. Jetzt noch eine heiße Dusche und dann hieß es endlich Abendessen und anschließend ins Bett fallen. Die in Maßen strapazierten Muskeln aber auch grauen Zellen hatten viel Energie gekostet, weshalb beide das nahende Tagesende sehr willkommen hießen.
    „Weiß nicht wie´s dir geht, aber ich bin für heute platt.“
    Andrew grinste sofort bitterböse.
    „Schlappschwanz.“
    Zum Sticheln und Ärgern war er wohl nie zu müde. Ryan würdigte ihn keines Blickes, ließ sich aber – dumm und unbelehrbar wie er war – verbal drauf ein, während sich die Tür vor ihnen öffnete.
    „Sag mal gibt’s dich eigentlich auch mit Niveau? Bei jedem...“
    Er verschluckte die übrigen Worte. Auf der Schwelle war ihm versehentlich jemand entgegengetreten. Ein Zufall, das unbeabsichtigte Vorhaben zweier Menschen, ein und dieselbe Tür gleichzeitig von der anderen Seite zu durchschreiten. Es resultierte ein Beinahe-Zusammenstoß.
    „Oh, Verzeih...“
    Beide hatten so begonnen, wie aus einem Munde. Und gleichzeitig versagte ihre Stimme, als sie zurückwichen und sich ihres gegenüber gewahr wurden. Einen sehr, sehr langen Moment war es still. Ungläubig aufgerissene Augen starrten sich einander an, bis es schließlich Ryan war, der seinen Unglauben aussprechen musste.
    „Melody?“

    Kapitel 22: Death so close


    „Wenigstens ist diesmal nichts Schlimmes passiert. Also lass die Nörgelei stecken.“
    „Für dich vielleicht. Ich hab sicher drei Kilo verloren.“
    Aus irgendeinem Grund versuchte Ryan wirklich aufrichtiges Mitgefühl für seinen besten Freund zu entwickeln. Wohl lag das daran, dass er vor ein paar Tagen beinahe draufgegangen wäre und sie beide einander spürbar noch eine Stufe näher waren – was sie aber weder aussprachen noch offen zeigten. Über den sentimentalen Part waren sie hinaus. Dennoch scheiterte er bei seinem Vorhaben samt und sonders. Dass es Andrew während der Überfahrt so mies gegangen war, hatte er selbst zu verschulden, da er die Klinik ganz erwartungsgemäß zu früh endgültig verlassen hatte. Und das trotz des unschön verlaufenen Ausflugs, den er einen Tag vorher noch unternommen und welcher in beobachtender Position bei Ryans Pokémonjagd geendet hatte. Sein Körper war noch etwas angeschlagen von Stress und Medikamenten, weshalb er den etwas rauen Wellengang nicht sehr gut verkraftet hatte.
    „Als hättest du zuletzt so viel gegessen. Außerdem hast du´s noch geschafft, zielgenau in den Mülleimer zu kotzen. So schlimm kann´s nicht gewesen sein.“
    Andrew zog gierig die salzige Meeresluft ein, die über dem Hafen von Graphitport City lag und dem Smog der Großstadt trotzte. Fernab der See würden sie hier wohl kaum in den Genuss solch angenehmer Luft kommen.
    „Du bist nicht grad fürsorglich“, stellte der leicht blasse Trainer fest.
    „Ich geb mir auch keine große Mühe.“
    Bei all den schönen wie schweren – vor allem schweren – Erinnerungen an die letzten Tage sollte der Wind nun endlich drehen. Die jungen Trainer hatten sich ein neues Ziel gesetzt und wollten ihre erste gemeinsame Reise in die Richtung lenken, die sie von Anfang an angestrebt hatten. Ein Aufschwung, ein Ruck, frischer Wind in ihrer Karriere, um sich irgendwann den Lebenstraum erfüllen zu können, eine nationale Liga zu gewinnen. Streng genommen hatte Ryan das bereits geschafft, doch verbot das Gesetz ihm als Minderjährigen das, was sich eigentlich hinter dem Triumph in solch einem Wettbewerb verbarg. Der wahrhaftige Preis neben dem Ruhm, Preisgeld und einer Trophäe. Das Recht, die Top Vier der Region herauszufordern. Das wollten sie beide unter den Dingen, die mit ihren Karrieren in Verbindung standen, mehr als alles andere. Und selbstverständlich wollten sie die großen Vier aus ihrer Heimatregion. Doch zunächst mussten sie stärker werden und mehr Erfahrung sammeln. Hier in Hoenn.
    Dieser Zielsetzung hatten sie bislang überhaupt nicht nachgehen können. Ryan würde das auch weiterhin nicht. Nicht sofort zumindest. Denn nun galt es, einer Herzensangelegenheit nachzugehen.
    „Du schaffst es doch allein zum Pokémoncenter, oder?“
    Auf einmal klang er keineswegs mehr spöttisch, schadenfroh oder desinteressiert. Die Frage war ganz nüchtern und offen.
    „Ja, geht schon.“
    Einige Sekunden sahen sie einander wortlos an. Unsicherheit über den Gegenüber. Unsicherheit über sich selbst. Nicht mehr und nicht weniger war es, was ihr Schweigen bezeugte. Was Ryan zu erledigen hatte, fiel niemandem leicht, der seine Situation kannte. Andrew hatte das Glück, dabei nicht mitreden zu können. Er kannte diese schwarze Maske des Lebens nur vom Hörensagen. Er würde gerne etwas tun. Irgendetwas, um Ryan beizustehen, ihm eine Hand zu reichen. Doch der hatte dies schon immer abgelehnt. Er wollte niemanden mit diesem Teil seines Lebens belästigen.
    „Verschwinde schon. Wir sehen uns später.“
    Andrews Worte waren kumpelhaft. Sie taten, was in der Macht so weniger Worte lag, um ihn aufzubauen und wenigstens ein bisschen das Gefühl zu vermitteln, dass er jemanden hatte, der ihm beistand. Doch dieses Thema hatte er immer umgangen. Würde es vielleicht auch immer tun.
    „Bis dann“, verabschiedete er sich und ging Richtung Promenade entlang. Andrew steuerte die Hauptstraße an, die ins Zentrum führte.
    Ryan hatte wenig später sein Handy am Ohr, als gerade der Bus vorfuhr, welchen er laut Studium des Fahrplans zu besteigen und sechs Stationen mit ihm zu fahren hatte.
    „Graphitport?“, erklang es aus dem Gerät. Die Verwunderung war hörbar, aber längst nicht so groß, wie Ryan erwartet hatte. Für gewöhnlich machte seine Mom aus jedem noch so kleinen Drama einen Riesenaufwand.
    „Ja, sind grade angekommen. Wollte dich nur wissen lassen, dass alles gut ist bei uns.“
    Normalerweise rief er aus solch banalen Gründen nicht zuhause an. Doch nachdem er und Andrew vor ein paar Tagen erst knapp dem Tod entkommen waren, hatte er einfach den Wunsch, ihre Stimme zu hören. Oder eher, sie seine Stimme hören zu lassen. Er musste den Gedanken bekämpfen, sie um ein Haar alleine zurückgelassen zu haben. Sie sollte nicht auch noch ihren Sohn verlieren.
    Dankbarer Weise verschonte diese ihn mit löchernden Fragen und lästigen Anmerkungen zu den vergangenen Tagen. Die Nachricht von ihrem Schiffbruch schien ihr wundersamer Weise entgangen zu sein, obwohl sie in den Nachrichten eigentlich ausreichend Erwähnung gefunden hatte. Doch er war dankbar dafür. Diesen Schock hätte er ihr niemals antun wollen. So blieb es schließlich bloß bei einer wirklich relevanten Frage.
    „Besuchst du deinen Vater?“
    Eine ganze, stille Minute hatte es gedauert, bis Ryan knapp bejaht hatte.


    Adam L. Carparso
    Mehr war von diesem Menschen nicht geblieben als diese gravierte – der Handabdruck eines Tengulist, dem treuesten und ältesten Partner dieses Mannes, flankierte die Beschriftung – recht simple Granitplatte mit goldenen Lettern. Weder das Datum seiner Geburt, noch das seines Todestages waren in seinen Grabstein gemeißelt. Ob dies wirklich sein Wunsch gewesen sein sollte, wusste Ryan nicht zu beantworten und wagte es auch nicht darüber zu spekulieren. Seine Mutter hatte dies veranlasst. Hatte damals vom gemeinsamen Besuch des Grabes von Adams kleiner Schwester Vivian erzählt, deren Todestag ebenfalls nicht festgehalten worden war. Ihr Grabstein benachbarte den seinen. Einmal im Jahr hatte dieser sie besucht, um für ihre Seele zu beten. Gerade einmal zwölf Jahre hat sie auf dieser Welt verbracht, bevor sie von der Leukämie dahingerafft worden war. Wäre das nie geschehen, hätte Ryan heute eine Tante von ungefähr 40 Jahren. Niemals würde er den Augenblick vergessen, als Mom ihm eröffnet hatte, dass Adam – genau wie bei seiner Schwester Vivian – nicht wolle, dass vorbeigehende Menschen sich genötigt fühlten, Mitleid für das zu kurze Leben eines Fremden zu entwickeln. Im Tode seien alle Menschen gleich, so hatte sie ihn zitiert. Ryan hatte dies nie begreifen wollen. Er dachte nicht gerne über den Tod nach. Die Ungewissheit, was ihn nach seinem Leben erwartete, fürchtete er und mit positiven Gedanken oder unbegründetem Optimismus konnte er es nicht einfach abtun. Und das Beten lehnte er grundsätzlich ab, da er nicht wusste, an wen er seine Worte denn richten sollte, weshalb er seinem Vater stattdessen auch mit einer materiellen Geste gegenübertrat.
    Ein Strauß mit verschiedenfarbigen Schnittblumen fand seinen Platz direkt am Fuß des Grabes. Ryan blieb zunächst in der Hocke, eine Hand auf dem Stein ruhend. Ein wenig fühlte es sich für ihn an, als würde er seinem Vater auf die Schulter klopfen. Die Kiefern, welche die dutzenden, wenn nicht hunderten Gräber umgaben bogen sich leicht in einem der vielen Windstöße, die hier so unweit der Küste regelmäßig auftraten. Ryan fröstelte es ein wenig dabei. Seltsam. Es herrschten sommerliche Temperaturen. Eigentlich empfand er es absurd, bei herrlichem Sonnenschein einen Friedhof zu besuchen. Es fühlte sich einfach falsch an. Er fühle sich belogen, verhöhnt. Gar wäre ihm ein Regenschauer lieber gewesen.
    „Tut mir leid, dass ich dich so lange nicht besucht hab.“
    Erst das zweite Mal seit der Beisetzung suchte er sein Grab auf. Sein Tod war viel zu früh gekommen. Gäbe es keine Fotos, würde Ryan nicht einmal sein Gesicht kennen. So jung war er damals noch gewesen, als dieser Bastard seines Vaters Leben für das Geld in dessen Tasche mittels einer Kugel beendet hatte. Lebenslänglich hatte er für den Mord bekommen. Bis heute empfand der Trainer es als Schande, dass in Johto die Todesstrafe lange nicht mehr verhängt wurde. In anderen Regionen wäre er dafür nicht in einer Zelle, sondern auf dem elektrischen Stuhl gelandet. Ryan hatte sich oft gewünscht selbst noch den Hebel betätigen zu können.
    Obwohl seine Eltern schon vor seiner Geburt in seine heutige Heimat gezogen waren, war Mom sich sicher gewesen, dass Adam gerne in seiner Geburtsstadt begraben werden würde, hätte sie ihn je gefragt. So war es auch mit Vivian geschehen. Obwohl Ryan sich weder in Sicherheit darüber wog, noch anmaßend genug war die Gedanken- und Gefühlswelt seines ihm viel zu unbekannten Vaters kennen und verstehen zu können, schätzte er es als logisch ein. Hätte er selbst einen verstorbenen Bruder, würde er wohl auch neben ihm bestattet werden wollen. Schnell schüttelte Ryan bei diesem Gedanken den Kopf, um ihn rasch zu vertreiben. Er war nicht tot und wollte auch nicht daran denken tot zu sein.
    „Ich sollte, genau wie du, jedes Jahr herkommen“, dachte er leise mehr an sich als an Adam gerichtet. Den Gedanken hatte er schon früher angedacht. Allerdings waren die Umstände auf seinen Reisen dafür immer ein Stein im Weg gewesen. Doch nun, da er hier war und seit langem wieder mit ihm sprach, verspürte er den Wunsch. Eine Minute dachte er darüber nach, wägte ab, ob sich ein Schuld- oder Pflichtbewusstsein in diesem Entschluss verbarg. Doch er war sich ziemlich sicher, dies ausschließen zu können. Er wollte es von Herzen.
    „Es gibt so viel, was ich dir gerne zeigen würde. So viele, die ich dir gern vorstellen würde“, begann er leicht peinlich berührt, da ihm keine echten Worte einfallen wollten, die ihm gerecht erschienen. Er wurde einfach nicht gerne sentimental, weil er schlecht darin war. So bemühte er sich um einen Hauch Banalität. Versuchte mit ihm zu reden, als stünde er leibhaftig vor ihm und höre seinem Sohn zu.
    „Ich hab so viele, tolle Partner gefunden. Du würdest sie mögen, sie sind großartig. Und... und wir sind...“
    Was sollte er ihm nur erzählen? Von ihrem Erfolg? Von ihrem Misserfolg? Alltägliches? Bewegendes? Ein Stoßseufzer gegen den starken Herzschlag und den sich anbahnenden Kloß im Hals. Wie gerne würde Ryan ihm alles zeigen können. Nichts würde ihm glücklicher machen, als seinen Vater zu sehen, wie er Anteil an seinem – an ihrem Leben nahm.
    „Sie sind gut zu Mom“, sagte er schließlich. Das waren sie wahrhaftig. Nie hatte auch nur eines seiner Pokémon in ihre Richtung geknurrt, gegrollt, gefaucht oder nach ihr geschnappt. Im Gegenteil. Selbst Garados oder Nidoking fielen in ihrer Gegenwart aus ihrem rauen Schale und begegneten ihr mit liebenswerter Zuneigung.
    „Du wärst so stolz, wenn du sie sehen könntest. Sie macht sich toll als Züchterin und versteht sie alle so gut. Sie mag besonders Vulnona sehr gern.“
    Kurz lachte Ryan auf, doch er überzeugte sich selbst nicht von seiner Aufrichtigkeit. Es war gezwungen.
    „Hundemon verschwindet immer gleich, wenn sie von Mom gestreichelt wird. Es ist zu komisch, wenn er eifersüchtig wird. Und dann Panzaeron. Es ist unglaublich auf ihm zu fliegen. Panzaeron kämpft immer so aufopferungsvoll und hat mich schon so oft beschützt.“
    Ryan atmete einmal tief durch. Er musste seine Gefühle im Zaum halten, wenn er vermeiden wollte, am Grab seines Vaters zu weinen. Er wusste es nicht mit Gewissheit, doch glaubte er, dass er das nicht wollen würde. Kein Vater wollte seinen Sohn weinen sehen.
    „Und gerade hatte ich sogar das Glück ein Shiny zu fangen. Du hast mir mal von deiner Begegnung mit einem erzählt, weißt du noch?“
    Kurz drückte Ryan zwei Finger in seine Augen, verbot sich aber eine wegwischende Bewegung. Er wollte nicht weinen! Die schweren, unregelmäßigen Atemzüge versuche er niederzuringen, indem er tief Luft holte und diese erst nach mehreren Sekunden wieder ausstieß.
    „Ich wünschte du könntest sie alle sehen.“
    Verlegen massierte eine behandschuhte Hand seine Stirn, fuhr anschließend sporadisch durch das blonde Haar, während er die andere auf den Oberschenkel stemmte. So sehr er sich auch dagegen sträubte, wusste Ryan genau, dass er es bei solch belanglosen Worten nicht würde belassen können. Nicht weil er sich dazu vor seinem Vater verpflichtet fühlte. Eher weil er es von sich selbst erwartete. Er war bei weitem kein Religiöser. Doch für Adam L. Carparso wollte er eine angemessene Geste erbringen.
    „Ich weiß wirklich nicht, ob solche Worte, dass du von irgendwo immer ein Auge auf mich haben wirst, wahr sein können. Aber ich will so fest daran glauben, wie es nur geht. Solange ich das tue, kann ich glaube ich wenigstens ein bisschen Glück darin finden.“
    Ein weiterer Windzug blies verstreute Kiefernnadeln auf und ließ die Spitzen seines Haares tanzen. Gleichzeitig überkam ihn ein leichter Schauer. Schon wieder. Bei frischerem Wetter würde er es problemlos auf selbiges schieben können, doch die strahlende Sonne dieses Tages lies lediglich seine Gefühle als einzige Ursache dafür zu.
    „Ja, ich denke...“
    Kurz sah Ryan auf zum Himmel. Überdachte seinen angefangenen Satz. Konnte er das wirklich? Wahrhaftig? Aufrichtig?
    „Ich denke damit kann ich zufrieden sein.“
    Ob er das konnte, würde er wohl erst in einiger Zeit beantworten können. Vielleicht erst in Jahren. Nichts desto trotz wollte er es somit eigentlich abschließen, weshalb er sich auch erhob. Doch Ryans zitternde Schultern wollten keine Ruhe geben. Bis er nicht in der Lage war, aufrecht und ohne Reue diesen Ort zu verlassen, würde er sich selbiges nicht erlauben. Das käme einer Flucht gleich und würde seinen Vater sicher enttäuschen. Er wollte schließlich daran glauben, dass er ihn beobachtete. Doch Halt geben, seine Hand greifen und ihn aus der Trauer hinausziehen, das konnte er nicht. Das konnte nichts und niemand. Dabei könnte Ryan es wirklich gebrauchen. Da war wieder einer jener Momente, in denen seine Hand wie von selbst in seine Jackentasche wanderte. Sie fand einen harten Gegenstand mit glatter Oberfläche und asymmetrischen Kanten. Obwohl Ryan seine Lederhandschuhe trug, fühlte er sofort eine wohlige Wärme von ihm ausgehen. Rasch breitete sie sich in seinem ganzen Körper aus und er konnte fühlen, wie sein Unbehagen verflog. Sie wich einem knisternden Gefühl der Unverletzlichkeit. Er fühlte sich leicht, entspannt und... stark. Und stark wollte er sein. Für seinen Vater. Für seine Mutter. Für seine Pokémon. Und vor allem für sich selbst. Stärke würde er sehr gut brauchen können. Sie würde ihm helfen, würde ihn schützen, ihm alle Türen aufstoßen. Er fühle sich, als habe man ihm Flügel verliehen. Unfassbare Leichtigkeit breitete sich in ihm aus, als könne er über alles und jeden hinwegschreiten. Der Himmel raste ihm einladend entgegen. Jeder Gegner war nur eine Stufe hinauf zum Olymp seines Stolzes. Er würde jede einzelne nehmen, auf ihre Gesichter treten, würde dann auf sie hinabsehen und genüsslich in ihrem Neid und ihrer Missgunst schwelgen, während er auf einen überragenden Siegeszug zurückblickte. Den Siegeszug, mit dem er ein für alle Mal der Welt gezeigt hatte, wer er war. Wer Ryan Carparso war. Seinen Ballast abfallend, seine Faust erhebend, ragte über all jene hinaus, die sich ihm in den Weg stellten. Was auch in den nächsten Tagen und Wochen passieren würde, Ryan war fest entschlossen, allen Widersachern entgegenzutreten. Und wenn nötig, sie zu vernichten...
    Für einen Moment erschien ihm der Friedhof so leer, still und tot, wie es eben nur ein Friedhof sein konnte. Der Wind hatte innegehalten und die Sonne sich hinter eine kleine Wolkengruppe geflüchtet. Kein Zwitschern von Vogelpokémon, kein Rascheln, Krabbeln, Kriechen oder Rennen von irgendwelchen Waldbewohnern, die sich zweifellos auch hierher verirren mussten. Ryan blinzelte einige Male. Wann war sein Blick so abwesend gen Himmel gewandert? Und wie lange starrte er diesen schon an? Einen Moment zuvor noch hatte er doch auf dieses Grab hinabgeschaut. Dann war ihm, als sei eine Zeitspanne von undefinierbarer Länge dazwischen, die er nicht zu füllen wusste. Sie fühlte sich sehr kurz an, doch sicher war er sich nicht. Hatte er sich in seinen eigenen Gedanken verloren?
    Ryan atmete langsam und tief ein. Blickte sich um. Es war niemand zu sehen. Er hatte den Friedhof einsam betreten und war es nach wie vor. Eine Brise blies ihm entgegen, klärte seinen vernebelten Verstand. Der Gesang einiger Schwalbini erklang in der Ferne. Alles war normal. Als wäre diese Welt perfekt. Nur nicht für jene, die hier bestattet lagen.
    Ryan sah ein letztes Mal auf das Grab von Adam L. Carparso. Von Tränen und Trauer keine Spur. Ehrgeiz und Entschlossenheit funkelten in seinen Augen. Rasten durch seinen Körper. Durchstießen eine Wand in seinem Inneren, von der weder Existenz noch Bedeutung ihm bekannt waren. Doch es fühlte sich gut an, Mauern einzureißen. Wenn nötig würde er dies mit allen tun.
    „Ich werde stärker werden. Das verspreche ich dir. Du wirst stolz auf mich sein können.“
    Damit wandte er sich ab. Ein paar Sekunden noch rührte er sich nicht vom Fleck, verbot sich aber einen weiteren Blick. Diese Begegnung war sein innigster Wunsch gewesen, so sehr sich ein Teil von ihm auch gern davor gedrückt hätte. Doch an die Toten zu viele Gedanken zu verschwenden, war das Letzte, was er daraus mitnehmen wollte. Bei allem Respekt vor seinem Vater – er lebte, hatte vor lange weiterzuleben und würde sich von nichts und niemandem abbringen lassen, seine Ziele zu erreichen. Nicht von Terry, nicht von Andrew und verflucht nochmal schon gar nicht von dieser Mila. Wenn es die Situation verlangte, würde er sie alle schlagen. Mit jedem erforderlichen Mittel. Ohne zu zögern und ohne es zu bereuen.
    Seltsam. Wann waren seine Gedanken in solch feindselige Bahnen geraten?


    „Nein. Nein, auch nicht. Was glaubst denn du?“
    Selten war es zur Mittagszeit in einem Pokémoncenter still und leblos. Gerade die diensthabende Schwester Joy konnte von fehlender Beschäftigung oder gar Langeweile bestenfalls träumen. Dutzende Trainer tummelten sich in der Eingangshalle, drängten sich mehr oder weniger gesittet vor dem Empfangstresen und erhofften die Aufmerksamkeit der Ärztin zu erlangen. Die meisten wollten ihre Partner untersuchen lassen. Um diese Zeit des Tages hatten sich bereits zahlreiche Grünschnäbel und blutige Anfänger sinnlose Duelle geliefert, nur mit dem Ziel, ihre Freunde beim kindischen Wetteifern um den Titel des besten Trainers unter ihnen auszustechen. Dies waren jene Trainer, für die ihr Dasein als solche nicht mehr als ein Hobby war. Freizeitpokémonkämpfer quasi.
    Und wegen dem stolzen Haufen solcher war an den Bildtelefonen am hinteren Ende der Halle kaum das eigene Wort zu verstehen. Vom Wort des Gesprächspartners ganz zu schweigen.
    „Ja, hab ich. Was? Nein, hab ich nicht“, war im akustischen Tumult herauszufiltern. Eine junge, weibliche Stimme war es. Ihre Besitzerin hielt mit ganzer Kraft das freie Ohr zu und drückte den Hörer fest an das andere, während sie angestrengt versuchte, die Geräuschkulisse hinter sich auszublenden und ihre große Schwester am anderen Ende der Leitung zu verstehen.
    „Ich hab doch gesagt, dass es ein paar Tage dauern wird. Ich weiß, aber ich kann jetzt noch nicht zurück.“
    Vehement versuchte man sie zur Heimkehr zu überreden. Sie von der Sinnlosigkeit ihres Unterfangens zu überzeugen. Doch dem würde sie sich nicht beugen. Sie war schon weit gekommen. Und sie war nahe dran.
    „Nein. Hör zu, ich muss weiter. Ich ruf morgen wieder an, ja? Ja, ist gut. Bis dann.“
    Seufzend hing sie den Hörer auf und ließ einen Moment den Kopf fallen. Manchmal war ihre Familie eine kleine Plage. Und manchmal eine große. Hielten sie noch immer für ein übermütiges, kleines Kind. Dabei hatte sie nicht selten das Gefühl, die reifste Person unter ihrem Dach zu sein. Doch dazu stand ihre Sturheit und Verbissenheit in einem krassen Gegensatz. In Faustauhafen hatte sie ihn verpasst. Dank der Information von Joy, der offenbar von seinen Plänen berichtet worden war, hatte sie wenigstens die Fähre noch erwischen, ihn auf der Überfahrt nach Graphitport jedoch einfach nicht finden können. Für ganz schlau hatte sie sich noch gehalten, als sie beim Anlegen völlig verfrüht angetreten war, um somit als allererste das Schiff verlassen und alle Passagiere anschließend überschauen zu können. Doch hatte sie die Menschenmassen sträflich unterschätzt. Nicht nur war sie direkt in den Fußverkehr des Hafens hineingedrängt worden, sodass sie sämtliche Übersicht rasch verloren hatte. Auch waren ihr aussteigende Passagiere in derartigen Wellen entgegengekommen, dass einen einzelnen unter ihnen herauszufinden sich als Ding der Unmöglichkeit herausgestellt hatte. Nun war sie also hier – in der größten Metropole Hoenns – und suchte nach einem einzigen Trainer. Wenn das nicht klasse war.
    Es wäre zu schön gewesen, wäre sie in Faustauhafen nicht diesem Andrew, sondern Ryan in die Arme gelaufen. Doch das wäre wie aus einer kitschigen Romanze geklaut. Solche Glücksfälle gab es im echten Leben nicht. Melody atmete einmal tief ein und massierte ihre Stirn, um ihre Gedanken zu klären. Nachdenken, logisch schlussfolgern. Das Pokémoncenter, in welchem sie sich gerade befand, war das nächstgelegene zum Hafen. Gerade einmal zwei Straßen trennten es von der Promenade. Ihr erster Gedanke war natürlich gewesen, dass anreisende Trainer dieses gleich aufsuchen würden. Auf der anderen Seite gab es mit Ausnahme der hier so zahlreichen Grünschnäbel eigentlich für keinen einen echten Grund. Schließlich trat keiner eine Fahrt mit der Fähre mit erschöpften oder gar verletzten Pokémon im Schlepptau an und aus welchen Grund sollte man nach jener Fahrt direkt hierher?
    Was auch immer Ryans Ziel in dieser Stadt war, er hatte es wohl direkt angesteuert. Doch was könnte dieses Ziel sein? Die Arena? Klang naheliegend. Vielleicht sollte sie es da versuchen.
    „Erzähl keinen Scheiß!“
    „Ist so, schwöre.“
    Melody warf einen leicht verachtenden Blick über die Schulter. Selbst bei dem beachtlichen Lärmpegel vor dem Tresen schafften es zwei Jugendliche in der Sitzecke, wo nebenbei ein Fernseher die aktuellen Infos in der Trainerszene ausstrahlte, noch hörbar herauszustechen. Vielleicht taten sie das gezielt, um einander verstehen zu können. Andernfalls gingen ihre Worte wohl ebenso unter, wie der Ton des Fernsehers.
    „Was ist denn los?“, schaltete sich eine dritte Person in die Unterhaltung der beiden ein. Offenbar kein Unbekannter für sie.
    „Der hat vorhin Ryan Carparso am Hafen gesehen!“
    „Quatsch nicht!“
    „Doch, Mann.“
    Hatte sie gerade richtig gehört? Ryan Carparso? Mit einem Mal waren alle Umgebungslaute für sie ausgeschaltet. Es herrschte Stille in ihrem Kopf. Nur die Unterhaltung, die von der Couch ausging, erreichte ihr Gehör. Sofort gesellte sie sich in die Runde.
    „Entschuldigung, hast du gerade Ryan Carparso gesagt?“
    Keiner aus der nun vier Personen zählenden Gruppe bemerkte, wie eine weitere Person in der hintersten Ecke des Raumes den Kopf in ihre Richtung neigte, als der Name fiel.
    „Oh, Alter“, stieß der Junge – vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahre, wie seine Kumpels – teils belustigt, teils genervt aus und ließ sich auf die Lehne fallen. Dabei fuhr er sich durch den Ansatz des roten Haares.
    „Am besten ich heb ein verdammtes Plakat hoch, damit´s auch jeder gleich weiß.“
    „Sorry“, meinte Melody gleich, meinte es aber nicht so wirklich ernst. Der Typ interessierte sie grade kein Stück. Nur das, was er eventuell wusste.
    „Weißt du zufällig, wohin er gegangen ist, oder was er in Graphitport will?“
    Der bald-vielleicht-Plakat-Träger zog eine Braue hoch.
    „Bist du´n Fan?“
    „Eher Bekannte“, antwortete sie wahrheitsgemäß.
    „Hab nicht mit ihm geredet, also nein.“
    „Aber, wenn er ausgerechnet jetzt hier ist, denk ich, dass er beim Summer Clash mitmachen will“, fügte nun ein anderer hinzu. Der war etwas älter und sah mit seinem langen, schwarzen Haar, das unter einem modischen Hut herauslugte, etwas aus wie ein Hipster.
    „Summer Clash? Was´n das?“
    Die drei sahen sich an, als hätte sie gefragt, was denn bitte ein Pokéball sein soll. Herablassendes Gelächter versuchten sie mit nicht allzu viel Mühe zu unterdrücken, weshalb Melody ein kurzes Kichern zu ertragen hatte. Sie versuchte sich an einer etwas finsteren Mimik, um klar zu stellen, dass sie sich nicht verarschen lassen wollte. Als die Jungs das bemerkten, verstummten sie gleich, lächelten aber weiter. Nur etwas verlegener.
    „Du kannst definitiv nicht von hier sein. Der Summer Clash ist so ziemlich das größte und wichtigste Turnier in der Region. Abgesehen von der Hoenn Liga natürlich.“
    „Findet immer am Sommeranfang statt. Ist quasi die Generalprobe für die Liga.“
    „Mit dem Unterschied, dass man keine Orden braucht. Kann also jeder mitmachen.“
    „Aber die Anfänger überstehen die Qualifikation eh nie. Die werden aussortiert, bevor die echten Kämpfe überhaupt losgehen.“
    Dass ständig ein anderer unter ihnen das Wort ergriff, ging Melody recht schnell auf den Zeiger. Mit jedem Satz musste sie den Kopf drehen, um den Sprecher anzusehen.
    „Wann und wo?“
    „Prime Stadium im Zentrum von Graphitport. In knapp drei Wochen.“
    „Such Carparso am besten im Center direkt am Stadion. Das ist seit vorgestern für die Teilnehmer reserviert.“
    Melodys Herzschlag wurde kräftiger. Wenn er tatsächlich bei diesem Summer Ding antreten wollte, hatte sie ihn quasi so gut wie gefunden. Vor allem, da sie noch zwei Wochen Zeit hatte. Doch das spielte im Grunde keine Rolle. Sie wollte ihn sehen! Am liebsten gestern.
    „Wie komm ich da hin?“
    „Buslinie sechs. Ich glaub sieben Stationen vo- hey!“
    Noch bevor der Hipster seinen Satz beendet hatte, war sie aus der Runde, durch die anstehenden Trainer vor dem Tresen und schließlich durch die automatischen Schiebetüren getreten. Buslinie sechs Richtung Zentrum. Diese Worte wiederholten sich in ihrem Kopf, als seien sie das einzig wichtige in diesem Augenblick. Doch so wie sie einen Fuß auf den Bürgersteig setzte, dämmerte Melody, dass sie gut daran getan hätte, auch nach der Haltestelle zu fragen. Es war nämlich weit und breit keine zusehen.
    „Toll gemacht, Melody“, murmelte sie in sich hinein. Noch einmal zurück ins Center zu gehen und weiteren Spott über sich ergehen zu lassen, schloss sie kategorisch aus. Da machte sie lieber den Weg zurück zur Promenade. Dort war ihr schon beim Verlassen der Fähre ein haltender Bus ins Auge gesprungen und der Weg war schließlich nicht weit. Doch ihrer Eile wurde durch die Stadt und ihre Bewohner selbst ein Riegel vorgeschoben. Dichte Menschenmassen, rücksichtslose Autofahrer und Ampeln, welche den Fußgängern nur alle Jubeljahre mal für einen Wimpernschlag Grün zeigten, ließen es kaum zu, dass sie mal eine Straße überquerte. Gerade letzteres strapazierte ihre Nerven aufs Übelste – und zwar in genau diesem Augenblick. Wenigstens schien keiner der anderen, wartenden Fußgänger ihr Tippeln mit den Füßen zu registrieren. Sie musste aussehen, als ei sie auf der Flucht. Aber scheinbar machte man sich hier in so einer Metropole nicht viel aus Fremdkörpern wie ihr, die von einer abgelegenen und nur spärlich bevölkerten Inselgruppe stammte. Und doch konnte sich das Mädchen dem Gefühl nicht erwehren, beobachtet zu werden. Flüchtig warf sie einen Blick erst über die linke, dann die rechte Schulter. Beinahe hatte sie sich schon davon überzeugt, sich Dinge einzubilden, da blieben ihre Augen an einer Frau ein paar Schritte hinter ihr haften. Sie war groß, recht dunkel gekleidet und starrte sie direkt an. Einen Moment hielten sie beide Blickkontakt. Melody für ihren Teil tat es in der Hoffnung, sie würde rasch verlegen wegsehen oder feststellen, dass sie doch nicht das visuelle Ziel von ihr darstellte. Aber ihre Augen wanderten nicht. Blieben fest auf ihr haften. Nicht einmal blinzeln wollte sie. Melody war, als sei für einen langen, stillen Moment die Stadt wie leergefegt. Keine Autos, die fuhren und dröhnten. Keine Verkäufer, die warben und buhlten. Nicht einmal andere Passanten. Nur sie beide und ihr Duell.
    Ein Duell, das Melody sang- und klanglos verlor. Rasch blickte sie wieder nach vorne, als hoffte sie, nicht erkannt oder entdeckt worden zu sein. Sie stand nervös gekrümmt und starrte einen willkürlichen Punkt auf dem Straßenbelag an. Ihr Herzschlag beschleunigte sich rapide. Ihre Atemzüge wurden schneller. Wer in aller Welt war diese Frau bloß? Was spielte sie hier mit ihr?
    Endlich kam der Verkehr kurzzeitig zum Stillstand und die Fußgängerampel schaltete um. Melody war schon nach wenigen Sekunden allen anderen einige Meter voraus und tauchte in der Menge entgegenkommender Fußgänger unter. Möglichst unbemerkt änderte sie die Richtung. Anstatt der Hauptstraße weiter zu folgen, wollte sie eine Nebenstraße erreichen oder besser gleich ganz zur Promenade hinunter. Zwei flinke Straßenüberquerungen später drängte sie sich unscheinbar vor einen Lebensmittelladen und begutachtete zum Schein die ausgestellten Früchte. Dabei scannte sie immer wieder den Bürgersteig und vorbeiziehende Passanten. Nach einer guten Minute war sie sich schließlich sicher, die ominöse Frau abgeschüttelt zu haben.
    Wohl war sie einfach weiter geradeaus gegangen.
    Melody atmete erleichtert auf und kratzte sich am Hinterkopf. Schon wunderte sie sich über ihre Paranoia. Eine wildfremde Frau, die sie beobachten, gar verfolgen würde. Lächerlich war das. Von wem hatte sie denn etwas zu befürchten? Zudem hatte sie es doch eigentlich eilig. Sofort wollte sie zum Stadion und im Pokémoncenter nach Ryan fragen. Sie wollte ihn endlich wiedersehen. Sie wollte...
    Ein wuchtiger Stoß in ihrer Brust ließ ihr Herz einen ganzen Schlag aussetzen. Der nächste dafür reichte glatt bis zum Hals. Sie stand direkt neben ihr. Keine Armlänge von ihr entfernt roch sie gerade prüfend an einer Grapefruit. Melody stieß einen erstickten Laut aus und stolperte zwei Schritte zurück. Scheinbar erst dadurch auf sie aufmerksam werdend, blickte die Fremde sie gleich wieder mit durchdringenden Augen an. Doch es war kein Blick der Verwunderung oder Gleichgültigkeit. Wie sie auf sie herabsah, mit leicht gehobenem Kinn. Es war wie ein Raubtier, das sein Beute fixierte.
    Stadion, Bushaltestelle – das interessierte sie gerade kein Stück mehr. Das Ziel war egal geworden. Melody wollte bloß noch weg. Sie sprintete los, als ob gerade ein Messer gegen sie erhoben worden wäre. Sie blickte nicht zurück. Das verbot sie sich. Nur nach vorne schauen und rennen, bis sie nicht mehr konnte. Gewaltsam drängte sie sich an mehreren Personen vorbei, hörte deren Proteste oder Beleidigungen nicht einmal. Die erste Hausecke war ihr gut genug, um dahinter zu verschwinden. Ihre Gedanken rasten in diesem Augenblick. Wohin? Welche Richtung? Wie schnell? Wie weit? Wo sie ankommen würde, interessierte sie jedoch nicht im Geringsten. Es galt einzig und allein die Verfolgerin abzuschütteln. So registrierte sie eine kleine Lücke im ansonsten dichten Straßenverkehr und schlüpfte kurzerhand zwischen zwei Autos hindurch, die ein wenig Abstand zueinander besaßen. Dass der heranfahrende Wagen wegen ihr unverhofft abbremsen musste und daraufhin wütend hupte, nahm sie nur am Rande wahr. Auf der anderen Seite angekommen rannte sie den Häuserblock bis zu seinem Ende hinab und bog dann nach links. So musste sie dem Sichtfeld der Frau doch eigentlich entkommen sein, oder? Sie wagte nicht, es zu prüfen. Lieber nutzte sie die Gelegenheit, die eine gerade grüne Fußgängerampel ihr anbot und überquerte erneut die Straße. Ein Gedankenblitz trieb sie in Richtung einer schmalen Gasse. Einmal erreicht, gönnte Melody sich ein paar Sekunden, um nach Luft zu ringen. Sie hatte es erst nicht bemerkt, doch hatte sie offenbar seit Beginn ihrer Flucht keinen Atemzug getan. Gehetzt drängte sie sich eng an die mit Graffiti besprühte Hauswand, wischte sich den Schweiß von der Stirn und rang nach Luft.
    Das war doch absurd! Sie kam sich vor wie in einem schlechten Film. Es tauchten keine wildfremden, obskuren Personen auf der Straße auf und verfolgten einen, wie ein Tier. Doch wurde Melody hier wirklich verfolgt? Sie huschte an die Hausecke und lugte vorsichtig auf die Straße.
    Sie kam direkt auf sie zu! Befand sich schon auf ihrer Straßenseite und marschierte mit schnellen, strammen Schritten in ihre Richtung. Das war doch...
    Melody dachte gar nicht erst weiter. Sie machte kehrt und zwang ihren Körper erneut zu Höchstleistungen. Doch diesmal kam sie nur ein paar Schritte weit. Die Gasse besaß eine kleine Nische, in der wohl die Abfalltonnen, die einfach auf dem Boden lagen, stehen sollten. Die Flüchtige bereitete sich schon darauf vor, über sie hinweg zu springen, da trat aus der Nische eine Gestalt hervor. Eine Hand erfasste die ihre, die andere ihre Schulter. Blitzschnell wurde sie herumgerissen und dann gegen die Hauswand gedrückt. Dann spürte sie, wie eine Hand ihren Schopf griff und den Kopf in den Nacken zog. Schließlich blitzte das Messer auf. Melodys Bewegungen gefroren augenblicklich. Ihre Kehle lag der Stichwaffe völlig entblößt gegenüber. Die Klinge konnte nur Millimeter von ihrer Haut entfernt sein. Beinahe war es ihr, als läge sie schon darauf. Doch das konnte auch Einbildung sein. Bedingt durch die Todesangst, die gerade in ihr aufstieg. Ein schrumpfendes Gefühl in der Bauchregion verursachte eine beklemmende Leere ihres Körpers. Jeder Muskel war angespannt, doch würde sie von nicht einem davon eine Bewegung wagen. Wäre die Waffe nicht so nahe, würde sie wohl Hyperventilieren, doch kämpfte sie verzweifelt dagegen an, um keinen Kontakt mit der Klinge zu provozieren.
    Dann stockte ihr Atem erneut. Vor ihr stand ein Mädchen. Kaum älter als sie selbst. Eine Komplizin der Frau von der Straße? Sie erahnte die Antwort bereits, als das leichte Echo der Gasse gleichmäßig Schritte an sie herantrug. Nur Sekunden später stand sie vor ihr. Der Blick genauso, wie an der Ampel und dem Lebensmittelladen. Starr, eindringend, den Kopf leicht erhoben. Aus ihrer ohnehin hohen Position fühlte Melody sich sofort von ihr bedroht. Von dem Messer an ihrer Kehle ganz zu schweigen.
    Einige Momente lang sagte niemand etwas. Die Stille machte sie wahnsinnig. Was wollten die beiden? Was war der Grund für diese Drohung? Doch die ersten Worte der Frau galten dem Mädchen mit dem Messer, als sie scheinbar beschwichtigend eine Hand auf ihre Schulter legte.
    „Sei doch nicht so grob. Nun lass sie schon los.“
    Zunächst glaubte sie, sie hätte sich verhört. Doch tatsächlich löste sich der Griff des Mädchens, so abrupt, dass sie selbst keinen festen Stand fand und zu Boden glitt. Sofort wanderten ihre Hände zum Hals und prüften, ob nicht doch ein Schnitt dort gezogen worden war. Nichts. Sie war unverletzt. Schnelle Atemstöße sowie ein leicht ungläubiger Blick hatten sie dennoch in ihrer Gewalt.
    „Ihr fragtet vorhin nach Ryan Carparso, richtig?“
    Unsicher, was nun mit ihr geschehen würde, blickte sie auf.
    „Wir sollten uns unterhalten.“

    Ich bin da etwas gespalten.


    Einerseits glaube ich, dass viele Leute hier gar nicht die Zeit und die Lust haben, sich durch alle aktuellen Fanfictions zu lesen, was dann darin endet, dass sie nur den Profi Bereich lesen würden (wenn er den zurückkehrt) und somit die Werke anderer Autoren, die dennoch sehr talentiert sind, gar nicht lesen würden. Wenn man nur ein paar Geschichten verfolgen kann/will, hält man sich natürlich immer an den Profi Bereich. Fände ich um die, die es vielleicht nur knapp oder bloß NOCH nicht in den Profi Bereich geschafft haben, echt schade.


    Andererseits finde ich auch wieder, dass manche Autoren eben diese gesonderte Aufmerksamkeit verdient haben und die Verschiebung in einen Profi Bereich wohl die mit Abstand wirksamste Methode wäre, um die Leser drauf aufmerksam zu machen. Und eine gewisse Honorierung soll besonders talentierten Autoren auch gegönnt sein.


    Ich kann mich echt nicht entscheiden, welchem dieser Punkte ich mehr Wichtigkeit beimesse. Daher enthalte ich mich mal.

    Kapitel 21: Im Angesicht des Feindes


    „Also ich kann´s noch immer nicht fassen, dass Bax gegen die beiden verloren haben soll.“
    Die leicht beschwibste Stimme des Mannes in schwarzer Uniform zerriss die fast unheimliche Totenstille des Leerstehenden Büros auf fast grobe Art und Weise. Wie ironisch, wenn man bedachte, dass vor wenigen Monaten in eben diesem Raum, diesem Gebäude, viele hundert Angestellte einer großen Agentur gearbeitet hatten. Doch nun war der Kasten vom Keller bis zum Dach ungenutzt. Naja, offiziell zumindest. Inoffiziell hatte hier eine wichtige Zweigabteilung von Team Rocket einen Unterschlupf gefunden. Nicht mal wirklich schwierig war es gewesen, ein großes Gebäude mitten in der Stadt zu bekommen sowie sicher zu stellen, dass kein Außenstehender es je betreten würde. Ein paar Schmiergelder hier, zwei, drei verdeckte Agenten da, etwas Equipment und schon war eine kleine, unscheinbare Basis direkt zwischen Boutiquen, Kiosks, Drogerien, Discountern und dergleichen entstanden. Diese dämlichen Beamten waren wahrlich nicht viel gerissener als dumme Zivilisten. Immerzu prahlten sie mit Fortschritten im Fall Team Rocket, ohne zu wissen, dass sie hier in Hoenn gerade mal an der Spitze des Eisberges kratzten.
    „Sag bloß, dir tut das Arschloch leid? Wenn´s nach mir ginge, hätten sie ihn mit 'nem saftigen Tritt in eine Zelle ohne Licht schmeißen können. Scheiße, was ich dafür gegeben hätte, ihm selbst diesen Tritt zu verpassen.“
    Der Zweite gluckste ebenfalls angetrunken. Wenn ein ranghohes Mitglied ihrer Bande oder sogar der Schwarze Lotus zugegen wäre, würde niemandem von ihnen im Traum einfallen, hier im Dunkeln zu saufen. Doch was blieb denn hier schon zu tun? Es war spät abends. Oder gar schon mitten in der Nacht? Zu Hölle, keiner von ihnen hatte die Uhrzeit im Bilde, doch es war jedenfalls stockdunkel und gähnend leer draußen auf den Straßen. Die Vorhänge zuzuziehen wäre wohl gar nicht nötig gewesen. Zu dieser Zeit Wache zu schieben war echt eine Strafe.
    „Aber echt. Bax war ein jähzorniger Mistkerl, nicht mal besonders wichtig. Ohne ihn sind wir alle besser dran“, stimmte ein dritter Rocket zu und warf die Klinge seines Springmessers, mit dem er die ganze Zeit schon herumhantierte, auf eine provisorisch angefertigte Zielscheibe aus Holz, die am Türrahmen hing. Ein weiteres steckte noch darin. Zuvor hatten sie ihre Wurftechniken verglichen und waren zu dem Ergebnis gelangt, dass sie sich nicht einig wurden, wer der beste von ihnen war. Doch das war vorhin gewesen, bevor sie die erste Flasche voll klarer und intensiv riechender Flüssigkeit, geöffnet hatten. Das spärliche Licht der einsamen Deckenlampe über dem Tisch, auf dem Alkohol, Gläser und ein randvoller Aschenbecher Platz fanden, ließ auf selbige kaum etwas erkennen, da die Glühbirne dem Ende ihres Seins entgegensah. Kaum konnte man die zerdrückten Fluppen im Aschenbecher zählen, selbst in nüchternem Zustand. Ein Zustand, den sie alle bereits abgelegt hatten.
    „Vor allem gibt´s dadurch Aufstiegschancen“, ergänzte er schließlich, wobei er plötzlich sehr wichtig und euphorisch klang.
    „Also für mich wäre das nichts.“
    Die Begeisterung hielt sich bei dem, der sich selbst gerade noch dabei vorgestellt hatte, den von ihm so verhassten Bax höchstselbst zu attackieren, in Grenzen. Voll Gleichgültigkeit zündete er sich eine weitere Zigarette an.
    „Schon klar, bist nicht der Typ für Führungspositionen. Magst keine Verantwortung, hast keinen Bock auf großkotzige Bosse und noch weniger auf strohdumme Untergebene. Aber wir alle wissen, dass du´s einfach nur nicht drauf hast. Alter, wir haben das alle tausendmal gehört, komm endlich klar.“
    „Leck mich,“ kommentierte der Verspottete nur gelangweilt und füllte sich ebenfalls das inzwischen mal wieder leere Glas. Wenn das so weiterging, würde nochmal einer zur Tanke taumeln müssen, um Nachschub zu holen. Hoffentlich kam es nicht so weit. Er wäre diesmal nämlich dran. Vielleicht war es keine schlechte Idee, ein wenig kürzer zu treten. Selbst wenn die Flasche zu bald leer würde, bestünde dann eine Chance, dass die beiden zu voll wären, um sich an die Reihenfolge zu erinnern. Ja, dies waren so die Probleme bei später Wache.
    „Aber ist schon irgendwie krass, dass nur zwei Trainer das ganze Versteck ausgehoben haben, oder nicht?“
    „Denk dir nicht zu viel dabei, das tut dir nicht gut“, winkte der Raucher ab.
    „Hab gehört, dass der Schwarze Lotus damit schon gerechnet hat und dass dahinter irgendein Plan stehen soll. Frag aber bloß nicht was für einer, ich hab keinen Dunst.“
    „Vielleicht wollten die Bax genauso loswerden, wie wir.“
    Die Runde lachte teils belustigt und teils boshaft über die Vorstellung. Im Team Rocket gab es selten nennenswerten Klatsch oder heiße Gerüchte – Dinge eben, über die man sich während einer zur Trink- und Rauchrunde umgestalteten Nachtwache unterhalten konnte. Der Vorfall in den Wäldern von Wurzelheim bildete da schon den Höhepunkt der letzten Monate, also lange vor ihrer Ankunft in Hoenn. Diese war innerhalb der letzten Wochen sorgfältig vorbereitet worden.
    „Mensch, die Lampe auf dem Flur macht mich bald noch irre.“
    Die anderen beiden wussten gleich, was er meinte. Seit sie in diesem Nebenzimmer nahe des Haupteingangs hier im dritten Stock Platz genommen hatten, flackerte das kalte Licht ununterbrochen. Wäre noch eine Tür im Rahmen, wäre das ja kein Problem, doch eben die fehlte seit der Räumung des Gebäudes.
    „Lass mal schauen, ob wir morgen eine Tür da einbauen können.“
    Einer in der Gruppe lachte trocken auf.
    „Auf so eine Schnapsidee kannst echt nur du kommen. Wie willst du in einem geschlossenen Raum Wache schieben?“
    Darauf lachten wiederum die beiden anderen, jedoch deutlich lauter und abfälliger. Einer hämmerte sogar mit der flachen Hand auf die Tischplatte.
    „Was soll der Scheiß? Schau mal, wie unsere Wachschicht aussieht! Wem willst du da was vormachen?“
    „Sag bloß du hast Schiss, dass hier plötzlich der Schwarze Lotus auftaucht und uns am Arsch kriegt?“
    Das Gelächter setzte sich fort. Ob es die Peinlichkeit war oder der inzwischen stolze Alkoholpegel, konnte keiner mit Sicherheit bestimmen. Sogar der Dritte ließ sich davon anstecken, obwohl er selbst es eigentlich war, über den die beiden lachten. Irgendwie konnte keiner aus dem Trio sich für die nächste Minute wirklich beruhigen. Das war eigentlich Warnung genug, dass es bei ihnen langsam zu heiter wurde und diese Flasche Wodka die letzte sein würde. Zumindest bis zur nächsten Schicht. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch keiner, dass sie besser gar nicht erst zu trinken angefangen hätten. Denn im Gelächter bemerkte keiner die Person im Türrahmen, deren Rücken vom flackernden Licht angestrahlt wurde und so als dunkle Silhouette erschien.


    Dreizehn Minuten. Länger hatte es nicht gedauert. In nur dreizehn Minuten hatte der Feind beinahe allen, im verlassenen Bürogebäude mitten in Graphitport stationierten Rockets, den Tod gebracht. Ein Massaker. Ein Gemetzel. Eine Schmach. Nur eine Gruppe aus vier Männern und einer Frau war übrig geblieben. Und eben diese fünf bahnten sich in absoluter Stille ihren Weg zum Ausgang. Den Weg zur Flucht durch die nächtliche Dunkelheit. Der Strom war längst ausgefallen – mit Sicherheit auch ein Werk des Feindes. Keiner von ihnen besaß auch nur im Entferntesten den Mut, sich dem zu stellen, was all ihre Kameraden, deren Leichen die Flure füllten, umgebracht hatte. Auf Zehenspitzen und ihre Waffen nervös mit Schweißhänden umklammernd näherten sie sich dem Treppenhaus. Dieses lag hinter der breiten Flügeltür, von der sie nur noch einige Meter entfernt waren. Doch sie wagten es nicht, Hals über Kopf zu rennen. Denn auf dem Weg dahin hatten sie sowohl eine Flurkreuzung als auch den Nebenraum, in dem für gewöhnlich die Nachtwache ihre Schicht absaß, passieren müssen. Schon von weitem sah man den menschlichen Arm, der aus dem Türrahmen in den Flur hineinragte und sich nicht rührte. Wie schon bei all den anderen Toten, vermieden sie es, genau hinzusehen. Nach den ersten Rüpeln mit durchgeschnittener Kehle oder mehrfach durchlöchertem Brustkorb – um nur die tödlichen der zahlreichen Wunden zu nennen – hatten sie bereits verstanden, dass hier lediglich der Tod auf sie alle wartete, sollten sie bleiben und kämpfen. Wer auch immer sie so zugerichtet hatte, hatte dies nicht bloß getan, um sie zu töten. Zu solcher Brutalität griff nur jemand, der seine Opfer als Warnung für die hochrangigen Mitglieder des Team Rocket zurück ließ.
    Das Grüppchen erreichte die Kreuzung. Mit einem raschen Handzeichen bedeutete der Mann an der Spitze einem anderen, zu ihm aufzuschließen, damit sie beide Seiten gleichzeitig inspizieren konnten. Ein kurzer, klärender Augenkontakt, dann hob einer seinen Dolch, der andere seine Schusswaffe und sie huschten in die Mitte der Kreuzung.
    „Sicher“, bestätigten beide sofort, als bloß weitere Leichen zu sehen waren. Sie ließen die anderen passieren, während sie wie Soldaten ihre Stellung hielten, um sicherzugehen, dass sich nicht doch noch etwas rührte. Schließlich folgten sie wieder dem Rest und bildeten nun die Nachhut. An der Front führte nun eine langhaarige Blondine. Der Schweiß rann ihr ebenso über die Stirn, wie ihren männlichen Begleitern und ihre Hände zitterten. In jeder Sekunde rechnete sie mit einen Angriff aus dem Hinterhalt. Sie erwartete gar nicht viel zu bemerken, sollte es zu einem solchen kommen. Ein leiser Schritt, eventuell das kurze Aufblitzen eines Messers, bevor der Stahl sich in ihren Körper bohren würde. Sie konnte Gedanken wie diese einfach nicht verbannen. Doch sie wehrte sie vehement dagegen. Sie alle taten das. Keiner wollte hier sterben. Schon gar nicht so, wie ihre Kameraden hatten sterben müssen. Immerhin der Besitz einer Schusswaffe innerhalb der Gruppe gab ihnen einen Funken Sicherheit. Als einziger in diesem Versteck besaß der Mann, welcher gerade das Schlusslicht darstellte, eine solche, da er hier das Sagen hatte. Besagte Person blickte gerade zur Decke hinauf. Genauer gesagt zum Lüftungsschacht, welcher hier an einer Stelle offen war. Das Gitter, welches da eigentlich hingehörte, fehlte. Doch da drinnen konnte sich ein normaler Mensch nie im Leben lautlos bewegen. Jeder Idiot würden es bemerken. Das beruhigte ihn ein wenig, aber ein seichter Schauer jagte ihm dennoch über den Rücken, als er sich der Stelle näherte, weshalb er seinen Blick immer mit dem Lauf seiner Waffe eisern dort haften blieb, bis sie alle vorbei geschlichen waren. Die Flügeltür kam näher. Der Weg in die Freiheit, die Sicherheit, war fast geschafft.
    Plötzlich fuhr die ganze Gruppe zusammen. Da war ein Geräusch! Augenblicklich wagte keiner auch nur einen Finger zu rühren. Ihre Körper verfielen fast ein eine Schockstarre. Jeder war sich sicher, dass ihre donnernden Herzen sie gerade würden verraten können. Das so unverhoffte Geräusch war sofort wieder verklungen. Es war wie ein... Schleifen gewesen. Als ob jemand etwas über den Teppichboden zog. Lange Sekunden verharrten sie. Bewegten sich nicht. Atmeten nicht. Warteten einfach nur, bis entweder das Geräusch ein weiteres Mal erklang, um zu bestätigen, dass ihre Sinne sie nicht getäuscht hatten oder bis währende Stille sie vom Gegenteil überzeugte. Woher war es eigentlich gekommen?
    Alle Blicke richteten sich geradeaus. So nahe. Nur ein paar Schritte trennten sie von dem Ausgang. Doch etwas stimmte nicht. Etwas war trügerisch an diesem Bild des unbeleuchteten Flures. Etwas war anders. Und als einer es bemerkte, brach er sogar das Schweigen.
    „Wo ist die Hand?“
    Eiseskälte stieg innerhalb eines Herzschlages in ihnen allen auf und versetzte jedem einen Klos im Hals. Er hatte recht. Die Hand eines Menschen, die eben noch aus der Tür des Nebenzimmers in den Gang geragt hatte. Sie war fort! Die Frau an der Spitze schluckte. Der Körper, welchem eben jene Hand angehörte, war weiter in den Raum gezogen worden und hatte wohl somit das ominöse Geräusch verursacht. Der Feind befand sich gerade auf ihrem Weg! Kurz warfen sich alle einander prüfende Blicke zu. Warten hätte keinen Sinn und einen anderen Weg hinaus gab es nicht. Davon abgesehen, dass sie sich im dritten Stock befanden, waren die Fenster seit der Räumung des Gebäudes allesamt verriegelt worden und sie gewaltsam zu öffnen, würde nur dafür sorgen, dass sie selbst gejagt werden würden. Doch hier und jetzt in diesem Moment hatten sie die besseren Karten. Sie würden den Feind überraschen können. Das war vielleicht die Chance, die sie nie zu erhalten erwartet hatten.
    So rasch, wie sie es wagten, bewegte sich die Gruppe vorwärts. Die blonde Frau winkte sich zwei Männer hinzu, die dicht hinter ihr blieben, um mit ihr den Raum zu stürmen. Einer von ihnen war nur mit einem Totschläger bewaffnet, doch ein satter Schlag mit diesem sollte in jedem Fall ausreichen, damit die beiden anderen mit ihren Stichwaffen den Todesstoß setzen konnten. Noch einmal ein kurzer Blickkontakt, während sie alle dicht an die Wand gedrängt die kläglichen Reste ihres Mutes zusammenkratzten und schließlich den Schritt wagten. Die Messerkämpfer rannten voraus, der Dritte mit dem Schlagstock hinterher.
    Drei Leichen. Das war alles, was sie hier fanden. Allesamt schlugen sie entweder eine Hand oder einen Unterarm vor den Mund und unterdrückten einen Aufschrei. Der Kopf des Mannes zu ihren Füßen war merkwürdig verdreht, schien in dieser unnatürlichen Position festzusitzen. Ein anderer lag mit dem Kopf auf dem Tisch, die Arme hingen schlaff herunter. In seinem Genick steckte ein Springmesser, das einen blutigen Schlitz hinter sich herzog. Der letzte lag auf dem Boden und war direkt ins Herz erdolcht worden. Ansonsten befand sich hier niemand. Ein Tisch, auf dem Alkohol und Aschenbecher hin und her gereicht worden waren. Das war´s. Die Blicke der Rockets wechselten stetig zwischen Schreck, Ratlosigkeit und Panik. Was hatte den Mann bewegt? Wo befand sich der Feind? Mit wem in aller Welt hatten sie es hier zu tun? Keinem von ihnen fiel das fehlende Gitter des Lüftungsschachtes, dessen Öffnung sich über der Tür befand, in irgendeiner Form auf.
    Die beiden übrigen Männer auf dem Flur wagten nicht, den Raum ebenfalls zu betreten, doch achteten sie auch nicht weiter auf ihre Umgebung. Die Mischung aus Furcht und Neugier war dafür zu verantworten.
    „Was ist?“, flüsterte einer dann schließlich.
    „Nichts“, erhielt er als Antwort. Ungläubig über selbige zogen sich seine Augenbrauen zusammen. Nun war ihre Wachsamkeit endgültig dahin. Zu ihrem Leidwesen ließ sich nur wenige Schritte hinter ihnen gerade eine Gestalt, lautlos und zielstrebig wie eine pirschende Bestie, aus dem offenen Schacht fallen, den sie alle vor einer Minute erst passiert hatten.
    Ein weiterer Mann trat in den Türrahmen, seinen Kameraden am Ende der Gruppe völlig außer Acht lassend.
    „Was soll das heißen, da ist nichts? Da muss doch...“
    Der Rocket brach ab. Erneut hatte ein verräterischer Laut hatte ihn zum Schweigen gebracht. Instinktiv folgte sein Blick ihm zurück in den Flur und fand seinen Kollegen vor, der irgendwie abwesend und mit offenem Mund in die Luft schielte.
    „Hey“, sagte der nur, selbst nicht wirklich in Gewissheit, wie er auf diesen Zustand reagieren sollte. Es antwortete ihm ein widerliches, schneidendes Geräusch von Metall, eingetaucht in menschliches Fleisch. Ein letzter Ruck begleitet von einem Schmerzensschrei, der sich auf halbem Weg die Kehle hinauf verlor, dann brach der Mann zusammen und hinter ihm kam ein Mädchen mit rubinroten Augen zum Vorschein. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Dolch mit blutverschmierter Klinge. Das Gesicht war von einem Schal verhüllt. Nur ihre Augen, furchterregende, glühende Augen konnte man erkennen. Dann ertönte doch noch ein Schrei. Lange hatte er sich zusammengerissen und war aus Angst um sein Leben so still und leise gewesen, wie wohl nie zuvor. Doch jetzt waren sie entdeckt worden. Ängstlich wich er zurück. Stolperte über seine eigenen Füße und landete auf dem Boden. Das Mädchen wischte die Klinge ihrer Waffe in aller Seelenruhe an der Kleidung ihres jüngsten Opfers sauber und steckte sie anschließend weg. Für diese Schwächlinge würde sie ihre geliebten Dolche nicht brauchen.
    Die anderen drei Rockets stürmten aus dem Raum hinaus, erkannten sofort den Feind und reagierten zunächst mit einer erneuten Schockstarre. Das Schleichen und Verstecken hatte ein Ende. Zu ihrem Leidwesen, zweifellos. Doch mischte sich die Angst mit Verwirrung. Ein Mädchen? Sie allein sollte all ihre Kameraden gemeuchelt haben? Und nun hatte sie den Boss erwischt – den einzigen Mann hier mit einer Pistole und somit einem reellen Vorteil. Doch sie waren noch immer zu viert und sie hatte außerdem gerade ihre Waffe aus der Hand gelegt. War das nicht ihre große Chance? So dachte der Mann, der nun mutig und mit einem längst nicht so überzeugenden Kampfschrei auf sie zustürmte. Er wollte ihr sein Messer tief in den Bauch rammen, doch sie fing den Stoß spielend mit einer Hand ab. Mittels einer Drehung wandte sie sich an ihm vorbei, verrenkte ihm den Arm dabei schmerzhaft auf den Rücken. Mit einem raschen Tritt gegen das Brustbein warf sie den nächsten Angreifer zurück, welcher von der Frau aufgefangen werden musste. Die konnte sein Gewicht jedoch nicht halten, weshalb beide zu Boden gingen. Der vierte Rocket war derweil von eiskalter Furcht gepackt bis zu der erlösenden Tür gekrochen und zog sich nun daran hoch. Nicht einen Gedanken verschwendete er nun an seine Kameraden. Einzig und allein das Mädchen beherrschte seine Gedanken. Er musste fliehen. Egal wohin, einfach raus und weg. Irgendwohin. Jeder Ort war ihm recht, solange er nur Distanz zwischen sie und sich selbst brachte. Jetzt nur noch die Klinke hinunterdrücken, die Pforte aufstoßen und...
    „Abgeschlossen?“
    Das war der Moment, in dem sein Blut zu Eis gefror. Kein Ausweg. Es hatte nie einer existiert. Sie waren selbst mit jedem ihrer Schritte immer weiter in die Todesfalle vorgedrungen. Doch wie war das möglich? Sie musste durch diese Tür eingedrungen sein! Einen anderen Weg hinein gab es nicht. Die Fenster waren verbarrikadiert und auf dem Dach hatten Wachen gestanden. Wie? Wie nur? Wer... war dieses Mädchen?
    Kurz sah er über seine Schulter, wand den Blick aber rasch wieder ab und kniff verbissen die Augen zusammen. Sie hatte dem Mann, dessen Arm sie noch immer festhielt, seine Waffe abgenommen und in Absicht eines zielsicheren Todesstoßes erhoben. Gerade noch hatte er wegsehen können, bevor sie ihr tödliches Werk verrichtete. Nur ein sehr kurzer Schrei. Dann das monotone Geräusch eines leblosen Körpers, der zusammenbrach und sich fortan nicht mehr rührte. Er wünschte sich im Nachhinein, er hätte die Augen gar nicht wieder geöffnet. So sah er auch der blonden Frau beim Sterben zu, die sich gerade erst wieder auf gekämpft hatte. Den Dolch mit einem Ruck aus dem zusammenbrechenden Mann befreiend, warf das Mädchen ihn mit einer zielgerichteten Bewegung aus dem Handgelenk und traf ihr Ziel in den Torso. Der Schmerz hatte sich noch nicht einmal vollends ihrer bemächtigt, da hatte die Assassine schon die wenigen Schritte bis hin zu ihr überwunden, riss den Dolch gewaltsam aus ihr heraus und schnitt ihr mit einem ebenso flinken Angriff ihre Kehle durch. Eher aus Verzweiflung als tatsächlichen Mut angetrieben, startete der nächste Rocket einen kläglichen Angriffsversuch. Lediglich mit dem Schlagstock bewaffnet wollte er in ihre offene Seite prügeln. Selbstverständlich scheiterte er. Sie fing ihn am Handgelenk ab und umschlang seinen Arm dann mit ihren beiden. Ein gekonnter Griff, ein lautes Knacken, das einen kalten Schauer beschwören mochte und ein lauter Schrei. Der Arm war gebrochen. Es folgte ein Schlag mit dem Ellenbogen an seine Schläfe. Den Totschläger entfernte sie aus seiner Hand und stach ihm mit dem Dolch, den sie noch immer in der anderen Hand führte, gnädiger Weise direkt ins Herz. Es schwieg sofort – ein schneller Tod. In Ehrfurcht vor ihrer Kraft verließen ihn seine Lebensgeister. Doch sie wollte die von ihr so vermisste Verführung des Tötens auskosten. Selbst wenn sie bloß Schwächlinge meucheln durfte. Oder eher – besonders deswegen. So wandte sie sich in einer raschen Drehung an ihm vorbei und stieß die Waffe zusätzlich in sein Kreuz, ließ sie auch dort stecken, als er zusammenbrach.
    Über ihr Gesicht hatte sich in dem Moment, in dem auch dieser Gegner fiel, die Dunkelheit gelegt. Erst als sie ihr Haupt wieder vorsichtig anhob, funkelten die roten Juwelen erneut auf, durchstachen die Finsternis. Sie fanden eine jämmerliche Gestalt eines Mannes in schwarzer Uniform, der zitternd an der Flügeltür lehnte. Das Vergnügen endete hier wohl. Der Taugenichts war erstarrt. Hatte sich bereits ergeben, wie sie an den Händen, die er ihr offen zeigte und kapitulierend anhob, erkannte. Ob er wohl etwas wie Gnade erhoffte? Wie töricht.
    Stramm und gleichmäßig waren ihre Schritte. Fast lautlos obendrein. Der letzte jedoch kam dem Rocket vor, wie eine tosenden Welle, die wütend gegen ein Kliff krachte, im energischen Versuch es zu bewegen. Eine flinke Drehung, um Kraft zu sammeln. Sie hob den Schlagstock, kostete den süßen Anblick eines besiegten Feindes und schlug selbigem direkt auf das Jochbein. Dem grausamen Geräusch zertrümmerter Knochen folgte nur Schwarz. Schwarz und Rot in flüssiger Form.
    „Kein schlechter Anfang“, war alles, was die folgende Stille durchstach.


    „Gütiger Gott.“
    Blankes Entsetzen. Das war es wohl, womit die allermeisten der schwarz uniformierten Männer und Frauen gerade zu kämpfen hatten. Im Team Rocket verbreiteten sich große Neuigkeiten selten schnell, da einfache Rüpel meist nie wirklich über solche Ereignisse in Kenntnis gesetzt wurden. Das war ein Grundprinzip dieser Organisation – dienen, folgen und kämpfen, ohne zu viel zu wissen und wissen zu wollen. Doch trat einmal der rare Fall ein, dass ein ganzes Versteck in einer Nacht zerschlagen und alle dort stationierten Mitglieder tot aufgefunden wurden, wusste es am nächsten Tag selbst jeder noch so unbedeutende Handlanger und Laufbursche in ihren Reihen. Niemand wollte bei so etwas zu den ersten gehören, die davon erfuhren, sprich solch ein Massaker mit eigenen Augen vorfinden. Doch genau das passierte hier gerade. Genau das hatten sie vor wenigen Minuten mit eigenen Augen vorgefunden.
    „Jetzt irgendwelche Götter anzurufen, wird von keinem Nutzen sein.“
    Es war eine einzelne Person, welche von der allgemeinen Atmosphäre unbeeindruckt und unberührt blieb. Mit dem Flachmann, den sie an ihre Lippen führte, um einen genüsslichen Schluck daraus zu nehmen, konnte man leicht in die Irre geführt werden. Doch dass sie ständig und zu jeder Tageszeit trank, war sozusagen ein offenes Geheimnis und stand mit diesem Schlachtfeld in keiner Verbindung. Derartiges hatte sie schon das ein oder andere Mal gesehen. Außerdem war es nicht so, dass sie mit so etwas nicht gerechnet hätte.
    „Es sind Menschen, die hier töten. Die Götter scheren sich nicht um das, was hier passiert ist.“
    Gerade untersuchte die junge Frau – die Schwelle des Erwachsenendaseins wohl gerade erst überschritten – eine weitere Leiche. Ein einzelner, zielgerichteter Schnitt hatte dieses Leben beendet.
    „Wie viele Leute waren hier stationiert?“, fragte ein kleiner Mann in die Runde, welche neben der Agentin und ihm selbst sechs weitere Rockets zählte.
    „Knapp vierzig“, lautete die Antwort.
    „Und die, die das hier angerichtet haben? Wie viele waren das wohl?“
    „Es war nur eine Person.“
    Die Antwort war von der jungen Frau gekommen, die sich gerade erhob und zur Eingangstür marschierte, ohne weiter zu erklären oder die Gruppe gar noch weiter zu beachten. Innerhalb dieser tauschte man unverständliche und schockierte Blicke aus. Hatten sie sich gerade verhört? Eine einzelne Person?
    Natürlich wusste sie, wer das hier angerichtet hatte. Darüber musste sie gar nicht erst spekulieren. Von der ersten Sekunde, seit sie auf die beiden angesetzt worden war, hatte sie befürchtet, dass sie sich früher oder später wenigstens für kurze Zeit einmal trennen würden, um sie in die Irre zu führen. Letztlich wäre es egal gewesen, wem von ihnen sie nachgejagt wäre. Die blonde Frau hätte das Versteck ebenso im Alleingang ausräuchern können. Vielleicht hätte sie kein ganz so grausames Blutbad hinterlassen, doch unterm Strich machte es keinen Unterschied.
    Ein etwas älterer Mann unterzog die große Flügeltür, welche nur zur Hälfte geöffnet war, da an der anderen noch immer ein toter Rocket lehnte, einer genauen Betrachtung. Sofort stand er stramm, als er sie auf sich zukommen sah.
    „Die Tür war verschlossen.“
    Ihre Aussage war mehr der Beginn einer Zusammenfassung dessen, was sie bereits wussten, als eine Frage.
    „War sie“, bestätigte er sofort.
    „Und der einzige Schlüssel für sie ist dieser hier.“
    Sie präsentierte besagten Gegenstand in ihrer Hand, welchen sie gerade bei einem der Toten gefunden hatte. Dabei zog sie mit einem undefinierbaren Funkeln in ihren bernsteinfarbenen Augen eine Braue hoch.
    „So ist es. Einen zweiten gibt es nicht.“
    Zwei aus der Gruppe, die eben noch die Toten untersucht hatten, schlossen sich der Diskussion an, achteten dabei ebenfalls auf korrektes Auftreten ihrer Vorgesetzten gegenüber.
    „Also muss die Tür aufgebrochen worden sein“, schlussfolgerte einer von ihnen. Doch erntete er nur ein Kopfschütteln seines Kollegen.
    „Sie ist unbeschädigt. Außerdem hätte das doch zu viel Lärm gemacht. Und das Schloss, das wir eingebaut haben, ist das beste, das man mit Geld kaufen kann. Unmöglich, dass das jemand geknackt hat.“
    „Aber wie...“
    Die Agentin zog die Mundwinkel nach oben. Wirklich nicht übel. Ja, das hatte sie gerissen angestellt.
    „Sie ist über´s Dach gekommen.“
    Alle Augenpaare richteten sich auf sie. Wieder spiegelte sich in ihrer aller Augen Verwirrung so wie ein Hauch Skepsis.
    „Eine Frau?“
    „Auf dem Dach waren doch auch Wachposten“, warf einer sofort ein.
    „Richtig – waren. Die sind auch tot.“
    Bis dort hinauf waren sie zwar noch nicht vorgedrungen, doch konnte sie das mit Bestimmtheit vorhersagen. Sie verstand sich schließlich auf diese Art von Menschen. In gewisser Weise gehörte sie dieser Art selbst an. Spione, Auftragskiller, Assassinen – nichts Anderes war es, worauf zu jagen sie sich spezialisiert hatte. Und hier hatte sie es sicher zweifellos mit der besten zu tun, die sie jemals als ihr Ziel bezeichnen konnte.
    „Wenn das wirklich wahr ist...“
    „Es ist eine Tatsache“, stellte die Agentin klar, noch bevor er ausreden konnte. Er sprach seine Zweifel dennoch aus.
    „Warum liegen dann so viele hier unten anstatt auf einem höheren Stockwerk?“
    Ihre Mundwinkel zuckten amüsiert. Die Frage war durchaus berechtigt. Dass sie jeden Einzelnen hier aus dem Hinterhalt getötet hatte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Sie hatte es selbst gesagt – Menschen waren hier am Werk. Keine Geister oder Götter. Also müssten die Männer und Frauen theoretisch hinaufgeeilt sein, um den Eindringling zu stoppen. Doch für sie war es eine ganz natürliche und logische Schlussfolgerung, während die übrigen Anwesenden gänzlich im Dunkeln tappten. Wie wohl gleich die Furcht in ihnen hinaufkriechen würde, wenn sie ihnen das ihr Offensichtliche erklärte?
    „Weil sie alle zu fliehen versucht haben.“
    Selbst nach einer Minute herrschte unter den Rockets noch absolute Stille. Gejagte und schockierte Blicke wurden ausgetauscht. Die Stimmung war erdrückend. Kaum einer rührte sich auch nur. Dieser Moment, in dem man gerade darüber unterrichtet wurde, dass der Feind übermächtig war und sie alle so enden mochten, wie ihre Kameraden hier auf den Fluren. Keiner war je auf so etwas vorbereitet, wenn man die Entscheidung traf, sich Team Rocket anzuschließen. Sicher, jeder erhoffte sich von diesem Schritt ein anderes Ziel, obwohl Verhaftung oder eben Schlimmeres immer eine Eventualität war. Doch diese eine Sache hatten alle unter ihnen gemeinsam und würde sich wohl auch nie ändern.
    Die junge Frau, die ihnen gerade die Botschaft überbracht hatte und sich ohne weiteres mit überlegenen Schritten den Schauplatz verließ, gehörte allerdings nicht zu ihrer Organisation. Wem sie tatsächlich diente, konnten Mitglieder eines niederen Standes wie sie es waren, nur mutmaßen. Nicht viel war über sie bekannt – selbst in ihren eigenen Reihen. Sie unterstand womöglich unmittelbar dem Schwarzen Lotus, doch für ihren Boss Giovanni empfand sie weder Treue noch Sympathie. Zumindest hatte sich dies so herumgesprochen. Wahrscheinlich war sie eine unabhängige Agentin, eine Einzelgängerin, die für jeden arbeitete, der sie ausreichend bezahlte. Es gab einen regelrechten Markt für solche Menschen – natürlich alles inoffiziell und hinter vorgehaltener Hand. Doch wer sich selbst auf ihm behaupten konnte, dem winkten äußerst lukrative Geschäfte. Und sie? Wenn an den Gerüchten was dran war, gehörte sie zur Elite, sprich war einer der besten in dem, was sie tat. Kaum zu glauben eigentlich, wenn man ihr rund um die Uhr beim Trinken zusah. Doch allein ihre Präsenz, ihre Aura ließ einen in Ehrfurcht erstarren. Vergleichbares kannte man lediglich vom Schwarzen Lotus selbst. Wenn selbiger die Hilfe einer solchen Frau in Anspruch nahm, waren ihre Gegner gefährlich. Doch andererseits war es beruhigend, sie, die jeden von ihnen wohl innerhalb eines Lidschlags zu töten vermochte, in den eigenen Reihen zu wissen. Oder nicht?


    Die Straßen waren zur späten Mittagsstunde voll von Menschen. Menschen mit unterschiedlichsten Intentionen. Manche spazierten gemütlich zum Zeitvertreib, manche schlenderten vergnügt beim Shoppen, andere bewunderten fasziniert die Sehenswürdigkeiten und ein paar wenige führten gar einen erbitterten Kampf. Die Rede war hier jedoch nicht von Pokémon- oder gar Straßenkämpfen. Es war eher einer der Sorte, von dem die allerwenigsten Menschen überhaupt wussten, dass er gerade ausgetragen wurde. Noch befand er sich in der Frühphase. Die Kontrahenten tasteten einander ab, loteten Grenzen und Fähigkeiten aus. Doch der Tag würde kommen, an dem jede einzelne Person nicht bloß hier in Graphitport, sondern in ganz Hoenn davon betroffen sein würde. Vielleicht würde der Kampf sogar weltweite Konsequenzen nach sich ziehen, doch das wagte sie sich nicht vorzustellen. Immer wieder beschlich diese grausame Eventualität die Gedanken der jungen Frau, während sie plante, schätzte, überlegte, wie sie all dies möglichst rasch und mit möglichst wenigen zivilen Opfern beenden könnte. Doch einen solchen Weg zu finden war unmöglich, da der Verlauf nicht allein in ihren Händen lag. Alles wäre so viel einfacher, wenn dem so wäre. Gerade vorhin erst hatte sie überlegt, ob es nicht irgendwie zu verhindern gewesen wäre, Ryan Carparso in ihre Angelegenheiten zu involvieren. Doch die Erkenntnis war im Grunde längst gekommen, dass es dafür bereits seit seines Eindringens in das Versteck bei Wurzelheim zu spät war. Niemals würde er ihn ihr überreichen und selbst wenn, wüsste sie nicht, ob sie ihn wirklich in ihrem Besitz wollte. Gerne würde sie behaupten können, sie erachte ihn bei seinem derzeitigen Träger als am Sichersten. Immerhin war Ryan Carparso durchaus in der Lage, sich zu verteidigen, befand sich ständig unter vielen Menschen und somit im Schutz der Masse sowie dem seines Reisegefährten. An ihn heranzukommen wäre für die einfachen Mitglieder Team Rockets fast unmöglich. Doch es gab weit gefährlichere Agenten unter ihnen. Wenn der Schwarze Lotus es wirklich ernsthaft auf ihn abgesehen hätte, wäre er wohl längst beseitigt worden. Dennoch war es wohl selbst unter Berücksichtigung dieser Fakten klüger, ihn nicht selbst zu tragen. Denn sie kam dem Feind immer näher und damit stieg auch die Gefahr, ihn irgendwann an selbigen zu verlieren. Ihn zu verstecken war ebenfalls keine Option, da sie keinen Ort wüsste, an dem er nicht gefunden werden könnte und sie zudem permanent beobachtet wurden. In dieser Angelegenheit durfte sie einfach nicht leichtfertig sein.
    Auch das wäre ihr eine willkommene Ausrede. Doch letztlich gab es nur einen Grund, warum sie diesen verfluchten Kristall nicht an sich genommen hatte und auch nicht an sich nehmen wollte. Und zwar, weil sie Angst vor ihm hatte.
    Die Frau bog in eine Allee ab. Hauptsächlich befanden sich hier Lokale, Cafés und dergleichen. Schmale, blühende Laubbäume säumten die Straße mit ihrem Grün, spendeten ein wenig Schatten in der sommerlichen Hitze und sorgten für einen seltenen Kontrast in dieser ansonsten naturarmen Metropole. In diese Reihe hinein war ein Zeitungsstand errichtet. Zwischen selbigem und eben einem der Bäume huschte eine weibliche Gestalt hervor. Zielstrebig hatte sie auf die blonde Frau gewartet. Aus dem Augenwinkel nahm diese die Bewegung wahr und wurde in der nächsten Sekunde mit dem Anblick einer Auftragskillerin belohnt – ihrer Auftragskillerin und außerdem Partnerin.
    „Ich schätze es nicht, an solch offenen Treffpunkten zu warten.“
    Ihre Beschwerde war ruhig ausgesprochen und gründete allein auf die Gefahr, entdeckt zu werden. Ihr persönlicher Ärger wäre für jeden anderen Menschen verschleiert, doch kannte Mila sie einfach zu gut. Natürlich wusste sie, dass es ihr missfiel.
    „Bitte verzeih. Du darfst deine Gedanken dazu frei aussprechen. Aber ich muss dich bitten, es noch eine Weile zu ertragen.“
    Die Antwort stimmte sie keinesfalls zufrieden, doch lag das nicht an der Aussage selbst. Das Mädchen wandte den Blick ab und zupfte ihren Schal zurecht. Ihn trotz dieser Jahreszeit zu tragen, hatte ihr bereits viele, verständnislose Blicke eingebracht. Doch sie trug ihn immer und das würde sich auch nicht ändern.
    „Nun redet meine Gebieterin, als müsse sie sich bei mir entschuldigen. Womit willst du mich noch strafen?“
    Jedes einzelne Wort so nüchtern und unzugänglich wie immer, doch zog Mila dennoch die Brauen zusammen.
    Gebieterin.
    Dieses Wort hatte sie lange nicht benutzt. Zwar hatte ihr Wortschatz nie gänzlich in diese Epoche gepasst, doch sprach sie auch niemals eine Silbe unbedacht aus. Vielleicht wollte sie darauf hinweisen, daran erinnern, dass sie sich niemals beschweren, protestieren oder mit Mila auf eine Stufe stellen würde. Nicht weil sie es nicht wagte, sondern weil sie es nicht wollte. Sie nahm Befehle an, führte sie aus, berichtete von ihrem Erfolg. Das war alles, was sie je getan hatte und je tun wollte.
    „Gab es Probleme?“
    „Keine.“
    Die beiden setzen sich in Bewegung, passten sich der Menge an und marschierten durch die Straßen, ohne Aufsehen zu erregen. Ihre Unterhaltung führten sie vorsichtig, immer mit einem Auge ihre Umgebung inspizierend. Es war keine Paranoia, die sie verfolgte. Lediglich behielten sie ihre Vorsicht und ihre Aufmerksamkeit bei, die ihnen so oft schon das Leben gerettet hatte. Nur weil Team Rocket eine fähige Agentin angeheuert hatte, gab es keine Garantie, dass sich kein einfacher Rüpel als Zivilist ausgab und sie belauschte.
    „Du wirkst zufrieden.“
    Ohne sie anzusehen, nickte die Jüngere knapp.
    „Ich tue alles, was du mir aufträgst, dies weißt du. Doch weißt du auch, dass ich am liebsten die Dinge tue, die ich gut kann.“
    Mila seufzte angesichts ihrer Vorahnung.
    „Soll ich raten? Du hast... es sehr ausgekostet?“
    Zwischen den Zeilen fragte sie auf diesem Wege, ob sie ein sehr grausames Gemetzel veranstaltet hatte. Nicht dass sie Mitleid mit ihren Feinden hatte. Dafür war hier einfach kein Platz. Doch es bereitete ihr keine Freude, wenn Menschen so etwas angetan wurde. In gewisser Weise war es traurig. Nicht mehr und nicht weniger.
    Wieder nickte das Mädchen bloß, was mit einem Seufzen quittiert wurde. Sie sah keinen Fehler in ihrem Handeln. Das Töten selbst war nichts als eine Art – ihre Art – ein Ziel zu erreichen. Oder in diesem Kontext auszulöschen. Doch es sprach nichts dagegen, äußerst brutal vorzugehen, um Angst unter ihren Feinden zu säen. Jedenfalls würde es ihnen sicher kein Nachteil sein. Doch viel mehr beschäftigte sie ein anderer Gedanke.
    „Rechnest du wirklich fest damit, dass Ryan Carparso deinem Ruf folgen wird?“
    Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie ihn bei ihrem Treffen im Wald augenblicklich umgebracht. Durch den Vorfall bei Wurzelheim wusste er bereits zu viel. Nicht direkt über den Gegenstand, den er gestohlen hatte – allein dass ihm seine Existenz bekannt war, überspannte den Bogen.
    „Und wenn ich in unserer Lage noch so wenig garantieren oder versichern kann. Für sein Kommen lege ich meine Hand ins Feuer“, antwortete sie mit dem leichten Anflug eines zuversichtlichen Lächelns. Würde dieser Optimismus doch auf ihre Partnerin überspringen. Doch derartiges stand nicht im Raum. Zumindest nicht in dem Raum, in welchem sie lebte. Für sie zählten bloß Fakten, Tatsachen, Ergebnisse. Keine Chancen, keine Eventualitäten, keine Umwege. Nichts davon hatte sie je gebraucht.
    Sie stoppten. Gleichzeitig, mit demselben Schritt unterbrachen sie ihren Weg. Die zwei Augenpaare verengten sich. Ein Mann mittleren Alters stolperte tollpatschig an ihnen vorbei und sah sie kurz mit zusammengezogenen Brauen an. Wahrscheinlich überrascht vom plötzlichen Halt der beiden. Er wurde nicht beachtet. Nur weiter den Gehweg entlang zielten die Blicke. Zwischen der Vielzahl von Zivilisten stach eine Person unverkennbar hervor. Niemand, an dem sie vorbeischritt, kam um einen flüchtigen Blick herum, Manche wanden sogar noch einmal den Kopf nach ihr und musterten ihre Rückseite genauestens. Das Klackern ihrer schwarzen Absätze auf dem gepflasterten Gehweg schien zwischen all den Geräuschen der Menschenmassen um sie herum herauszustechen, war für Mila und ihre Partnerin jedoch fast wie ein donnerndes Warnsignal. Die schwarze Stoffhose wurde um die Knöchel ein wenig weiter und endete nach einem langen Weg bis zum oberen Ende in zwei weißen Gürteln, welche mit glänzenden Nieten besetzt waren. Allerdings handelte es sich bei jenen aufgrund der Tatsache, dass sie sehr lose um ihre schmalen Hüften lagen, bloß um Accessoires. Die Ärmel ihrer perlweißen Bluse waren bis zu den Ellenbogen hochgeschoben und gaben schwarze Armbänder mit eisblauen Runen darauf preis. Ihre ebenfalls schwarze Stoffweste, die etwas an die Uniform einer Kellnerin erinnerte, war nicht zugeknöpft. So sah man mehrere, silberne Halsketten, hauchdünn und mit einigen, glänzenden Steinchen in derselben Farbe, wie die Runen auf den Armbändern, bis auf Höhe ihrer Taille herabbaumeln und im Takt ihres Ganges mitschwingen. Das halblange, schwarze Haar war auf der linken Kopfseite hinter ihr Ohr, an dessen Läppchen ein schwarzes Piercing mit eingelassenem Edelstein funkelte, gekämmt und mit Spray in Position gehalten. Auf der rechten Seite hatte sie es nach vorne gestylt, sodass eines ihrer zartvioletten Augen fast gänzlich verdeckt wurde. Diese Augen, die nicht eine Sekunde etwas Anderes als Mila fixiert hatten und den Rest ihres Umfeldes gänzlich auszublenden schien. Mit weiten Hüftschwüngen steuerte sie die Blondine zielgenau an, bis sie direkt vor ihr stand. Nur eine Unterarmlänge voneinander entfernt fochten ihre Blicke miteinander. Um sie herum nahmen die wenigsten von der obskuren Situation Kenntnis und jene die es taten, keine Anteilnahme. Bloß das Mädchen mit dem Schal und den stechend roten Augen hielt sich und ihre Messer bereit. Diese waren sicher vor flüchtigen Blicken an ihrem Körper versteckt.
    „Warst du es, oder sie?“, fragte sie schließlich, während ihre Augen zwischen ihnen wechselte. Eine Antwort wollte nicht folgen.
    „Habt ihr eine Ahnung was für ein Aufwand es war, die Sauerei aufzuräumen?“
    Sie klang nicht wütend, feindselig oder dergleichen. Auf ihren Lippen lag ein verschmitztes Lächeln und sie schien eher aus Neugier zu fragen.
    „Nicht dass ich mir selbst die Hände an diesem armen Trotteln schmutzig machen würde, aber ich bin eine viel beschäftigte Person und ihr...“
    Sie wechselte auffällig das Standbein und stemmte eine Hand in die Seite, während die andere in der Luft gestikulierend nach den richtigen Worten suchte.
    „Ihr stehlt mir durch solche Ärgernisse meine kostbare Zeit. Zeit die ihr gar nicht wert seid.“
    „Was wollt Ihr von uns?“, verlangte Mila schließlich harsch zu wissen.
    „Ihr seid nicht dumm genug, mitten auf der Straße mit uns kämpfen zu wollen, oder?“
    Ihre Partnerin hoffte innig, dass sie die Frage bejahen würde. Ob in nächtlichem Schutz oder tagsüber in der Öffentlichkeit, das scherte sie nicht im Geringsten. Diese Frau zu töten war ihr oberstes Ziel und vielleicht endlich der Gegner, nach dem sie suchte. Schon seit so langer Zeit.
    Die ominöse Frau legte den Kopf leicht schief.
    „Sagte ich gerade nicht, dass ich keine Zeit für euch habe?“
    „Dann beantwortet meine erste Frage. Was wollt Ihr von uns?“
    Ihre Stimme wurde nachdrücklicher. Sie musste sich zügeln und Obacht geben, nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sie alle zu ziehen. Diese Konfrontation auf offener Straße war bereits Unheil genug.
    „Ausgezeichnete Frage“, bemerkte die Schwarzhaarige bloß, hob dabei bedeutend den Zeigefinger.
    „Doch die bessere wäre wohl, was ihr eigentlich wollt? Oder konkreter, was ihr zu erreichen versucht?“
    Die Frau trat noch einen Schritt näher an Mila heran. Sie war noch ein paar Zentimeter größer und beugte sich daher leicht, um ihr direkt in die Augen zu sehen.
    „Tut ihr das, was ihr tut, aus edlem Pflichtbewusstsein heraus? Klammert ihr euch noch an alte Schwüre oder Versprechen? Erzählt es mir, sprecht aus, was euer sinnloses Handeln antreibt.“
    Mit jedem Satz wuchs ein finsteres Grinsen in ihrem Gesicht, gepaart mit einer beinahe faszinierten Stimme, die nach Antworten verlangte. Es war, als sei sie gefesselt von unwiderstehlicher Neugierde. Sie ließ sich vom unbegründeten Optimismus der beiden begeistern und genoss es gleichzeitig, sie sich an bereits nicht mehr existierende Hoffnung klammern zu sehen.
    Mila drehte den Spieß geradewegs um und antwortete ihrerseits nicht auf die Fragen. Dies hatte jedoch nichts mit Antipathie – welche bei ihr in Mengen vorhanden war – zu tun, sondern bedachte sie sich einfach darauf, ihr nichts zu verraten, was ihr in irgendeiner Form Hinweis auf ihre Pläne sein könnte. Doch im Gegensatz zu ihrem Gegenüber umging Mila ihre Fragen nicht, sondern hüllte sich in Schweigen, versuchte mit Körpersprache aufzutrumpfen. Dass diese erkannt und vernommen wurde, war frei von jedem Zweifel. Selbst ein Narr würde erkennen, was ihr fester Stand, die geballten Fäuste und der geneigte Blick aus entschlossenen, funkelnden Augen zu bedeuten hatte.
    „Jetzt sag nicht...“
    Als hätte man ihr gerade eine schockierende Botschaft überbracht, machte die fremde Frau einen Schritt zurück und drückte sachte eine Hand vor den Mund. Das verdutzte Mila und ließ sie einmal blinzeln.
    „Ihr glaubt tatsächlich noch, es aufhalten zu können?“
    Sie wartete keine Antwort ab, ignorierte die himmelblauen Augen, die zu schmalen Schlitzen wurden und lachte trocken, beinahe spöttisch auf.
    „Oh, ihr seid zu amüsant“, bemerkte sie und griff sich an die Schläfe. Nichts deutete auf einen vorgegaukelten Akt hin. Ihre Reaktion war weder falsch noch überzogen. Es war ihr voller Ernst.
    „So beschäftigt könnt Ihr wahrlich nicht sein, wenn Ihr selbst für diese Farce die Zeit findet. Ihr wisst es bereits seit längerem“, lautete der Konter.
    „Nun sei nicht so steif, Mila. Kein Grund, unser kleines Spielchen nicht zu genießen.“
    Auf wirklich nichts, was Mila anschnitt, stieg sie auch nur im Geringsten ein. Fast wünschte sie, es wäre anders.
    Zum ersten Mal wanderte der Blick der Fremden an ihr vorbei und fiel auf ihre schweigsame Partnerin. Interessiert zog sie eine Braue hoch und ging ihr ein paar Schritte entgegen.
    „Du bist also die, von der Bella mir erzählt hat.“
    Ihre Augen wanderten prüfend ihre Statur hinab und wieder rauf. Sie grinste erneut. Verschmitzt.
    „Diese Augen. Zum Fürchten. Sie sind wirklich wunderschön. Ich muss sagen, du hast nicht im Geringsten übertrieben, Bella.“
    Das Mädchen, das bislang so still und teilnahmslos gewesen war, wandte desinteressiert und abweisend den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Keine willkürliche Seite, denn auf einer spürte sie beinahe schon die Berührung. Und jene Berührung widerte sie bereits jetzt an.
    „Deine Komplimente sind weniger wert als Dreck.“
    Da war er. Der feminine Arm, der sich um ihre Schulter legte, als seien sie vertraute Bekannte und schwarzes, welliges Haar, dass ihre Wange kitzelte.
    „Aber, aber. Du wirst doch nicht rot werden, oder?“
    Die Agentin lächelte den Assassinen unschuldig und doch irgendwie verräterisch von der Seite an. Obwohl sie es ein wenig kränkte, dass sie offenbar schon wieder nicht unbemerkt geblieben war. Das galt jedoch nicht für Mila, welche über die Schulter lugte und alle Mühe aufbringen musste, ihren Schock zu verbergen. Es war tatsächlich Bella. Die, die ihnen in den vergangenen Tagen auf Schritt und Tritt gefolgt war. Für einen kurzen Moment huschten die bernsteinfarbenen Augen zu ihr hinüber, was sie dazu veranlasste rasch den Blick abzuwenden. Sehr zufrieden damit schmunzelte Bella und inspizierte schließlich den Assassinen etwas genauer.
    „Ich habe zwar bereits erzählt, dass du ein... bildhübsches Exemplar bist. Aber das ist auch für mich das erste Mal, dass ich dich aus der Nähe betrachten kann.“
    Anzüglich wanderte ihre rechte Hand – in der linken hielt sie einen Reisebecher, der jedoch nicht nach Kaffee, dafür aber verräterisch nach Alkohol roch – von der Schulter, über den muskulösen Rücken, ihre Seiten hinab und legte sich aufdringlich auf die breiten Hüften. Jede Stelle wurde genausten ertastet.
    „Und ich stelle fest, bei dir ist wirklich alles da, wo es hingehört.“
    Nach wie vor erhielt sie keine echte Reaktion. Weder auf ihre Worte, noch auf ihre Hände. Ein wenig ernüchternd und auch frustrierend, wie sie eingestehen musste. Doch nicht gänzlich unerwartet.
    „Deine Anstößigkeit ist ebenso bodenlos wie deine Trinklaunen“, merkte sie bloß nüchtern an, ohne sich eine Blöße zu geben. So einfach war sie weder in Verlegenheit noch in Unsicherheit zu bringen.
    „Ah, du Biest“, schnurrte Bella heißblütig. Wie sehr sie sich jetzt bereits auf die Begegnung freute, die mit Blut gefeiert werden würde.
    „Zu schade, dass du dich dem Willen dieser Frau unterordnest. Du bist viel zu hinreißend, um die Sklavin einer vernarrten Gläubigen zu sein.“
    Damit hatte Bella einen Nerv getroffen. Sklavin? Vernarrte Gläubige? Über sie selbst sollten die Menschen ruhig sagen, was immer sie wollten. Das könnte sie nicht weniger interessieren. Doch Mila stellte ein Tabu dar. Niemand würde jemals über sie urteilen dürfen, solange sie – ihr verlängerter Arm – atmete. Ein klein wenig musste sie sich sogar Mühe geben, die Beherrschung nicht zu verlieren und einen ihrer geliebten Dolche in ihren Hals zu bohren.
    „Keine Sklavin“, schaffte sie gewohnt monoton zu beteuern. Sie musste ihren eigenen Wunsch hinten anstellen. Zumindest bis Mila etwas Anderes befahl. Oder eher erlaubte.
    „Ich bestrafe ihre Feinde. Das schließt dich ein, wie du weißt.“
    „Nur zu gut“, entgegnete Bella grinsend. Ihr gefiel dieser Umstand sehr. Das war nicht zu verfehlen.
    „Überlege dir also schon mal ein paar letzte Worte. Vielleicht werde ich gnädig genug sein sie anzuhören.“
    Man konnte förmlich sehen, wie das Herz der Agentin einen Sprung machte. Endlich hatte sie es geschafft, den Wall dieses Mädchens bröckeln zu lassen. Die Stille und Abweisung mit welcher sich der Assassine stetig umgab, schwächelte wenigstens für einen Satz. Sie ließ sich auf die Provokation ein und sprach Drohungen, wie es sich für eine Mörderin gehörte. Fabelhaft!
    „Du bringst mich richtig in Stimmung, meine Süße. Mit jeder Minute steigt mein Interesse an dir. Du bist so anziehend, aufreizend...“
    „Das genügt, Bella.“
    Ohne den Blick abzuwenden, entfernte sich die Agentin einen Schritt vom Objekt der Begierde, erlaubte ihrer Hand aber bis zu allerletzt an ihrem Kinn zu verweilen und ihr Gesicht ihr ihre Richtung zu ziehen. Davon befreite sich das Mädchen jedoch mit einer faden Kopfbewegung. Zu schade. Ihre Mauer war bereits wieder voll errichtet.
    Mila sah sich nun von der Frau, die über Bella befahl, flankiert. Sie lächelte nach wie vor heimtückisch, schickte sich aber zum baldigen Gehen. Ihre Blicke richteten sich geradeaus, aneinander vorbei.
    „Seht eurer Aussichtslosigkeit ins Auge. Ihr erspart mir lästigen Ärger und verlängert euer Leben.“
    Mila ließ den Kopf sinken. Über ihre Augen legte sich ein Schatten und ihre Schulter spannten sich. Die verzweifelte Erkenntnis, dass man verloren hatte, so wollte man meinen. Doch weit gefehlt.
    „Gelebt habe ich lange genug. Ihr dagegen bereits zu lang.“
    Ein kurzer Seitenblick. Mehr schenkte sie ihr nicht. Welch eine Pein sie doch war. Ihr Ziel wäre so viel schneller und einfacher erreicht, würde sie endlich aufgeben. Doch wenn sie auf diese Weise zu sterben beabsichtigte, sollte es so sein. Kurz zuckte ihr Mundwinkel noch einmal nach oben. Vielleicht könnte sie dem ganzen noch etwas Freude abgewinnen. Falls nicht, würde Bella es umso mehr. Jener bedeutete sie mit einer knappen Handbewegung, zu folgen. Sie hatte sich schon halb abgewandt, da flüsterte sie dem Assassinen noch ein letztes Mal ins Ohr.
    „Bye, bye. Ich freue mich auf unser Rendezvous.“
    Eine abweisende Antwort ersparte sie sich diesmal. Sie war bereits müde, dies zu tun.
    Eine geschlagene Minute später hatten sich die beiden noch nicht gerührt. Mila hielt Kopf und Schultern weiterhin unten und schien fast depressiv, geschlagen, doch wusste ihre Partnerin, dass sie angestrengt nachdachte. Für gewöhnlich unterbrach sie ihre Gedanken nicht, doch eine Frage brannte auf ihrer Zunge. So heiß, dass sie diese nicht halten konnte.
    „Wieso hast du mir nicht den Befehl gegeben?“
    Sekunden vergingen, ohne irgendein Anzeichen, dass Mila die Frage erfasst hatte.
    „Du sagtest einmal, sie zu töten stünde an oberster Stelle. Warum lassen wir sie dann ziehen?“
    Erneut schien sie keine Antwort geben zu wollen. Zunächst. Doch gerade als die Frage mit mehr Nachdruck wiederholt werden wollte, erhob sich ihre leise, abwesende Stimme.
    „Du verstehst das falsch.“
    Endlich richtete sie sich zu voller Körpergröße auf und blickte über ihre Schulter die Straße entlang. Die Richtung, in der der Schwarze Lotus verschwunden war.
    „Sie war es, die uns gehen ließ.“

    Moin, moin und hallo Rusalka,


    schön, dich hier wieder zu sehen. Oder überhaupt jemanden ^.^



    Ist hier überhaupt noch wer interessiert? Falls ja, einfach kurz melden :D



    Kapitel 20: Umschwung


    Irgendwie war sein Körper doch noch nicht so fit, wie er es gerne hätte. Bei der gerade geöffneten Dose mit der zuckersüßen Chemieflüssigkeit, die der Autonormalmensch als Energiedrink bezeichnete, handelte es sich bereits um die dritte, die Andrew heute in seinen Kreislauf stürzte. Er hielt nicht viel von dessen Geschmack, aber dafür von der Wirkung. Doch so gut er heute Morgen auch noch gelaunt gewesen war, er konnte die Trägheit einfach noch nicht überwinden. Wissend, dass dieser daran keine Schuld trug, erlaubte er sich dennoch einige stille, nicht allzu derbe Flüche an die Adresse von Doktor Richards. Nicht etwa, weil der etwas falsch gemacht hätte. Im Gegenteil. Dass er letztlich doch Recht behalten hatte, passte Andrew überhaupt nicht in den Kram und war alleiniger Grund für seine Laune. Leicht angesäuert kippte er einen ordentlichen Schluck des Getränks hinunter und wünschte sich sein Krankenbett herbei. Doch sein Starrkopf verbot ihm, jetzt schon in die Klinik zurückzukehren und Doktor Richards somit den Triumph zu gönnen. Bis zum Mittag war es noch ein bisschen hin und die Zeit wollte er überbrücken, indem er Ryan aufsuchte, um dessen Training zu begutachten. Er hatte berichtet, dass Hydropi endlich bessere Leistungen abrufen würde und außerdem genau den Weg zu dem Ort, den er die letzten Tage für´s Training genutzt hatte, beschrieben. Da er zum jetzigen Zeitpunkt wohl kaum noch im Pokémoncenter anzutreffen sein würde, blieb keine weitere Option übrig, weshalb sich Andrew nun auf diesem schmalen, schnörkeligen Waldpfad befand, der nach einem kurzen Fußmarsch in die Wildgebiete der Insel führen und an einer abgeschiedenen Lagune enden sollte. Ryan hatte sich dazu ein wenig umgehört. Einst hatte sie angeblich viele Badefans und Sonnenanbeter angelockt, doch war es aufgrund der zahlreichen, mit einem starken Revierverhalten ausgestatteten Wasserpokémon in dem Gebiet zu einigen unschönen Zwischenfällen gekommen. Nun hatte Schwester Joy die Stelle als die einsamste und wildeste der gesamten Insel beschrieben. Da es hier in erster Linie reisende Trainer, die sich den Orden der lokalen Arena erkämpfen wollten, herlockte und es kaum ortsansässige Pokémontrainer, Züchter oder Koordinatoren gab, die sich an den Fanggründen interessieren könnten, waren die Pokémon dort größtenteils ungestört und demnach noch ein gutes Beispiel für die ursprüngliche Definition des Wortes „wild“ – also ganz nach Andrews Geschmack.

    Wenn er an Psiana und die anderen im Pokémoncenter dachte, fühlte er sich in der Annahme bestärkt, dass ein weites Mitglied für sein aktuelles Team nicht schaden könnte. Er hatte zwar den heutigen Bericht von Ryan noch nicht einholen können, doch wenn er Pech hatte, würde er neben Dragonir auch noch Magnayen pausieren lassen müssen. Was Psiana und Schwalboss anging, war er sich ziemlich sicher, dass sie bei ihrem Wiedersehen fit sein würden. Die beiden waren unglaublich zäh und erholten sich meist überraschend schnell. Nicht, dass Magnayen die Ausnahme darstellte. Es kämpfte stets bis zum sprichwörtlichen Umfallen und dafür brauchte es einiges. Doch wenn es sich einmal wirklich ernsthaft überanstrengte, war davon auszugehen, dass es mit ein bisschen Schlaf und Ruhe nicht getan sein würde. Tatsache war, dass es sich um einen sehr unvernünftigen Wolf handelte, der zudem noch stolzer war, als ihm guttat. Doch Andrew ermahnte sich, nicht alle Schuld auf Magnayen abzuschieben. Zumindest nicht diesmal.

    Gleich mehrere, große Schlucke spritzig süßer Flüssigkeit stürzte der Wandernde gerade hinunter, spürte er gerade noch eine Präsenz. Mensch? Pokémon? Das konnte er aufgrund des raschelnden Busches zu seiner Rechten nun wirklich nicht bestimmen. Das erübrigte sich allerdings, als ein kleines, blau-weißes Geschöpf daraus hervorsprang, eine Zwischenlandung direkt auf seinem Kopf hinlegte und sofort im Unterholz auf der anderen Wegessseite verschwand. Andrew hätte beinahe das Gleichgewicht verloren und wäre auf dem Hosenboden gelandet. Doch es blieb bei dem Fall der Getränkedose. Als hätte er einen Schlag abbekommen, drückte sich eine Hand auf die Stelle seines Kopfes, an der er die Berührung gespürt hatte und blickte in die Richtung, in die das Pokémon geflohen war. Jedoch war da kaum etwas Vernehmbares gewesen. Andrew hatte kaum Gewicht wahrgenommen. Also ein leichtes Geschöpf und dem flüchtigen Blick, den er aus dem Augenwinkel noch darauf hatte werfen können nach zu urteilen, etwa bis zu seinen Oberschenkeln reichend.

    Urplötzlich begann dasselbe Laub erneut wild zu zappeln. Aufgeschreckt fuhr der überraschte Trainer herum und erblickte diesmal eine schwarze, größere Gestalt, die direkt über ihn hinwegsprang. Sie lief auf vier Beinen und zog eine Art Teufelsschweif hinter sich her. Ein präziserer Blick war Andrew jedoch nicht vergönnt, da jenes Geschöpf dem ersten auf genau demselben Pfade folgte und schon außer Sicht war. Ziemlich baff von der plötzlichen Hektik in diesem bislang doch so ruhigen Wald war er einige Sekunden lang zu nicht mehr fähig, als ein weiteres Mal in den Fluchtweg beider offensichtlichen Pokémon entlang zu starren. Als dann nun wieder hinter ihm Laub raschelte und Zweige brachen, war Andrew sich sicher, dass ihn hier jemand auf´s Korn nehmen wollte. Als er – noch bevor er sich hatte umdrehen können – einen heftigen Stoß im Körper vernahm, verursacht durch einen anderen solchen, der mir ihm kollidierte. Zum zweiten Mal an diesem Tag fand er sich begingt durch die Unachtsamkeit eines anderen auf dem Boden wieder. Vielleicht hatte er ja Glück und es handelte sich um diese Melody, die erneut in seine Arme stolperte. Doch er wurde bitter enttäuscht, als eine junge Männerstimme an sein Ohr drang.

    „Was zum Geier machst du hier?“

    Ryan runzelte ungläubig die Stirn. War sein bester Freund nun tatsächlich so dämlich geworden, dass er aus der Klinik türmte, obwohl er noch nicht genesen war?

    „Ich liege auf dem Boden und bin sauer. Wegen dir!“, beantwortete Andrew die Frage bissig. Es gab nicht viele Momente, in denen er seinem Gefährten gerne mal eine gepflegte Kopfnuss verpassen würde. Diesen hier zählte er jedoch zweifellos dazu, denn genau wie Melody eilte er sich nicht unbedingt ab, von ihm runter zu gehen – geschweige denn ihm aufzuhelfen. So stemmte er wütend die Hände in die trockene Erde und warf Ryan von seinem Rücken, um sich anschließend den Staub von seiner Jeansjacke abzuklopfen.

    „Und was hast du schon wieder angestellt? Machst du´n Wettrennen, oder was?“

    Ryan, der seine offensichtliche Verfolgungsjagd scheinbar ganz vergessen hatte, versuchte sofort die Spur besagter Pokémon wiederzufinden, musste aber feststellen, dass keine Schneise oder ähnliches im Unterholz zu erkennen war. Wenn er nicht spurte, würden sie weg sein.

    „Mist“, stieß er erschrocken hervor und schaltete schnurstracks wieder auf Verfolgung um. Andrew und dessen Aufforderung zu warten, ignorierte er vollkommen, sodass dieser sich gezwungen sah, ihm nachzulaufen. Doch das kümmerte den im Augenblick wenig. Er wollte nur wieder den Anschluss finden. Auf keinen Fall durfte er sich diese Gelegenheit entgehen lassen.


    Äste schlugen ihm entgegen, Wurzeln ließen ihn stolpern und straucheln. Büsche und Sträucher mit ihren Zweigen und Dornen kratzten an seiner Haut, zerrten an seiner Kleidung. Wäre er nicht stets auf solch festen Stoff bedacht, wäre das neue Sweatshirt wohl bereits ruiniert. Fehler dieser Art beging man nur ein Mal.

    Ryan hatte das Adrenalin der Pokémonjagd vermisst. Er empfing den Stress und den Schweiß mit offenen Armen. Durch ihn fühlte er sich wieder an sich selbst erinnert, nur zu einer früheren Zeit seines Lebens. Eine Zeit, in der er sich um Titel, Turniere und Rivalen keinen Kopf gemacht und sein Leben als Pokémontrainer einfach genossen hatte. Und nun wollte er diesem Leben einen erfrischenden Faktor hinzufügen. Einen Faktor in Form eines neuen Partners.

    Der Wald endete endlich. Die von mächtigen, dichten Baumkronen blockierte Sonne fiel mit all ihrer Wärme über ihn herein und eine salzige Brise schlug ihm entgegen. Er war an Meer angelangt. Sanfte und ruhige Wellen trafen auf felsiges Ufer und nur einige wenige Grasansätze kämpften sich aus dem ansonsten kahlen Boden. Das Ziel der Jagd befand sich direkt vor ihm, in die Enge getrieben von dem schwarzen Hund. Das kleine Geschöpf wirkte überraschenderweise nicht im Geringsten verängstigt. Es hatte sich so erhaben und stolz aufgebaut, wie es einem solch zierlichen Pokémon nur möglich war. Die zwei schmalen, blauen Beinchen waren überkreuzt, wie bei einer Diva. Die Haltung des weiß gekleideten Körpers, der ums Becken herum weit wurde, wie das Kostüm einer Ballerina, war gerade und stolz. Die Schultern waren nach hinten gerichtet und die dünnen Ärmchen zum sofortigen Kampf bereit sachte vom Körper gestreckt. Himmelblaues Haar fiel von ihrem Haupt herab bis zum Hals und verschleierte eine Gesichtshälfte. Die orangefarbenen Hörner hatten etwas von dezentem Kopfschmuck.

    „Ryan!“

    Andrews leidiger Ruf sowie sein Getrampel und Keuchen drangen bereits an sein Ohr, noch bevor er aus dem Wald stolperte. Dies tat er wenige Sekunden später fluchend und schnaubend, bis er schließlich zu seinem Kumpanen aufschloss. Mit einer Hand stütze er sich auf dem Knie ab. Mit der anderen knuffte er Schlapp in Ryans Seite.

    „Ich bin zwar raus aus der Klinik, aber so was kannst du noch nicht mit mir anstellen.“

    „Dann wärst du halt drinnen geblieben. Mach die Augen auf und schau“, entgegnete der Jäger mit einem Klaps auf Andrews Hinterkopf. Dieser verkniff sich einen bissigen Kommentar oder gar einen Vergeltungsschlag und besah sich nun erstmals der beiden Pokémon. Das erste mit dem Rücken zu ihm und offensichtlich der zuvor als solcher erkannte Vierbeiner. Nachtschwarzes Fell paarte sich mit einer feuerroten Schnauze und einem rippenartigen Knochenmuster auf dem Rücken. Weitere lagen um die Fußgelenke und um den Hals – letzterer samt eines kleinen Totenschädels auf der Brust. Auf dem Kopf prangten zwei gebogene Hörner, zeugten durch zahlreiche Kratzer und Schrammen von den unzähligen Kämpfen, die das Pokémon in seinem Leben bestritten haben musste.

    „Dein Hundemon?“

    „Wessen sonst?“

    Andrew konnte nicht anders. Er musste sich einfach die Fragen zu stellen, seit wann und warum Ryan sein Hundemon bei sich hatte. Er hatte doch an Hydropi festhalten und ein neues Team zusammenstellen wollen. Hatte er das etwa aufgegeben?

    Da er vermutlich keine sofortige Antwort erhalten würde, verkniff Andrew es sich jedoch, diese Fragen auszusprechen. Stattdessen nahm er das zweite Pokémon unter die Lupe. Es war ihm unbekannt. Wirkte elegant und grazil, aber auch körperlich eher schwach und zerbrechlich. Sofort zückte er seinen Pokédex und aktivierte den Scan der regionalen Datei. Kirlia, so nannte man diese Gattung. Gehörte dem Typ Psycho an und war in diesem Fall offenbar weiblich. Doch etwas an diesem Eintrag stimmte nicht mit dem Bild überein, dass sich seinen Augen bot.

    „Laut Dex, sind die normal anders gefärbt.“

    Tatsächlich. In dem elektrischen Gerät war ein Bild verzeichnet, auf dem Kopf und Unterleib eine minzgrüne Färbung besaßen. Bei diesem Exemplar allerdings erstrahlten jene Stellen ozeanblau. Ein seltenes Pokémon mit außergewöhnlicher Farbe also. Ein sogenanntes Shiny.

    „Ach was“, bemerkte Ryan sarkastisch. Was meinte dieser Schnellschalter denn, warum er diesem Pokémon so verbissen nachgejagt war? Er war nicht so naiv zu denken, es würde sich keine zweite Gelegenheit bieten, ein mindestens genauso gutes zu fangen, hätte er ein gewöhnliches Exemplar davonkommen lassen und sich stattdessen um seinen angeschlagenen Freund gekümmert. Doch die Chance seinem Team ein Shiny hinzuzufügen, bot sich in der Regel nur ein, vielleicht zwei Mal im Leben. Die Sache war klar. Er wollte dieses Pokémon unbedingt.

    „Bereit, Hundemon?“

    Der Schattenhund senkte den Kopf – überragte Kirlia durch seine überdurchschnittliche Körpergröße dennoch deutlich mit den Schultern – und spreizte die Vorderläufe ein wenig, um begleitet von einem kehligen Knurren, die Zähne zu fletschen. Dies war seine übliche Drohgebärde.

    „Geh es langsam an. Es soll dein Teamkamerad werden. Nicht dein Mittagessen.“

    Hundemon gehörte zweifellos zu den wildesten seiner Pokémon. Ryan hatte es zu einer früheren Zeit im Kampf stets genau im Auge behalten müssen, um blutige Unfälle zu vermeiden. Es war nicht so, dass es grundsätzlich bösartig oder brutal wäre. Doch nicht selten verlor es im Kampfrausch einfach die Beherrschung. Einmal hatte es einem wilden Parasek, an dessen Baum Ryan unerlaubt und unerwünscht Rast eingelegt hatte, beide Scheren abgerissen und es geradezu zerquetscht, als es auf seinen Trainer losgegangen war. Solche Vorfälle hatten sich zwar selten und generell nur in der frühen Phase ihrer Partnerschaft ereignet und Ryan schätzte die Loyalität sowie den Beschützerinstinkt von Hundemon sehr, doch andere Pokémon umzubringen, war etwas, das er nur in äußersten Notfällen akzeptierte. Was selbst in solchen lange nicht hieß, dass er derartiges gerne sah. Es widerstrebte ihm immens, völlig ungeachtet der Umstände.

    Der junge Trainer hatte wenig Zweifel, dass dies wilde Geschöpf gleiches mit Kirlia zu tun vermochte. Zumal es laut Pokédex vom Typ Psycho und damit fast wehrlos gegen Unlichtwesen wie Hundemon war. Doch er wollte es körperlich nicht stärker strapazieren als nötig. Es war ein junges, friedliches Wesen, Himmel noch eins. Ein so kampferprobter und kräftiger Hund sollte mit diesem Gegner ohne größeren Aufwand fertig werden. Dennoch war nun seine Konzentration gefragt, damit es ja keine Gelegenheit zur Flucht haben sollte. Schließlich kämpfte nicht nur Hundemon, sondern auch er selbst.

    „Lass es uns noch ein wenig provozieren. Ich will wissen, wie es reagiert, wenn es in die Enge gedrängt wird.“

    Ryan sprach den Befehl so leise aus, dass nur die feinen Ohren Hundemons sie zu hören vermochten. Andrew vernahm sie nur, weil er zufällig genau neben ihm stand. Der Schattenhund schien augenblicklich wild zu werden. Lautes und aggressives Gebell hallte über die Ebene. Seinen eigenen Körper schien er kaum bändigen zu können. In jeder Sekunde konnte man einen Sprung erwarten, der auf die Kehle Kirlias zielte und sie brutal zerreißen würde. Ryan machte sich wenig Gedanken um den Stress, welchem er das kleine Geschöpf aussetzte. In der Wildnis musste es dauernd solche Konfrontationen überstehen und sich gegen Jäger behaupten. Er wollte schlicht und einfach herausfinden, was für einen Charakter Kirlia besaß.

    Das Resultat war eher unerwartet. Denn obwohl es doch so einen schmächtigen Eindruck machte, schien es weder verängstigt, noch machte es Anstalten zu fliehen. Kirlia schien absolut kampfbereit. Doch Sicherheit oder Zuversicht suchte Ryan vergeblich in dessen Blick. Eher war es der Mut der Verzweiflung. Die Einsicht, dass kein Weg an diesem Kampf vorbeiführte sowie der absolute Wille, ihn zu gewinnen, trotz der Angst, die sich des kleinen Körpers bemächtigte. Also ein wackerer Charakter. Sehr gut.

    „Okay, fang an mit Flammenwurf. Halbe Kraft“, befahl Ryan schließlich ruhig. Seine Augen ließen nicht einen Moment von Kirlia ab. Jetzt hieß es beobachten und die Fähigkeiten des Pokémons richtig einschätzen.

    Hundemon benötigte nur den Bruchteil einer Sekunde, um einen feinen Flammenstrahl der gewünschten Stärke zu erzeugen. Die Hitze war dennoch selbst in einigen Metern Entfernung spürbar. Doch so gut der Schattenhund auch zielte, blieb ihm der Erfolg verwehrt. Eine golden schimmernde, leicht transparente Wand baute sich vor Kirlia auf und ließen die Attacke nahezu wirkungslos abprallen.

    „Lichtschild. Gut zu wissen“, murmelte Ryan und wägte ab, ob er den Druck etwas erhöhen sollte. Seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben.

    „Leg einen Zahn zu. Ich will sehen, wo die Grenze liegt.“

    Der Flammenstrahl verstärkte sich. Die Hitze sowie der Druck, den er auf die Schutzwand ausübte wurden intensiver. Das Feuer prallte nicht mehr ab, sondern stob an den Rändern der Barriere vorbei sodass die heiße Luft das Psychopokémon streifte. Es hatte sichtlich Probleme, dem Angriff standzuhalten.

    „Ein bisschen noch.“

    Andrew blickte seinen Freund unsicher von der Seite an. Er schien es wirklich ausreizen zu wollen, bis Kirlia nachgab. Hoffentlich übertrieb er es nicht. Hundemon spielte einfach in einer anderen Liga. Nur eine Unachtsamkeit und die Sache könnte böse ausgehen.

    Das kleine Kirlia kniff vor Anstrengung die Augen zusammen. Die Ärmchen waren nach vorne gestreckt, als wollten sie die Wand verstärken. Jedoch zitterten sie fürchterlich und schienen jeden Augenblick zu ermüden. Hundemon näherte sich mittlerweile bald seiner maximalen Feuerkraft, aber noch immer stemmte sich Kirlia dagegen. Diese Zähigkeit war bemerkenswert.

    Kurz bevor der Druck sie in die Knie zu zwingen drohte, befahl Ryan nüchtern eine Finte. Die Flammen verebbten. Stattdessen setzte der schwarze Hund zu einem schnellen Sprint an. Die Distanz war mit wenigen Sätzen überwunden und der Lichtschild nun endgültig aufgelöst. Nichts schützte nun vor dem wilden Angreifer. Da riss Kirlia bereits unter größten Anstrengungen und einem entschlossenen sowie melodischen Ausruf ihres Namens erneut die Arme in die Höhe und eine grün schillernde Kuppel schloss sie schützend in sich ein. Den Schutzschild beherrschte es also auch. An dieser defensiven Attacke würde Hundemon abprallen, wie an einer Betonwand. Doch innerhalb eines Augenzwinkerns war seine Gestalt plötzlich aus dem Blickfeld Kirlias verschwunden. Verdutzt ließ sie ihre Konzentration fallen und begann sich rasch umzusehen. Dies hatte zur Folge, dass der Schutzschild zusammenbrach. Schon im nächsten Moment erhielt es dafür die Quittung und zwar aus der einzigen Richtung, die es innerhalb dieser wenigen Sekunden nicht überprüfen konnte. Der Schlag zweier gebogener Hörner in ihrem Rücken traf sie so unerwartet, dass der Schmerzensschrei im Hals stecken blieb und stattdessen nur ein dumpfes Stöhnen entwich. Die Luft wurde ihr erbarmungslos aus den Lungen gequetscht und sie landete hustend im Dreck. Schnelligkeit und Körperbeherrschung waren die beiden Schlüssel zur Beherrschung dieser Attacke. In Sekundenbruchteilen an einem Ort verschwinden und einige Meter weiter erneut auftauchen. Taktisch war die Technik mehr als hilfreich.

    Ryan nickte zufrieden. Hundemons Ausführung war perfekt gewesen. Von Kirlia war das nicht zu behaupten. Es hatte sich für seinen Geschmack ein wenig zu leicht verunsichern lassen. Daran würden sie arbeiten müssen. Der Kampf schien bereits so gut wie beendet. Das völlig überforderte Pokémon keuchte und hustete, schien sich kaum noch erheben zu können. Hundemon ließen die krampfhaften Versuche, den zierlichen Körper aufzurichten, völlig kalt. Mit festen Schritten näherte er sich Kirlia und drehte es mit seiner Schnauze auf den Rücken, um sodann eine Vorderpfote auf die schmale Brust zu drücken. Die andere grub ihre Krallen nur Zentimeter neben dem Kopf in die Erde. Ryan ließ es zu, achtete aber von diesem Augenblick an noch genauer auf die Intentionen des Schattenhundes. Er beabsichtigte seiner Gegnerin die Niederlage klarzumachen – für den Moment zumindest. Das ging für ihn in Ordnung, doch das wehrlose Kirlia zu demütigen oder gar weiter zu verletzen, würde er unterbinden.

    Ein tödliches Gebiss präsentierte sich drohend hinter den hochgezogenen Lefzen. Hundemon spürte, wie das kleine Geschöpf erstarrte, die Augen vor Schreck geweitet. Sehr schön. Es gestand seine Niederlage ein. Das war allzu leicht gewesen. Zufrieden sah der Hund zu seinem Trainer auf und erwartete Anweisungen, was nun geschehen sollte. Er hatte zwar gesagt, es sollte sein neuer Teampartner werden, doch nach dieser einseitigen Vorstellung konnte er sich nur schwer vorstellen, dieses Kirlia als Kameradin zu akzeptieren. Doch die Entscheidung fällte nicht er. So wartete Hundemon einfach geduldig ab.

    Ryan schürzte nachdenklich die Lippen. Eigentlich hatte er mehr zu sehen erhofft. Nicht unbedingt an Gegenwehr. Die Verhältnisse waren reichlich unausgeglichen gewesen. Doch die ein oder andere Attacke hätte er gerne noch beobachtet. Aber ein so seltenes Exemplar von einem Kirlia würde er sich so oder so nicht durch die Lappen gehen lassen. Er hatte nie mit dem Glück, einmal ein Shiny zu treffen, gerechnet und einen guten, eventuell sogar hervorragenden Kämpfer aus ihr zu machen, traute er sich allemal zu. Die Entscheidung war somit längst gefällt.

    In der Luft knisterte es. Nur sehr leise, wie ein Lagerfeuer, das kurz vor dem Erlöschen stand. Hundemons Blick wanderte sofort nach unten. Ein schalkhafter Ausdruck lag in Kirlias Augen. Zu spät bemerkte es den hinterhältigen Angiff des kleinen Psychopokémons, da es selbigen schon im nächsten Augenblick ausführte. Ein leuchtend gelber Funke war es, von dem das verräterische Geräusch ausging und er befand sich zwischen den Händen Kirlias. Die elektrische Ladung fuhr durch Hundemons Körper, lähmte die Muskeln und stach wie unzählige Nadeln in sein Fleisch. Sofort nahm es die Chance wahr und entschlüpfte den beängstigenden Krallen und Zähnen. Es kämpfte sich tatsächlich noch einmal auf die zittrigen Beine und sah nun die einmalige Gelegenheit zur Flucht.

    „Schnell Hundemon!“

    Ryan erkannte das Vorhaben sofort, doch dieses Pokémon ließ er heute nicht mehr davonkommen. Nun schon gar nicht, da es einen solch starken Willen sowie das Beherrschen einer Elektro-Attacke bewiesen hatte. War es Donnerblitz gewesen? Nein, nicht stark genug. Welche Attacken konnte diese Gattung überhaupt erlernen? Donnerschock? Eher nicht, dafür schien die Energie auf einen zu schmalen Zielbereich konzentriert. Es musste Ladestrahl gewesen sein! Nicht übel.

    Hundemon ging dieses uneinsichtige Aufbäumen Kirlias enorm gegen den Strich. Legte das kleine Ding es etwa darauf an, getötet zu werden? Ohne Frage würde sein Trainer das nicht gutheißen, doch wenn Kirlia ihn und auch sich selbst so weiter trieb, wäre das nicht auszuschließen. Es entkommen lassen und die damit verbundene Schande ertragen, das stand jedoch nicht zur Debatte. Rasch sammelte Hundemon eine kleine Menge an Schattenenergie und befreite sie von seinem Körper in Form einer dunkelvioletten Aurawand. Eine Druckwelle ging ihr voraus und blies Steinchen, Dreck und alles, was sie auf ihrem Weg fand, hinfort. Kirlia erstarrte für einen Moment, schaffte es aber noch rechtzeitig, erneut eine goldene Schutzwand aufzubauen. Diesmal jedoch konnte diese dem Angriff nicht standhalten. Lichtschild schwächte die Wirkung einer Attacke lediglich stark ab, negierte sie allerdings nicht vollkommen. Und selbst wenn, so war die Anstrengung zum Aufrechterhalten der Barriere nun zu groß. Der Lichtschild zersplitterte in dutzende Scherben, die wiederum zu glitzernden Staub zerfielen. Kirlia wurde durch die Luft gewirbelt, doch bekam sie nicht mehr die volle Stärke der Finsteraura zu spüren. So schaffte sie es noch in der Höhe den Schattenhund als Ziel auszumachen und mit einer tänzerisch anmutenden Drehung eine schwarze Energiekugel mit violettem Kern auf ihn zu schleudern. Doch der öffnete einfach sein Maul und zerbiss sie wie einen Luftballon, sodass sie wie ein solcher Platzte und ihn für einen kurzen Moment und dunklen Nebel einhüllte. Ryan musste die Sache langsam beenden. Kirlia gefährdete sich selbst, wenn es nicht aufgab.

    „Mach Schluss. Zeig deinen eigenen Spukball, aber ziel nicht direkt auf Kirlia.“

    Hundemon hätte diesem frechen Ding gerne eine Kostprobe seiner uneingeschränkten Kraft gegeben. Doch die Anordnung seines Trainers ließ das nicht zu. Und sie zu missachten, kam nicht infrage. Die Schattenkugel, die es nun seinerseits in seinem Maul formte, verfehlte Kirlia, welche soeben unsanft wieder auf der Erde landete, intentionell knapp und schlug hinter ihr ein. Die Wucht der Detonation warf sie nach vorne, geradewegs Hundemon und den beiden Menschen entgegen. Vor den plötzlich so unschuldigen und müden Augen verschwamm alles. Der Kopf sank gen Boden. Das Bewusstsein verließ Kirlia nicht gänzlich, doch es fehlte nun gänzlich die Kraft. Erschöpft und geschlagen blieb es liegen und erwartete, was auch immer die Menschen mit ihr vorhatten.

    Hundemon würdigte den Gegner keines Blickes mehr. Desinteressiert machte er kehrte und setzte sich an Ryans Seite. Der hielt beiläufig, ohne seinen Partner wirklich anzusehen die ausgestreckte Hand hin, um ihm Gelegenheit zu geben, sich an seiner Lieblingsstelle – den Nacken – kraulen zu lassen. Dies wurde natürlich jederzeit gerne angenommen. Es folgten Sekunden der Stille. Ryan sah auf das besiegte Pokémon herab, als würde er ein weiteres Aufbäumen erwarten. Doch selbst als eine knappe Minute lang nichts geschah, rührte er sich nicht.

    „Na hat doch ganz gut geklappt, oder?“

    Andrew konnte den Blick seines besten Freundes nur schwer deuten. Dass er nicht glücklich oder wenigstens zufrieden wirkte, kapierte er kein Stück. Zwar hatte er Kirlia ein wenig mehr bearbeiten müssen, als es wohl ursprünglich gedacht war, aber Hundmon hat sich, entgegen seiner anfänglichen Befürchtungen, sehr gut beherrscht und Kirlia nicht ernsthaft verletzt. Und gefangen war es praktisch schon. Jegliche Gegenwehr war nur verebbt.

    Ryan nahm sich einen Moment, um diese Jagd noch einmal in Gedanken durchzuspielen. Von der Sekunde an, als er dieses Pokémon das erste Mal gesehen hatte, hatte er mit den Minuten immer mehr Gefallen an ihr gefunden. Sie schien ihre Freiheit geschätzt zu haben, dem Gedanken einen Trainer wie ihn zu begleiten, aber auch nicht gänzlich abgeneigt zu sein. Sonst hätte sie sich dem Kampf gar nicht erst gestellt. Sie beherrschte solide Techniken für Angriff und Verteidigung und war zudem sowohl zäh als auch mutig und würde mit ihrem eleganten Kampfstiel sein Team sicher gut ergänzen. Lediglich der Einsatz von Spukball war nicht wirklich clever gewesen. Gegen einen übermächtigen Gegner wie Hundemon hätte es ebenso gut mit Streichhölzern werfen können. Diese Schattenenergie in so geringer Konzentration auf ein Unlicht Geschöpf anzuwenden – genauso könnte man mit einer Wasserpistole auf sein Impergator schießen. Doch die Entscheidung, welche Attacke in welcher Situation Anwendung fand, würde künftig ihm zufallen. Somit sah er da kein Problem. Wenn er Kirlia ein wenig mehr Taktgefühl für den Kampf näherbrachte, hatte er mit diesem Pokémon sicher einen Volltreffer gelandet.

    Seine Hand wanderte in die Gürteltasche und ergriff eine kleine Kapsel in ihrem Inneren. Das Betätigen des Knopfes vergrößerte sie und machte sie einsatzbereit. Ein lascher Wurf aus dem Handgelenk, nüchtern und unmotiviert. Die traf Kirlias Schädeldecke und sog das Pokémon mittels eines roten Lichtstrahls ein. Ryan machte sich auf, den Pokéball wieder einzusammeln, noch bevor das verräterische Zittern erstarb. Doch die Sache war erledigt. Die Entscheidung gefallen. Es fehlte nur noch das Schlusssignal. Da klickte der Ball und kam wie auf Kommando zur Ruhe.


    „Jetzt halt endlich still. Wie soll ich dich denn saubermachen, wenn du so zappelst?“

    Das kleine Psychopokémon murrte und zog eingeschnappt die Schultern an. Es war nicht so, dass sie schmollte oder diesem Menschen gar zürnte. Er und sein Hundemon hatten sie fair und dazu noch mit Leichtigkeit besiegt. Sie gab es nur äußerst ungern zu, aber diese Feuerkraft war überwältigend gewesen.

    Doch so sehr sie sowohl Mensch als auch Pokémon nach ihrem Kampf respektierte, fühlte sie sich schlicht unwohl dabei, sich einfach so seinen Händen zu überlassen. Da spielte es auch keine Rolle, dass seine vorangegangene Behandlung eine Wohltat für ihren Körper gewesen war. Und wozu in aller Welt brauchte sie ihn als Pflegedienst? Es war ja nicht so, dass sie nicht fähig wäre, sich selbst den Schmutz vom Körper zu waschen. Das konnte sie sehr gut allein und es strapazierte ihre Nerven, dass er eine solche Nähe schon wenige Minuten, nachdem ihre Partnerschaft besiegelt worden war, offenbar für selbstverständlich hielt. Ihr wäre ein distanzierteres Verhältnis zu ihrem Trainer deutlich lieber. Zumindest auf physischer Ebene, sodass sie ihren Luftraum für sich behielt. Doch da hatte sie sich wohl vom Falschen fangen lassen.

    Ryan saß mit Kirlia auf seinem Schoß im Schatten eines großen Laubbaumes, der relativ einsam unweit ihres vorigen Kampfplatzes residierte. Er lehnte mit ihr am Stamm, hielt in der einen Hand eine Wasserflasche und in der anderen ein feuchtes Tuch, mit dem er gerade über das Köpfchen fuhr. Leichte Blessuren hatte er bereits mit Salbe sowie den üblichen, heilende Sprühflaschen behandelt und ihr außerdem etwas gegen die Erschöpfung verabreicht. Nicht ganz die Behandlung, die sie im Pokémoncenter erfahren würde, aber dafür kam die Seine auf der Stelle. Jetzt befreite er Kirlia nur noch von Staub und Dreck. Zumindest versuchte er dies, doch schien er an eine schüchterne Göre geraten zu sein. Zufrieden ließ er sie jedoch noch lange nicht. Sie würde lernen müssen, die Umgangsformen ihres Trainers zu ertragen. Es war für ihn nun einmal furchtbar wichtig, sich in dieser Form um seine Schützlinge zu kümmern. Besonders bei denen, die er gerade erst gefangen hatte. Nebst dem Wohlbefinden seines Pokémons ging es ihm darum, die Basis einer kameradschaftlichen und freundlichen Beziehung zu ihnen bilden. Nur so konnte er Vertrauen und Loyalität von ihnen erwarten und natürlich tat er diese Dinge immer gerne, weil er diese Wesen liebte. Doch ein wenig mehr Dankbarkeit oder zumindest weniger Widerstand gegen eine gut gemeinte Geste wäre ihm sehr willkommen.

    „So, fast fertig“, ließ er dann verkünden und schnappte sich das blaue Handtuch, das über einem der niedrigen Äste hing. Auf einem solchen hatte es sich auch Hundemon bequem gemacht und döste vor sich hin. Andrew tat genau dasselbe. Seine Tasche an den Baumstamm gelehnt und seinen Kopf darauf bettend wartete er die Pokémonpflege ab und gönnte sich noch etwas Erholung. Hätte er ahnen können, dass ihn außerhalb der Klinik gleich so viel Stress erwarten würde, hätte er sie gar nicht erst verlassen. Ryan trocknete Kirlias Kopf und Schultern nun gründlich ab, was das Pokémon mit weiteren Protestlauten kommentierte.

    „Siehst du, hat doch gar nicht weh getan“, bemerkte er, als rede er mit einem kleinen Kind. Wie ein solches wandte Kirlia nun den Blick ab und blies leicht die Bäckchen auf, als wolle sie nicht eingestehen, dass er recht behielt. Das Handtuch war angenehm warm und flauschig. Dennoch, gefallen hatte es ihr nicht.

    „Hundemon.“

    Der Schattenhund sah sogleich hellwach auf. Wenn sein Trainer nach ihm verlangte, war er stets sofort zur Stelle. Manche hatten ihn wegen dieser Eigenschaft als gut abgerichtet und gezähmt bezeichnet. In Wahrheit traf keine dieser Beschreibungen zu, wie Ryan selbst behauptete. Er hatte einfach nur das Glück, in Hundemon einen Partner mit unerschütterlicher Treue und überaus starkem Beschützerinstinkt gefunden zu haben. Keines von beidem machte ihm zu einem Schoßhund.

    „Ich möchte, dass du ein wenig auf sie Acht gibst, falls sie Probleme hat und ich nicht da sein sollte. Tu mir den Gefallen.“

    Für gewöhnlich war es nicht Ryans Art seinen Pokémon die Option, sein Anliegen abzulehnen, offen zu lassen. Doch er konnte nicht alle zwingen, sprich ihnen befehlen, sich miteinander zu vertragen. Wie auch unter Menschen existierte unter Pokémon Sympathie wie Antipathie und sollte letztere vorherrschend sein, galt es diese zu überwinden, indem man die Parteien zusammenschweißte. Sie im Falle eines Falles Hundemons Obhut zu überlassen, würde Kirlia vermutlich weniger gefallen, doch für die angestrebte Freundschaft unter den Pokémon würde es ein guter Anfang sein.

    So sprang der schwarze Hund herab und näherte sich Kirlia, als sehe er sie zum ersten Mal. Er blickte ihr tief in die Augen und beschnupperte sie dezent. Dem Psychogeschöpf war das überhaupt nicht geheuer, spürte einen starken Schauer ihren schmalen Rücken herunterlaufen. Wie ein verschrecktes Mädchen wich sie einen Schritt zurück, doch Hundemon schloss den Abstand zwischen ihnen gleich wieder. Der scharfe Blick weckte glatt die Angst in Kirlia, auch wenn sie es sich niemals eingestehen würde. Es war ihr, die sich doch selbst für äußerst scharfsinnig hielt und eine gute Kenntnis von anderen Pokémon zu besitzen glaubte, unmöglich, die Intentionen des Hundemons zu erkennen. Eine Sekunde lang, rührte sich keines der Pokémon, bevor der Schattenhund dann sachte seinen Kopf auf Kirlias bettete. Eine fast mütterliche Geste, obwohl es sich um ein Männchen handelte. Er akzeptierte sie also.

    Dieses Zeichen der Zuneigung hatte bloß für ein paar Sekunden Bestand. Gleich darauf entfernte er sich wieder und ließ Kirlia verdutzt stehen. Ryan war sich nicht sicher, ob es überhaupt möglich war, doch er glaubte fast einen leichten Rotschimmer auf ihrem Gesicht zu erkennen, was ihn schmunzeln ließ.

    „Ich denke, du willst jetzt fürs Erste deine Ruhe haben.“

    Sie versuchte rasch wieder Herrin ihrer selbst zu werden. In was für einen aufdringlichen Haufen war sie denn hier nur geraten? Dieser Vierbeiner kam ganz nach seinem – und somit auch ihrem – Trainer mit seiner plötzlichen Fürsorge und dem Versprechen, sie zu beschützen. Was bildeten sich die zwei ein? Sie konnte auf sich selbst aufpassen.

    Doch… irgendwie war sie ihnen gar nicht böse. Für keine ihrer Taten. Denn sie fühlte sich plötzlich so... geborgen. Und dennoch keineswegs ihrer Stärke beraubt. Zumindest glaubte sie das. Schließlich hatte sie das Gefühl von Geborgenheit nie kennengelernt, da sie von klein auf allein hatte zurechtkommen müssen. Sie ging jedoch stark davon aus, dass man das warme Gefühl, welches sie im Inneren verspürte, als Geborgenheit betitelte.

    Gerade, als Ryan Kirlia in ihren Ball zurückholen wollte, hielt er inne. Dieser Gesichtsausdruck, dieser abwesende Blick. Sie schien gerade wohltuende Emotionen zu verarbeiten und schon wieder meinte er einen Anflug von Rot auf ihren Wangen zu sehen. Er konnte nicht anders. Er musste leise lachen. Ein wirklich zu drolliger Anblick. Dies ließ das feminine Wesen aufschrecken und sofort peinlich berührt erstarren. Hatte sie sich gerade wirklich dabei ertappen lassen, wie sie ihre Gefühle offenbarte? Und jetzt lachte ihr Trainer auch noch. Zwar lachte er sie nicht aus, doch allein die Tatsache weckte den Wunsch, vor Scham im Boden zu versinken. Das war ihr zwar nicht möglich, doch immerhin in diese rot-weiße Kapsel konnte sie flüchten. Eilig betätigte sie selbst den Knopf, welcher – so viel hatte sie bereits herausgefunden – einen roten Energiestrahl erzeugte und sie einsog. Zunächst ein wenig verdutzt schaffte es Ryan doch, sich ein Lächeln abzuringen. Ein wirklich interessantes Pokémon. Sowohl was Art als auch Charakter anging. Sie würde sicher eine gute Freundin werden.


    Gerade als der junge Trainer seine herumliegenden Utensilien auflesen wollte, spürte er plötzlich zwei gebogene Hörner, die ihn von der Seite anstießen. Der „Angriff“, war stark genug, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ryan sah in das fordernde und erwartungsvolle Gesicht seines Hundemon, von dem der Stoß ausgegangen war.

    „Was soll das?“

    Er betonte die Frage eher wie ein gütiger Vater, der seinen Sohn bei seiner ersten Sauerei beim Essen oder Beschmieren von Wänden erwischt hatte. Überrascht, aber nicht wirklich zornig. Der Schattenhund stellte nun die Vorderläufe weit auseinander und senkte den Kopf fast bis an den Boden, während er leise knurrte. Im Gegensatz zum Kampf vorhin, blieben seine Schulter aber nicht aufrecht, sondern sanken mit nach unten, sodass er fast auf dem Bauch lag. Es war außerdem nicht das bedrohliche Knurren, begleitet von einem wilden Blick, so wie er es immer einsetzte, um Gegner einzuschüchtern. Eher wirkte es erheitert und lebhaft. Noch bevor Ryan sich ganz aufgerichtet hatte, kam sein Partner heran gesprungen und riss das Tuch, mit dem er Kirlia zuvor gesäubert hatte und das er noch immer in der Hand hielt, aus seinem Griff.

    „Hey.“

    Flüchtend nahm er einige Meter Reißaus und schüttelte den Lappen wie ein gefangenes Rattfratz.

    „Hundemon.“

    Ryan wurde nun ein wenig lauter und autoritärer. Was war denn in diesen Hund gefahren? Stieß ihn um, stibitzte seine Sachen und...

    In dem Augenblick, als er den Gegenstand aus seiner Schnauze fallen ließ und wieder die auffordernde Haltung mit gespreizten Beinen und gesenktem Kopf einnahm, wurde Ryan klar, was Hundmon bezweckte. Er hatte seit seiner Niederlage in der Johto Liga wohl wirklich zu viel Zeit mit sich selbst verbracht. Früher hätte er sofort gewusst, was das Unlichtpokémon von ihm verlangte. Dies war eine Aufforderung, mit ihm zu spielen!

    Langsam verwandelte sich die Mimik des Trainers. Als würde er einen Gegner ins Visier nehmen, verengten sich seine Augen und ein gleichermaßen entschlossenes wie verspieltes Grinsen zog sich über sein Gesicht.

    „Na schön. Komm her“, forderte er seinen Gefährten heraus, während er nach dem Handtuch griff und in seinen Händen ausbreitete. Hundemon ließ sich nicht zwei Mal bitten. Das Maul einen Spalt geöffnet, sodass die Zunge zur Seite herauslugte, pirschte er auf Ryan zu. Ein paar Sekunden lang lag eine vergnügte Anspannung in der Luft. Während andere, idiotische Trainer ihre Pokémon ein Stöckchen holen ließen, das sie immer wieder fortwarfen, tobten sich diese beiden auf eine etwas andere Art und Weise aus. In dem Moment, in dem der Schattenhund schließlich zum Sprung ansetzte, hielt Ryan das Handtuch vor und stülpte es ihm über den Kopf. Das Bellen und verspielte Knurren klangen durch den Stoff hindurch sehr dumpf und fast belustigend. Die beiden rangelten vergnügt auf dem Boden und während Hundemon sich zu befreien versuchte, hatte Ryan größte Mühe, das schwarz gefellte Kraftpaket im Zaum zu halten. Doch er lachte dabei ausgelassen, fühlte sich für wenige Augenblicke absolut sorglos. Dies war etwas, das früher häufig, doch mittlerweile nur noch selten eintrat. Viel zu oft und zu sehr hatte er sich in den letzten Wochen, ach was Monaten, Gedanken über Kämpfe und deren mögliche Folgen gemacht. Kaum hatte er die Zeit gefunden, einfach mal abzuschalten.

    „Wehe, du zerreißt mir das Handtuch“, wies er zwischen seinem ausgiebigen Gelächter warnend an. Hoffentlich würden diese Worte auch ernst genommen und nicht als Witz missverstanden werden. Doch trotz seiner Warnung, spornte er Hundemon weiter an.

    „Komm schon. So wird das nichts, Kleiner.“

    Den Burschen als klein zu bezeichnen war selbst im ironischen Sinne lachhaft und dreist. Von Fuß bis Kopf reichte das Unlichtpokémon schließlich gut eineinhalb Meter über den Boden. Der muskulöse Körper war sogar in der Lage, Ryan zu tragen und dennoch einem beachtlichen Sprint hinzulegen. Seiner Stärke war sich Hundemon natürlich auch selbst bewusst, weshalb er sich gleich herausgefordert fühlte und nun noch vehementer den Kopf hin und her riss und sich trotz der Warnung in das Handtuch verbiss. Dabei riss er Ryan geradezu hin und her. Als Hundemon dann auch noch festen Stand fand und seinen Trainer regelrecht ansprang, wurde der gleich wieder auf den Rücken geworfen und entschied schließlich, dass es genug war. Wenn er den Schattenhund noch weiter provozierte, würde er wirklich alles zerkratzen und zerbeißen, was ihm im Wege stand. Er hatte keine Lust, schon wieder neue Sachen kaufen zu gehen.

    Hundemon hatte nun endlich den Kopf frei bekommen, ließ aber nicht von dem Handtuch ab, sondern schüttelte es erneut in seinem Maul. Ryan erfuhr einen weiteren Anflug von einem Grinsen und packte, auf den Knien voran robbend, das andere Ende des Tuchs.

    „Na los, hol´s dir, wenn du´s haben willst.“

    Schnell entstand ein freundschaftliches Tauziehen, in dem der junge Trainer das Knurren seines Pokémon imitierte und dabei sogar Zähne zeigte. Wirklich an dessen heranreichen konnte er nicht, doch dies war immerhin ein Spiel. Verflucht, wann hatten sie zuletzt miteinander gespielt?

    Als Ryan schließlich befürchtete, das improvisierte Tau einer Zerreißprobe zu unterziehen, ließ er plötzlich los, wodurch Hundemon in ein peinliches Straucheln geriet. Mit einem schnellen Satz wollte er die Hörner des Hundes packen – was dieser eigentlich nicht ausstehen konnte. Doch in diesem, freundschaftlichen Rahmen würde er das nicht mit einem Biss in den Arm oder ähnlichem vergelten. Allerdings erkannte der schnell das Vorhaben seines Trainers und spielte seine Schnelligkeit aus. Mit einem Sprung entkam Hundemon seiner Reichweite und ließ ihn erfolglos im Staub landen, um sich davonzustehlen. Lachend setzte sich Ryan auf und hob kapitulierend die Hände, worauf das Unlichtpokémon triumphierend die Vorderpfoten auf seine Beute stemmte und zum nicht sichtbaren Mond aufheulte.

    Noch immer heiter lachend klopfte sich Ryan den Staub von der Kleidung. Er hatte weder erwartet, seinen Partner überlisten zu können, noch hatte er es ernsthaft beabsichtigt. Regel Nummer eins beim Spielen mit Hundemon: Hundemon immer gewinnen lassen.

    „Was soll´n der Krach?“

    Maulend und noch leicht schlaftrunken erhob sich der müde Körper von Andrew, den Ryan mittlerweile fast vergessen hatte. Noch immer hatte er keine Antwort auf die Frage bekommen, warum er nicht in der Klinik war und sich erholte. Doch Mitleid hatte der dafür keines von ihm zu erwarten.

    „Nicht jeder will den Tag verpennen, wie du“, stichelte er, als Hundemon samt Handtuch im Maul seine Seite stupste und ihn somit zu kraulen aufforderte.

    Andrew drehte sich auf den Rücken und rieb sich träge die Augen.

    „Du würdest mich wahrscheinlich nicht mal in Ruhe sterben lassen.“

    „Nicht wenn du mit Todessehnsucht das Krankenhaus verlässt.“

    Noch immer nicht ganz erwacht, wurde er von der hochstehenden Sonne des angebrochenen Mittags stark geblendet und musste die Hand erheben, um seine Augen vor ihren Strahlen zu schützen, während er mit Ryan diskutierte. Er war müde, erschöpft, schon zwei Mal zu Boden gestoßen worden und zu allem Übel würde er nun doch das Mittagessen und die süße Schwester vom Vortag verpassen. Vergeben oder nicht, anschauen konnte er sie sehr wohl. Oder hätte können. Wegen Ryans Pokémonjagd würde er es nicht mehr rechtzeitig zurück schaffen.

    „Apropos“, setzte der an, während er abwesend seine Finger durch Hundemons Nackenfell fahren ließ. Der Hund hatte neben seinem Trainer Platz genommen und ließ – am Gespräch der Menschen nur minder interessiert - den Blick über die Grasebene sowie den Waldrand schweifen, während er entspannt die Zunge heraushängen ließ und ab und an mal gähnte.

    „Was treibst du eigentlich hier?“

    Andrew lehnte ich erneute gegen den Baum, diesmal allerdings in aufrechter Position und faltete die Hände hinterm Kopf zusammen.

    „Mir war einfach nach Bewegung. Musste raus aus dem sterilen Gefängnis und hätte man mich nicht gleich mehrmals über´n Haufen gerannt, würde es mir auch sehr gut damit gehen.“

    Schuldgefühle weckte die Erklärung in Ryan nicht gerade, als dieser in seinem Gedächtnis zu ihrer rüden Zusammenkunft zurückspulte. Schließlich hatte Andrew sich das ein Stück weit selbst zuzuschreiben. Doch warum mehrmals? Egal, zunächst galt es andere Dinge zu klären.

    „Und warum warst du hier am Arsch der Insel unterwegs?“

    „Blöde Frage. Um dich zu suchen natürlich. Du hast mir doch erzählt, wo du trainierst. Hättest ja ruhig mal erzählen können, dass dein Hundemon wieder bei dir ist“, maulte er.

    „Dazu hätte ich dich schon anrufen müssen. Er ist erst seit heute Morgen da.“

    „Ach? Gab´s einen Anlass?“

    Ryan schürzte abwägend die Lippen. Die richtige Antwort wäre wohl gewesen, dass es nie einen echten gegeben hatte, Hundemon – sowie jedes einzelne seiner anderen Pokémon - überhaupt zu Hause zu lassen. Doch diese Erkenntnis war ihm erst heute im Pokémoncenter gekommen. Die Erkenntnis, dass er nur sehr kurz davorgestanden hatte, sich von ihnen abzuwenden, neu anzufangen, in der Hoffnung aufgestauten Schmerz und Frust hinter sich lassen und der Niedergeschlagenheit entkommen zu können. Doch nachdem er nur eine kurze Zeit lediglich mit Panzaeron und nun einem jungen Hydropi unterwegs gewesen war, spürte er wieder das Band, welches er vor langer Zeit zu ihnen geknüpft hatte. Ein ganz banales Gefühl, das jedes Lebewesen von Zeit zu Zeit verspürt, sobald ihm etwas Wertvolles genommen wurde, hatte ihn das erkennen lassen. Er hatte sie vermisst.

    Allerdings war dies kein Grund für Ryan gewesen, seine Pläne gänzlich zu überdenken. Noch immer stand ihm der Sinn nach einem neuen Kapitel in seiner Laufbahn und das würde bedeuten, dass er neue Partner brauchte. Doch würde er es nun im Leben nicht so beschreiben, dass er von vorne anfangen wollte. Er wollte einfach weitermachen. So hatte er sich nicht davon abhalten lassen, zwei gute Freunde wieder an seine Seite zu holen.

    „Ja, den gab´s irgendwie. Und ich bin so froh, dass ich ihn erkannt habe.“

    Andrew zog die Brauen zusammen. Er hatte eine simple Unterhaltung beabsichtigt und nicht in solch Tiefgründigkeit abzudriften, wie Ryan gerade im Begriff war zu tun. Er versuchte die Stimmung wieder in eine andere Richtung zu lenken.

    „Gar nicht mal unpraktisch ein Feuerpokémon zu haben, wenn Hydropi gegen Pflanzen Typen im Nachteil ist“, bemerkte er leicht unsicher und lächelte dabei aufgesetzt. Gott war ihm das hier unangenehm.

    „Hydropi ist jetzt ein Moorabbel.“

    Andrew blickte ihn zunächst einige Sekunden an, als befürchtete er verarscht zu werden. Darauf ließ das häufige Blinzeln zumindest schließen.

    „Und Despotar ist auch bei mir.“

    Als würde man ihm eine immer schlimmer werdende Nachricht schrittweise offenbaren, warf Andrew resignierend die Arme in die Luft.

    „Da liegt man mal eine Zeit lang flach und bei dir dreht sich eine ganze Welt, oder was?“

    „Nur von deinem bescheidenen Blickwinkel aus.“

    Nun musste er wirklich aufrichtig lächeln. Er kam nicht drum herum, eine Veränderung an seinem besten Freund festzustellen. Er war total locker und unbeschwert, gerade eben zwar noch leicht abwesend, aber nicht bedrückt. Eher nostalgisch und voll ausgeglichen. Ryan gab eigentlich immer vor so zu sein, doch schien es bislang, als hätte er nur eine lächelnde Maske getragen, durch die er als sein bester Freund jedoch mühelos hatte hindurchsehen können. Sie beide kannten sich einfach zu lange, um es zu übersehen, wenn der andere aufgewühlt oder nachdenklich war. Ganz zu schweigen von den gelegentlich dezent auftretenden Depressionen, die er in letzter Zeit hatte vermuten müssen. Vor allem aber fiel ihm auf, dass er Hundemon seines Geschlechts entsprechend und nicht mit dem neutralen „es“ angesprochen hatte. Früher war das für sie beide selbstverständlich gewesen, doch irgendwann hatte er diese Angewohnheit verloren und – von Psiana abgesehen – hatte auch er selbst sich immer wieder dabei erwischt, wie er seine Pokémon so unpersönlich angesprochen hatte. Oft schob er seinem besten Freund die Schuld dafür zu und selbst wenn er sich die größte Mühe gab, ehrlich zu sich selbst zu sein, war er sich noch sicher, dass der ausschlaggebende Impuls von Ryan ausgegangen war. Und jetzt, ganz plötzlich, war er wie ausgewechselt. Irgendetwas war mit ihm passiert. Als wäre in seinem Kopf ein Schalter umgelegt worden, der zu seiner früheren Persönlichkeit, seinem jüngeren Ich gehörte. Zum ersten Mal seit ihrem gemeinsamen Aufbruch hatte er das Gefühl Ryan – den echten, unverfälschten Ryan vor sich zu haben.


    Der Tag schritt weiter voran. Die jungen Trainer tauschten sich weiter über ihre Gefährten aus und Andrew erfuhr weitere Details über den Zustand seiner eigenen. Besonders die gute Nachricht bezüglich Dragonir stimmte ihn heilfroh. Nicht nur, dass sich der Drache gut erholte, er würde sie auch sehr bald wieder an seiner Seite wissen können. So wie er diesen Satz in Gedanken durchging, stellte er fest, dass er sich wohl angewöhnen sollte, Schwalboss und Magnayen als männliche Geschöpfe anzusprechen. Dragonir war dagegen, ebenso wie Psiana, weiblich. Ob dieser Impuls von Ryan ausging, weil der plötzlich dasselbe tat? Vielleicht. Zumindest teilweise.

    Es war unnötig zu erwähnen, dass er Ryans Sinneswandel befürwortete und ihm dieser sehr gefiel. Nicht nur von einem freundschaftlichen Standpunkt aus, sondern auch aus neutraler Perspektive. Und er befand, dass er jenen unterstützen sollte. Oder besser, sich dem anzuschließen.

    Bald wurde es Nachmittag. Der Gesprächsfaden der jungen Trainer riss zu keinem Zeitpunkt ab. Doch nach einiger Zeit konnte Ryan einfach nicht anders, als den bereits sehr ereignisreichen Tag in Gedanken noch einmal durchzuspielen. Am Morgen war er noch in Andrews Krankenzimmer gewesen, worauf eine sehr wichtige Selbstfindung auf den Straßen der Stadt und schließlich der Besuch im Pokémoncenter gefolgt waren. Weiterhin hatte er eine vielversprechende, neue Gefährtin gefunden und seit langem wieder mit Hundemon gespielt. Letzterem maß er deutlich mehr Bedeutung bei, als man angesichts der Banalität des Unterfangens vermuten mochte.

    Doch dazwischen hatte es noch etwas gegeben. Das wohl wichtigste und folgenschwerste Erlebnis des heutigen Tages. Die Begegnung mit einer Frau namens Mila und ihrer Partnerin. Zwei Menschen, von denen er nicht das Geringste wusste und denen er doch etwas seines Glaubens schenkte, hinsichtlich dessen, was sie ihm zu sagen gehabt hatten. Das Wort Vertrauen würde er in Verbindung mit ihnen jedoch keineswegs in Erwägung ziehen. Zu zwielichtig war ihr auftreten, zu bedrohlich das stille Mädchen gewesen. Und verdammt noch mal, wenn tatsächlich ein Funken Wahrheit in Milas Worten bezüglich der Wichtigkeit und der Gefahr des grünen Orbs steckte, warum hatte sie sich dann nicht wenigstens ein bisschen konkreter ausdrücken können? Was für ein Spielchen hatte sie im Sinn? Kein normaler Mensch würde sich zudem auch nur ansatzweise so verdächtig verhalten und gleichzeitig so vage erklären. Von der Art und Weise, wie sie plötzlich aufgetaucht waren – das unheimliche Kramshef mal außen vorlassend – über die befremdliche Erscheinung und Ausdrucksart bis hin zu der unheilvollen Prophezeiung war nichts an dieser Begegnung gewöhnlich, geschweige denn Vertrauen erweckend gewesen. Und dennoch konnte er den Gedanken an sie nicht beiseiteschieben. Er war zu stur, zu energisch. Hatte sich völlig in Ryan festgebissen. Auch würde er sich wohl nicht trauen, ihre Warnung einfach zu ignorieren, was bedeutete, dass er und Andrew möglichst bald nach Graphitport City aufbrechen müssten. Die größte Metropole Hoenns war von Faustauhafen aus glücklicherweise gut zu erreichen. Der Schiffsverkehr der Hauptstadt war sowohl in Bezug auf Industrie und Handel als auch auf Personentransport und Tourismus enorm. Sicher würden sie morgen, nachdem Andrew seine Pokémon abgeholt hatte, problemlos eine Überfahrt erwischen können. Doch zunächst einmal galt es, Andrew irgendwie die Dringlichkeit klarzumachen. Doch wie sollte er das anstellen? Er hatte ja nicht einmal den Diebstahl des grünes Orbs gebeichtet und er hatte es auch weiterhin nicht vor. Zu groß war Ryans Angst, ihn bald nicht mehr in seinem Besitz zu wissen. Er musste eine andere Karte ziehen.

    „Hey, Andrew. Ich hab nachgedacht.“

    Als würde ihn die Aussage völlig schockieren, riss Andrew die Augen auf und fiel Beinahe zu Boden. Entgeistert und mit zitternden Händen starrte er in das überraschte Gesicht seines besten Freundes und schien kaum ein Wort hervor zu bringen. Erst nachdem er den vorgespielten Schock verarbeitet hatte, fand er seine Stimme wieder.

    „Nachgedacht? So richtig mit deinem Hirn und so?“

    Ryan konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, obwohl er im Augenblick nicht in Stimmung für Andrews Humor war. Daher knuffte er ihm auch sofort vergeltend in sie Seite, was ausreichte, um ihn von der sitzenden in die liegende Position zu befördern. Ausgiebig lachte er ihn von dort unten an.

    „Lass den Blödsinn, ich will was Ernstes bereden.“

    „Okay, okay. Ich hör zu“, versicherte Andrew rasch und hob kapitulierend die Arme. Er hatte gehofft, Ryan mal wieder so richtig anstacheln zu können, aber den Zug erwischte er heute wohl nicht mehr. Seine Aufmerksamkeit sammelnd richtete er sich wieder auf und begab sich in den Schneidersitz.

    „Ich sag´s einfach mal gerade raus“, begann Ryan etwas zögerlich. Die Aussage würde jetzt wahrscheinlich auf Verwunderung und Unverständnis stoßen, doch er war sich sicher, auf diese Weise das Thema am schnellsten und vor allem am wenigsten unangenehm anschneiden zu können.

    „Ich hab ein bisschen umgeplant und würde vorschlagen, dass wir morgen die Fähre nach Graphitport nehmen.“

    Erwartungsvoll sah er Andrew in die Augen. Er hatte sich in den wenigen Sekunden, in welchen er sich seine Worte zurechtgelegt hatte, mehrere Möglichkeiten ausgemalt, welche Reaktionen ihn erwarten könnten. Eine davon schloss unbehagliche Momente der Stille sowie schnelles Augenblinzeln seitens Andrew ein und genau das war nun eingetreten. Doch was danach geschah, hätte er niemals erwartet. Andrew nickte langsam.

    „Ja, kann ich verstehen.“

    Ryans Stirn legte sich in hundert Falten. Hä? Was passierte hier denn gerade?

    „Echt?“

    Wie selbstverständlich erhielt er ein erneutes Nicken.

    „Ja logisch. Du hast wahrscheinlich längst davon gehört, was? Hättest mir ruhig sagen können, dass wir hier nur unsere Zeit verschwenden.“

    „Moment, Moment“, unterbrach Ryan. Irgendwas hatte er wohl nicht mitbekommen. Er musste schnell Klarheit erlangen, bevor er sich hier verplapperte und Andrew stutzig wurde.

    „Damit wir uns richtig verstehen...“

    Er ließ den Satz offen. Er wusste nicht genau, wie er formulieren sollte, doch nachdem er auch ein paar Sekunden später nicht weitergesprochen hatte, befand er es für das Beste, den Rand zu halten und die erdachte Aussage als offensichtlich auszulegen, damit Andrew von allein weitersprach. Und Andrew begriff endlich!

    „Die Arena. Du meinst doch, dass wir uns eine andere suchen sollten, oder?“

    „Öhm. Nein.“

    Noch im selben Moment schlug Ryan sich in Gedanken gegen die Stirn. Wieso hatte er das denn jetzt gesagt? Jetzt musste er sich irgendwie retten.

    „Was ist mit der?“

    „Na die ist geschlossen, du Tiefflieger. Ehrlich, du hast die letzten Tage wohl nie unter Menschen verbracht, was?“

    Geschlossen? Okay, immerhin etwas Kontext. Aber geschlossen?

    „Kann sein“, murmelte er und versuchte, die Unsicherheit mit gespieltem Eigenhumor zu übertönen.

    „Gibt´s einen Grund?“

    „Keinen guten, wenn du mich fragst. Der Leiter ist noch für mindestens zwei Wochen weg. Ich hab in der Stadt ein paar Leute getroffen, die mich erkannt haben. Hab die Gelegenheit genutzt, mich ein bisschen bei denen schlau zu machen. Der Arenaleiter soll wohl so ein lässiger Surferboy sein, der nicht allzu viel auf sein Amt gibt und lieber am Stand abhängt. Er hat deswegen ständig Stress mit der Kommission und der Trainer-Gesellschaft, macht´s aber trotzdem.“

    Mit einem Seufzer lehnte sich Andrew an den Baum und breitete ratlos die Arme aus.

    „Lange Rede, kurzer Sinn – der Kerl ist im Urlaub.“

    Jetzt kam Ryan sich verarscht vor. Nicht dass es jetzt eine tragende Rolle spielte, aber wenn er darüber nachdachte, was sie beide hatten durchmachen müssen, um auf diese elende Insel zu kommen, nur um dann vor verschlossener Tür zu stehen. Mila und Orb hin oder her, den Kampf hätte er vor der Abreise gerne bestritten. Mit seinen neuen alten Partnern wäre das kein Thema gewesen.

    „Das ist nicht dein Ernst. Darf der Spinner das denn?“

    „Wenn er ständig irgendein Gremium an der Backe hat, sicher nicht. Aber die sind wohl ziemlich inkonsequent.“

    Die Beschreibung traf es nicht mal annähernd. Wie konnte so ein Typ überhaupt Leiter einer Arena werden? Für diesen Posten war nicht nur enormes Können, sondern auch ein gewisses Maß an Disziplin und Autorität eine unerlässliche Voraussetzung. Was bildete sich dieser Penner eigentlich ein? Solch eine Halbherzigkeit gehörte zu den Dingen, die Ryan richtig auf die Palme brachten. Erst recht sobald er darunter zu leiden hatte.

    „Also haben wir die Arschkarte“, stellte er fest und ließ sich nach hinten ins Gras fallen.

    „Mal wieder. Als wolle uns jeder Typ, jedes Pokémon und jeder Stein und Hoenn sagen, dass wir uns verpissen sollen.“

    Andrews Schlussfolgerung war gar nicht mal so daneben. Höchstens ein bisschen. Aber Tatsache war, dass sie seit ihrer Ankunft – streng genommen sogar noch davor – nur Ärger und Enttäuschungen am Hals hatten. Und hiermit hörte es nicht auf.

    „Wenn du das mit der Arena nicht wusstest, warum willst du dann eigentlich nach Graphitport, Ryan?“

    Die Frage versetzte ihm einen unangenehmen Stoß in der Magengegend. Den hatte er sich allerdings selbst zuzuschreiben. Schließlich hatte er so blöde auf Andrews Neuigkeiten reagiert, womit das hier unausweichlich geworden war. Er brauchte einen Grund. Einen Grund, der sie beide in die Hauptstadt ziehen sollte und nicht mit der Geschichte von zwei ominösen Frauen sowie einer beunruhigenden Warnung in Verbindung stand. Kurz leuchteten Ryans Augen auf. Leicht stützte er sich auf die Ellenbögen. Das war die Idee!

    „Summer Clash.“