Kapitel 33: Curtain Call
Die ersten Sonnenstrahlen begannen bereits, durch die tiefblauen Vorhänge vor den Fenstern zu scheinen. Dabei war es Melody so vorgekommen, als wäre sie erst vor wenigen Minuten wach geworden. Da es zu diesem Zeitpunkt aber noch stockduster gewesen war, hatte sie wohl einfach ihr Zeitgefühl im Stich gelassen.
Melody war eine chronische Frühaufsteherin, doch damit hatte nichts Besonderes auf sich. Vermutlich war ihr das von ihren Großeltern vererbt worden.
Sie zog gar nicht in Erwägung, dass ihr Zeitgefühl nur deshalb so getrübt war, da sie während dieser ganzen Zeit nur in das friedliche Gesicht des noch immer schlafenden Ryan geblickt hatte – obgleich es genau daran lag.
Nachdem einstimmig befunden worden war, dass es zu gefährlich für sie wäre, alleine in einem Hotelzimmer unterzukommen, hatte die Gruppe kurzerhand umdisponiert und sie in Ryans Zimmer verfrachtet. Andrew teilte sich nun das Gegenüberliegende mit Sandra. Ihr war es zu verdanken, dass Melody bleiben durfte, obwohl sie keine Trainerin war. Wie sie das genau angestellt hatte, wusste Ryan allerdings nicht und vermutlich würde man so einen Gefallen üblicherweise nicht erwarten können.
Die Gefühle, die sie bei seinem Anblick empfand, waren allerdings furchtbar gemischter Natur. Einerseits war da noch er abklingende Rest von Freude über sein Wohlbefinden und ihn überhaupt wiedersehen zu können. Während sie auf der Suche nach ihm gewesen war, hatte sich jeder Tag doppelt und jede Nacht nur halb so lang angefühlt. Dann war da auf der anderen Seite die Angst vor Team Rocket, vor Rayquaza und – so sehr sie sich gegen dieses Gefühl sträubte – die Angst vor Ryan selbst. Oder konkreter, was Ryan tun würde. Es hallten nach wie vor die melodischen Worte Lugias in ihren Ohren. Währen es nicht die seinen gewesen, hätte sie ihnen nicht eine Sekunde Glauben geschenkt.
Aber Ryan war doch ein überaus guter Mensch, oder nicht? Wieso zweifelte sie überhaupt daran? Er war einer der tollsten Menschen, die sie je hatte kennenlernen dürfen. Doch was wusste sie schon über ihn? Leider viel weniger, als ihr lieb war. Das bisschen, was sie wusste, stimmte sie aber zuversichtlich und hielt ihr Vertrauen am Leben. Das Vertrauen, dass er die richtigen Entscheidungen treffen würde, sobald es darauf ankam.
Melodys Augen waren betrübt. In ihnen spiegelte sich ihr Kummer und ihre Sorge. Dennoch lächelte sie. Und mit diesem Lächeln beugte sie sich über Ryans Stirn, um einen sanften Kuss darauf zu geben.
Sie hatten die Lippen kaum von ihm gelassen, da öffneten sich plötzlich seine Augen und er regte seine Glieder. Hatte sie ihn jetzt geweckt? Verflucht, war das plötzlich peinlich! Wie sollte sie denn erklären, warum sie ihn im Schlaf beobachtete? Hatte er überhaupt geschlafen? Vor Schreck verlor Melody das Gleichgewicht, fiel nach hinten über und musste dabei für einen Moment aussehen, wie ein Schiggy, das auf dem Rücken fiel. Natürlich wurde Ryan von dem Poltern sofort wach. Zunächst noch etwas verwirrt durch seine Schlaftrunkenheit stützte er sich auf die Ellenbögen und sah sich um.
„Melody? Is was?“
Er klang noch ziemlich müde. Das entsprach auch der Wahrheit, denn Tatsache war, dass er keine Minute lang geschlafen hatte. Das war ihm in den letzten Tagen bereits öfter so gegangen, dass er zwar mit geschlossenen Lidern im Bett, aber dennoch hellwach lag. Er fluchte für einen Moment innerlich, da sich dies selbst heute, wo er sich doch mental erholen wollte, nicht geändert hatte.
Die auf dem Boden kraxelnde Melody, von der er von seiner Position aus nur die Knie sehen konnte, welche über die Bettkante lugten, schien das Problem nicht zu kennen. Die war tatsächlich durch ihr peinliches Glotzen, gepaart mit dem plötzlichen „Erwachen“ Ryans geradezu unangenehm munter. Sie reckte bloß den Arm samt erhobenen Daumen empor, um zu signalisieren, dass alles klar war.
„Nein. Alles gut.“
Es brauchte ihr ganzes Pokérface, um bloß einen Moment später, in dem sie sich an die Bettkannte gerappelt hatte und sich nun auf beide Ellenbogen stützte, wieder unbekümmert und heiter zu wirken. Als läge der tollste Tag seit langem vor ihr.
„Morgen.“
Das machte Ryan unfassbar neidisch. Er fühlte sich gerade eher wie ein Fußhocker.
Er schätzte das Fassungsvermögen der Halle grob auf vier- bis fünftausend. Die Tribünen waren im Halbkreis um eine noch leere Bühne angelegt, die ehrlich gesagt nach kaum mehr aussah, als der Kampfbereich in einer Pokémon Arena. Solche, die ihres bevorzugten Typs entsprechend Pools, künstlich angelegte Wälder oder Felsplateaus errichtet hatten, selbstverständlich ausgenommen. Es handelte sichbum gabz gewöhnlichen Hallenboden.
Direkt am Rande der Bühne war ein langer Tisch mit drei unbesetzten Stühlen, die vermutlich später von der Jury gefüllt wurden und ihnen genau gegenüber verbarg ein weinroter Vorhang den Tunnel, durch den die Teilnehmer erscheinen sollten. Die Lichtanlagen über ihren Köpfen erinnerte eher an eine Konzertbühne, als an einen Wettbewerb mit Pokémon.
Mila hatte ihm eine sehr simple Wegbeschreibung zu Graphitports Eventhalle, deren Namen er vergessen hatte, gegeben. Sie lag unweit des Centers und des Prime Stadiums, in dem bald der Summer Clash stattfinden würde. Als kleiner „Heißmacher“ fand in dieser Halle jedes Jahr noch ein anderer Wettkampf statt.
„Ich war noch nie auf einem
Wettbewerb für Koordinatoren. Du?“
Ryan schüttelte den Kopf. Er hatte nie einen Bezug zu diesen Wettbewerben
gehabt. Er wusste im Groben, wie sie abliefen, hatte aber nie einen Grund
gesehen, einmal einen zu besuchen.
„Jetzt wo wir drin sind, bin ich doch etwas aufgeregt“, gestand Melody und lächelte fast, als sei ihr das wirklich peinlich. Sie erklomm gerade noch einige Treppen und wagte einen Rundblick. Ryan war mit Trainern bekannt, die das vermutlich unterstützen würden. Die Wettbewerbe im Allgemeinen für peinlich hielten.
„Du hast solche Dinge sonst nur im Fernsehen verfolgt. Ist verständlich“, befand Ryan. Er selbst war noch nicht wirklich von Spannung oder etwas, das dem nahe kam, gepackt. Seine Erwartungshaltung war nicht allzu hoch, doch er beschloss, diesen Nachmittag einfach auf sich zukommen zu lassen. Vielleicht würde er ja positiv überrascht. Und wenn nicht, wusste er zumindest, dass er nichts verpasste, wenn es sein letzter Besuch gewesen sein sollte.
„Ich frag mich ja schon, warum uns Mila gerade das hier vorgeschlagen hat“, fuhr Melody fort und bog in die Sitzreihe ein, die laut Ticket ihre sein sollte. Beim Summer Clash würde, wie bei allen größeren Turnieren, die sich über Tage zogen, freie Platzwahl herrschen. Man konnte ja schlecht für jeden Tag einen festen Sitz reservieren. Außer man zahlte die Wucherpreise in der VIP Loge. Keine Option für normal Sterbliche.
„So wie ich sie einschätze…“ Das Wort „kennen“ wollte er noch immer nicht mit ihr verbinden. Er wusste mittlerweile einiges über sie und Sheila. Aber gerade das gestrige Gespräch mit letzterer hatte ihn abermals ermahnt, dieses Wort nicht leichtfertig zu verwenden.
„… kann sie allen Formen des Wettkampfes etwas abgewinnen. Und mich würd´s nicht sonderlich überraschen, wenn sie Wettbewerbe sogar besser findet, weil sich Pokémon hier seltener verletzen.“
Das wäre in seinen Augen zumindest eine plausible Erklärung. Die erste Runde, in der die Teilnehmerzahl noch unbeschränkt war, da sich wirklich jeder hierfür eintragen konnte, war eine Art Talentshow, um es etwas plump auszudrücken. Die Pokémon sollten sich mithilfe ihrer Attacken möglichst grazil, elegant oder spektakulär und in jeden Fall beeindruckend in Szene setzen. Es galt hierbei die Jury zu überzeugen und ihnen etwas für´s Auge zu bieten. Die besten acht unter ihnen trugen dann im K.O. System kämpfe gegeneinander aus, die laut Ryans beschränktem Wissen allerdings etwas anders abliefen, als er sie kannte. Soweit er wusste, gab es Punktabzüge, wenn man sich vom Gegner an der Nase rumführen ließ oder auf seine Finten hereinfiel. Ob man dabei tatsächlich einen Treffer einzustecken hatte, war zwar hilfreich, aber nicht ausschlaggebend. Passierte einem dies einige Male, war man raus. Ein kampfunfähiges Pokémon schied selbstredend sofort aus.
Melody hatte ihren Sitz gefunden und beugte sich, kaum dass sie auf ihm Platz genommen hatte, neugierig vor, als würde es schon in einer Minute losgehen.
„Hältst du sie echt für so pazifistisch? Ich hatte da einen anderen Eindruck.“
Wahrscheinlich kannten sie beide, Melody aber im Besonderen, nicht einmal einen Bruchteil dessen, was Milas Vergangenheit ausmachte, was sie zu tun und auf sich zu nehmen bereit gewesen war, um ihre Garde zu führen und den brüchigen Frieden mit den Drachen zu wahren. Mit Sicherheit hatte sie einige Gräueltaten zu verantworten, doch Ryan zweifelte keine Sekunde daran, dass sie sich für jede einzelne davon selbst verfluchte. Sie hatte die Fehler ihrer Mutter einst erkannt und ließ nicht die kleinste Vermutung zu, dass sie diese wiederholen würde. Bislang zumindest.
„Pazifistisch sicher nicht“, beteuerte Ryan und setzte sich neben den Rotschopf, legte ein Bein auf dem Knie quer und lehnte sich weit zurück.
„Aber ich bin mir sicher, dass sie Gewalt hasst. Leider kann man die bösen Jungs nur selten mit Worten aufhalten.“
Klang nicht unwahrscheinlich. Doch beim Gedanken an ihre Partnerin presste Melody mit einem Hauch von Unwohlsein die Lippen aufeinander.
„Würde das doch bloß für Sheila gelten.“
Sie hatte noch immer etwas Angst vor ihr. Zwar überzeugt, dass sich eine Drohung, wie die bei ihrer ersten Begegnung – oder das, was danach folgen könnte – nicht wiederholen würde, aber in ihrer Gegenwart konnte Melody einfach nicht entspannen. Obgleich sie das auch in ihrer Abwesenheit nicht konnte, da sie ja nie genau wusste, ob Sheila nicht doch irgendwo hinter oder über ihr mindestens ein Auge auf sie gerichtet hatte. Wenn sie mit Ryan unterwegs war, tat sie das ganz bestimmt.
„Glaubst du wirklich, das wäre besser so?“
Melodys Stirn legte sich in Falten und eine Braue wurde skeptisch hochgezogen. Meinte Ryan die Frage ernst? Er begann zu erklären, ohne dass sie diese Worte aussprechen musste.
„Auch die, die Gutes tun, brauchen ein schwarzes Schaf in den eigenen Reihen. Mindestens eine Person, die bereit ist, Grenzen zu überschreiten und die Regeln zu brechen. Wer sich immer nur an die feine Art hält, kann niemals etwas bewegen.“
Melody wunderte sich, wie akribisch präzise und fast gedankenverloren Ryan seine Meinung äußerte. Als hätte er sie sich zurechtgelegt und nur darauf gewartet, sie kund zu tun. Tatsächlich hatte er sich gerade in der letzten Woche viele Gedanken um Sheila gemacht, sich gefragt, wie das Zusammenspiel zwischen ihr und Mila überhaupt funktionieren konnte. Aber vielleicht klappte es gerade daher, weil sie so verschieden waren, sich ergänzten und somit immer den richtigen Mittelweg bei ihren Operationen fanden. Aber möglicherweise maß er sich auch zu viel an. Er hatte von beiden zu wenig Ahnung für so viel Meinung.
Der junge Trainer registrierte ihren Seitenblick und schmunzelte sie leicht an, versuchte die Situation etwas zu lockern. Sie waren schließlich hergekommen, um wenigstens kurzweilig mal abzuschalten. Er sollte das Thema besser bald wechseln.
„Manchmal muss man sich eben die Hände schmutzig machen, verstehst du?“
Nun lehnte sich auch Melody zurück, schien nachdenklich zu werden, doch ihre Mundwinkel wanderten nach oben, als hätte sie etwas durchschaut.
„Siehst du dich selbst denn in dieser Rolle?“
Ein sehr kurzes, trockenes Auflachen, gefolgt von Kopfschütteln. Das Lächeln wirkte ein bisschen gezwungen und er selbst nicht annähernd so locker und befreit, wie er sich geben wollte.
„Ich wollte nie so sein.“
Da war Melody wohl auf eine Landmine getreten. Auf eine recht offensichtliche, wie sie schon in diesem Moment realisierte. Ryan hatte viel bereut, seit Mila sie direkt zu ihm geführt hatte und würde sich vermutlich einen Finger abschneiden, um so manches ungeschehen zu machen. Einen solch uneigennützigen Tatendrang zu unterstellen, wäre einfach nur dumm.
Das unangenehme Gespräch wurde – auch durch die zunehmende Anzahl an Menschen in ihrem Umfeld – rasch beendet und Ryan hatte sich für einen Moment entschuldigt, um ritterlich mit Erfrischungen für sie beide zurückzukehren. Er gab sein Bestes, um sich unberührt zu geben und Melody erwiderte das dankend. Natürlich konnte man dieses Thema nicht so leicht begraben, aber beide gaben ihr Bestes, um den Schein zu wahren, dass sie es geschafft hätten.
Allgemein fühlte es sich aber gut an, wieder Zeit mit ihr zu verbringen und gab ihm zudem die Gewissheit, dass ihre Verabredung von neulich kein Einzelfall gewesen war. Sie konnten wirklich zusammen sein.
Melody nahm mit einem dankenden Nicken den Plastikbecher entgegen und widmete ihre Aufmerksamkeit der Videoleinwand über dem Tunnel, welche im Moment noch einige Werbespots zeigte. Einer davon bewarb den bald beginnenden Summer Clash und ihr Lächeln wurde mit einem Seitenblick auf Ryan wieder sehr breit. Seine Augen hafteten am Bildschirm, wie Magnetilo aneinander, doch der Ausdruck in seinem Gesicht war nicht etwa der eines begeisterten Kindes. Voller Vorfreude, definitiv, doch primär las sie in seinen marineblauen Augen die pure Entschlossenheit. Es flackerte ein kaum sichtbares Feuer darin und genau diese Tatsache – dass Ryan trotz ihrer großen Misere seine Leidenschaft nicht verloren hatte –, erfreute sie unermesslich. Wenn sie so darüber nachdachte, gab es wohl kein Wort, mit dem man diesen jungen Trainer besser beschreibend könnte, als Leidenschaft.
Während die beiden in doch eher unbedeutenden Small Talk über gingen, füllten sich die Plätze weiter und weiter. Die Fremden Gesichter, die sich auch bald neben dem Pärchen niederließen, wurden ohne Weiteres ignoriert, doch ohne Zweifel hatte der ein oder andere Ryan als Prominenten aus der Trainerszene erkannt. Er registrierte mehrere Menschen, die eifrig in seine Richtung sahen, versuchten einen Blick zu erhaschen, der alle Zweifel beseitigte, ob er es denn wirklich Ryan Carparso war, der dort saß. Manch einer hielt sogar die eigene Begleitung am Arm und deutete in seine Richtung. Und diese Aufmerksamkeit entging auch Melody nicht.
„Du bist ja richtig berühmt hier“, stellte sie mit einem verschmitzten Lächeln fest, sah sich sporadisch um, auf der Suche nach weiteren Schaulustigen. Jene, die sie erspähte, eilten sich weiterzukommen. Fand sie diese Tatsache jetzt belustigend? Oder anderweitig erheiternd? Ryan hätte nicht unbedingt darauf gewettet, dass sie so empfand, aber er sollte sich wohl eher glücklich schätzen, dass es ihr nicht auf die Nerven ging.
„Das ist jetzt nichts Neues für mich“, meinte er schulterzuckend.
„Die Bescheidenheit in Person. Hut ab.“
Ryan verdrehte die Augen, lachte dabei aber herzlich. Oh, diese Sticheleien von Melody waren wie immer scharf und wunderschön gemein.
„Du weißt, was ich meine.“
Das tat sie sehr wohl. So gut kannte sie Ryan, dass er zeitweise diese Aufmerksamkeit genoss, sie aber in Situationen, in denen er nicht im Mittelpunkt stehen wollte, ausblendete. So gut es ging zumindest. Was sie nicht wusste, war wie gut er seinen Ärger verschleiern konnte, wenn er diese Blicke einmal überhaupt nicht gebrauchen konnte, so wie jetzt. In dieser Menschenmasse von Zweisamkeit zu träumen, wäre idiotisch, aber im Zentrum selbiger zu gesehen zu werden, war ihm doch zu viel.
Melody suchte wieder seinen Augenkontakt, lehnte sich leicht vor und flüsterte gerade nur so laut, dass bloß Ryan sie verstehen konnte.
„Die munkeln wahrscheinlich, seit wann du so eine hübsche Freundin hast.“
Sie grinste dabei über beide Ohren und hatte die Augen stechend verengt. Ryan dagegen zog eine Braue hoch.
„Hab ich die?“
Es war, als würde für einige Sekunden, die sich mindestens wie eine Stunde anfühlten, der gesamte Saal im Schweigen gehüllt und alles um sie herum und dunkles Grau getaucht.
Keine von ihnen hatte es jemals ausgesprochen, doch wussten beide, dass sie ein Paar werden wollten. Allerdings gab es da neben dem Kampf gegen Team Rocket und dem bevorstehenden Krieg der Drachen, den es zu verhindern galt, noch ein kleines und doch unfassbar schwerwiegendes Argument, das sie davon abhielt. Sie kannten einander viel zu wenig. Es fühlte sich oft an, als sei ihre erste Begegnung schon Jahre her und sie unheimlich vertraut miteinander. Doch das war lediglich Einbildung, ein Trugschluss, entstanden aus den jüngsten Gefühlen. Sie waren sich nahe, aber im Grunde weit entfernt von dem, wo sie gemeinsam stehen wollten.
Es wurde Ryan und Melody keine Zeit gelassen, das Thema zu vertiefen. Denn genau wie in ihrer phantasierten Wahrnehmung verdunkelte sich plötzlich der Saal und ein paar grelle Suchscheinwerfer schwankten scheinbar ziellos über die Bühne. Das Publikum wurde laut, euphorisch, dezente Jubelrufe erklangen.
Ryan blickte kurz durch die Halle und lächelte Melody dann entschuldigend an. Das war bei weitem kein Thema für diesen Ort und diesen Moment.
„Tschuldige. Ein andern mal“, meinte er knapp, doch seine Augen, die trotz der spärlichen Beleuchtung marineblau zu schimmern schienen, wirkten bedrückt und unschlüssig.
Im Stillen einigten sich beide darauf, sich so gut es ging von der Show ablenken zu lassen, um diesen kurzen Moment zu vergessen. Eine weibliche Stimme erklang durch die Lautsprecher, strahlte Souveränität und Routine aus, als sie die Zuschauer willkommen hieß.
„Werte Damen, werte Herren, Fans des Koordinatoren Sports. Wir begrüßen Sie recht herzlich zu unserem heutigen Wettbewerb in Graphitport City.“
Sie betonte jedes einzelne Wort ein bisschen lauter uns länger als das vorherige, kündigte scheinbar das größte Event des Jahres an und war selbst vor lauter Vorfreude gar nicht zu bremsen. Naja, nicht weniger stand wohl in ihrer Jobbeschreibung. Dem Löwenanteil der Zuschauer war das aber bereits genug, um der Dame mit schallendem Applaus sowie weiteren Freudenrufen zu antworten.
Während die Suchscheinwerfer nun endlich zum Stillstand kamen und die Ansagerin beleuchteten, sah sich Ryan etwas in der Menge um. Er blendete fast völlig aus, wie sie sich dem Publikum als Miriam vorstellte, nebenbei ein paar Worte über die ach so schöne Hauptstadt verlor und schließlich die einzelnen Jurymitglieder aufrief. Ryan interessierte sich nicht wirklich für sie, umso mehr aber war er positiv überrascht von dem Lärmpegel der Zuschauer. Er hatte eher ein ruhigeres, entspanntes Publikum erwartet. Warum? Vermutlich, weil er Koordinatoren nicht ganz so emotional und energetisch einschätzte wie Trainer und es wäre in diesem Fall naheliegend gewesen, wenn die Fans genauso drauf sind. Doch hier brodelte es ordentlich auf den Rängen. Ein Umstand, den Ryan durchaus willkommen hieß.
Während sein Blick so über die Tribünen schweifte, war ihm, als hätte er etwas aufblitzen sehen. Er stoppte, hatte den Kopf so weit von der Bühne weg, wie nur möglich geneigt. Ihm wurde keinerlei Beachtung mehr geschenkt. Die Aufmerksamkeit von ausnahmslos jeder Person galt nur der Moderatorin, die jeden von ihnen weiter befeuerte.
Ryan schüttelte das Gefühl rasch ab. Was sollte da schon gewesen sein? Ein Blitzlicht von einer Foto- oder Handykamera wahrscheinlich. Oder ein paar große Ohrringe von einem der weiblichen Besucher, die das Licht der Strahler reflektiert hatten. Konnte ja nichts Besonderes gewesen sein.
Scheinbar wurden gerade noch einmal grob die Regeln und Abläufe eines Wettbewerbes erklärt. Dass man so etwas tat, bedeutete wohl, dass es oft, wenn nicht immer Zuschauer gab, die mit den Abläufen nicht vertraut waren. Noch ein Anlass für Ryan, die Wettbewerbe als unpopulärer einzustufen, als die von ihm ausgetragenen Arenakämpfe und Turniere.
„In der ersten Runde dürfen uns die
Teilnehmer die Schönheit und Anmut ihrer Pokémon präsentieren und müssen die
Jury von ihrem Talent und Geschick überzeugen.“
Das deckte sich ziemlich genau mit dem, was Ryan und Melody vermutet hatten.
Letztere hing offenbar ähnlich gefesselt an Miriams Worten, wie der Rest.
„In den anschließenden Kämpfen, die nach dem K.O. System ablaufen, gilt es dann wahres Können und Stärke zu beweisen…“
Sie lehnte sich nach vorne und blickte verschmitzt in eine der Kameras, was ihr doch arg geschminktes Gesicht übergroß auf der Leinwand präsentierte.
„…, aber dabei niemals an Eleganz einzubüßen“, meinte sie mit einem Zwinkern. Die Erklärung half Erstbesuchern herzlich wenig. Bekam man nach dem Kampf etwa eine Note für die Performance, wie in Runde eins? Naja, einfach mal abwarten und alles auf sich zukommen lassen, dachte der junge Trainer.
Nach einer weiteren Minute, in der Miriam die Fans anheizte, ließ sie dann endlich den Start verlauten.
„Nun, genug der Worte. Es wird Zeit, die Bühne zu räumen. Wir begrüßen unseren ersten Teilnehmer.“
Flackernde, bunte Lichteffekte muteten leicht an eine Diskothek an, während mehrere Scheinwerfer auf den Tunnel unter dem Bildschirm gerichtet wurden. Der Vorhang wurde von einer Frau, vermutlich Ende zwanzig durchtreten, die sich in ein violettes Ballkleid geworfen hatte. Hierauf meinte Ryan sich zu erinnern, dass mal der Trend aus Sinnoh, sich bei diesen Wettbewerben vornehm in Schale zu schmeißen, weitestgehend von der Szene übernommen worden war. Pflicht war das seines Wissens aber nicht. Wäre auch Schwachsinn, da schließlich die Pokémon bewertet wurden und nicht die Koordinatoren.
Seine Gedankengänge hatten Ryan die kurzweilige Vorstellung der Person, sprich Name, Herkunft und Werdegang, vollkommen an sich vorbeiziehen lassen. Seine Aufmerksamkeit galt ihr erst wieder, als sie das erhellte Winken in alle Richtungen samt zuckersüßem Lächeln sein ließ und mit einer tänzerisch anmutenden Geste einen Pokéball in die Luft schleuderte. Mit ähnlichen Akzenten trat auch das Wesen daraus hervor, was dem Trainer ein Rümpfen seiner Nase entlockte. Er sah durchaus ein, dass das zur Show gehörte, aber musste man es so auf die Spitze treiben? Wie das Pokémon aus seiner Kapsel trat, konnte wohl kaum großartig in die Endbewertung einfließen, oder? Die Zuschauer um ihn herum hätten jedoch kaum gegensätzlicher reagieren können, denn noch bevor irgendetwas passiert war, ging ein bewunderndes Raunen durch die Masse. Der typische Lichtschein, aus dem sich das Wesen materialisierte, wurde nämlich begleitet von funkelnden Effekten, wie Neuschnee, der im Mondschein glitzerte. Ryan kam nicht umher, sich zu fragen, wie man so etwas denn anstellte.
Schließlich baute sich eine Gestalt von etwa eineinhalb Meter Größe in einer Art rotem Kleid auf. Es war sehr humanoid, besaß sehr viele menschliche Züge, die eigentlich nur von der etwas zu plumpen Körperform sowie der violetten Haut gestört wurden.
Ein Rossana sah man nun auch nicht alle Tage, so viel musste man in jedem Fall eingestehen.
Die Koordinatorin strich sich mit einer auffälligen Bewegung ein paar Strähnen ihres Schulterlangen, glatten Haares hinters Ohr und befahl Weißnebel. Es war ein leicht faszinierender Anblick, die Entstehung eines Nebels einmal zu sehen und beobachten zu können. Unter natürlichen Voraussetzungen dauerte der Vorgang einfach zu lange, als dass man ihn wirklich erkennen konnte. Das Publikum wartete indessen gespannt, was denn damit den Nebelschwaden bewirkt werden sollte.
„Eissturm“, lautete die nächste Anordnung, wobei wieder ein Tanzschritt erfolgte, den Rossana eins zu eins imitierte und schließlich in eine 360 Grad Drehung über ging. Es knisterte leise in der Luft. Rossana senkte die Temperaturen ihres direkten Umfeldes – aber dankenswerter Weise nicht die Tribüne – auf weit unter null Grad, sodass sich kleine Eiskristalle in der Luft bildeten. Zunächst wurden sie im Wind wild umher gewirbelt, doch als das Wort Psychokinese fiel, gehorchten sie sogleich dem Willen Rossanas. Die kleinen Splitter wuchsen weiter und nahmen die Form von übergroßen Schneeflocken an, die bald in kunstvollen Kreisen ihre Bahnen um das Duo auf der Bühne zogen. Mehrere Ringformationen von verschiedener Größe türmten sich über dem Pokémon auf wie Schichten einer Hochzeitstorte und funkelten im Schein der Bühnenlichter. Je höher das Gebilde wuchs, desto lauter jubelten die Zuschauer und auch Melody applaudierte begeistert.
Die Vorstellung wurde schließlich zum Abschluss gebracht, indem das Konstrukt mit den Psychokräften auseinander gestoßen wurde und in Sekunden verschwunden war. Einzig ein Hauch des vorangegangenen Glitzers regnete sanft auf Koordiatorin und Pokémon herab, Es brach Jubel aus, als hätte sie gerade einen Kampf gewonnen. Ryan ertappte sich dabei, wie er anerkennend nickte, doch noch bevor er sich eine fertige Meinung zu dem Auftritt gebildet hatte, fiel ihn Melody von der Seite an.
„Wie cool war das denn? Ich hab noch nie gesehen, dass man Attacken so einsetzen kann.“
Zugegeben, es gehörte schon mehr dazu, die Techniken so zu koordinieren, anstatt sie einfach auf einen Gegner zu schleudern. Doch er hatte jetzt nichts gesehen, dass er nicht vorher schon für machbar gehalten hätte.
Er rang ein bisschen nach den richtigen Worten, um seine Meinung zu äußern. Langweilig war das sicher nicht gewesen, aber für ihn persönlich auch nicht super spannend. Und diese sich in Grenzen haltende Begeisterung war ihm offenbar anzusehen.
„Jetzt sag nicht, du fandest das öde“, warnte sie bereits.
„Das sicher nicht“, beteuerte Ryan sofort, suchte gleichzeitig noch nach den richtigen Worten.
„Wie soll ich sagen? War auf jeden Fall schön anzusehen…“
Er hatte gesprochen, als wolle er noch etwas Negatives äußern und Melody wartete nur darauf, dass er es tat.
„Aber?“
Er schürzte nachdenklich die Lippen und entschied dann, dass er einfach das erste aussprechen sollte, das ihm in den Sinn kam. Obgleich es eigentlich etwas zu plump und außerdem so klang, als wolle er sich gar nicht begeistern lassen.
„Vom Hocker hat´s mich nicht gerissen.“
Sie lachte trocken auf und ließ sich wieder in ihren Sitz fallen.
„Mann, bist du anspruchsvoll.“
„Ich fand das immer wertvoll an mir“, konnte er das seinerseits mit einem Lachen abtun. Währenddessen sprach Miriam einige begeisterte Worte über die Darbietung und rief das Publikum zu einem letzten Applaus auf, unter dem die Teilnehmerin schließlich kehrt machte und im Tunnel verschwand.
Während der folgenden Vorführungen steigerte sich Ryans Begeisterung für Wettbewerbe nicht unbedingt. Er sah durchaus interessante und kreative Kunststücke, doch dann sah er auch wiederum welche, die ihm das Gefühl gaben, im Zirkus zu sitzen. Die Pokémon, die hier auftraten, wurden zwar wohl kaum zum Mitmachen gezwungen und einige schienen selbst Spaß beim Auftreten zu haben, doch Ryan schlug es dennoch bitter auf, dass diese großartigen Geschöpfe ins Showbusiness gedrängt wurden. Das Kämpfen lag in der Natur eines Jeden unter ihnen, ganz gleich, welcher Rasse sie angehörten. Aber das hier? Mit gutem Willen konnte er das hier als Talentwettbewerb anerkennen.
Ryan behielt durchaus im Hinterkopf, die Leistung der Teilnehmer und Pokémon nicht zu schmälern oder kleinzudenken – aber er hatte sich einfach etwas Anderes von diesen Veranstaltungen versprochen. Naja, dann kam es eben so, wie von vornherein befürchtet. Er hatte dem einmal beigewohnt und wusste jetzt, dass er nie etwas Besonderes verpasst hatte. So dachte er und nahm einen tiefen Schluck, der seinen Becher leerte.
Währenddessen betrat ein schlanker Mann in Frack und mit Zylinder die Bühne, der als Jordon Hendricks vorgestellt wurde und mit seinem Partner – einem Pantimos – gemeinsam erschien, anstatt es mit viel Licht und Glitzer aus seinem Ball zu entlassen, wie alle seine Vorgänger.
„Ein eigenwilliger und definitiv seltener Auftakt. Ob Jordon damit bei der Jury punkten kann?“
Ryan hatte noch immer keinen blassen, aus wem besagte Jury überhaupt bestand. Es wurde nie ein weiteres Mal ihre Namen genannt und zu hören bekam man von ihnen ebenfalls nichts, um nicht möglicherweise die Entscheidung, wer die nächste Runde erreichte, vorwegzunehmen. Auch erkennen konnte Ryan keinen von ihnen, da ihr Pult ebenso verdunkelt war, wie die Ränge.
Hendricks und Pantimos gingen noch etwas weiter, als andere Teilnehmer mit ihren Tänzen und synchronisierten Bewegungsabläufen. Diese beiden hier machten gar ein Schauspiel daraus. Sie blickten sich um, als wüssten sie nicht, wo sie sind und was hier passierte. Das Psychopokémon machte unsichere, aber doch neugierige Schritte nach vorne ins Zentrum des Scheinwerferlichts. Dann streckte sein Trainer den Arm nach vorne, als würde er irgendetwas von jemandem erbetteln und befahl mit unglaublich weicher Stimme, Barriere einzusetzen. Die Hände von Pantimos legten sich vor seinem Gesicht übereinander, ehe es die Ränder von unsichtbaren Wänden nachzufahren schien. Was würde das denn werden? Die Zuschauer und vor allem die Jury mussten schon etwas sehen, das sie beurteilen konnten.
Wie für diese Gattung so üblich und bekannt, tastete Pantimos sein Umfeld ab und machte bald Anstalten, die Wände verschieben zu wollen, was jedoch zum Scheitern verurteilt schien.
„Sondersensor“, lautete der nächste Befehl.
Das Pokémon, das sich zunächst resignierend und ratlos umgeschaut hatte, legte die Hände ein weiteres Mal zusammen. In ihnen leuchtete ein kleiner Lichtpunkt auf. Er war schwach, erhellte sein Umfeld keineswegs. Doch selbst um diffusen Licht erkannte man die purpurfarbenen Energiewellen, die er in einem gleichmäßigen Rhythmus ausstieß. Für gewöhnlich richteten sich diese Wellen im Kampf gegen ein anderes Pokémon und versetzten ihm einen Energiestoß, der die meisten durch die Gegend zu schleudern vermochte. Hier jedoch wirkten sie deutlich subtiler und außerdem nicht auf einen Punkt, sondern die gesamte Umgebung konzentriert.
Ryan lehnte sich neugierig vor. Er hatte gar nicht gewusst, dass ein Pokémon Sondersensor derart beeinflussen und lenken konnte. Was jedoch wichtiger war – die bislang unsichtbaren Barrieren fingen die kaum sichtbaren Wellen auf, woraufhin ihre Ränder im mythischen Blau erstrahlten. Auch das war interessant. Barriere war eine trickreiche Technik, da nur der Anwender wissen konnte, wo sie sich genau befand. Er hätte nicht gedacht, dass man sie mit einer einfachen Psycho Attacke sichtbar machen kann.
Und nun begann wohl das eigentliche Schauspiel. Pantimos blickte sich ein weiteres Mal in gespielter Verwirrung um, als die leuchtenden Wände langsam auseinanderstoben. Beinahe wirkte es, als seien sie nicht nur schwerelos, sondern frei von jeglichem Einfluss der Pantomime und schwebten langsam, wie Mantax im Wasser, davon.
Doch plötzlich richtete sich eine davon neu aus. Ein Ende zielte präzise nach Pantimos und schoss dann pfeilschnell auf es zu. Mit einem gewagten Hechten zur Seite sowie einer geschickten Rolle konnte es dem entgehen, doch da schnellte schon die nächste auf es zu. Diesmal entkam es mit einem Rückwärtssalto.
Jedes Mal, wenn eine schimmernde Energiewand auf das Pokémon zu schoss, raunte es in der Menge und Ryan stellte fest, dass er sich dem zum ersten Mal anschloss. Pantimos wollte hier nicht etwa seine geschickten Manöver oder Körperbeherrschung demonstrieren. Schließlich lenkte es die Barriere selber und konnte genau steuern, wohin sie fliegen würden. Doch es erschuf die Illusion, dass es nach außen hin so wirkte, als sein es wirklich in die Enge getrieben und kämpfte hier gegen einen unsichtbaren Feind.
Da schien es auf einmal genug vom Ausweichen und Wegrennen zu haben. Eine Hand ballte sich zur Faust und prallte mit der Energiewand zusammen. Pantimos schlug bloß nach Luft. Es gab keinen Einschlag und folglich kein Geräusch, kein Splittern, gar nichts. Doch der Zuschauer beobachtete deutlich, wie die Barriere in dutzende, kleine Scherben zersprang und dann wieder langsam, träge und schwerelos durch den Raum zu schweben begann. Einige davon erreichten die vorderen Reihen der Tribüne, doch als die Menschen danach zu greifen versuchten, lösten sie sich mit einem schwachen, bläulichen Funkeln auf.
Pantimos fühlte die nächste Wand auf seinen Rücken zielen. Natürlich, es lenkte sie ja selbst. Mit einer Drehung auf dem Fußabsatz wich es aus uns ging flüssig in einen Schlag mit der Handkante über, der die Wand in der Mitte spaltete und weitere, leuchtende Scherben in der Luft zerstreute. Der nächsten ging das Psychopokémon sogar einen Schritt entgegen und ließ sie an seinem Handballen zerschellen. Das Spiel ging noch einige Sekunden so weiter, in der Pantimons jedoch mehr und mehr überfordert schien, da es kein Ende nehmen wollte. Und als es dann für einen Moment doch so schien, als seien alle Energiewände zerschlagen worden, blickte es sich skeptisch um. Nur einen Atemzug später schien die Zeit zurückgespult zu werden und die aber dutzenden Splitter in der Luft nahmen nicht nur wie durch Zauberhand wieder ihre ursprüngliche Form ein, sondern bildeten ein geschlossenes Gefängnis um Pantimons herum. Es mimte das Opfer in der Falle, sah sich nervös um und hämmerte schließlich gegen die Wand, die plötzlich hell aufzuleuchten begann, sodass bald nur noch die Silhouette des Pokémons zu sehen war. Aufgeregtes Raunen durchzog vereinzelt die Massen und alle Augen, selbst die marineblauen von Ryan, hatten scheinbar alles um sie herum ausgeblendet.
„Teleport“, erschallte es urplötzlich mit der weichen Stimme von Hendricks im Hintergrund. Nur eine Sekunde später zersprang das leuchtende Gefängnis, diesmal mit einem lauten Knall, wieder in Scherben. Doch von Pantimos fehlte jede Spur. Allerdings nur, bis ein einzelner Suchscheinwerfer den bis dato im verdunkelten Hintergrund gebliebenen Koordinator erfasste, der eine ausholende Bewegung vollführte. Pantimos stand genau neben ihm und imitierte diese. Gemeinsam gingen sie in eine Verbeugung über.
Jubel entbrannte und ohne es im ersten Moment zu realisieren, klatschte auch Ryan durchaus etwas euphorisch in die Hände. Er lehnte sich lächelnd in seinen Sitz zurück und suchte den Blick Melodys, die gar zwei Finger in den Mund nahm, um laut zu pfeifen. Man konnte es dem Publikum ohne weiteres entnehmen, dass Jordon Hendricks bislang eindeutig die beste Show abgeliefert hatte und die Jury bestätigte das rasch. 27 von 30 möglichen Punkten las man an deren Pult.
Miriam stimmte geradezu frohlockend ein.
„Wow, wow und noch einmal wow. Eine derart kreative Darbietung mit schauspielerischer Untermalung habe ich lange nicht gesehen. Meine Damen und Herren, Jordon Hendricks und Pantimos – ich darf um Applaus bitten!“
Dieser hatte noch nicht einmal nachgelassen, doch die Menge legte noch eine Schippe drauf. Das waren schon eher Reaktionen und vor allem Auftritte, die Ryan sich erhofft hatte. Pantimos hatte ihnen allen einen stummen, dramatischen Thriller vorgespielt und dabei wahnsinnige Beherrschung von Körper und Geist gleichzeitig demonstriert. Er war sehr neugierig, wie lange es gedauert hatte, diese Techniken zu erlernen und derart zu perfektionieren. Und auch die von Miriam angepriesene Kreativität verdiente durchaus Achtung.
Plötzlich spürte Ryan einen geradezu krampfhaft festen Griff an seiner Schulter. Melody stand mit weit offenem Mund und ebenso weit aufgerissenen Augen da und krallte sich in seine Jacke.
„Mir schlägt das Herz bis zum Hals“, ließ sie ihn wissen. Diesmal pflichtete er jedem ihrer Worte bei.
Die beiden darauffolgenden Darbietungen vermochten weder das Publikum im Allgemeinen, noch Melody und vor allem Ryan im Besonderen wirklich beeindrucken. Nach dem Auftritt von Hendricks und Pantimos konnte man aber auch fast nur noch abstinken. Sei´s drum, es galt ja bloß noch einen letzten Kandidaten zu ertragen, bevor man sich den Kämpfen widmen konnte. Da die ja etwas anders abliefen, konnte sich Ryan einer gewissen Skepsis nicht entziehen, doch nachdem er hier bis auf wenige Ausnahmen im Großen und Ganzen betrachtet eher schlecht unterhalten worden war, würde nur ein bisschen Action bereits genug sein, um seine Laune zu heben. Das war ein bisschen, als bekäme man ein zähes Steak vorgesetzt, nachdem man sich tagelang nur von Trockenbrot ernährt hatte.
Miriam, die ihrer Verzückung scheinbar kaum entkommen konnte, kündigte besagten letzten Teilnehmer bereits an. Der junge Trainer fragte sich, ob sie das jedes Mal bloß spielte oder wirklich so begeistert war.
„…also halten sie sich für ein letztes Mal in unserer ersten Runde gut fest und begrüßen sie mit einem mächtigen Applaus Mila Montéra!“
Ryan und Melody blinzelten für einen Moment, als hätte man ihnen gerade etwas Unglaubliches, geradezu Wahnwitziges erzählt und sie sich selbst dabei erwischt, wie sie es beinahe doch für voll genommen hätten. Das sollte auch nicht allzu überraschend sein, wenn sie hier, bei einem öffentlichen Wettbewerb unverhofft den Namen Mila hörten. Dennoch war es etwas peinlich und Ryan fuhr sich gleich mit der Hand über die Stirn. Aber es wäre schließlich undenkbar, dass die Drachenpriesterin hier als Teilnehmerin auftauchte. Der Name war zwar nicht allzu sehr verbreitet, doch sicher ließen sich in ganz Hoenn mindestens ein paar Dutzend Frauen mit diesem…
„Ich glaub ich träume“, murmelte Melody konsterniert. Als Ryan aufsah, war er ziemlich sicher, seinen eigenen Augen selten mehr misstraut zu haben, als in diesem Moment. Sie war es!
Ein Mensch hätte – aus welchem Grund auch immer – die eleganten Stiefel, den schwarzen Mantel mit dem weinroten Innenfutter und selbst den langen Handschuh am rechten Arm zwar kopieren können. Aber nicht die golden glänzende Haarpracht, die wie ein sanfter Schleier hinter ihr her schwang und den Hüftschwung ihres erhabenen Ganges nachahmte. Kaum war sie in der Mitte der Bühne angekommen, suchten ihre himmelblauen Augen nach ihren beiden. Wobei von einer wirklichen Suche nicht die Rede sein konnte. Es war eher so, dass sie die beiden sofort gefunden hatte und ihnen dieses Lächeln schenkte, das Ryan in der Frühphase ihrer Bekanntschaft so gehasst hatte. Und ja, jetzt gerade wollte es ihm auch nicht gefallen. Er fühlte sich nämlich ein bisschen verhöhnt, da er meinte, sie genieße ihre fassungslosen Blicke. Dabei wusste er genau, dass so etwas unter ihrem Niveau und generell nicht ihre Art war.
„Die Frau hat sie doch nicht mehr alle“, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, sodass ihn selbst Melody nur geradeso hören konnte. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte, dieses törichte – er lieh sich eines von Sheilas Lieblingswörtern hier sehr bewusst aus – Handeln zu kritisieren. Sicher konnte man jetzt argumentieren, dass es nirgends so sicher war, wie auf einer Bühne mit tausenden Augenpaaren auf sich ruhend, sodass niemand unbemerkt an sie herankommen könnte. Doch so viel verstand selbst Ryan von Attentaten, dass er solche Leute als leichtsinnige Idioten abstempeln konnte. Eben weil alle Augen gerade Mila fixierten wäre es ein Leichtes, von irgendeinem Punkt fern der Aufmerksamkeit aus, auf sie zu zielen. Ryan hatte selbst schon bezeugen müssen, dass manche Mitglieder von Team Rocket Schusswaffen trugen. Unter dem Hallendach war es sehr dunkel und warum sollte irgendein Zuschauer nach oben sehen?
Doch so dumm und fahrlässig Ryan ihr Auftreten beurteilte, konnte er sich eines bestimmten Gefühls nicht erwehren. Es war da, obwohl er sich vehement dagegen auszusprechen versuchte, sich überzeugen wollte, dass seine erste Meinung dazu die einzig korrekte war. Doch tatsächlich musste er gestehen, dass Mila bislang nie etwas Unüberlegtes getan hatte oder unnötige Risiken eingegangen war. Zumindest nicht soweit er wusste. Er schätzte kurz ein, wie hoch die Chance war, dass Team Rocket ausgerechnet hier einen Angriff auf sie wagen würde, sowie die Chance, dass Sheila hier ungesehen untertauchen und doch rechtzeitig eingreifen konnte. Sein Kopf drehte sich und er inspizierte aus dem Augenwinkel die oberen Ränge. Hatte da war gefunkelt? Etwas Helles, fast Leuchtendes? Moment. Hatte er das nicht vorhin schon einmal gedacht?
Das Licht erlosch. Mit einem Mal war es finster im Saal. Ryan erschrak ein wenig und befürchtete schon, jetzt würde ein Angriff folgen. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass nichts dergleichen geschah. Mila begann bloß mit ihrer Vorführung. Ein wenig verärgert über das beschissene Timing biss sich Ryan auf die Unterlippe und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Unter diffusen Lichtverhältnissen würde er nichts und niemanden ausmachen können. Doch er war nun fast sicher, dass jemand hier nicht wegen des Wettbewerbes gekommen war.
Dunkelblaue und violette Lichtstrahlen zogen über der Bühne ihre Kreise und bestrahlten künstlich erschaffenen Nebel. Abwechselnd ließen die mythisch, fast gespenstisch anmutenden Lichter eine menschliche Silhouette in ihm erscheinen. Die Stimmung war plötzlich eine ganz andere. Es war, als stünde ein grausiges Ereignis bevor und keiner wagte, als erster einen Mucks zu machen. Alle hielten den Atem an. Mit zwei festen Schritten trat Mila schließlich aus dem Nebel hervor, ließ den Kopf etwas hängen, sodass ihr Haar das Gesicht verbarg und ließ ihren Mantel ungewohnt lasch über ihren Schultern hängen. Noch hatte sich kein Pokémon zu ihr auf die Bühne gesellt. Ryan konnte seine Neugier, womit sie denn hier antreten würde, kaum in Worte fassen. Besaß sie denn überhaupt ein Pokémon? Im Sinne von: mit einem Pokéball gefangen? Ryan wusste bislang nur von ein paar Exemplaren, die sie Freunde nannte, allerdings in freier Wildbahn lebten und gehen konnten, wohin sie wollten.
Nun passierte etwas. Mila ließ ihr Haupt einmal kreisen, bis ihr Kopf im Nacken lag und dehnte zusätzlich den Rücken weit zurück. Gleichzeitig wanderte ein Arm nach oben, bis er kerzengerade in die Luft zeigte und ihre Hand nach etwas Unsichtbaren zu greifen schien. Ein verräterisches Zappeln ihres Ärmels ließ bereits erahnen, was sie sich für diesen Auftritt ausgedacht hatte. Ein kleines, schwarzes Etwas entschlüpfte Mila´s Mantel und flog flink ihren Arm wie an einer Spiraltreppe herunter, ehe es für einen kurzen Augenblick hinter ihr verschwand und sich über ihrem Kopf endlich dem Publikum zeigte. Es war das Zwirrlicht, das Ryan bei ihrer ersten Begegnung gesehen hatte. Ein Handballgroßer Geist mit schwarzem Zipfel und einer Totenkopfmaske, in deren Höhlen blutrote Augen glühten.
Vermutlich war dies nicht ganz, was sich viele der Zuschauer bei dieser aufgebauten Atmosphäre erwartet hatten, doch nach wie vor machte niemand einen Ton. Selbst Miriam hielt kompromisslos den Schnabel und ihre Augen hafteten nicht weniger eisern an dem Geschehen auf der Bühne.
Der Nebel hatte sich mittlerweile bis über die vorderen Sitzreihen ausgebreitet, war jedoch nicht so dicht, dass er den Blick der dort platzierten Fans behinderte. Mila sagte kein Wort. Ihr einziger Befehl äußerte sich in einer simplen Geste. Mit einer weit ausholenden Handbewegung bedeutete sie ihrem Partner eine Richtung, nämlich geradewegs ins Zentrum der Menschenmassen vor ihnen. Ein alarmiertes Raunen ging durch ihre Reihen, als Zwirrlicht plötzlich im Nebel untertauchte, wodurch nur noch ein dunkler Schatten seine Position mutmaßen ließ. Der schien sich auf einmal zu duplizieren. Erst drei, dann fünf… und dann wurden sie auch noch größer!
Wahrscheinlich reagierten in den folgenden Sekunden alle Zuschauer gleich – ein skeptisches Runzeln der Stirn, auf welches bis auf´s Äußerste geweitete Augen folgten, da die Schatten wie Tohaido aus dem Wasser die Oberfläche durchbrachen. Jeder von ihnen imitierte schemenhaft die Gestalt von Zwirrlicht und öffnete das Maul unrealistisch weit, als wollten sie dutzende Menschen auf einmal verschlingen. Tatsächlich fielen die allermeisten unter ihnen auf die geisterhafte Illusion herein, da – besonders unter der weiblichen Besucherschaft – teils lautes Gekreische ertönte. Doch die Schatten-Zwirrlichts verpufften wie der Nebel, dem sie entstiegen waren und von dem kleinen Geisterpokémon war nichts zu sehen. Für einen Moment jedenfalls. Die meisten hatten es wohl erst spät bemerkt, dass sich in besagtem Nebel die markante Totenkopfmaskeauf dem Boden abbildete. Jedoch erkannte sie wirklich erst dann jeder einzelne, als der Nebel an zwei Punkten auseinander stob, quasi die Augenhöhlen bildete und in jenen zwei helle, bläuliche und nicht etwa rote, Flämmchen aufflackerten. War das Irrlicht?
Im Hintergrund erkannte Ryan wirklich nur geradeso und nebenbei, wie Mila erneut mit den Händen gestikulierte, während ihre Augen nach wie vor verdeckt waren. Ihre Hände deuteten etwas an, als greife sie vorsichtig mit je zwei Fingern nach etwas Kleinem und werfe es in die Luft. Daraufhin lösten sich die Irrlichter plötzlich aus den Höhlen und stiegen, flott umeinander kreisend in die Höhe. Waren da Stimmen? Tatsächlich!
Von dem visuellen Schauspiel ganz und gar eingenommen hatte Ryan sie wahrscheinlich nicht gleich bemerkt und auch wenn er das nicht mit Sicherheit wissen konnte, war er bestimmt nicht der Einzige. Es klang wie ein kindisches, aber doch irgendwie boshaftes Kichern und sowie es unüberhörbar geworden war, zeichneten sich gespenstische Mimiken in den Flammen ab. Zunächst schienen sie nur einander zu beachten, ehe sie sich dann doch, mit einer blitzschnellen Drehung und einem Grinsen, das böse Absichten erahnen ließ, dem Publikum zuwandten. Bevor sie tatsächlich etwas unternahmen, bedeutete Mila allerdings mit einer Hand, die Finger weit gespreizt, dem vernebelten Schädel auf dem Boden, sich zu erheben. Was aus den Schleiern emporstieg war jedoch kein Gebilde aus Nebel, sondern nicht weniger als ein Zwirrlicht, dessen Größe überraschenderweise selbst Ryans Despotar in den Schatten stellte. Es riss, wie die zuvor seine Illusionen, das Maul weit auf und verschluckte die Irrlichter.
Mila hatte die Hände ineinander gefaltet und riss sie nun gewaltsam auseinander, während ihr Kopf weit nach unten fiel. Gleich darauf schien es, als wollten die blauen Flämmchen aus dem Geisterkörper ausbrechen. Doch warum waren es plötzlich so viele? Auf die Schnelle konnte Ryan die blauen Flammengeister nicht zählen, die sich schemenhaft in dem halbdurchsichtigen Geisterleib tummelten, doch es waren sicher sieben oder acht Stück. Sie durchstießen Zwirrlichts Seiten und waren doch unfähig, sich von ihm zu lösen. Schrien, kreischten, jaulten, wie Gefangene, die in einem Wahn zu fliehen versuchten, doch wurden sie immer wieder in den schwarzen Körper hineingezogen. Im Hintergrund war Mila dazu übergegangen, sich immer und immer wieder auf dem Absatz um die eigene Achse zu drehen, die Arme noch immer ausgebreitet. Zwirrlicht machte es ihr nach. Sein Körper begann zu rotieren und finstere Nebelschwaden abzusondern, die bald einen stürmischen Wirbel um es herum bildeten. Es wehte kein Wind im Saal und es zerrte keine Böe an Kleidern und Haaren. Doch vor ihnen wurden die blauen Flammengeister nun letztlich doch durch diese Macht aus Zwirrlichts Körper gerissen und waren in diesem Strudel aus Schwarz, Blau und Violett gefangen. Unter den Zuschauern war es längst laut geworden. Manche ließen sich noch immer durch das unheimliche Schauspiel und die Illusionen verängstigen. Andere wurden unruhig oder aufgeregt und wieder andere auf eine doch etwas makabre Art fasziniert.
Mila drehte sich weiter, begann nun jedoch die Arme nach oben wandern zu lassen, während ihr Haar und ihr Mantel durch die Bewegung weite Schwünge machte. Der riesige Geisterkörper zog den Strudel enger, bis er am unteren Ende gar völlig Spitz war und für einen Moment stark an einen Tornado anmutete.
Und da kam Mila plötzlich zum Stillstand, woraufhin besagter Tornado in Windeseile schrumpfte, schmaler wurde und die Laute der Flammengeister verebbten. Alles zog sich zusammen und versank im noch immer am Boden wabernden Nebel, bis urplötzlich Zwirrlicht – nun wieder in gewohnter Größe – aus ihm entschlüpfte und den Strudel aus seiner eigenen Illusion, der mittlerweile nur noch Armlänge besaß, abermals verschluckte.
Auf einen Schlag war der Spuk vorbei. Stille. Ruhe. Offenstehende Münder unter den Zuschauern.
Und Zwirrlicht? Der kleine Geist schien plötzlich so unschuldig, als könne er kein Wässerchen trüben und schraubte sich noch einmal spiralförmig in die Höhe, um dann langsam und sachte auf Mila´s Schulter herabzuschweben, die in eine Tiefe Verbeugung übergegangen war. Beide Beine gestreckt und überkreuzt, den Oberkörper weit und tief nach vorne gebeugt und die Arme vom Körper gespreizt. Das Licht erlosch.
Für wenige Sekunden war es stockfinster im Saal. Doch noch bevor das Licht ihn wieder erhellte, brach ausnahmslos jeder in tosenden Applaus aus. Jeder, aber auch jeder einzelne auf den Rängen klatschte und jubelte, als habe sich Arceus persönlich ihnen gezeigt. Nur einer stimmte dem etwas später ein – Ryan. Hinterher würde er den Blick, mit dem er auf Mila herabgesehen hatte, wohl als extrem peinlich einstufen. Doch für diesen einen Moment war er ihr allergrößter Fan. Das war… spektakulär gewesen. Brilliant, umwerfend, faszinierend. Ein Kunstwerk!
Als er aus seiner Starre erwachte, war er der erste, der sich von seinem Sitz erhob und stehend seine Begeisterung bekundete. Der Reihe nach gesellten sich ausnahmslos alle Zuschauer mit dazu. Keiner saß mehr. Alle gaben sie stehende Ovationen für Mila und Zwirrlicht. Selbst die Jury, pflichtete dem bei. Und Miriam kam aus ihrer Begeisterung überhaupt nicht mehr heraus, überhäufte die beiden mit Lobeshymnen, von denen jedoch kaum ein Wort zu Ryan durchdrang. Dafür war der Lärm zu überwältigend.
Es wäre keine Übertreibung, wenn Ryan diesen Auftritt als eines der famosesten Schauspiele bezeichnete, dem er beigewohnt hatte, seit er mit Pokémon arbeitete. Ähnlich wie vorhin Hendricks mit seinem Pantimos, wurde hier nicht bloß ein Kunststückchen vollzogen. Zwirrlicht hatte sie alle gefesselt, gepackt, ihnen bewiesen, dass in diesen kleinen Geist deutlich mehr steckte, als das eher unscheinbare Äußere vermuten ließ. Es hatte ihnen seine Seite des Schreckens gezeigt, wenn man so wollte und ihnen ein Schauermärchen in Kurzformat gespielt. Und das alles ohne eine verbale Anweisung von Mila.
Weit in den hinteren Reihen gab es eine einzelne Person, die sich der allgemeinen Begeisterung jedoch nicht anschließen wollte. Sie lehnte tief in ihrem Sitz und hatte die Beine überschlagen. Eine Hand wanderte unter ihre Weste, um einen verchromten Flachmann zutage zu fördern. Nun, da alle mit ihrem Jubel beschäftigt waren, konnte sie endlich wieder für einen Moment ihren Brand stillen. Das heiße Gefühl in ihrer Kehle war wohltuend, lenkte ab von dem in ihrer Brust sowie dem Kribbeln in ihren Händen. Zwei bernsteinfarbene Augen stachen durch die Meute hindurch direkt auf Mila. Sie fing ihren Blick auf und lächelte hämisch. Sie wusste, dass sie beobachtet wurde. Nun, Bella hatte ohnehin nicht vorgehabt, hier zuzuschlagen. Hätte sich eine jedoch Gelegenheit geboten, so hätte sie diese ergriffen. Doch das wäre in dieser Position unklug, wie sie zu gut wusste. Dieser Ryan hatte zwar einen Verdacht, so wie es den Anschein hatte, kannte aber ihr Gesicht nicht. Hatte vermutlich bloß ihre leuchtenden Augen beiläufig bemerkt. Ein anderes Paar spürte Bella stetig auf sich selbst ruhen. Versteckt über ihnen, in der Dunkelheit unter dem Hallendach. Ein paar Augen von rubinroter Farbe.
Nach diesem furiosen Finale der Qualifikationsrunde war eine dreißigminütige Pause angesagt worden, in der die allermeisten Besucher ihren Platz verließen, um im Rundlauf Hunger und Durst zu stillen oder sich erleichtern zu gehen. Unnötig zu erwähnen, dass Mila, wie zuvor noch verkündet, den ersten Rang belegt und außerdem die maximale Punktausbeute vorzuweisen hatte. Umso mehr würde es alle verwundern, dass sie Mila kein zweites Mal würden sehen können. Während die glücklos ausgeschiedenen Koordinatoren ihre Sachen packten und die übrigen Halbfinalisten sich auf die nächste Runde vorbereiteten, war sie unbemerkt durch einige leere Flure und schließlich durch eine Seitentür ins Freie gelangt. Fern der Menschenmassen und der Hauptstraße.
Doch, so unverhofft es auch war, wurde sie dennoch erwartet.
„Mila Montéra?“, erkundigte sich eine junge, männliche Stimme bezüglich ihres Namens.
Ryan hatte die Arme verschränkt und schien erwartungsvoll, während Melody lächelnd und die Hände auf dem Rücken gefaltet, hinter ihm hervorlugte.
Mila war für einen winzigen Moment überrascht, hatte den Mund leicht offen und war in der Bewegung erstarrt. Fast hätte Ryan es nicht bemerkt, so rasch ging sie in ihre übliche Haltung über und lächelte ihrerseits.
„Es ist nicht mein echter Zweitname, falls Ihr euch das fragt. Nennt mich weiter so, wie ihr mich kennt.“
Sie überwand die paar Meter, die zwischen ihnen lagen mit entspannten Schritten und ohne sich eine Blöße zu geben, in Bezug auf die Attentäterin, die ohne Zweifel im Publikum gesessen hatte.
„Eure Gabe beweist sich mir erneut, wenn Ihr ahnen konntet, dass ich hier vorbeikommen würde.“
Ryan ging gar nicht darauf ein. Sein Lächeln war eher schwach, vertuschte zumindest ein bisschen die Enttäuschung.
„Du gehst vorzeitig?“
Es war doch sehr ironisch, dass er plötzlich sehr gespannt auf den weiteren
Verlauf dieses Wettbewerbes gewesen war, hatte dieser ihn doch bis vorhin nur mäßig
begeistert.
„Das war von Beginn an meine Absicht gewesen.“
„Wieso das?“, erkundigte sich nun Melody, die es ebenfalls sehr bedauerlich fand, dass Mila in der zweiten Runde nicht antrat.
Ganz so einfach würde die Drachenpriesterin diese Frage leider nicht beantworten können. Kurz vor der Eröffnung hatte sie sich eben diese noch selbst gestellt. Vermutlich waren es mehrere Gründe, warum sie überhaupt teilgenommen und das Paar dann auch noch zum Kommen bewegt hatte. Die simpelste Begründung wäre wohl, ihnen einen erholsamen Tag miteinander zu schenken, an dem sie miteinander Zeit verbringen und sich von dem mentalen Druck der jüngsten Vergangenheit erholen konnten. Doch da gab es noch etwas Wichtigeres. Etwas, dass sie Ryan hatte zeigen wollen.
Ryan arbeitete unglaublich zielstrebig mit seinen Pokémon. Das hatte sie zuletzt mehrfach bezeugen können. Doch seine Einstellung war dabei manchmal etwas zu verbissen, wie Mila fand. Er redete sich dauerhaft selbst ins Gewissen, er müsse Erfolge erzielen. Damit waren nicht zwingend Siege in Arenen oder bei Turnieren wie dem anstehenden Summer Clash gemeint. Selbst wenn er nur trainierte, war er nicht eher zufrieden – und auch nie mehr als bloß zufrieden –, bis er nicht das Gefühl hatte, irgendetwas an sich oder seinen Pokémon verbessert zu haben. Er war ein Arbeitstier und ein wenig schämte Mila sich dafür, nie so offen darüber mit ihm gesprochen zu haben, wenn sie ihm zugesehen hatte. Man konnte so viel freier und unbeschwerter mit ihnen arbeiten. Ohne Leistungsdruck einfach die Zeit genießen. Doch immer nur hatte sie die positiven, lobenden Worte ausgesprochen. Sheila würde das vermutlich verurteilen und als Verhätschelung betiteln. Natürlich würde sie das. Mila tat es ja quasi selbst.
Ryan und Melody vermuteten bereits, vergeblich auf eine Antwort warten zu müssen, da lenkten ein paar feste, stramme Schritte hinter ihnen die Aufmerksamkeit auf sich. Milas Brauen zuckten Böses ahnend nach oben. Sie rechnete bereits fest damit, dass Bella nun hinter ihnen auftauchen würde, doch rasch erkannte sie, dass das unmöglich war. Sie würde niemals so offen angreifen und sich unbehelligt zeigen, bevor nicht ein paar Messer im Körper ihres Ziels steckten.
Im bald dämmernden Tageslicht trat ein Mädchen mit nachtblauem Haar, das ihre untere Gesichtshälfte mit einem Schal verhüllte und sie aus funkelnden Augen mit rubinroter Farbe ansah. Sie stemmte einen Arm in die Hüfte und streckte selbige heraus.
„Es wird höchste Zeit, aufzubrechen.“
Während Ryan und Melody die Stirn runzelten, seufzte Mila bloß niedergeschlagen. Sie erntete fragende Blicke und erwiderte mit einem, der bereits jetzt um Vergebung bat.
„Holt bitte Eure Habseligkeiten aus eurer Unterkunft. Wir verlassen die Stadt.“
„Jetzt?“
Nicht, dass es grundlegend zu spät am Tage war, um das zu tun, aber es erschloss sich keinem von beiden der Grund. Wie auch? Es war ja keiner genannt worden.
Ryan spürte plötzlich den kalten und schmerzlich festen Griff Sheilas am Oberarm und fand ihr Gesicht deutlich näher an seinem, als ihm lieb war. Sie wirkte so nahe einfach noch bedrohlicher und er wurde ohnehin durch alle Dinge verunsichert, die sie normalerweise nie tat. Hierzu zählte Nähe definitiv.
„Tu es einfach, wenn du hier kein Gemetzel erleben willst.“