Jetzt ist schon wieder ein Jahr rum und auch wenn es etwas spät kommt, wünsche ich allen ein gutes Jahr 2016.
Ich muss feststellen, dass ich im vergangenen Jahr nicht so produktiv gewesen bin, wie ich´s gern gewesen wäre. Viel zu viele Sachen bedurften meiner Aufmerksamkeit und manche Hobby kamen einfach kurz. Daumen drücken, dass es dieses Jahr besser wird und dass ihr nach wie vor Spaß am Zorn des Himmels haben werdet.
Das neue Kapitel ist eines, auf das ich mich schon zu Zeit der Planung dieser FF sehr gefreut hatte. Ich hatte dabei nicht nur riesigen Spaß, ab einem gewissen Punkt schrieb es sich fast wie von selbst. Und nebenbei ist es für mehrere Eckpunkte dieser Geschichte ein sehr wichtiges Kapitel. In diesem Sinne viel Spaß damit.
Kapitel 19: Konfrontation
Der
Mensch konnte wahrlich träge sein. In diesem Fall war er es
allerdings ob der enormen Erschöpfung des Körpers kaum möglich,
dem einen Vorwurf zu machen. Bestimmt schon eine halbe Stunde drang
sanftes Zwitschern fröhlicher Vogelpokémon an sein Ohr. Er
ignorierte es stur und drehte sich in den weißen Laken seiner
Schlafstätte, um die erheiternden Sonnenstrahlen an seinem Rücken
abprallen zu lassen. Sie wärmten ihn selbst durch seine Decke und
luden zum müden Verweilen an Ort und Stelle ein. Eigentlich war er
schon längst aus seinen Träumen erwacht, doch seine Augenlider
wollten sich einfach nicht bewegen und so richtig war Andrew auch
nicht danach, sie zu öffnen. Einfach noch etwas weiterschlafen. Das
wär´s jetzt. Doch es war bereits zu spät. Wenn er einmal wach war,
schlief er nicht so schnell nochmal ein. Angesäuert von dieser
Tatsache schoss er plötzlich in seinem Bett nach oben und raufte
sich die zerzausten Haare.
„Verdammt,
knips mal jemand die Sonne aus!“
Das
jemand sogleich auf diesen Ausruf antworten würde, hatte Andrew
nicht erwartet, obwohl er im Grunde Dauerbesuch hatte.
„Wenn
ich das könnte, hätte ich´s schon auf dem Floß gemacht.“
Ryan
erwachte selbst gerade und murmelte seine Worte ebenfalls noch
schlaftrunken von einem temporär in der Ecke des Raumes platzierten
Drehstuhls aus in Richtung Krankenbett. Er verbrachte seit ihrer
Ankunft im Krankenhaus von Faustauhafen – was nun zwei Tage zurück
lag – einen Großteil seiner Zeit in diesem Zimmer. Natürlich
schlief Ryan hier nicht. Doch er kam schon in aller Früh hierher, um
nach seinem besten Kumpel zu sehen. Da dieser noch fest im Land der
Träume gewandelt war, hatte er die Gelegenheit einfach genutzt,
selbst noch etwas zu dösen. Andrew hatte seinen Hitzschlag gut
überstanden, obwohl er bei Ankunft einige Stunden ohnmächtig
gewesen war. Sein Körper war noch geschwächt, weswegen er auf
Anweisung des behandelnden Arztes erst morgen entlassen werden
konnte. Typische Vorsichtmaßnahme der Mediziner.
„Wie
geht’s dir so?“
„Müde.“
Ryan
schmunzelte, schüttelte gleichzeitig jedoch fassungslos den Kopf.
„Und
abgesehen davon?“
„Jetzt
frag doch nicht dauernd, Ryan. Ich hatte weder einen Herzinfarkt noch
einen Schlaganfall. Mach nicht so´n Wind.“
„Dafür
hatte ich fast beides“, beteuerte Ryan und hob die Stimme dabei ein
wenig. Wollte er etwa darauf hinaus, dass seine Sorge unberechtigt
war? Ob Hitzschlag oder Herzinfarkt – unbehandelt war man hinterher
genauso tot.
„Du
weißt doch, dass ich Mitleid hasse.“
„Deswegen
kriegst du auch keins von mir. Aber du brauchst nicht den Starken zu
markieren, wenn du beinahe draufgegangen wärst.“
Andrew
ließ sich in die Federn zurückfallen und drückte sich das
Kopfkissen über die Augen. In erster Linie tat er dies, um sich vor
der Diskussion mit Ryan zu flüchten. Dass die Rolle des Erwachsenen,
der einem kleinen Jungen etwas Offensichtliches eintrichterte,
zwischen ihnen ständig wechselte, war nichts Ungewöhnliches und
sobald er wieder auf den Beinen war, würde so etwas auch keine Rolle
mehr spielen. Das war allerdings kein Grund für Andrew, solche
Belehrungen nicht scheiße zu finden. Auf der anderen Seite hatte es
wohl keinem von beiden jemals geschadet.
„Wie
spät haben wir´s?“
„Gleich
halb elf“, antwortete Ryan nach einem kurzen Blick auf das
Ersatzgerät für seinen defekten Pokégear. Ein vergleichbares Gerät
konnte man eh nicht auf die Schnelle auftreiben. Die musste man meist
bestellen und liefern lassen. Nach Hause verstand sich, sowie mit
enormer Wartezeit, weshalb er nun ein Outdoor-Handy mit sich führte.
Es war deutlich robuster gegen Stoßeinwirkung, absolut wasserdicht
und neben Videoanruf- und Kartenoptionen auch mit GPS, Taschenlampe
und weiteren Optionen für Notfälle ausgestattet. Ein erstklassiges
Gerät für Reisende in der Wildnis.
Mit
einem undefinierbaren Murren nahm Andrew die Information zur
Kenntnis. Dann herrschte einige Momente lang Stille, was die
Überleitung zu einer ernsteren Atmosphäre bildete. Das betroffene
Schweigen war in den letzten 48 Stunden immer ein Zeichen dafür
gewesen, dass die Gedanken bei einem Freund waren, dem es sogar noch
schlechter ergangen war als den beiden Trainern.
„Gehst
du dann nach Dragonir sehen?“
„Mhm.“
Dragonir
war gleich nach Ankunft der beiden zusammen mit all ihren anderen
Pokémon ins Pokémoncenter geschickt worden. Dort hatte es mehrere
Stunden auf der Intensivstation verbracht und die folgende Nacht
unter ständiger Beobachtung gestanden. Am nächsten Morgen hatte
Schwester Joy Entwarnung gegeben. Die Blutung sei gestoppt und es
bestünde keine Lebensgefahr, solange es so bleibt, hatte sie
berichtet. Selbstverständlich musste es zur Erholung noch einige
Zeit die Krankenstation hüten, doch die Erleichterung bei Ryan und
Andrew, der zu diesem Zeitpunkt ebenfalls das Schlimmste hinter sich
gehabt hatte, war gigantisch gewesen.
Die
jungen Trainer sprachen nicht weiter. Der guten Nachricht zum Trotz
war die Stimmung noch immer gedrückt, wenn Dragonirs Zustand zur
Sprache kam. Die Erinnerungen sowie die Vorstellung, was hätte
passieren können – was beinahe passiert wäre! – machten es vor
allem für Andrew schwer, darüber zu reden. Nachdenklich sah er nun
aus dem geöffneten Fenster. Das Wetter war prachtvoll. Die Sonne
strahlte, vereinzelte, kleine Wolken zogen am Himmel und die Pokémon,
die ihn zuvor mit ihren morgendlichen Gesängen aus dem Schlaf
gerissen hatten, zwitscherten munter weiter. In der ersten Nacht hier
hatte es Sturm gegeben und somit wenig Schlaf für Andrew, da ihn
prasselnder Regen auf den Fensterscheiben sowie grelle Blitze und
krachender Donner nicht zur Ruhe hatten kommen lassen.
Ryan
registrierte Andrews abwesenden Blick und Gemütszustand, weshalb er
beschloss, ihn nicht weiter zu stören. Er nahm sich seine neue Jacke
vom Stuhl und warf sie über. Er hatte an seiner dominanten
Kleidungsfarbe festgehalten und sich für ein moosgrünes Sweatshirt
mit Reißverschluss und Stehkragen entschieden. Es hatte ihm auf
Anhieb zugesagt, da sie auf Höhe von Brust und Taille mehrere
Taschen mit Reißverschluss besaß, in denen er viele Habseligkeiten,
die immer griffbereit sein mussten, verstauen konnte. Portemonnaie,
Pokédex, Handy, Taschenmesser, solche Sachen eben. Und zu jenen
Habseligkeiten gehörte auch der grüne Orb.
Aufgrund
des freundlichen Wetters trug Ryan das neue Kleidungsstück offen und
offenbarte darunter sein dunkelgraues Shirt, das leicht surreale
Schatten der berühmtesten Bauwerke seiner Heimatstadt zeigte. Da er
sein Cappy verloren hatte, präsentierte Ryan seinen blonden Schopf
nun unbedeckt. Seine Haare wurden für seine Verhältnisse allmählich
etwas lang, reichten bald gänzlich über die Ohren, doch er
entschied sich dazu, sie zur Abwechslung mal wachsen zu lassen. Unter
der Kopfbedeckung hatte er einen eher kurzen Schnitt bevorzugt, doch
nun war ihm einfach nach etwas Neuem. Wohl auch deshalb, da er
bereits in mehreren Geschäften nach einer neuen Mütze gesucht hatte
und ihm keine hatte gefallen wollen.
Auf
dem Weg ins Erdgeschoss des vierstöckigen Gebäudes drifteten seine
Gedanken zu Dragonir, aber auch Hydropi und ihrer beider restlichen
Pokémon. Er dachte an die ganze Bande, die bei ihm zu Hause eine
glückliche und sorgenfreie Zeit genossen und in kameradschaftlichen
Wettkämpfen ihre Kräfte maßen. Er dachte an seine Mutter, die
liebevoll für sie alle sorgte und das neben ihrem Beruf als
Hotelmanagerin. Bald würde die Touristensaison am Silberberg
beginnen und ihr folglich viel Arbeit und Stress ins Haus schleppen.
Hoffentlich überarbeitete sie sich nicht wieder.
Der
Gedanke daran, sie alle nie wieder sehen zu können, gehörte zu den
größten Ängsten, die Ryan in seinem Herzen trug. Vor seinem
inneren Auge erschien sie. Eine aufgeschlossene und taffe Frau in
dunkelblauer Hoteluniform und das lockige, schwarze Haar zu einem
Zopf gebunden, der ihren Nacken kitzelte. Und dann einmal in
einfacher Jogginghose und lässigem Trägertop. So, wie sie sich nur
ihren eigenen vier Wänden zeigte. Wie sie die bereits geduldig
wartenden Pokémon im großen Areal hinterm Haus fütterte, mit
einigen von ihnen – darunter ihr persönlicher Liebling, Vulnona –
spielte und belustigt ihre Duelle beobachtete. Ryan wünschte sich,
er wäre jetzt bei ihnen. Das geschah nur sehr selten, doch nun, wo
er sich bewusst wurde, dass er all das beinahe verloren hätte,
fühlte er sich allein. Schlimmer noch, er fühlte sich schwach,
angreifbar. Was war er denn ohne sie alle? Was konnte er ohne ihre
Hilfe tun? Er konnte weder andere beschützen noch sich seinen
Feinden stellen. Und er hatte sie zurückgelassen. Wieso?
Ryan
wandelte wie in Trance durch die breite Glastür hinaus ins Freie,
ließ die grellen Sonnenstrahlen an sich abprallen, ohne sich zu
erlauben, ihre Wärme zu genießen. Die Hände in den Hosentaschen
vergraben starrte er mit jedem Schritt bloß die Pflastersteine des
Gehweges an. Die Leute, die ihm entgegenkamen, mussten ihm
ausweichen, da er ihre Anwesenheit nicht einmal bemerkte. Immer
wieder stellte er sich bloß die Frage nach dem Grund. Dem Grund für
sein Handeln. Dem Grund für seine Dummheit. Warum er plötzlich
etwas anderes empfand, wenn er an seine Partner und Gefährten
dachte, als bittere Enttäuschung. Zuletzt hatte er ausschließlich
das gefühlt. Alles wegen einem einzigen verlorenen Kampf. Einer, der
ihm alles bedeutet hatte. Doch wie schwer wog dessen Ausgang im
Vergleich zu jenen Gefährten, die ihn mit ihm zusammen bestritten
hatten? Jene, die Ryan in jeder Situation die Treue gehalten und ihre
eigene Gesundheit auf´s Spiel gesetzt hatten, selbst wenn die Dinge
schlecht standen. Um sie ging es hier. Nicht um ihn. Und er wollte
sie wieder um sich haben. Wenigstens ein paar von ihnen.
Ryan
bog um eine Ecke. Es existierte eine einzige große Hauptstraße in
Faustauhafen, der sowohl die Einkaufsmeile als auch einige
Firmengebäude und nicht zuletzt das Pokémoncenter angehörten. Es
fand sich inmitten einer Häuserreihe mit verschiedensten Läden und
Geschäften, über denen weitestgehend eher billige Wohnungen lagen.
Ein ganzes Stück die Straße runter veränderte sich das Bild der
Stadt ein wenig. Das Zentrum Faustauhafens war von Gebäuden
dominiert, die schon aus der Ferne nach Schreibtischakrobaten,
Schlipsträgern und Bürostuhlrennfahrern roch. Aus den höheren
Stockwerken vermochte man vermutlich das Meer betrachten zu können.
Es war gerade so die größte, aber mit Abstand die prunkvollste
Stadt, die Ryan und Andrew auf ihrer bisherigen Reise durch Hoenn
durchwandert hatten. Zugegeben, die Messlatte lag mit Wurzelheim und
Blütenburg als Vorreiter dieser Liste noch sehr niedrig, doch wenn
man seit der Anreise nur Kleinstädte gesehen hatte, erschien
Faustauhafen gleich viel größer und mächtiger.
Das
Pokémoncenter rückte immer näher. Mit jedem Schritt gewann ein
unglaublicher Enthusiasmus die Oberhand über Ryan. Zwischen all
seinen Gedankengängen, Selbstzweifeln und vor Emotionen schwangeren
Fragen klärte sich die geblendete Sichtweise in Bezug auf seine
Pokémon. Eine Binde schien von seinen Augen zu fallen, die ihm nur
ein düsteres Urteilsvermögen erlaubt hatte. Er beschleunigte seine
Schritte. Die behandschuhten Hände wanderten aus den Taschen und
ballten sich entschlossen zu Fäusten. Ryan musste einfach laufen. Er
beschleunigte, legte ein eiliges Tempo an den Tag, bis er schließlich
rannte. Einige verwunderte Blicke ließ er über sich ergehen, ohne
sie zur Kenntnis zu nehmen. Dann lächelte er. Es war voller
Vorfreude. Voller Energie. Ja. Ja, er hatte es begriffen. Er hatte
entschieden. Er hatte verstanden. Er hatte sie gefunden. Die Antwort.
Obwohl
er es doch so eilig hatte, hielt Ryan einen Moment vor den breiten
Schiebetüren des Pokémoncenters inne. In erster Linie tat er dies,
um sich ein wenig von seiner Euphorie zu lösen. Außerdem hatte er
nach seinem Sprint etwas Luft zu schnappen. Er besuchte schließlich
eine öffentliche Einrichtung, in der er sich wie ein Irrer auf
irgendeinem Trip erscheinen wollte.
Sowohl
Andrews als auch seinem eigenen Pokémon, war in den letzten Tagen
wahrlich viel zugemutet worden. Hydropi war gerade erst in diese Welt
außerhalb des Labors von Professor Birk eingetaucht und dabei auf
geradezu übermächtige Gegner getroffen. Magnayen, Schwalboss und
Psiana hatten ebenfalls harte Kämpfe hinter sich und eine
Erholungsphase mehr als nötig. Und dann war da natürlich noch
Dragonir.
Aus
irgendeinem Grund fühlte Ryan plötzlich Unbehagen. Das dunkle
Krächzen eines Pokémon drang an sein Ohr. Vom Dach des Centers
blickte ein schwarzer Rabe mit stolzen, weißen Brustfedern und einem
blassgelben, spitzen Schnabel auf ihn herab. Die Augen des Kramshef
wurden dabei fast vollständig von seinen markanten Kopffedern
verdeckt, die an einen Hut erinnerten. Es starrte ihn präzise an.
Der junge Trainer versuchte sich desinteressiert und unbeeindruckt zu
geben und den Vogel so zum Verschwinden zu bewegen. Doch die
funkelnden Augen durchschauten die Fassade sofort und der Blick
verschärfte sich. Einige Sekunden lang schien die Zeit zwischen den
beiden still zu stehen. In derselben Zeitspanne fragte Ryan sich, wie
es denn auf einmal zu dieser skurrilen Situation hatte kommen können.
Die dicke Luft zwischen ihnen schmeckte ihm gar nicht. Er konnte
diesem Kramshef doch eigentlich ziemlich egal sein und umgekehrt
würde dasselbe gelten, würde es ihn nicht so unentwegt anstarren.
Gerade rechnete Ryan schon mit so manchem – einer Drohgebärde oder
gar einem Angriff –, da breitete das Kramshef plötzlich erhaben
seine Schwingen aus und flog überlegen krächzend davon. Leicht
verwundert sah er ihm mit gehobener Braue hinterher, wandte sich aber
rasch wieder ab, damit mit er heute noch ins Center kam. Ein Kramshef
mitten in der Stadt und das auch noch am helllichten Tag war mehr als
ungewöhnlich. Diese scheuen Flugpokémon waren eigentlich nachtaktiv
und fern der Zivilisation in den Wäldern beheimatet. Es gehörte
also mit großer Wahrscheinlichkeit einem Trainer.
Bei
diesem Gedanken hielt Ryan erneut inne und warf einen misstrauischen
blick über die Schulter. Wenn dieses Pokémon wirklich jemandem
gehörte, bedeutete das dann, dass er beobachtet wurde? Er stellte
den Kragen seiner Jacke auf, sodass Kinn und Wange fast vollständig
darunter verschwanden und sah sich unauffällig um. Kramshef war
bereits außer Sicht und ansonsten erkannte er nirgends verdächtige
oder auffällige Personen. Dennoch ließ er geduldig seinen Blick
genaustens durch die Straßen wandern. Ryan war sicher nicht
paranoid, doch seit Team Rocket nun offiziell in Hoenn aktiv war,
erachtete er etwas Vorsicht als nicht verkehrt. Und wenn ihn wirklich
jemand im Auge behielt, dann sollte dieser jemand ruhig wissen, dass
er nicht unbemerkt geblieben war.
Schließlich
schüttelte Ryan sein ungutes Gefühl doch ab und betrat die
Einrichtung. So wie sich die automatischen Türen surrend hinter ihm
schlossen, fühlte er sich sofort wieder in einer trauten Umgebung.
Auch wenn kein Pokémoncenter wirklich einem anderen detailgenau
glich, fühlte man sich doch mit jedem irgendwie vertraut. Himmelblau
gefliester Boden, eine Sitzecke mit weiß gepolsterter Couch vor
einer Fensterwand auf der einen, eine Reihe Bildtelefone auf der
anderen Seite und zu guter Letzt der große Empfangstresen direkt
voraus. Die örtliche Schwester Joy erblickte den Neuankömmling
gleich und winkte diesen freundlich lächelnd herüber. Durch seine
Besuche in den beiden vergangen Tagen hatte sie sein Kommen bereits
erwartet und schien aufgrund ihrer Körpersprache sogar gutaufgelegt.
Eventuell hatte sie sogar erfreuliche Neuigkeiten. Da Ryan abgesehen
von einem jungen Pärchen, das auf der Couch Platz genommen hatte,
der einzige Besucher war, musste er auch nicht weiter warten und
marschierte schnurstracks auf die Krankenschwester zu.
„Morgen,
Ryan. Wie geht’s heute so?“
Auch
wenn man nicht behaupten konnte, dass er heute schlecht drauf war,
zog der junge Trainer, bedingt durch seine Überlegungen und Gedanken
auf dem Weg hierher, es vor, den Small Talk zu überspringen und zur
Sache zu kommen.
„Das
hängt in erster Linie davon ab, was sie für mich haben.“
Etwas
verdutzt durch die Direktheit, musste sich Joy ein wenig um ihre
freundliche Erscheinung bemühen.
„Sicher
doch. Ich werde nachsehen, ob sie wach sind. Warte bitte kurz.“
Rasch
verschwand sie durch eine Tür hinter ihrem Tresen. Kurz überlegte
Ryan, ob er vielleicht unhöflich geklungen hatte, befand aber, dass
sein Auftreten okay gewesen war. Vielleicht war Joy auch nur von
seiner direkten Art auf dem falschen Fuß erwischt worden. Viele
sahen in ihr und ihren zahlreichen Schwestern die personifizierte
gute Seele der Stadt, der sie sich und ihre Pokémon jederzeit und
ruhigen Gewissens anvertrauen konnten. Folglich wurde sie in der
Regel mit Höflichkeiten und großem Respekt für ihre Arbeit und
Hilfe überschüttet. Ryan sah das ein wenig anders. Natürlich
mochte auch er die Joys und war ihnen dankbar dafür, dass sie unter
anderem seine Partner gesund pflegten und obendrein auch halbwegs für
seine eigenen Bedürfnisse sorgten. Doch letztendlich machte eine
jede von ihnen auch nur ihren Job. Sie eigneten sich im Studium der
Pokémonmedizin Wissen an, um mit jenem dann ihre Dienste der
Bevölkerung anzubieten. Somit taten sie dasselbe, wie etliche andere
Menschen in etlichen anderen Branchen auch. So funktionierte diese
Welt. Und sie verdienten letztlich auch nicht schlecht daran. Es kam
vor, dass Trainer mit dem Irrglauben aufwuchsen, ein Pokémoncenter
wäre in jeder Hinsicht eine für sie kostenlose Einrichtung. Das lag
dann meist daran, dass ihre Eltern den finanziellen Part ohne deren
Kenntnis erledigten. Um als Pokémontrainer zugelassen zu werden
bedurfte es nämlich nicht nur einer Schulung, welche je nach
Anspruch und Region in der Länge variierte, oder gar einer
speziellen Schulbildung, sondern auch einem happigen, monatlichen
Beitrag an die Pokémon Trainer-Gesellschaft – kurz PTG –, der
teils in deren eigene Kasse und teils in die der Ärzte floss. Diese
Summe gewährleistete die Nutzung für jedes Pokémoncenter in der
Region, wahlweise auch weltweit, was dann etwas kostspieliger wurde.
Es war nicht so, dass man sich so häufig und lang in einem Center
einquartieren durfte, wie man wollte, doch dank der nie endenden
Inflation an Trainern war die Obergrenze glücklicherweise recht
großzügig gesteckt, weshalb es allgemein selten vorkam, dass die
PTG Nachzahlungen verlangte. Mit solchen musste man nämlich rechnen,
wenn man es übertrieb.
Ryan
hatte über diesen Umstand stets Bescheid gewusst und immer sein
Möglichstes getan, um seine Mom bei der Finanzierung zu
unterstützen. Bevor er auf die Reise gegangen war, hatte er gut ein
halbes Jahr in ihrem Hotel Drecksarbeiten erledigt, für einen
rückblickend mickrigen Lohn. Doch das ewige Abwaschen in der Küche
und Fegen der Böden sowie die elende Arbeit als Laufbursche und Depp
vom Dienst hatten sich dennoch gelohnt. Schließlich verdiente in
seiner Heimatstadt so gut wie niemand im minderjährigen Alter schon
sein eigenes Geld – auch wenn die Ersparnisse kürzer überlebt
hatten als erwartet. Doch nachdem er einige Zeit später regelrecht
zum erfolgreichsten Rookie einer ganzen Region geworden war und
angefangen hatte, Preisgelder zu gewinnen, später bezahlte Jobs in
der Trainerszene und zwischenzeitlich sogar einen eigenen Sponsor
gehabt hatte, hatte Mom immer weniger und schließlich gar kein Geld
mehr schicken müssen. Im Augenblick hatte er keine größeren
Einkommen in Aussicht und seine Sponsorenfirma war vor wenigen
Monaten nach Kalos umgesiedelt, weswegen sie sich von ihm getrennt
hatten. Doch sein finanzielles Polster war noch weit vom kritischen
Stand entfernt. Dennoch würde er, sobald in Hoenn bekannt würde,
dass er die lokalen Orden jagte, immer Augen und Ohren für
potenzielle Erträge öffnen. Von allein finanzierte sich das Leben
eines Trainers eben nicht und allein auf Preisgelder wollte er auch
nicht setzen. Zu ungewiss. Zu unverlässlich.
Aus
dem Flur, der rechts am Tresen vorbeiführte, erklangen dezente
Schritte. Ryan lugte um die Ecke und sah die Krankenschwester nun
wieder freundlich lächelnd auf ihn zukommen.
„Dragonir
schläft noch tief und fest im Behandlungsraum. Wie zu erwarten ist
es wegen der Medikamente und Schmerzmittel noch etwas träge. Aber
wenn du möchtest, kannst du die anderen jetzt sehen.“
Er
nickte lediglich und folgte Joy, als diese auf dem Absatz kehrt
machte und den Flur wieder hinunterlief. Die Wände waren hier in
typisch sterilem Weiß tapeziert. Alle paar Meter verschloss auf
jeder Seite eine wieder weiße Tür die Sicht auf den Raum dahinter.
Unterbrochen wurde deren Reihenfolge von bunten Landschaftsbildern an
der Wand.
„Wie
geht’s deinem Freund im Krankenhaus so, Ryan?“
Ein
wenig abwesend lief er neben Joy und beantwortete die Frage, ohne sie
anzusehen.
„Er
reißt wieder Witze, also ganz gut. Morgen soll er entlassen werden.“
„Freut
mich zu hören.“
Fast
schon am Ende des Ganges schwenkten sie nach links und eine solche
Tür wurde geöffnet. Der Anblick dahinter erinnerte zwar eher an ein
Heim für entlaufene oder ausgesetzte Pokémon, doch der Anblick war
für Ryan nicht neu. Es wurde immer von der Trainer Gesellschaft
gewährleistet, dass sich gut um die Patienten gekümmert wurde, doch
ein Hotel für selbige war ein Pokémoncenter definitiv nicht. So war
es außerhalb des Machbaren, ihnen mehr, als eine Art Zelle zur
Verfügung zu stellen, um sich auszukurieren. Immerhin war Wasser und
Futter gegeben, ebenso wie eine weiche Schlafstätte.
„Genau
genommen, habe ich sogar eine Überraschung für dich, Ryan“,
eröffnete Joy dann und ließ den Besucher eintreten. Die Käfige
waren zweistöckig. In einem der oberen geriet sofort ein azurblaues
Geschöpf in Aufregung. Es sprang auf seine Hinterläufe und krallte
seine Hände in das Gitter. Orangefarbene Wangen und Bauchmusterung
leuchteten regelrecht im farblichen Kontrast zum restlichen Körper
und die dunkelblaue Flosse auf dem Kopf sowie zwei weitere, die wie
ein Doppelschweif fungierten, zuckten wild, scheinbar erfreut.
Ryan
war noch nicht ganz an der Schwester vorbei, da drehte er sich
nochmals zu ihr um und wartete auf einen bestätigenden Blick.
„Es
ist deins.“
Sofort
nahm ein breites Lächeln bei ihm Einzug und er begrüßte das
Moorabbel.
„Hey,
Partner.“
Er
streckte eine Hand durch das Gitter und kraulte damit fürsorglich
das Kinn seines weiterentwickelten Pokémon. Es genoss die Geste
sichtlich.
„Es
war gestern noch immer völlig aufgedreht und energiegeladen, sodass
ich es kaum untersuchen konnte. Es war, als wollte es gegen alles und
jeden kämpfen, was sich bewegt“, erzählte Joy. Ryan hatte schon
am Tag nach ihrer Ankunft in Faustauhafen Hydropi wieder mitnehmen
dürfen und die Zeit für sehr intensive Trainingseinheiten genutzt,
in denen das Wasserpokémon endlich aufgeblüht war. Die
Unsicherheiten und Enttäuschungen der letzten Übungen waren schnell
vergessen gewesen, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Abends
hatte er das kleine Kraftbündel, wie er es inzwischen bezeichnete,
stets ins Pokémoncenter gebracht, um sicher zu gehen, dass er es mit
dem Training nicht zu weit trieb und keine gesundheitlichen Gefahren
entstanden. Doch anscheinend hatte er es sogar noch unterfordert.
„Es
ist wie wild vom Behandlungstisch gesprungen und in den Flur gerannt.
Ich musste Chaneira sanfte Gewalt anwenden lassen, um es zu
beruhigen. Dabei hat es sich weiterentwickelt.“
Ryan
biss sich leicht auf die Unterlippe. Mann, war das peinlich. So etwas
war ihm seit seinen Anfängen nicht mehr passiert. Vielleicht musste
er Hydropi… oder besser Moorabbel etwas mehr Disziplin nahelegen.
„Das
tut mir leid. Hat es große Schwierigkeiten gemacht?“
Sie
verschränkte die Arme und zuckte lässig mit den Schultern.
„Nichts,
womit ich nicht früher schon zu tun hatte. Aber ein ruhiger Abend
war es nicht.“
Mit
einem vorsichtigen Schmunzeln wollte Ryan sowohl Belustigung als auch
eine leicht verlegene Entschuldigung ausdrücken und hoffte, dass bei
dem Tumult nichts zu Bruch gegangen oder beschädigt worden war.
Moorabbels Ermahnung auf später zu verschieben, schloss er jedoch
aus.
„Hab
ich dir nicht gesagt, dass du dich benehmen sollst?“
Er sprach
es aus, als wüsste er genau, dass er es gesagt hatte. Und
schließlich war auch genau das der Fall. Allerdings schien die
Botschaft bedingt durch das Lächeln, dass er einfach nicht abstellen
konnte, nicht ganz angekommen zu sein, da Moorabbel noch immer
freudig auf und ab sprang.
„Darüber
reden wir später noch.“
Mit
einem sanften Klaps auf den Kopf ließ er von dem Pokémon ab und
ließ sich von Joy seinen Pokéball aushändigen. Da er und Andrew
wohl frühestens morgen wieder unterwegs sein konnten, würde
Moorabbel wohl noch mindestens ein Mal hier vorbeischauen. Als es
schließlich verschwunden war, wandte er sich wieder der
Krankenschwester zu und wartete darauf, dass sie ihn zu Andrews
Pokémon führte. Diese waren weiter hinten in den unteren Käfigen
untergebracht. Als erstes entdeckte er das schwarze Fell Magnayens,
das sich gerade einmal die Mühe machte, sein Dösen für einen
kurzen Moment, in dem es aufsah, ohne den ruhenden Kopf von den
Pfoten zu heben, zu unterbrechen. Doch da keiner der beiden Menschen
vor diesen elenden Gittern sein Trainer war, bekamen sie nur
Desinteresse zu spüren. Psiana dagegen saß in ihrer so unrühmlichen
Behausung noch so stolz hinter dessen verschlossener Tür, als wäre
es ein Thron. Den Kopf hoch erhoben und jede Bewegung von außerhalb
genau beobachtend. Im hintersten saß Schwalboss. Der Raubvogel
pickte sich gerade ein paar Körner aus seiner Futterschale und
krächzte Ryan schließlich an. Er war mit diesem Pokémon nicht ganz
vertraut, doch er schätzte es als eine Art Begrüßung ein.
„Alle
drei sind körperlich in gesunder Verfassung“, begann die Schwester
ihm zu eröffnen.
„Psiana
und Schwalboss können wieder bedenkenlos trainieren. Ich muss
hoffentlich nicht extra erwähnen, dass es ihnen dennoch nicht gut
täte, wenn sie es gleich zu übertreiben.“
„Sicher“,
nickte Ryan ab. Das musste man sich in beinahe jedem Pokémoncenter
anhören. Ein oder zwei Tage der Erholung draufzulegen, wäre ja ach
so weise, aber dennoch gestatteten sie ihnen das Kämpfen. Doch er
hatte längst aufgehört, sich über diesen Widerspruch zu wundern.
So oder so galt es in seinen Augen gleich wieder Gas zu geben, sobald
Joy eben die Erlaubnis aussprach. Er trainierte keinen
Pokémon-Kindergarten. Wer nicht spurte, durfte auch nicht kämpfen.
Und wer noch nicht fit war, ebenso wenig. Da kannte Ryan nichts.
Einsätze im Kampf gewährte er nur für Leistung und Engagement.
„Magnayen
ist noch nicht ganz bei Kräften. Es zeigt Trägheit und frisst nicht
besonders viel. Ich kann hier nichts mehr für es tun, also darf es
morgen die Klinik verlassen. Von Kämpfen rate ich dir aber noch für
mindestens drei Tage ab. Wenn du es langsam angehen lässt, kann ich
erlauben, dass es wieder vorsichtig trainiert.“
Warum
sprach sie eigentlich mit Ryan, als wären es seine Pokémon? Sie
wusste, dass sie zu Andrew gehörten. Zumindest hatte er ihr das
gesagt. Egal, die Botschaft war jedenfalls angekommen und sie
erfreute ihn durchaus. Doch es fehlte noch jemand.
„Fein.
Und wie sieht´s mit Dragonir aus?“
Schwester
Joy schien einen willkürlichen Punkt im Raum anzustarren, während
sie überlegte. Dabei schürzte die nachdenklich die Lippen.
„Sein
Kreislauf ist noch geschwächt. Das kommt einerseits durch den
Blutverlust und andererseits durch die Nachwirkung der Narkose. Über
Nacht möchte ich es auf jeden Fall noch hier behalten. Wenn es gut
läuft, darf es morgen wieder zu seinem Trainer.“
Na
also, jetzt stimmte die Ansprache.
„Dragonir
haben phänomenale Fähigkeiten bei der Selbstheilung und
Regeneration. Eine offene Wunde schließt sich nach nur einigen Tagen
vollständig und ohne erkennbare Rückstände. Bislang ist alles gut
verheilt. Wenn das bis morgen anhält, kann ich es guten Gewissens
entlassen. Jegliche Anstrengung ist aber noch mindestens für eine
Woche untersagt und wenn es soweit ist, darf es sich auf keinen Fall
zu früh überanstrengen. Ich vertraue darauf, dass du und dein
Freund verantwortungsbewusst und vernünftig seid, sonst landet es
sofort wieder in der Notaufnahme.“
Ryan
hatte nicht wirklich um eine genauere Erörterung gebeten, doch wohl
wollte die Schwester ihm einfach keine Informationen vorenthalten.
Schlussendlich war er froh, dass es jedem von ihnen den Umständen
entsprechend gut ging und erklärte sich mit einem knappen Nicken der
Bedingung einverstanden. Dann kniete er sich vor die drei Pokémon
seines bestens Freundes und lächelte sie munter an.
„Andrew
geht es schon wieder besser. Morgen kann er zu euch kommen und wir
können weiter. Ruht euch noch ein bisschen aus und haltet die Ohren
steif, ja?“
Bei
der Erwähnung ihres Trainers hatte Ryan sofort die ungeteilte
Aufmerksamkeit aller Pokémon. Sogar Magnayen war aufgesprungen und
bellte nun erheitert. Schwalboss flatterte mit seinen Schwingen und
schien das Wiedersehen ebenfalls nicht erwarten zu können. Nur die
„Prinzessin“, wie Andrew sie gern nannte, behielt ihre würdevolle
Erscheinung bei. Man mochte Psiana gar nicht als so selbstkritisch
einschätzen, wie sie es tatsächlich war, wenn man ihre fast schon
arrogante und hochnäsige Haltung sah. Ein wirklich amüsantes
Geschöpf.
Mit
einem kurzen Wink verabschiedete sich der junge Trainer und
marschierte Joy voran aus dem Raum. Diese folgte, schloss die Tür
hinter sich und stellte leicht verwundert fest, dass Ryan es
plötzlich eilig hatte, den Flur hinab zu gelangen.
„Ryan?“,
rief sie ihm hinterher. Er drehte sich nicht um.
„Ich
muss mal telefonieren.“
„Ich
sage es dir nochmal, ich kann das nicht gutheißen.“
Doktor
Richards war mit diesem Jungen einfach überfordert. Er schien
geradezu taub, wenn er ihm das Aufstehen zu verbieten versuchte. Denn
bei allem, was über den Versuch hinaus ging, scheiterte er kläglich.
Er rückte seine Brille zurecht und fuhr sich durch das dünne,
schwarze Haar. Der verdammte, jugendliche Eifer war etwas, mit dem er
einfach nicht zurecht kam. Dabei sollten seine Patienten doch auf ihn
hören. Das war bislang immer so gewesen, doch dieser hier hatte
bereits seine Jeansjacke übergeworfen und war seine Turnschuhe
geschlüpft.
„Und
ich sage Ihnen nochmal, dass ich es verstanden habe, Ihren Rat
respektiere und deshalb mache, was ich will“, lachte Andrew munter,
worauf er anschließend dem Doc keck einen Klaps auf den Oberarm gab,
als seien sie gute Kumpel, um sich dann an ihm vorbei in den Flur zu
schieben.
„Versprich
wenigstens, dass du wirklich nur spazieren gehst und in einer Stunde
wieder da bist“, hörte er noch hinter sich. Ohne stehen zu
bleiben, drehte er sich um, breitete frei die Arme aus und hob
unschuldig die Schultern.
„Okay,
aber ich bin nicht dafür bekannt, dass ich meine Versprechen halte.“
Schon
richtete er den blick wieder nach vorne und gab seinem Arzt noch
einen lässigen Wink mit der rechten Hand.
„Sie
werden mich vermissen“, rief er laut durch den Gang. Andrew war die
Behandlung und das untätige herumsitzen leid. Die ständigen
Vorsichtsmaßnahmen im Sinne der Beobachtung waren seiner Ansicht
nach eine übervorsichtige Maßnahme der Medizin, die nichts
Geringeres bezweckte, als einer möglichen Klage durch
gesundheitliche Rückfälle der Patienten vorzubeugen. Doch so ein
Typ war er nicht. Er vertrat schlicht und einfach die Meinung, dass
er selbst noch immer am besten wusste, wie es ihm ging. Und wenn es
etwas gab, dass er gegenwärtig mit absoluter Sicherheit wusste, dann
war es, dass er jemanden umbringen würde, wenn er sich nicht
wenigstens mal die Beine vertreten und Frische Luft schnappen konnte.
Ihm ging es soweit wieder gut. Das musste er sich von niemandem
bestätigen lassen. Und er fühlte sich wieder im Vollbesitz seiner
Kräfte – bis auf die Müdigkeit vom Morgen, die nun am Vormittag
allerdings verflogen war. Er hatte es richtig genossen, Doktor
Richards halbherzige Versuche, ihn aufzuhalten, zu zerschlagen und
ihm mit seinem Enthusiasmus den letzten Nerv zu rauben. Es war
beinahe zu leicht gewesen. Zweifellos hatte er keine Erfahrung mit
Menschen seines Schlages. Doch er war nicht so gemein, nun
tatsächlich einfach zu verschwinden. Zum Mittagessen würde er
zurückkommen – wofür in erster Linie die niedliche
Krankenschwester der Grund war, die er vergeblich angeflirtet hatte.
Achtzehn Jahre jung und schon verlobt. Wo gab´s denn so etwas schon?
Andrew
verließ das Krankenhaus in Richtung Hafenpromenade. Obwohl er es
nicht mehr wirklich nötig hatte, war ihm der Sinn nach einem
Energiedrink und vielleicht einem kleinen, zweiten Frühstück. Das
erste im Krankenhaus war recht mager gewesen. Es waren nur sechs
Häuserblocks bis zum Hafen. Ein Katzensprung, wenn man so mochte,
doch schon am dritten wurde der nichts ahnende Andrew von seinem
simplen Vorhaben kurzweilig aufgehalten. Gerade noch sah er jemanden
aus dem Augenwinkel jemanden heran rauschen, als er eine Hausecke
passierte. Die Person hatte es furchtbar eilig und mit seinem
plötzlichen Auftauchen nicht gerechnet. Hoffnungslos versuchte sie
noch, dem Jungen auszuweichen, da war sie schon so grazil wie ein
Öltanker und Andrews Empfinden nach auch mit der Kraft eines solchen
in ihn gekracht. Er spürte einen Stoß im Oberkörper, der ihm die
Luft aus der Lunge presste, als er auf den gepflasterten Gehweg
landete. Er hatte keine Chance mehr gehabt, zu reagieren, weswegen
seine Hände noch in den Taschen seiner Jeansjacke gesteckt hatten.
Nun aber lag er da, als wolle er einen Engel in den nicht vorhandenen
Schnee zaubern. Arme und Beine ausgestreckt und das Gesicht gerade
hinaus zum Himmel. Auf seiner Brust ruhte der Kopf seines
„Angreifers“, der sich langsam und leicht benommen regte. Ganz
plötzlich fuhr dieser nach einem Moment in die Höhe und eine Hand
wurde vor den Mund geschlagen, wobei die beiden losen
Lederarmbändchen um ihr Handgelenk tanzten. Doch die Person sah ein
breites Lächeln auf den Lippen des am Boden liegenden.
„Hi,
wie geht’s denn so?“
Zumeist
spottete Andrew über die Missgeschicke anderer Leute zu seinen
Ungunsten mit einem Hauch Sarkasmus und halbherzigen Vorwürfen. Doch
der unangenehme Vorfall sowie der Schmerz wurden gleich gelindert,
als er in dieses wunderschöne Gesicht sah. Ihre himmelblauen Augen
schimmerten vor Reue und die Peinlichkeit an sich trieb ihr einen
zarten Rotschimmer auf die Wangen ihrer leicht blassen Haut. Einige
Strähnen ihres braunroten Haares umrahmten ihr rundes Gesicht. Nur
eine mit einer kleinen, schwarz-weißen Haarspange am Ansatz, legte
sich verspielt über ihre Stirn. Der Rest ihrer Haare war zu einem
Pferdezopf gebunden. Sie war zum Anbeten süß.
„Das
sollte ich eigentlich dich fragen“, antwortete sie nach einigen
Sekunden, in denen sie die Stirn gerunzelt hatte und unsicher zu sein
schien, wie sie auf diese unerwartete Geste reagieren sollte. Andrew
seinerseits dachte gar nicht daran, sie zu bitten, von ihm runter zu
gehen. Sporadisch blickte er sich um und schließlich wieder ins
Gesicht der Fremden. Die wenigen Passanten, die ihren Unfall bemerkt
hatten, schienen ihn gekonnt zu ignorieren. Ihm war es nur recht.
„Könnte
kaum besser sein.“
Wenn
er bedachte, dass die Alternative wäre, weiterhin eingepfercht ans
Krankenbett gefesselt zu sein, war das hier gar nicht mal schlecht.
„Und
nochmal. Wie geht’s denn so?“
„Hab
mir nichts getan, wenn du das meinst.“
Das
hatte Andrew nicht gemeint, aber gut. Nicht so gut fand er dann eher
die Tatsache, dass die Kleine rasch aufsprang und ihm ihre Hand
reichte.
„Passt
schon“, meinte er stur und rappelte sich ebenfalls auf, ohne die
Hilfe anzunehmen. Ein Mann ließ sich schließlich nicht von einer
Frau aufhelfen. Das ging andersrum.
„Ich
bin Andrew.“
Freundlich
und offen reichte er ihr die Hand. Es war nun wirklich nicht so, dass
sich er in vergleichbarer Situation jedem Mädchen vorgestellt hätte,
aber sie war zu attraktiv, um es nicht zu tun. Sie trug ein weites,
lässiges Shirt in Nachtblau mit weitem Kragen, der sogar Teile ihrer
Schlüsselbeine freilegte. Darüber spannte sich ein enges, weißes
Top mit schmalen Trägern, das ihre sportliche Figur betonte. Es war
auf der Frontseite mehrmals horizontal eingeschnitten. Der
himbeerrote Faltenrock hätte für seinen Geschmack ruhig noch etwas
kürzer sein dürfen, was aber nicht viel mehr Sicht auf ihre Beine
ermöglicht hätte, da schwarze Strümpfe sie bis zu den
Oberschenkeln bedeckten und auf ihrem anschaulichen Weg nach unten in
ebenso schwarze Stiefel übergingen. Keine Absätze, gut so. Sie ging
also wie ein normaler Mensch durch die Straßen, ohne das Wagnis
einzugehen, sich durch Stöckelschuhe die Füße zu brechen. Eine
recht kleine Umhängetasche vom gleichen Rot wie der Rock zierte ihre
Hüfte. Ihre gesamte Erscheinung war keck, aber mit einem Hauch von
lässigem Modebewusstsein. Volltreffer! Andrew ballte in Gedanken
eine Hand triumphierend zur Faust.
„Tut
mir echt leid, der Zusammenstoß“, meinte sie bloß und ergriff
höflich die Hand, wobei sie ihren Kopf zwischen ihren Schultern
verstecken zu wollen schien und verlegen lächelte. Wenn sie nicht
schnell damit aufhörte, würde Andrew sich nicht davon abhalten
können, laut durch die Stadt zu schreien, wie niedlich sie dabei
aussah.
„Nein,
nein, ist doch nichts passiert“, beruhigte er sie gleich und zog
den Händedruck so weit wie möglich
in
die Länge.
„Normalerweise
bin ich nicht so tollpatschig. Ich bin das Stadtleben einfach nicht
gewohnt, schätze ich. Zu viele Leute.“
Bedachte
man, dass Faustauhafen zwar für eine Inselstadt nicht unbedingt
klein, aber dennoch kein Maßstab für Größe oder
Bevölkerungsdichte war und hier auch nicht gerade die Massen durch
die Straßen flanierten, musste sich Andrew schon fragen, aus welchem
Dorf sie denn kam. Doch zunächst galt es seinen charmanten Humor zu
versprühen.
„Gut
zu wissen.“
Die
Fremde konnte sich auf diese Antwort keinen echten Reim machen und
zog die schmalen Brauen zusammen.
„Was
zu wissen?“
„Dass der Himmel noch ein ländliches Kaff ist.“
Keine
Viertelsekunde dauerte es, da versuchte das Mädchen noch ihr Kichern
zu unterdrücken, was durch mangelnden Erfolg ein seltsames Grunzen
zur Folge hatte, das wiederum in ein sympathisches, aber irgendwie
auch verdächtigendes Lachen über ging. Kaum war es verklungen,
strahlte sie plötzlich Souveränität und Überlegenheit aus.
„Wie
heißen die Dinger, in denen solche Sachen stehen? Die hundert besten
Anmachsprüche,
oder so? Wenn du das eben daraus hast...“
Sie
hatte die Hände in die Hüften gestemmt und funkelte Andrew aus
schmalen Augen an. Doch sie klang nicht abgeneigt, auf seine offene
Art zu reagieren.
„Machst
du Witze? Ich hab´s geschrieben.“
Wieder
lachte sie, diesmal aber etwas dezenter.
„Schon
klar. Glaub nicht, dass ich dir alles abnehme, nur weil ich dich über
den Haufen gerannt hab.“
Andrew
ließ sich nicht im Geringsten verunsichern. Er liebte diese Duelle
beim Flirten. Lässig winkte er ab und versuchte sich an einem
strammen und kräftigen Erscheinungsbild.
„Was
meinst du damit? Ich wollte mich nur kurz ausruhen.“
Nun
zog sie skeptisch eine Braue in die Höhe und lachte erneut kurz auf.
„Auf
dem Bürgersteig?“
„Du solltest es mal probieren. Wie auf den
Flügeln eines Altaria. Oder dem Bauch eines Relaxo.“
Nun
hatte sich die Kleine wohl ausgelacht, doch das breite Grinsen blieb.
Dann räusperte sie sich und strich eine Strähne hinter ihr Ohr. Der
junge Trainer war kurz davor, zu zerfließen.
„Mal
was anderes, Andrew. Du weißt nicht zufällig, wo ich Krankenhaus
finde?“
In
einer Inselstadt wie dieser war es nicht ungewöhnlich, dass es nur
eine größere Klinik gab.
„Das
Krankenhaus?“
Andrew
klang misstrauisch und hoffte sich verhört zu haben. Wenn ein
Mädchen, das so munter durch die Straßen rennen konnte und folglich
absolut fit war, ein Krankenhaus aufsuchte, dann nur, um dort nach
jemandem zu sehen. Vielleicht nach einem Verwandten, einer Freundin,
oder – was er nicht hoffte – ihrem festen Freund?
„Ja,
ich kenn´ mich hier leider nicht aus. Bin heute erst angekommen.“
Nervös
befeuchtete er die Lippen. Wenn er ihr jetzt einfach die Richtung
wies, war sie wahrscheinlich weg und die Chance, ihre Gesellschaft
weiter zu genießen, ebenso. Andererseits war es definitiv zu
aufdringlich, sie begleiten zu wollen und er konnte ohnehin nicht
wieder so rasch dort auftauchen, nachdem er sich vorhin so großkotzig
von Doktor Richards verabschiedet hatte. Und sie anzulügen, indem er
behauptete, er wüsste es auch nicht, kam genauso wenig in Frage.
„Es
ist gleich da vorn. Rechte Seite“, meinte er schulterzuckend und
deutete in die Richtung, aus der er gekommen war. Während sie an
Andrew vorbei blickte, konnte dieser deutlich sehen, wie ihre Augen
größer wurden.
„Besuchst...
du da jemanden?“, fragte er zögerlich und plötzlich nicht mehr so
zuversichtlich in diese Konversation. Auch das letzte Bisschen davon
verflog, als sie plötzlich sehr abwesend wirkte und erst nach
einigen Sekunden der Stille bejahte. Langsam nickte sie kaum merklich
mit dem Kopf und schien einen Punkt in der Ferne anzustarren.
„Jemand
sehr wichtigen für mich“, meinte sie verdächtig leise. Alles
klar. Hier kam Andrew zu spät. So eine Reaktion konnte nur bedeuten,
dass jemand bereits das Herz der Kleinen besaß. Er beneidete diesen
unbekannten Glückspilz zutiefst und wünschte ihm die Krätze. Und
selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass dort nicht etwa ihr
Freund sondern ein Familienmitglied auf sie wartete, wäre es absolut
unangebracht, sie unter diesen Umständen weiter anzubaggern.
„Okay,
dann halt ich dich mal nicht weiter auf“, bemerkte Andrew leicht
peinlich berührt und kratzte sich, am Hinterkopf. Das Mädchen
schien darauf aus ihrem benebelten Zustand zu erwachen und lächelte
ihn dankbar an.
„Danke
dir. Und tschuldige nochmal, dass ich in dich rein gedonnert bin.“
„Na,
schon vergessen.“
Verspielt
tänzelte sie auf einmal ein paar Schritte vor den jungen Trainer
her, bis sie dann die Arme auf dem Rücken verschränkte und ihm tief
in die Augen sah.
„Ich
heiße übrigens Melody. Wäre schön, wenn wir uns nochmal
wiedersehen.“
Damit
wandte sie sich, ohne auf eine Antwort zu warten, um und verschwand
wenig später zwischen der überschaubaren Menschenmasse, die sich zu
dieser Zeit auf den Straßen tummelte. Andrew hatte ihr bis zum
letzten Augenblick hinterher gesehen. Erst eine knappe Minute später
setzte er seinen eigenen Weg wieder fort und fügte sich seinem
tragischen Schicksal.
„Verdammt.“
Ryan
keuchte schwer. Seine Beine wurden müde. Schweiß tropfte von seiner
Stirn und seine Lungen wurden heiß. Doch er wurde nicht langsamer.
Im Gegenteil, er spornte seinen Körper zu noch mehr Leistung an. Es
war nicht so, dass er vor etwas davon lief. Nein, nicht mehr. Es war
die Vorfreude, die ihn so schnell wie möglich in die Wildnis trieb.
Konkret war die Küste sein Ziel. Natürlich nicht die überfüllten
Badestrände, an denen sich inzwischen hunderte Sonnenanbeter einen
fantastischen Urlaubstag machten. Er wollte der Zivilisation
entrinnen und in die Gebiete vorstoßen, in denen man ihm angeblich
so gute Fanggründe für Pokémon versprochen hatte. Dafür musste er
sich durch einige Waldpfade kämpfen, die nur von Wanderern oder eben
Trainer genutzt wurden. Ansonsten gab es hier weder Straßen noch
Gebäude oder Tourismus. Die Natur war hier die einzige Attraktion
und die Pokémon die Einheimischen.
Voller
Enthusiasmus und neu gewonnener Energie rannte Ryan immer weiter. Er
hatte noch am Vortag in dieser Gegend trainiert und war auf einige
interessante Waldbewohner gestoßen, die zu fangen an sich eine
Überlegung wert gewesen wären. Jedoch hatte Moorabbel, das zu
diesem Zeitpunkt noch Hydropi gewesen war, schlicht und einfach nicht
mehr die Energie gehabt, sich in einen Kampf zu stürzen. So war
zumindest seine Einschätzung gewesen, doch die Geschichte von der
Entwicklung im Pokémoncenter schien das Gegenteil beweisen zu
wollen. Heute jedoch würde die Sache anders aussehen, wenn ein guter
Fang in Aussicht käme.
Er
sog genüsslich den harzigen Geruch der Laubbäume ein. Ihre Wurzeln
gruben sich teilweise in den groben, unebenen Pfad und brachen die
Erde auf, sodass Ryan ständig aufpassen musste, nicht über eine zu
stolpern. Die Bäume breiteten ihre Äste bis über seinen Kopf aus
und spendeten ihm auf seinem Weg ein wenig Schutz vor der Sonne. So
hätte er es beinahe gar nicht bemerkt, wie ein Schatten sowie eine
dunkle Silhouette an ihm vorbei zog. Doch es war ihm nicht entgangen,
weshalb er abrupt stehen blieb und hektisch herumfuhr. Sein Blick
wanderte nach oben, versuchte das Objekt am Himmel zu erkennen, das
ihm offen gesagt einen kleinen Schreck eingejagt hatte. Doch warum
eigentlich? Es ist ja nicht so, dass hier draußen mit dem
plötzlichen Auftauchen eines Pokémon nicht zu rechnen gewesen wäre.
Vermutlich war er schon an etlichen vorbeigerannt, ohne es bemerkt zu
haben. Schließlich lebte hier – das hatte er von Schwester Joy
erfahren – der Großteil der auf der Insel beheimateten, wilden
Pokémon und das auch noch mit einer verblüffenden Artenvielfalt.
Was immer also gerade über seinen Kopf hinweg geschossen war, Ryan
würde sich wohl kaum Sorgen darüber machen müssen. Verwundert über
sein eigenes Verhalten, das er mit Humor zu nehmen versuchte,
schüttelte er seine so plötzlich aufgekeimte Unruhe ab und folgte
dem Weg weiter. Er legte nun ein normales Tempo an den Tag, kam aber
nicht weiter als vier Schritte. Länger hatte es nämlich nicht
gedauert, bis er seinen Beobachter entdeckte. Der hockte auf einem
Ast genau über ihm und sah ihn aus funkelnden Augen an. Augen, die
ihm Unwohlsein bescherten. Hinzu kam die beunruhigende Tatsache, dass
es sich um ein Kramshef handelte.
„Kenne
ich dich nicht?“
Die
Frage war rein rhetorisch. Ryan war sich sogar ziemlich sicher, dass
es dasselbe war, wie vorhin in der Stadt und schärfte daher seine
Sinne. Seine Hand wanderte langsam in seine Gürteltasche, in der er
seine Pokébälle aufbewahrte, holte aber noch keinen hervor. Er gab
sein Bestes, um Kramshefs Blick standzuhalten und zu signalisieren,
dass er hier der Stärkere war. Dass es jemandes Begleiter war, daran
bestand kaum noch ein Zweifel. Irgendjemand hatte dieses Pokémon auf
ihn angesetzt. Doch warum zeigte es sich nun so offen, wenn es Ryans
Misstrauen doch schon bei ihrem ersten Treffen bemerkt haben musste?
„Willst
du unbedingt, dass ich dir deine Federn rupfe?“
Er
meinte die Drohung nicht so ernst, wie er sie aussprach. Kramshef
waren stolz und besitzergreifend. Auf Herausforderungen reagierten
sie meist aggressiv, doch Ryan war der Ansicht, dass der Zug längst
abgefahren war. So wie dieses Pokémon ihn anstarrte, war es
höchstens durch Drohung oder eine handfeste Auseinandersetzung zu
verscheuchen. Aber die wichtigste Frage lautete letztlich, wer denn
die Fäden zog? Wer wollte ihn beobachten? Wem gehorchte Kramshef?
Team Rocket? Wahrscheinlich, aber sicher sein konnte er sich auch
nicht. War er vielleicht doch zu paranoid und er hatte es hier mit
nicht mehr als einem großen Zufall sowie einem leicht sonderbaren
Exemplar dieser seltenen Gattung zu tun?
Ryan
sah dem Raben tief in die Augen, der sich seinerseits noch kein Stück
gerührt hatte. Er überlegte angestrengt, schätzte die Lage ein und
wog die Wahrscheinlichkeit ab. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
„Nein,
du bist kein wildes Pokémon.“
Hierbei
war er sogar ziemlich sicher. Kramshef gab es nicht gerade zuhauf in
den Wäldern – schon gar nicht bei Tageslicht. Voraussetzung für
ihre Weiterentwicklung von Kramurx war außerdem der Kontakt mit
einem Finsterstein, der recht selten und folglich nicht einfach so
auf jedem Acker zu finden war. Ohne das Zutun eines Menschen war es
fast unmöglich für diese Art, die zweite Entwicklungsstufe zu
erreichen.
Nun
zeigte es wenigstens eine kleine Reaktion. Es senkte das stolze Haupt
ein wenig zu Ryan herab und krächzte finster, während es seine
Flügel weit ausbreitete, um größer zu erscheinen. Wie er die Geste
zu interpretieren hatte, wusste der junge Trainer nicht genau. Er
kannte sich mit der grundlegenden Charakteristik dieser Gattung zu
wenig aus, doch mit Sicherheit war ein Kampf, sowie überhaupt diese
ganze Konfrontation bereits unumgänglich gewesen, als sie beide den
ersten Augenkontakt vollzogen hatten. Mit der freien Hand zupfte Ryan
ein paar Strähnen vor seiner Stirn zurecht. Mit der anderen schloss
er den Griff um seinen Pokéball enger.
„Ich
an deiner Stelle würde das lassen.“
Glaubte
Ryan zuvor, als er den Schatten bemerkt hatte, schon einen Schreck
erfahren zu haben, traf ihn diese plötzliche Warnung doch so
unerwartet, dass die rot-weiße Kapsel beinahe seiner Hand entglitten
wäre, als er herumfuhr und dem trockenen Klang der düsteren Stimme
folgte. Mitten auf dem Weg stand ein Mädchen. Die Arme lässig
verschränkt und die Körperhaltung gleichermaßen überlegen wie
selbstsicher. Rubinrote Augen zielten auf ihn, wie die eines
nächtlichen Räubers. Er erkannte sie wieder. Schon ihre Worte
hatten ihm den noch allzu bekannten Schauer wieder auf seinen Rücken
getrieben. Ryan verlor sämtliches Vertrauen in seine eigenen Worte
und begann nun noch stärker als zuvor zu schwitzen. Sein Herz schlug
ihm bis zum Hals, sodass er beinahe meinen konnte, dessen Geschmack
auf der Zunge zu spüren. Gleichzeitig redete er sich einen
schlechten Witz oder einen miesen Traum ein, in dem er sich gerade
befinden musste. Anders konnte er es sich zunächst nicht erklären,
dass ausgerechnet sie vor ihm stand. Das seltsame Mädchen, das ihn
auf der Fähre nach Wurzelheim zunächst vor einem Hinterhalt
gerettet und schließlich so furchterregend angesehen hatte. Doch sie
war völlig anders gekleidet. Ihre befremdliche Erscheinung war
weitestgehend der einer völlig normalen, jungen Frau gewichen.
Lediglich ihr dunkelblauer Schal war geblieben. Mehr nicht. Denn nun
trug sie eine perlweiße Bluse, die sich ein wenig eng an ihren
Oberkörper spannte und die beiden obersten Knöpfe offen ließ. Um
ihre breiten Hüften, von welchen eine Schneise nackter Haut frei
lag, da auch der unterste Knopf unverschlossen blieb, lagen recht
lose zwei schmale Gürtel, die vermutlich die beiden Dolche, die er
bei ihrem letzten Treffen erspäht hatte, hielten. Ein kurzer Rock in
Ozeanblau erschien darunter und gab viel ihrer Oberschenkel Preis.
Dunkelgraue Strümpfe streckten sich bis zu den Knien und
verschwanden in beigefarbenen Stiefeln, die ganz ohne Absätze waren.
Eigentlich kaum zu glauben, dass er sie sofort erkannt hatte, denn
sie wirkte eigentlich wie ein völlig anderer Mensch. Doch die
seltene, nachtblaue Haarfarbe kombiniert mit diesem einnehmenden
Blick waren unverwechselbar.
„Du?“
Selbst
nach sekundenlangem Starren, in dem er sich überzeugen konnte, sich
dieses Mädchen nicht einzubilden, fiel es ihm noch immer schwer,
seinen Augen zu trauen. Das war doch absurd! Was hatte sie hier
verloren? War sie ihm und Andrew etwa den ganzen Weg hierher gefolgt?
Gehörte sie vielleicht auch zum Team Rocket oder verfolgte sie ganz
andere Pläne?
„Du
darfst dich glücklich schätzen“, meinte sie, klang dabei aber
unglaublich herablassend.
„Die
meisten Menschen wären an deiner Stelle längst tot.“
Ryan
wollte eigentlich auf keinen Fall zurückweichen und seine Angst
offenbaren. Doch er hatte nie eine Chance besessen, diesen Kampf mit
sich selbst zu gewinnen. Kramshefs Blick war nichts im Vergleich zu
ihrem. Er fühlte sich, als schaue sie gerade durch seine
fleischliche Hülle hindurch in die tiefsten Geheimnisse seines
Bewusstseins.
„Gehört
dieses Kramshef dir?“, verlangte er mit überraschend fester Stimme
zu wissen. Das besagte Pokémon erhob sich urplötzlich von seiner
Position und flatterte, scheinbar an der Situation nicht länger
interessiert, davon. Nur für eine Sekunde erlaubte Ryan sich, dem
Vogel hinterherzuschauen, wie er über den Baumkronen verschwand.
Damit hatte der jetzt nun wirklich nicht gerechnet und obwohl er das
Verschwinden Kramshefs weder positiv noch negativ zu beurteilen
wusste, steigerte sich die Geschwindigkeit seines Herzschlages.
Wenigstens ein kleiner Funke an Selbstvertrauen war ihm dennoch
geblieben. Der allerdings war schon im nächsten Moment verflogen,
wie eine Feder im Taifun.
„Es
gehört
niemandem.“
Nicht
das Mädchen war es gewesen, die seine Frage beantwortet hatte.
Erneut war Ryan gezwungen, sich umzudrehen, um zu erfahren, wer da
mit ihm sprach. Durch die wiederholte Erfahrung des Schrecks konnte
er es diesmal nicht vermeiden, einen hektischen Schritt weit von der
Quelle zu entfernen, wobei er peinlich über seine eigenen Füße
stolperte und ins Straucheln geriet. Wenigstens konnte er sich auf
den Beinen halten, doch war unbestreitbar seine trotzige und
unerschrockene Fassade längst eingestürzt. Zertrümmert von zwei
Frauen, wie er feststellen musste. Denn auch die zweite Stimme war
weiblich. Ihre Besitzerin trat gerate aus dem Unterholz des Waldes.
„Doch
wenn Ihr fragt, wen es begleitet...“
Noch
lag der Schatten der Baumkronen über ihr, weshalb nicht viel von ihr
zu erkennen war. Doch ihr blondes Haar schien dem ohne Mühe zu
trotzen. Sofort hob sich der helle Fluss auf ihrem Haupt vom Dickicht
ab und verlieh ihrer Gestalt, die noch kaum mehr als eine Silhouette
war, eine anmutende Schönheit.
Ryan
war es ein wenig, als würde er geblendet, als sie schließlich ins
Tageslicht trat. Ihr Haar schien zu glänzen, wie reines Gold. Eine
Böe zog wie heraufbeschworen durch die schmale Passage, die der Weg
in den Wald schnitt und ließ es mit seinem dezenten Geheul im Wind
peitschen. Es war glatt wie Seide, doch kräuselten sich die Spitzen
leicht, gaben nur kurzweilig dem Winde nach, bevor sie wieder Ruhe
fanden und sich fast bis zu den Kniekehlen rankten. Ähnlich erging
es dem schwarzen Mantel, den sie trug. An einem hohen Kragen prangten
zwei blaue, glänzende Ovale, wie Saphire. Vom Hals ab bis zur Taille
war der Mantel zugeknöpft, flatterte ihr jedoch ab dort weit um die
Hüfte und ihre athletischen Beine, die weinrote Innenseite
offenbarend. Ihr Gang in der engen Lederhose unter mehreren, schmalen
Gürteln war erhaben, edel, wie von einem Menschen höheren
Lebensstandards. Sie folgte mit den Schritten ihrer ebenfalls
absatzlosen, schwarzen Stiefel scheinbar einer imaginären, geraden
Linie. Ihre rechte Hand steckte in einem braunen Handschuh, der bis
zum Ellenbogen reichte. Einige Laubblätter wirbelten um ihre
Ehrfurcht gebietende Gestalt und umspielten ihre Anmut. Ihnen gleich
tat es ein kleines, schwarzes Pokémon, das Ryan unbekannt war.
Spontan würde er es als Geist klassifizieren, da es im Prinzip nicht
mehr war als ein schwarzer Gaskörper – ähnlich wie Nebulak –
mit einer weißen Totenkopfmaske. Weder von dem wilden Flug ihres
Schopfes noch ihrer Kleidung schien die Frau auch nur die geringste
Notiz zu nehmen. Unberührt von sämtlichem Einfluss schritt sie
zielgenau auf Ryan zu und blickte ihm mit einem hohen Lächeln, von
dem dieser nicht wusste, wie er es einzuordnen hatte, direkt in die
Augen.
Leicht
breitbeinig nahm sie eine steife, doch irgendwie einschüchternde
Position vor ihm ein. Die Arme ausgestreckt und die Hände zu Fäusten
geformt, sah sie auf ihn herunter – sie überragte Ryan um ein paar
Zentimeter. Das schwebende Pokémon zeigte weder Scheu noch
Hemmungen. Es flog sehr nahe vor Ryans Gesicht und blickte ihm mit
einem leuchtend, roten Auge direkt in die seinen. Er zuckte zurück.
Für ein ihm unbekanntes Pokémon, dessen Trainer ebenfalls
unbekannte Intentionen hegte, war ihm es einfach zu nah. Doch es
bedrängte ihn nur für einen Augenblick, begab sich rasch wieder in
die Gesellschaft der blonden Frau, die fürsorglich mit dem
Handrücken seinen Geisterzipfel streifte. Einige Sekunden lang
unterzog sie ihn einer stummen Betrachtung. Sie ließ sich Zeit,
wobei ihre Augen meiste auf den seinen ruhten. Nur ganz zum Schluss
wanderte ihr Blick kurz an ihm herab und wieder rauf. Ihren
angefangenen Satz ließ sie unvollendet, schien wohl eher eine
Reaktion des Jungen zu erwarten.
Doch
Ryan war wie versteinert. In was für eine Situation war er hier nur
geraten? Beschattet von einem Kramshef, dessen bedrohliche Aura von
zwei jungen Frauen, die ihn ganz plötzlich mitten im Wald
überraschten, noch stark in den Schatten gestellt wurde. Er befand
sich in einer leicht gebeugten, ängstlichen Haltung, als würde er
jeden Moment einen Angriff befürchten. So ganz schloss er dies auch
nicht aus, woran die Aussage des Mädchens mit den blauen Haaren
einen wesentlichen Anteil hatte. Deshalb hielt er sich jede Sekunde
für eine Flucht bereit. Doch ganz so einfach konnte er sich bestimmt
nicht aus dem Staub machen. Die zwei hatten sich, ohne dass er auch
nur irgendetwas bemerkt hatte und scheinbar auch noch ohne Mühe, an
seine Fersen geheftet und ihn mit ihrem Auftreten obendrein in eine
absolut unerwartete und angreifbare Lage versetzt. Das konnte nicht
jeder dahergelaufene Passant, wobei er bereits aus erster Hand
erfahren hatte, dass mindestens eine von ihnen nicht normal war.
Diese Frau, die er gerade zum ersten mal sah, schätzte er allerdings
ähnlich ein.
Die
Nerven spielten verrückt und das in seinem ganzen Körper. Sie
spannten sich bis zur Grenze ihrer Belastbarkeit, was Ryan nun dazu
brachte, doch einen Pokéball hervor zu holen, während er versuchte,
eine warnende Mimik aufzusetzen. Seine schnelle Atmung und der
gejagte Blick verhinderten allerdings jeglichen Erfolg. Später würde
ihm vermutlich klar werden, dass er nie eine Chance auf selbigen
gehabt hatte.
„Legt
euch nicht mit mir an.“
Die
Frau legte den Kopf leicht schief und prüfte den Wahrheitsgehalt
seiner Drohung scheinbar mit ihren Augen. Nach wenigen Sekunden
schien sie jedoch durchschaut zu haben, dass Ryan sich seiner
unterlegenen Lage bewusst war und trat, das Lächeln nun ein bisschen
weiter, langsam auf ihn zu.
„Ich
hatte gehofft, dass sich unser Treffen nicht ganz so angespannt
gestalten würde.“
Ryan
gefiel ihre Annäherung überhaupt nicht. Er machte seinerseits einen
Schritt nach hinten, versuchte das Spielchen aus Vor- und
zurückweichen jedoch vorläufig zu unterbinden.
„Dann
hättet ihr einiges anders anstellen müssen. Also wer seid ihr? Was
wollt ihr von mir?“
Es wäre bloß natürlich für Menschen mit
unguten Absichten, diesen Fragen auszuweichen, da sie für gewöhnlich
nicht konkret beantwortet werden konnten, ohne ihre zu wahrende
Identität preiszugeben. Und genauso antwortete auch sie. Die Arme
dabei leicht ausgebreitet und beruhigend die leeren Handflächen
offenbart.
„Ihr
könnt euch beruhigen. Bitte. Wir haben nicht vor, Gewalt
anzuwenden.“
Ryan
kam sich vor, wie in einem schlechten Film. Diese Worte rochen doch
gegen den Wind nach Lüge und wären für einen Krimistreifen
geradezu typisch. Doch er ertappte sich selbst dabei, wie er ihnen
aus irgendeinem Grund Glauben schenkte. War es die Art und Weise, wie
sie es sagte? Sie klang so ehrlich und offen. Doch die Kunst des
Lügens war einfach zu erlernen. Ryan beschloss, auf der Hut zu
bleiben. Nebenbei bemerkte er, dass sie ihn seltsamerweise mit „Ihr“
anredete. So hatten die Menschen einst zu mittelalterlicher Zeit
gesprochen, was heute jedoch mehr als unüblich war.
„Was
soll das hier? Gehört ihr zu Team Rocket?“
Ein
sanftes Lachen war zunächst alles, was von der ominösen Fremden
ausging. Leicht wandte sie dabei den Blick ab, was dann in ein
Kopfschütteln mündete. Sie bemerkte, wie die Augen des jungen
Trainers nervös zu ihrer Gefährtin huschten und folgte diesen
knapp.
„Für
die unpassende Äußerung meiner Partnerin muss ich mich
entschuldigen. Zivilisiertes Verhalten ist nicht ihre Stärke. Doch
sie wird Euch nichts tun und ich genauso wenig.“
Nun
wieder die Blondine ins Auge fassend, machte er jedoch keine
Anstalten, sich zu beruhigen oder seine Vorsicht beiseite zu
schieben.
„Deine
Stärke scheint es auch nicht gerade zu sein. Zivilisiert wäre es,
sich einfach vorzustellen, anstatt jemanden so zu überfallen.“
„Auch
dafür bitte ich um Verzeihung. Aber es ging leider nicht anders. Wir
hatten Mühe, die Agentin von Team Rocket abzuschütteln, um uns
unbemerkt mit Euch zu treffen. Doch uns bleibt vermutlich nicht viel
Zeit, bis sie uns findet. Daher hört mir einfach zu.“
Ryan
versuchte fieberhaft, die Lage einzuschätzen und dachte über ihre
Bitte nach, während er seinen Blick nicht eine Sekunde von ihren
Augen nahm. Sie waren blau, wie der Himmel und frei von jeglichem,
verräterischen Funkeln oder Blitzen. Jedes einzelne Wort war
bedacht, aber ruhig und überzeugend über ihren Lippen gekommen.
Doch irgendwie war ihm die Situation zu obskur, die beiden zu
verdächtig und ihre Vorgehensweise einfach zu beunruhigend. Alles in
ihm riet, den beiden zu misstrauen. Doch warum lockerte sich dann der
Griff um seinen Pokéball? Er behielt ihn zwar noch in der Hand und
verkleinerte ihn auch nicht, doch deutlich reduzierte sich seine
Körperspannung. Aber wieso? Was veranlasste ihn dazu, ihren Worten –
wenn auch nur in geringen Maße – Vertrauen zu schenken? Während
er noch über sein eigenes Verhalten nachdachte, nickte er ihr, sich
einverstanden erklärend, zu. Ein schätzendes und offenkundiges
Lächeln, dankte es ihm.
„Ihr
könnt mich Mila nennen. Ihr selbst braucht Euch nicht vorzustellen,
Ryan Carparso.“
„Woher
kennt ihr mich?“
Die
Tatsache, dass sie seinen Namen kannte, schürte weiter das
Misstrauen, das nach wie vor ihn Ryan vorhanden war und ihn zur
Vorsicht mahnte. Doch er änderte seine Körperhaltung nicht und hob
auch nicht die Stimme. Er nahm sich vor, nun ganz nüchtern zu
bleiben und diese Mila ausreden zu lassen, jedoch alles, was nur
ansatzweise verdächtig wirkte, zu hinterfragen.
„Ich
muss gestehen, dass wir Euch und Euren Begleiter eine Zeit lang
beobachtet haben.“
Sie
klang wahrhaft schuldbewusst und zwischen den Zeilen war er sich
sicher, eine Entschuldigung herauszuhören.
„Ihr
seid meiner Partnerin auf unserem Weg auf diesen Kontinent in
beunruhigender Form aufgefallen. Zwar bin ich mir inzwischen sicher,
dass unser anfängliches Misstrauen Euch gegenüber ungerechtfertigt
gewesen war, doch...“
„Wieso?“
Mila
schien es tatsächlich für einige Sekunden die Sprache zu
verschlagen. Vielleicht genoss sie aber auch nur ihr überlegenes
Lächeln und ließ den Wind eine angespannte Symphonie zu dem Stück,
welches sie hier aufführte, spielen. Die Stille war erdrückend für
Ryan, doch selbst als er seine Frage erneut stellte, behielt er Ruhe
und Stimmlage bei.
„Wieso
habt ihr mich verdächtigt? Ich habe dieses Schiff gerettet“,
rechtfertigte er sich. Milas Lächeln wurde für einen kurzen Moment
wieder ein wenig weiter.
„In
der Tat.“
Der
junge Trainer wusste nicht, warum er so sehr an jedem einzelnen ihrer
Worte hing. Er wollte ihr unbedingt zuhören. Doch konnte dieser
Drang wirklich allein auf dem Verlangen nach Antworten gründen?
Nein, dahinter steckte mehr. Ihm war, als könne er ihr wirklich
vertrauen. Doch warum glaubte er das? Sie hatte ihm nicht einen Grund
dazu gegeben.
„Doch
es war nicht Euer Kampf, der uns misstrauisch machte.“
Wieder
kam sie näher. Ryan verbot es sich jedoch, erneut zurückzuweichen.
Sie war nur noch zwei Schritte von ihm entfernt.
„Es
waren Eure Augen.“
Nun
schrillten sämtliche Alarmglocken in ihm auf höchster Lautstärke.
Alles in ihm beschrie diese beiden als Feinde. Der Griff um die
Kapsel in seiner Hand verstärkte sich wieder und seine ach so
verdächtigen Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Es gab abgesehen
von ihm selbst nur einen Menschen, der um die Wahrheit hinter ihnen
wusste.
„Ihr
habt sie durch den Bund mit einem Legendären, nicht wahr?“
Ryan
biss sich auf die Unterlippe. Es gab keine Erklärung dafür, dass
sie diese Information hatte, ohne den beiden Frauen Kenntnisse
zuzumuten, die den meisten Menschen gar nicht zugänglich waren.
Legendäre Pokémon stellten die mit Abstand größten Rätsel für
die Menschheit dar und sie las die Bindung, die er zu einem dieser
Wesen hatte, wie in einem offenen Buch? Es gab viele Möglichkeiten,
was dubiose Menschen wie sie mit solchem Wissen anfangen mochten. Und
keine dieser Absichten war gut.
„Woher
wisst ihr davon?“, knurrte er verärgert. Er war überzeugt, dass
es sinnlos war, ihr eine Lüge auftischen zu wollen und diesen
Vorwurf abzustreiten. Es war nichts als die Wahrheit und Ryan könnte
sich niemals für das, was er mit diesem Geschöpf teilte, schuldig
fühlen oder gar schämen.
„Kein
Grund zur Beunruhigung. Wir werden Euch weder ausfragen, noch
verurteilen oder darüber interpretieren. Diese Sache geht uns nicht
das Geringste an. Der Grund, warum es für uns so simpel zu erkennen
ist, liegt in unserer eigenen Bindung zu einem Legendären und dem
Wissen über die alten Götter. Doch bitte lasst mich weiter
erklären, warum ich Euch heute treffen wollte.“
Ryan
fühlte genau dasselbe, wie schon zuvor. Alles sagte ihm, dass diese
Frau nichts Gutes bedeuten oder im Schilde führen konnte. Die
Behauptung, sie habe ebenfalls tiefere Erfahrungen mit einem
legendären Pokémon, stellte keine Ausnahme dar. Er wollte einmal
mehr glauben, dass sie ihm ins Gesicht log. Doch er konnte sich
selbst einfach nicht davon überzeugen. Etwas ließ ihn zuhören. Die
Anspannung nahm erneut ein klein wenig ab und er nickte ihr wieder
zu. Sein Blick war jedoch aufmerksamer und schärfer denn je. Und
obwohl er von dieser Mila keinerlei Gefahr spürte, fühlte er sich
unglaublich verletzbar, als er nervös zu ihrer Partnerin lugte.
„Wir
hielten es für das Beste, Euch eine Weile im Auge zu behalten. Doch
wie Ihr Euch erinnern könnt, dauerte es nicht lange, bis wir uns von
Eurer Gutherzigkeit sowie Eurem Mut überzeugen konnten. Wir sahen
euren Kampf im Wald. Und wissen auch, was Ihr im Versteck von Team
Rocket getan habt.“
Plötzlich
fühlte sich Ryan, als drückte ihm irgendetwas die Brust zusammen.
Ein flaues Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. Ihm war
sofort klar, dass es Schuldgefühle waren, die sich seiner
bemächtigten. Doch sie konnten unmöglich...
„Sie
hatte Euch und Euren Gefährten die ganze Zeit über im Auge“,
meinte sie mit einem Kopfnicken über die Schulter, ohne dabei den
Blick von Ryan zu lassen. Das Mädchen, dem die Geste galt, sprach
und rührte sich weiterhin nicht. Die Arme noch immer verschränkt,
stand sie leicht abgewandt, als sei sie desinteressiert an ihrer
Konversation, hinter Mila. Die Rubine in ihren Augenhöhlen lagen
jedoch eisern auf ihm.
„Wir
wissen, was Ihr an Euch genommen habt.“
Nun
schreckte Ryan doch wieder einen Schritt zurück. Völlig unbewusst
wanderte eine Hand an die Tasche, in welcher der grüne Orb verstaut
war. Schon im nächsten Moment hätte er sich dafür ohrfeigen
können. Damit hatte er die Anschuldigung, diesen Gegenstand
gestohlen zu haben, eingestanden. War er sich gerade eben auch noch
so sicher gewesen, dass es sinnlos wäre, Mila anzulügen, hätte er
dies doch vehement abgestritten. Niemals hätte er zugegeben, ihn
mitgenommen zu haben. Niemals hätte er sich zu dieser Tat bekannt.
Doch mit dieser unüberlegten Reaktion hatte sich dies erübrigt.
„Dieser
Gegenstand“, begann Mila nun großspurig und lag tiefen Ernst in
ihre beseelte Stimme.
„Er
ist für uns von unersetzlichem Wert. Er ist einzigartig auf der Welt
und wird über Erfolg und Misserfolg unserer Mission entscheiden.
Doch wir werden ihn Euch nicht abnehmen. Da wir Team Rockets Pläne
nicht kennen, ist es besser, wenn Ihr ihn vorerst behaltet. Wir
müssen zunächst Vorkehrungen treffen und mit einigen Leuten
sprechen.“
Sie
schien eine Antwort abzuwarten, doch Ryan wusste nichts zu erwidern.
Er dachte darüber nach, was es für ihn bedeuten mochte, dass die
beiden sich ebenfalls gegen Team Rocket stellten. Einerseits musste
dies doch bedeuten, dass sie Verbündete waren und irgendwo in seinem
Inneren stimmte ihn das erleichtert. Gleichermaßen jagte ihm die
Tatsache, dass Milas Partnerin ihn selbst im Versteck Team Rockets
noch hatte beobachten können, sowie das nicht unbedingt
vertrauenerweckende Handeln der beiden einen erneuten Schauer über
den Rücken. Dann hob Mila plötzlich den Zeigefinger.
„Eines
sollt Ihr unbedingt verstehen. Wir sind nicht Eure Feinde. Doch für
Euren Fehler werdet Ihr einen dornigen Weg auf Euch nehmen müssen.“
„Was
für einen Weg, zum Teufel? Woher weiß ich überhaupt, ob ich euch
vertrauen kann?“
„Ihr
könnt es nicht wissen und ehrlich gesagt interessiert es mich nicht,
ob Ihr uns vertraut.“
Nun
beugte sich sich langsam die wenigen Zentimeter zu Ryan herab. Dieser
musste all seinen Mut zusammennehmen, um nicht erneut zurückzuweichen
und ließ es schließlich zu, dass Mila ihm zärtlich eine Hand auf
die Wange legte. Ihm war danach, den Blick abzuwenden, ihr nicht in
ihre himmelblauen Augen schauen zu müssen. Doch er konnte nicht. Er
würde hinterher nicht mehr wissen wieso, doch er konnte es einfach
nicht.
„Aber
ich weiß, dass Ihr Euch über diesen Fehler, den ihr so unbewusst
und doch willentlich begangen habt, im Klaren seid. Und ich schätze
Euch als aufrichtig und gutmütig genug ein, um den Tod unzähliger
Menschen vermeiden zu wollen.“
Dieser
Satz ließ Ryan nun endgültig versteinern. Hatte sie das gerade
wirklich gesagt? Der Tod unzähliger Menschen? Wegen ihm? Was hatte
das zu bedeuten?
Der
Gedanke, er könnte für etwas so Schreckliches verantwortlich sein,
löste ein Gefühl in ihm aus, das er nicht benennen konnte. Wenn er
es versuchen müsste, würde er es als eine Mischung aus Schuld,
Selbsthass, Reue und dem Wunsch, seine Tat rückgängig machen zu
können, beschreiben. Doch plagten ihn seine Gedanken nicht schon die
ganze zeit über genau damit? Dabei war ihm nicht einmal bewusst
gewesen, welches Unheil er mit seiner Tat heraufbeschworen haben
sollte. Allein die Vorstellung, dass diese so absurde und wahnsinnige
Vorhersage Milas wahr werden könnte, entfachte ihn ihm den Drang,
seine Taten eigenhändig zu vergelten. Doch das war unmöglich. Es
war in jeder Hinsicht ausgeschlossen, dass dieser wundervolle Orb so
etwas anrichten konnte, allein dadurch, dass er ihn bei sich trug. Es
war Schwachsinn. Es war absoluter Schwachsinn.
Dies
redete sich Ryan immer und immer wieder ein. Er wusste nicht, wie
lange er mit diesen Gedanken kämpfte. Es fühlte sich an, wie endlos
lange Minuten, vielleicht waren es aber auch nur Sekunden. Doch egal
wie sehr er dagegen ankämpfte, welchen Pfad er auf dem Weg seiner
Gedanken folgte oder wie oft er einen neuen wählte, so geriet er
doch immer wieder an den selben Punkt. Und das war jener, an dem sein
Instinkt ihm sagte, dass er Milas Worten Glauben schenkten musste, um
seinen geistigen Frieden wiederzufinden. Doch wieso? Wieso nur? Wenn
ein beliebiger Mensch ihm Vergleichbares hätte erzählen wollen –
er hätte niemals auch nur ein Wort geglaubt. Selbst seinem besten
Freund Andrew hätte er so etwas wohl nie im Leben abgenommen. Doch
sogar eine so lächerliche Geschichte klang in Ryans Ohren noch immer
viel wahrscheinlicher, als der Gedanke, dass Mila lügen würde. Die
Aufrichtigkeit in ihren Worten war unbeschreiblich. Er versuchte
wirklich mit all seiner Kraft, in ihnen eine Lüge zu erkennen und
scheiterte doch an der Offenheit und Ehrlichkeit, die diese Frau
ausstrahlte. Was allerdings nicht bedeutete, dass sie und besonders
ihrer Partnerin keine Bedrohung sein konnten.
Mila
entfernte ihre Hand von seiner Wange, legte sie stattdessen auf ihre
Hüfte und richtete sich wieder zu voller Größe auf.
„Wenn
ich Euch also richtig einschätze, dann werden wir uns in der Stadt
Graphitport wiedersehen. Macht keine Umwege. Begebt Euch auf dem
schnellsten Weg dorthin.“
Ryan
hielt den Blick leicht gesenkt. Einerseits kämpfte er noch mit den
Informationen, die gerade seinen Verstand malträtierten.
Andererseits wollte er vermeiden, noch einmal in ihre schimmernde
Iris auf sich ruhen zu sehen.
„Was
ist in Graphitport?“
Schon
wieder dieser knappe Ansatz von einem Lächeln. Als fände sie
Gefallen an jeder von Ryans Fragen. Zunächst wandte sie sich jedoch
um und brachte gemächlich die kurze Distanz zu dem Mädchen mit den
blauen Haaren hinter sich. Das Pokémon, welches nie von ihrer Seite
wich, behielt sein leuchtendes Auge jedoch auf dem jungen Trainer.
„Wir
werden dort auf Euch warten. Macht Euch keine Gedanken, wann und wo
genau Ihr uns trefft. Wir werden Euch zu gegebener Zeit kontaktieren.
Die Hilfe einiger Leute wird vonnöten sein, um Euch zu schützen.“
Schützen?
Ihn? Ryan verstand zwar nur die wenigsten von Milas Worten, doch wozu
brauchte er denn nun Schutz? Obendrein war die Aussage, sie würden
ihn immer und überall in der riesigen Hauptstadt finden, alles
andere als beruhigend. Er würde sich wohl fortan ohnehin schon
ständig beobachtet fühlen. Unter diesen Umständen würde er wohl
noch wirklich zum Paranoiden.
„Mit
Team Rocket werde ich fertig“, beteuerte er und schaffte es, nun da
sie sich ein wenig entfernt hatte, einen entschlossenen Schritt nach
vorne zu gehen. Zum ersten Mal hob Mila nun jedoch die Stimme ein
wenig und versuchte ihre folgende Warnung so scharf wie möglich in
den Verstand des Jungen einzuprägen.
„Ich
rede nicht von diesen idealistischen, machthungrigen Narren. Meine
Sorgen beziehen sich auf den, hinter dem sie her sind.“
Nun
legte sie den Kopf leicht in den Nacken und blickte Ryan aus dem
Augenwinkel an. Ihr Mund hatte sich zu einem amüsierten und doch
irgendwie herabwürdigenden Lächeln verzogen. Etwas, das er zuvor
nicht bei ihr hatte erkennen können. Als würde sie mit einem Kind
reden, das übermütig beschlossen hatte, in einem Krieg zu ziehen.
„Ihr
hattet nicht vor, Selbstmord zu begehen?“
Ryan
schluckte nur. Er wusste nicht, mit welchen Mächten diese zwei wohl
täglich zu tun hatten und in welche er mit dem Stehlen des Orbs
hineingeraten war. Doch ihm wurde langsam bewusst, dass er sich in
gewaltiger Gefahr befand.
„Wenn
ihr verstanden habt, was ich Euch gesagt habe, habe ich keinen Grund,
Euch weiter aufzuhalten. Ihr könnt gehen. Doch behaltet meine Worte
in Erinnerung. Dinge sind ins Rollen geraten, die nicht nur Euch oder
uns beide, sondern alle Menschen sowie einen bedeutenden Teil aller
Pokémon betreffen. Denkt immer daran, wenn Ihr in eine Situation
geraten solltet, in der Ihr zögert.“
Mila
hatte den Kopf wieder gänzlich abgewandt und starrte den Weg, den
Ryan von der Stadt aus hierher gekommen war, hinab. Gleichzeitig
verloren sich ihre Augen irgendwo in der Ferne.
„Eine
Frage habe ich noch.“
Ryan
öffnete langsam den Reißverschluss einer Jackentasche. Mila
reagierte nicht, horchte aber aufmerksam. Schließlich erfüllte ein
grüner Lichtschein den Pfad, ausgehend von dem herrlichen Kristall
in seiner Hand.
„Was
ist das? Und was bedeutet es?“
Tatsächlich
wusste Ryan so gut wie nichts über den Gegenstand, dem er selbst so
viel Wert beimaß. Noch immer fragte er sich von Zeit zu Zeit, was
für ein seltsames Gefühl ihn beschlichen hatte, als er im Versteck
Team Rockets darauf gestoßen war. Doch seine Frage blieb
unbeantwortet. Mila hielt ihm den Rücken gekehrt und ihrer
wortkargen Partnerin traute er keine brauchbare Antwort zu.
Geschweige denn, dass er den Mut aufgebracht hätte, die Frage an sie
zu richten. Ungebrochen war der eiskalte Blick, der auf ihm lag.
„Eure
Nacht auf See war sicher hart. Seht sie als kleinen Vorgeschmack auf
das, was Euch bevorsteht.“
„Was
hat dieser Vorfall damit zu tun?“
Es
nagte stark an der jugendlichen Selbstbeherrschung, dass diese Frau
immerzu in Rätseln sprach und einer klaren Antwort stets auswich.
Wenn tatsächlich so viel auf dem Spiel stehen sollte, wie sie
behauptete, gab es doch keinen Grund für diese verschleierte
Ausdrucksweise. Sie würde dem eigentlichen Sinn ihres Vorhabens nur
im Weg stehen. Ganz abgesehen davon, dass er diese Erfahrung so
schnell wie möglich vergessen wollte. Genau das schien Mila
allerdings zu bemerken.
„Ihr
nahmt sicher an, die Gefahr sei überstanden. Ihr dachtet, es sei
vorbei. Glaubt mir, nichts ist vorbei. Alles steht gerade erst am
Anfang.“
Ihre
Stimme schien sich ihrem Blick anzuschließen und sich irgendwo in
den Wäldern, die sie umgaben sowie den dunklen Ebenen ihres eigenen
Verstandes zu verlieren. Fast wirkte sie abwesend, doch Ryan traute
ihr nicht zu, sich von einem flüchtigen Gedanken entführen zu
lassen.
„Wir
warten in Graphitport auf Euch“, antwortete Mila schließlich.
Monoton und von sämtlichen Einflüssen unberührt fielen die Worte
und erstickten jeglichen, erneuten Versuch mehr von ihr zu erfahren
im Keim.
„Geht
nun.“
Ryan
hatte sich noch nicht ganz aus dem Sichtfeld der Frauen entfernt –
keine von beiden hatte sich auch nur einen Zentimeter bewegt. Doch
ganz plötzlich, ohne jeglichen Anlass, griff die Hand des
schweigsamen Mädchens, das ihm noch immer hinterher blickte, in ihr
Kreuz, den Griff einer der zwei Dolche, die dort befestigt waren.
Neugierig huschte das kleine, schwarze Geistpokémon um sie herum.
„Nein“,
verbot Mila nur, ohne ihren Blick von dem fernen Punkt entlang des
Weges, den sie seit Ende des Gesprächs mit Ryan angestarrt hatte, zu
nehmen.
„Warum
nicht? Wir könnten uns viel Ärger ersparen, wenn wir ihn auf der
Stelle töten.“
Milas
Stimmlage hatte sich auf einmal komplett verändert. Ihr Befehl klang
äußerst streng und es war eine ernste Warnung darin zu erkennen.
Ohne Zweifel duldete – ja, duldete – sie dieses Vorhaben nicht.
„Du
wirst weder ihn, noch den anderen
anrühren. In dem Moment, in dem deine Klinge einen dieser jungen
Männer berührt, sehe ich dich als Verräterin.“
Die
rubinfarbenen Augen wurden zu Schlitzen. Sie hatte schon halb zum
Sprint angesetzt, um Ryan in den Rücken zu stechen, doch um diesen
Preis würde sie sich Milas Befehl nicht widersetzen. Sie hatte sich
immer an ihre Anweisungen gehalten, obwohl sie selbst prophezeite,
dass der Moment kommen würde, in dem entweder ihr Gehorsam erlosch
oder der Tod sie zu sich holte. Würde sie dieser Frau doch bis in
jenen die Treue halten, so war sie von Zeit zu Zeit mit ihrer Art,
Dinge zu regeln, nicht einverstanden. Doch sollte nicht der Einbruch
der Hölle auf Erden selbst über sie alle kommen, würde Milas Wort
Gesetzt für sie sein. Ruhig und beherrscht steckte sie die Waffe
wieder weg und wandte sich stattdessen zum Gehen. Mila blickte dem
Jungen noch einmal kurz nach und folgte schließlich, ohne ein
weiteres Wort zu sagen.