"Vegichita?", unterbrach Zorua die nun schon eine Weile andauernde Erzählung des Affenpokémon: "Vielleicht solltest du dich nächstes Mal etwas kürzer fassen. Die volle Aufmerksamkeit hast du jedenfalls nicht mehr."
Serpifeus Bauch hob und senkte sich leicht, passend dazu hörte man nun wegen der totalen Stille, die jetzt in dem Baum herrschte und an der ein völlig verdattertes Vegichita teilnahm, wie Serpifeu leise atmete.
"Das darf doch nicht wahr sein!", entfuhr es dem Affen nach einem weiteren Moment des Schweigens. Sehr zum Leidwesen des Pokèmon war es aber so, wofür einerseits das weiche Fell von Zorua, in das sich Serpifeu gekuschelt hatte, andererseits die Tatsache, dass die Grasschlange nach den gestrigen Erlebnissen immer noch nicht ganz fit war, Schuld hatte.
Vegichita trug es mit Fassung, dass seine Zuhörerin einfach während seiner Geschichte eingeschlafen war. Vielmehr waren es seine Gedanken, die ihn jetzt beschäftigten. Egal wie lange die Ereignisse aus seiner Geschichte her sein würden, er könnte es nie vergessen, wie er sich damals gefühlt hatte.
"Zorua..." , begann er: "Geht es dir genauso wie mir, was den Vorfall damals betrifft? Hast du auch heute noch dasselbe Gefühl wie damals, wenn du nur daran denkst?"
Zorua antwortete, nicht minder beschäftigt: "Ich weiß sehr gut, was du meinst. Hast du seither wieder etwas von dem Jungen gehört?"
"Nein, nichts. Und du von Celebi?"
"Ebenso nichts mehr seit damals. Ob es den beiden gut geht, was sie heute machen? Diese Frage brennt mir bis heute auf dem Herzen", sagte Zorua.
"Eines habe ich aber gehört" , flüsterte Vegichita leise, aber dennoch aufgeregt, weil ihm dies wieder eingefallen war: "Kurz nach dem Vorfall ging auf einmal das Gerücht um, ein Pokémon sei aufgetaucht, welches behaupten würde, es sei ein Mensch gewesen."
Zorua prustete kurz, besann sich dann aber wieder auf das schlafende Serpifeu, das an seiner Seite lag. Leise fuhr er fort: "Ach komm - ein Mensch wird zu einem Pokémon?"
"Ich weiß selbst, wie verrückt es sich anhört. Aber Gerüchte von Menschen, die zu Pokémon wurden, gibt es immer wieder. Und diese Gerüchte tauchen immer dann auf, wenn etwas Einschneidendes passiert ist. Ob sie wahr sind oder nicht, kann niemand wissen. Aber es passt einfach zusammen. Nach unserem letzten Treffen hatte ich den Jungen nie mehr gesehen. Kurz danach kamen die Gerüchte auf und ich sollte nie wieder etwas von ihm hören oder sehen. Dabei hatte ich fest damit gerechnet, dass er irgendwann anfangen würde, mich zu suchen."
"So gesehen passt das" , grübelte Zorua: "Ich bin aber trotzdem skeptisch."
Ein Flackern huschte über meine Augen und kitzelte sie in meiner Müdigkeit. Ich schlug die Augen auf, wurde sofort erneut geblendet. So kniff ich die Augen zusammen und rollte mich auf die Seite. Erst riskierte ich meine Augen nur einen Spalt breit zu öffnen, bis ich mich einigermaßen an das Licht gewöhnt hatte. Die typische Schwere eines unschön unterbrochenen Mittagsschlaf hing mir in den Gliedern. Ich reckte und streckte mich, um meine Muskeln aufzuwecken. Wie weit war der Tag fortgeschritten? Mit diesem Blätterdach über mir war es ein Ding der Unmöglichkeit, das zu sagen. Indem ich meinen Blick im Kreis wandern ließ, erkannte ich, dass ich mich in Zoruas Baum befand - ich musste echt wie ein Stein geschlafen haben, dass ich nicht wach wurde, als ich wie auch immer in diesem Baum gebracht wurde.
Aber wenn dies Zoruas Baum war...
Richtig! Dort war der Aufstieg in die Baumkrone. Ich würde also nachsehen können, welche Tageszeit grade ungefähr war. Aber diese Müdigkeit...
Mit einer ordentlichen Portion Zwang schleppte ich mich die Balken hinauf. Einer der Gründe, warum ich nie in einem Wald leben will und schon gar nicht unter einer Baumkrone, dachte ich mir, ist der viel zu geringe Sonnenschein. Wie sollte ich hier denn bitteschön Energie tanken? So schön es hier auch sein konnte, mein Geschmack waren doch mehr weite, offene Flächen mit vereinzelten Bäumen - aber nicht so ein enges Dickicht. Wie dem auch sei, ich war nun oben und sofort zeigte die im Zenit stehende Sonne ihre belebende Wirkung. Darum hatte ich meine Gefährten in dem Labor immer etwas beneidet. Floink und Ottaro waren lang nicht so sonnenabhängig wie ich. Floink hasste es zwar, wenn es über einen gewissen Zeitraum bewölkt war, aber das ist nur logisch. Er braucht die Sonne zwar nicht unbedingt, ist aber dennoch ein Feuertyp. Nach Ottaros Empfinden aber könnte es den ganzen Tag ununterbrochen regnen.
Eine Weile stand ich dort oben, bevor ich wieder hinabstieg. Nun frisch mit Sonnenenergie versorgt und somit auch wieder besser imstande, klare Gedanken zu fassen, traf ich einen Entschluss:
Ich würde gehen. Heute noch und zwar sofort. Ich würde zwar so nie erfahren, ob Vegichitas Geschichte für mich wichtig sein würde oder nicht, aber darauf gab ich in diesem Moment nicht sehr viel. Das Letzte, was mir einfallen würde, wäre, irgendjemanden wegen seiner Einstellung zu verurteilen. Vegichita und sein Trupp können es ja nicht mögen, in Menschennähe zu leben. Ich jedoch wollte es so - ich mochte Peter und ich vermisste es, in seiner Nähe zu sein. Und ich wüsste nicht, wieso ich mich von diesem Verlangen abhalten sollte beziehungsweise was mich da umstimmen sollte. Demnach musste ich auch nicht unbedingt das Ende der Geschichte kennen. Ich wollte einfach nur noch zu meinem Trainer - nach Hause.
Während mir diese Gedanken kamen, hatte ich mich völlig geistesabwesend mit meinem Ranken von dem Baum herabsinken lassen und den Weg eingeschlagen, der mir gestern noch von Zorua und Vegichita gewiesen wurde. Ich hatte entschlossen, nicht zurückzublicken. Wozu auch? Doch nach einer Weile des Laufens - ich ging definitiv nicht langsam - hörte ich hinter mir den sanften Ton raschelnder Blätter. Ich blieb stehen, drehte mich jedoch nicht um. Zu gut sagte mir mein Instinkt, wer das war.
"Du verlässt uns?" , fragte mich Zorua. Ich mochte den Klang seiner Stimme nicht. Sie hatte etwas Resignierendes, gleichzeitig Trauriges an sich, ein Klang, der mir einen Schauer über meinen blattförmigen Schweif jagte.
Ich schlug die Augen nieder und sagte leise: "Ja, ich muss. Ich will. Wie du und der Rest deiner Freunde leben wollt, ist zwar bestimmt verständlich, aber ich möchte es nicht. Ich fühle mich da zu Hause, wo mein Trainer ist. Und da gehe ich jetzt hin."
"Ebenso glaube ich, dass du dich nicht leichtfertig entschieden hast" , sagte Zorua: "Ich wünschte nur, du hättest Vegichita fertig angehört. Was aber auch immer passieren wird, ich wünsche dir alles Gute."
Er versuchte mich nicht umzustimmen, dafür war ich in dieser Situation dankbar. Zum Reden war mir jetzt kaum zumute.
Ich seufzte: "Das ist dann wohl der Abschied. Mach es du auch gut."
Zorua sagte auch mir Tschüss. Ich drehte mich nicht um, ich konnte es nicht, ich wollte nicht seinen Gesichtsausdruck sehen, der zu seiner traurig klingenden Stimme passen würde. Langsam setzte ich mich in Bewegung, wurde dann schneller und schneller, bis mich meine kleinen Beine so schnell über den Boden trugen, dass man wohl meinen könnte, ich würde schweben, während mein Schweif immer von links nach rechts und zurück schwankte, um mein Gleichgewicht zu halten. Erst als nicht mehr konnte, stoppte ich und lehnte mich gegen den anschmiegsamen Stamm eines sehr jungen Baumes, der sich unter meinem Gewicht sogar ein bisschen bog. Ich genoss das Gefühl der weichen, kühlen Rinde und ordnete meine Gedanken. Mein Blick wanderte von links nach rechts durch die Bäume und das dichte Gestrüpp. Anhand der Nähe, die die Bäume zueinander hatten, war es unmöglich zu sagen, in welcher Richtung der Wald aufhörte. Es gab hier kaum lichte Stellen und nur wenig Sonnenstrahlen schafften es durch die Kronen auf den weichen Waldboden, wo kleinere Pflanzen um jedes bisschen Licht wetteiferten, welches sie kriegen konnten. Aber einen Anhaltspunkt hatte ich: Als ich auf der Spitze von Zoruas Baum Energie getankt hatte, war ebenso das Meer zu sehen gewesen. Wenn ich in die Stadt zu gelangen suchte, war es bestimmt nicht verkehrt, in entgegengesetzter Richtung des endlosen, salzigen und herb riechenden Wassers zu ziehen. Ich richtete mich auf, der kleine Baum schwang mit einem leisen Blätterrascheln wieder in die Aufrechte. Und ich, nachdem ich noch einen Moment verweilte, fing an loszugehen. Hoffentlich dem Waldrand entgegen.
Die glühende Sonnenscheibe zog ihre Bahn über den Himmel, während endlose Baumreihen an mir vorbeiglitten. Meine kleinen Füße schmerzten vom vielen Laufen und ich konnte jedes Blatt, jeden noch so kleinen Reisigzweig spüren, als wäre der Boden hier mit stachelbewehrten Planzen übersät. Doch ich konnte es mir nicht erlauben, stehen zu bleiben. Nur einige kurze Momente hielt ich an. Wenn ich ein kleines Wasserrinnsal antraf, gönnte ich meiner trockenen Kehle ein paar Schlucke. Aber es war nunmal besonders wichtig, dass ich heute noch so weit wie möglich kommen würde. Meine einzige Orientierungsmöglichkeit in diesem dichten Wald war die Sonne, die man zwar nur leicht, aber immerhin überhaupt durch das Blätterdach blitzen sehen konnte. Würde dir Nacht hereinbrechen, könnte ich nicht mehr weitergehen. Zu groß wäre die Möglichkeit, dass ich komplett von meinem Weg abweichen würde. Und noch dazu würde mir die Dunkelheit zu schaffen machen...
Allmählich wurde das Licht des Tages schwächer, dies machte sich auch unter dem Blätterdach bemerkbar. Ich ging immer noch weiter, sehnte mich allerdings schon längst danach, mir endlich Ruhe zu gönnen. Die Muskeln meiner Beine brüllten mir zu, mich auszuruhen, doch ich ignorierte es. Ich wurde angetrieben von dem Wunsch, wieder meinen Trainer zu sehen, und natürlich meine beiden Kumpanen Ottaro und Floink. Je länger ich sinnierte - und Zeit zum Sinnieren hatte ich auf meiner Wanderung reichlich, es war eine wilkommene Abwechslung im Vergleich zu meinen schmerzenden Muskeln - desto mehr wurde mir klar, wie sehr ich sie alle vermisste. Das war der Ort, an den ich gehörte, nicht in diesen Wald. Ich fand es nur eigenartig, dass mir keine anderen Pokémon begegneten. Ich hätte erwartet, alle Nase lang Eines zu treffen - der Wald aber wirkte wie ausgestorben. Eine gewisse Zeit später zu Fuß sollte ich den Grund erfahren.
Mit einem Mal brach das Blätterdach auf und ich stand auf einer Lichtung. Zuerst war ich froh, den Himmel in so einem großen Stück zu sehen, bis ich merkte, dass hier etwas nicht stimmte.
Überall auf der Lichtung waren große, mit dicken Wurzeln verankerte Baumstümpfe verstreut. Um sie herum lag ein Pulver verstreut, welches die Farbe und den Duft von Holz besaß. Und der schwere, würzige Geruch von frischem Harz hing in der Luft.
Ich war geplättet von der enormen Schneise der Zerstörung, die vermutlich von Menschenhand geschaffen worden war. Das erklärte, weshalb ich keinem Pokemon begegnet war...
In meinem Inneren fühlte ich mich unwohl. Der Anblick stimmte mich traurig. Manche der Stümpfe besaßen enorme Durchmesser, die Bäume, die zu ihnen gehörten, mussten ebenso beeindruckend gewesen sein und möglicherweise sehr alt. Das alles war anscheinend vor Kurzem zunichte gemacht wurden. Ganz leicht hing noch ein strenger Duft in der Luft, der sehr schwach war, mich aber trotzdem die Nase kräuseln ließ. Es war in etwa derselbe Duft, den diese großen Dinger verströmten, mit denen die Menschen immer vorwärts kamen, nur tausendmal schwächer. Wie hießen diese Dinger denn noch gleich? Ach ja, Autos...
Das einzig Gute war hierbei, dass die waldbewohnenden Pokémon hier vorerst verschwunden waren. Ich hatte also die Aussicht auf eine Nacht ohne Störungen und es kam mir nur gerade recht, dass ich nicht erfahren würde, was hier des Nachts alles auf Beutezug gehen würde. Noch immer dachte ich nach, besonders dass ich nicht wusste, was Vegichita schlussendlich zu dem machte, der er heute ist. Aber ein bisschen verstand ich ihn nun, bei diesem Anblick. Es erschien mir einfach falsch, was hier getan worden war...
Meinen Schlafplatz für die Nacht fand ich in der Nähe der gefällten Bäume. In einem durchschnittlich großen Stamm entdeckte ich ein Baumhöhle, die sich so ungefähr 5 Meter über dem Erdboden befand. Nachdem ich die Höhle auf deren Tiefe geprüft hatte, schmiss ich mithilfe meiner Ranken ich einen Haufen Blätter durch das Eingangsloch. Mit letzter Kraft zog ich mich schließlich selbst dort hinauf. Ich ließ mich in die Baumhöhle gleiten und wurde weich von der Masse an Blättern aufgefallen. Meine Glieder und Gedanken waren schwer von dem heutigen Gewaltmarsch und ich sank alsbald in einen Traum, indem ich sah, wie sehr viele Bäume durch Menschenhand fielen. Ich schrie aufgrund dieser Zerstörung, doch niemand hörte mein Klagen in dem vielfach hallenden Lärm der Motorsägen.
Ich erwachte. Es war schon hell draußen. Wie lange hatte ich denn geschlafen? Oh nein, das war wertvolle Zeit, die ich hätte nutzen können, um meinem Ziel näherzukommen. Mit einigen schnellen Bewegungen und indem ich mich streckte, versuchte ich die immer noch bleischwere Müdigkeit zu vertreiben. Mir kam es vor, als hätte ich keine drei Stunden geschlafen. Aber - was war das? Irgendwas war an diesem Licht eigenartig, es flackerte immer hin und her und ich hörte die Stimmen von Menschen, die sich Dinge zuriefen. Was wollten sie hier? Und hatten sie etwa eine ganze Armee mit diesem Stäben mitgebracht, die Licht machen konnten und schwenkten sie nun durch die Bäume? Auf einmal, als meine Sinne nun erwacht waren, merkte ich mit einem Schock, dass hier keine Menschen riefen - es waren die Schreie von Pokemon! Und sie hatten alle eines gemeinsam, den panischen Klang in ihren vielschichtigen Stimmen. Ich sprang hoch und lehnte mich mit dem Oberkörper aus der Baumhöhle. Schlagartig erstarrte ich und das Blut gefror mir in den Adern. Extreme Hitze schlug mir entgegen, die Schreie der Pokemon wirkten nun, da ich nicht mehr im Schutz der Höhle war, viel lauter und ein bedrohliches Knacken und Rauschen hatte sich der Geräuschkulisse beigemengt. Blendend helles, orangenes, flackerndes Licht zwang mich, die Augen zusammenzukneifen und die höllisch heiße Luft machte es mir schwer, zu atmen.
Der Ewigenwald hatte Feuer gefangen. Und dies war kein Traum.
Am Ende von Kapitel 11 habe ich eine Anmerkung hinzugefügt, eine kleine Ergänzung zu der Einleitung des Kapitels. Erinnert ihr euch an den wenig sinnvollen Reiseführer, der diesen ewigen Text über die Traumbrache, aber keine Wegbeschreibung/Stadtplan enthält?
Beim Schwarz erneut durchspielen stolperte ich über eine Backpackerin auf Route 4, die vor dem Kampf sagte, ihr Pokemon sei eine Empfehlung aus einem sehr Reiseführer. Wenn man sie besiegt hat, sagt sie, dass in dem Reiseführer aber nicht steht, wie man mit dem Pokemon kämpft. Es handelt sich also um einen unnützen Reiseführer. Wenn ich mir den Anfang dieses Kapitels so ansehe...
(Ob das wohl mein Unterbewusstsein war? :D Beim Schreiben des Kapitels hatte ich diese Trainerin jedenfalls nicht mehr im Kopf)