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Prolog
Non-commercial use, Quelle
Bei einem Freund kannst du eine Sache besonders gut
- laut denken.
Kapitel 1: Wenn Blicke töten könnten
Nach dem ereignisreichen Morgen waren bereits einige Stunden vergangen. Ralvisae hatte sich ihrem eigenen Alltag gestellt und saß demzufolge unter Büchern, Pergamenten und Schriftrollen begraben in einem etwas abgegrenzten Teil der riesigen Bibliothek der Akademie.
Vor ihr saß Varathil – ein überaus angesehener Magier und Berater des königlichen Hofes, der das große Glück hatte, ihren heutigen Unterricht zu führen. Außerhalb ihrer Studien und des Unterrichts war der Elf ihr Vertrauter, gar ein Freund könnte man sagen. Denn die chaotische und ungezügelte Persönlichkeit der jungen Frau faszinierte ihn; erinnerte ihn daran, dass die Welt noch Träumer und Freigeister besaß. Ralvisae war anders. Und anders war gut. Sie musste nur noch lernen, Verantwortung zu übernehmen und gewissenhaft mit der Macht umzugehen, die sie zu beherrschen lernte.
Aktuell schienen die Bücherregale in der unmittelbaren Nähe jedoch weitaus interessanter zu sein als die Lektionen vor ihr auf dem Tisch. Noch immer sinnierte sie über den Morgen. Wie peinlich das alles doch gewesen war! Ral wollte gar nicht darüber nachdenken, wann sie ihrem Vater gegenübertreten musste. Ihr Verhältnis war ohnehin schon schwierig, aber jetzt? Vielleicht konnte sie später einfach nach Hause zu Mutter schleichen … ohne, dass sie ihm begegnete.
»Ich nehme an, Ihr seid fertig, Miss Ravinfall?«
Die Angesprochene zuckte zusammen, als sie so unvermittelt die ruhige und tiefe Stimme Varathil’s hörte. Lange Zeit hatte man nur das Rascheln von Papier gehört oder entfernte Schritte von anderen, die in der Bibliothek unterwegs waren. »Ich … ähm.« Sie sah auf die Pergamente vor sich, linste hoch zum aufgeschlagenen Buch direkt darüber und legte dann den Kopf schief. »Vielleicht?«
Varathil schloss das Buch in seiner Hand mit einer Bewegung und erhob sich. Das „Tud“ beim Schließen der Lektüre ließ Ralvisae hochsehen. Sie beobachtete ihn dabei, wie er langsam zu ihr gelaufen kam. Seine langen schwarzen Haare wippten leicht im Takt seiner Schritte, seine hellen Augen lagen ruhig auf ihr und er wirkte weder überrascht,- noch erbost. Das tat er nie. Als er vor ihr zum Stehen kam, neigte sich sein Kopf zur Seite. Der markante Ohrring an seinem rechten Ohr folgte der Bewegung.
»Sind wir unkonzentriert?«
Seufzend sank die junge Frau in ihrem Stuhl zusammen. »Ja. Dank Vaaltra’s toller Maßregelung heute Morgen geht mir das Alles nicht aus dem Kopf. Es war … peinlich und unfair! Außerdem muss ich jetzt mit meinem Vater vermutlich auch nochmal darüber reden.«
»Verantwortung für die eigenen Taten zu übernehmen ist nicht immer eine einfache Aufgabe.« Varathil hob mitfühlend einen Mundwinkel an und setzte sich gegenüber an den Tisch. »Dennoch sollte Euch das nicht davon abhalten, Euer Studium fortzuführen.«
»Das sagt sich so leicht für d- … Euch«, berichtigte sich Ralvisae. Noch waren sie in einer Lehrstunde, noch war Varathil ihr Lehrmeister. »Wie soll ich mich auf etwas konzentrieren, wenn unser toller Erzmagier mir einen ganzen Sack voller Probleme gemacht hat, für die ich mir jetzt eine Lösung einfallen lassen muss? Nur weil er meint, dass diese Art von Maßregelung notwendig war!«
Der Elf schloss die Augen und seufzte. »Ich denke, wir können die heutige Stunde beenden.«
Ralvisae hielt verwirrt inne. Wie jetzt?
»Ich möchte allerdings, dass Ihr Euch bis zu unserer nächsten Stunde mit den Dingen beschäftigt habt. Ohne Ausreden, etwaige Ausflüge oder Schabernack. Ich erwarte, dass Ihr mir den Lehrinhalt wiedergeben könnt. Anderenfalls müsst Ihr wohl doch einen Großteil der Studien bei Vaaltra absolvieren.« Varathil beugte sich leicht nach vorn und hob beide Brauen an. »Ohne meine Mithilfe und Anleitung.«
Ral blinzelte mehrmals und plusterte dann ihre Wangen auf. Nickte jedoch. Es reichte, dass der Erzmagier überhaupt einige Lehren mit ihr durchging. Wenn sie alle mit ihm machen müsste, würde sie freiwillig von einem Burgfried springen.
»Gut.« Der Elf lächelte und lehnte sich dann wieder zurück. »Dann können wir ja jetzt über deine „Probleme“ reden.«
Murrend klappte sie die Bücher vor sich zu und stapelte sie. Die Pergamente wurden ebenfalls zusammengeschoben und die Schriftrollen ordentlich zusammengebunden. »Abgesehen davon, dass ich mich vor gefühlt dem gesamten königlichen Hof absolut lächerlich gemacht habe?«, fing sie an und wedelte kurz mit einer Schriftrolle in der Luft umher. »Oder, dass mich mein Vater ebenfalls gesehen hat? Aber gut, er ist Hauptmann der Wache. Natürlich hat er das.« Schnaubend verschränkte sie die Arme vor der Brust und ließ sich dann zurück auf den Stuhl plumpsen. »Ich vermeide es, mit ihm zu reden seit … na ja, du weißt schon. Demzufolge kann ich darauf verzichten. Aber dank Vaaltra werde ich nicht drum herumkommen.«
»So weit wie ich das mitbekommen habe, liegt das nicht nur an unserem Erzmagier.« Varathil legte den Kopf schief und grinste leicht. »Zumindest meine ich mich dunkel daran erinnern zu können, dass die Wachen von einer jungen Dame gesprochen haben, die diese Woche schon mehrmals für Unruhen gesorgt hat.«
Ralvisae stöhnte genervt. »Ja, weil ich über den Marktplatz gerannt bin. Wow.«
»Oder unseren jüngsten Prinzen zu Schabernack verleitet hast?«
»Das war Lothric’s Idee gewesen, nicht meine!«
Varathil fing an zu lachen. »Wessen Idee es auch immer gewesen ist. Er ist ein Prinz Weißforts und auch wenn ihr befreundet seid, muss dir bewusst sein, dass man dich dafür verantwortlich macht, wenn etwas passiert.« Der Elf wurde wieder ernst. »Insbesondere wenn es Lothric betrifft.«
»Ich weiß«, murrte sie. »Aber man kann es auch echt übertreiben. Ich verstehe, dass man wegen seiner gesundheitlichen Einschränkung vorsichtig ist. Aber er wird ja regelrecht eingesperrt und darf nirgendwohin. Außer vielleicht mit zehn Soldaten.« Ral gestikulierte mit ihren Händen durch die Gegend. »Das ist unfair.«
Daraufhin schwieg ihr Gegenüber einen Augenblick. Die fast Achtzehnjährige hatte Recht. Es war unfair. Doch würde das kaum jemanden interessieren in Anbetracht der Tatsache, dass Lothric mit einer unnatürlich starken Heilmagie geboren war und somit immenses Potenzial in sich trug. Ironisch, wenn man bedachte, dass er selbst an unheilbaren Dingen litt.
»Umso wichtiger, dass er in dir eine Freundin hat. Und umso wichtiger, dass ihr diese Freundschaft nicht mit unbedachten Abenteuern gefährdet.«
»Du hast wirklich auf alles eine Antwort oder eine Belehrung, oder?« Seufzend richtete sich Ral im Stuhl wieder auf. »Aber ich schätze, das ist auch nicht weiter verwunderlich. Du bist schließlich Berater und Vertrauter des Königshauses.« Kurz glitt ihr Blick zu seinem markanten Ohrring. Ein Zeichen für die allgemeine Gesellschaft. Ein Erkennungsmerkmal, woran man ausmachen konnte, was der Elf wirklich war. »Ist das nicht langweilig auf Dauer? Ich meine, du könntest sonst was machen!«
»Sonst was machen? Du meinst … rumfliegen, Dörfer terrorisieren oder einen Haufen Gold ansammeln, um mich draufzusetzen und dann einzuschlafen, bis eine Gruppe mutiger Abenteurer kommt?«
Ral musste nun auch endlich mal lachen. »Nicht alle Drachen sind so.«
Varathil schmunzelte. »Ja, auch wenn das die Gesellschaft gern denkt. Ich vermute, deswegen haben wir überhaupt erst zugestimmt, uns kenntlich zu zeigen, wenn wir in einer humanoiden Gestalt unser Dasein fristen.« Der silberne Ohrring wippte dabei hin und her. »Aber nein, es langweilt mich nicht. Im Gegenteil. Es wird nie langweilig, wenn man mit chaotischen jungen Damen zu tun hat, die nur selten etwas von Regeln gehört haben.«
»Sehr witzig …«
Ihr Gegenüber lächelte sanft. Er war seit Jahrhunderten eher ein Beobachter gewesen. Jemand, nach dessen Rat man fragte, wenn man nach Antworten suchte, die in keinem normalen Buch geschrieben standen. Daher rührte auch sein Titel: Seer of Eternity. Weißfort war mittlerweile seine Heimat. Für wie lange vermochte er nicht zu sagen. Doch er wusste, dass er die junge Frau vor sich anleiten wollte. Musste. Denn er konnte die Schatten spüren, die in diesem Königreich immer länger wurden.
»Du solltest noch ein wenig die nachmittägliche Sonne genießen, ehe sie hinter dem Gebirge verschwindet.« Varathil erhob sich und ließ seinen Blick durch die hohe Halle schweifen. Unzählige Bücherregale, Pergamente und Schriftrollen. Ja. Das war wahrlich seine Heimat. Wofür brauchte er Gold? Er hatte hier seinen ganz eigenen Schatz. »Und dich vor deinem Vater verstecken.« Der Schwarzhaarige neigte seinen Kopf leicht und zwinkerte Ralvisae zu. »Ich würde den seitlichen Ausgang nehmen.«
Schnaubend erhob sich auch die junge, fast erwachsene Frau, lächelte jedoch dankbar. »Danke für den Tipp. Wie auch immer du das schon wieder weißt.«
»Hm. Ein Drache weiß viel. Insbesondere ein magiebegabter Drache.« Varathil schmunzelte. »Vergiss deine Aufgabe bis zum nächsten Mal nicht. Meine Drohung war ernst gemeint.«
»Ja. Ich weiß.« Ral schaute auf den Stapel Bücher. »Kann ich sie hier liegen lassen? Ich glaube, wenn, dann kann ich mich hier am besten konzentrieren. Und in deinem Reich wird man kaum etwas ungefragt einfach wegräumen.«
»Lediglich, weil ich dich gut leiden kann, Miss Ravinfall.« Varathil machte eine wegwischende Handbewegung. »Und nun geh. Bevor ungebetene Gäste dich finden.«
Man konnte bereits das Stampfen von metallener Rüstung auf dem Marmorboden hören und genau das war auch das Stichwort für die junge Frau: Nichts wie weg hier.
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Einer der Vorteile, wenn man abenteuerlustig war, dann dass man sich ziemlich gut im Palast und dessen Umgebung auskannte. Noch praktischer war es, wenn man mit einem Prinzen befreundet war, der allerlei Arten von Geheimgängen kannte. Somit fiel es Ralvisae relativ leicht, unliebsamen Persönlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Kaum, dass sie das Gelände der Akademie verlassen hatte, duckte sie sich unter einigen Zierbüschen und -bäumen sowie elegant angelegten Gärten hindurch. Die Schönheit eben jener nahm sie nur nebensächlich in sich auf.
Es war recht anstrengend, möglichst unbemerkbar zu bleiben an diesem Tag. Die Tatsache, dass Lorian heute wiedergekommen war, hatte den gesamten Palast und Umgebung aufgescheucht. Als hätte man in ein Bienennest gefasst. Mehr Wachen, mehr politische Persönlichkeiten, mehr Diener und Mägde, mehr … von allem. Selbst in der Akademie hatte man das gemerkt und die stand recht abseits am Berghang.
Ralvisaes Wangen fingen wieder an zu glühen, als sie sich daran erinnerte, wie auch Lorian zu ihr gesehen hatte, als sie unfreiwillige Schwimmstunden im Zierbecken genommen hatte. Davon abgelenkt; fasste sie versehentlich in einen Dornenbusch, als sie am Rand weiterschlich, und fluchte leise. Der ältere der Prinzen hatte ein gewisses Talent dafür, sie abzulenken und das auch ohne selbst anwesend zu sein. Wie auch bei vielen anderen jungen Frauen und Männern.
Je näher sie dem eigentlichen Palast kam, desto mehr beruhigte sich jedoch auch der bunte Auflauf an Persönlichkeiten. Bald kamen ihr größtenteils „nur“ noch Mägde, Diener, die königliche Garde oder Soldaten entgegen. Nicht, als würde Ral es riskieren, gesehen zu werden. Aber die angestammten Wege eben jener kannte sie relativ gut und musste nicht mit unangenehmen Überraschungen rechnen, wenn sie um eine Ecke bog.
Wie auch die gesamte Stadt, war der Königliche Palast in Weiß, Grau und Silber gehalten. Und jedes Mal war der Anblick atemberaubend, egal wie oft sie ihn nun schon gesehen hatte. Die spitzen Türme, die in den Himmel ragten. Die hohen Brücken, die verschiedene Teile des Gebäudekomplexes miteinander verbanden. Die vielen Dachpartien, die in der mittlerweile tief stehenden Sonne glänzten. Die gotische Bauweise des gesamten Palastes war Ehrfurcht gebietend. Er thronte wortwörtlich über Weißfort.
Kurz sahen die Hazel-Augen hinauf. Ob sie jemals offiziell auf einen der Türme dürfte? Als eigenständige Hofmagierin würden ihr gewisse Vorteile winken. Vielleicht würde sie sogar die königliche Garde beraten oder den Soldaten in einer Schlacht beistehen! Andererseits würde auch ein ganzer Haufen neuer Regeln auf sie warten. Bah. Ral schüttelte den Kopf. Es würde sie nicht mal wundern, wenn einige der Regeln noch Regeln hatten, wie sie zu befolgen waren. Und wollte sie das wirklich?
Als sie näherkommende Schritte hörte, löste sie den Blick von den hohen Türmen und huschte schnell weiter. Sie hatte wenig Lust, sich eine Ausrede einfallen zu lassen, warum sie hier unterwegs war. Aber eines stand fest: Ihr Vater würde sie wohl kaum im Palast suchen. Erstens das, zweitens schuldete sie ihrem besten Freund noch eine Erklärung für den morgendlichen Auftritt und drittens, war sie gern in den grünen Anlagen oder auf den Dächern unterwegs, die hier und da im Palast zu finden waren. Meistens hatte man dort nämlich seine Ruhe.
Mit ein paar kleineren magischen Tricks kam sie auch ohne Probleme an den Wachen vorbei. Behände balancierte sie über einen tiefen Dachvorsprung, kletterte an einigen Gargoyles vorbei und hüpfte auf einen Balkon, der unter einem angeschrägten Dach gen Palasthof zeigte. Diesen Weg war sie definitiv schon öfter gegangen, so flüssig und leicht wie das von außen betrachtet wirkte. Generell war der Weg über die Dächer deutlich einfacher, wenn man wusste, wohin man wollte. Zumindest empfand die junge Frau das so.
Sich Staub und kleinere Steinchen von den Händen abklopfend, lugte Ral um die Ecke. Vor ihr befand sich ein weitläufiger grüner Wintergarten mit etlichen Pflanzen und allerlei Gewächsen, der sich auch noch in mehrere Richtungen erstreckte. Es gab auch ein größeres Becken voller Wasser und Seerosen weiter hinten und Efeu kletterte sehr präsent an einigen Dachbalken entlang und sogar an den Säulen am Balkon hinab.
Sie mochte diesen Teil des Palastes mit am meisten, weil er grün und lebendig wirkte. Und damit war sie nicht allein; Lothric war fast immer hier anzutreffen. Selbst wenn er mit seinen eigenen Studien beschäftigt war. Der junge Prinz konnte ziemlich überzeugend sein, wenn er das wollte. Und seine kühle und ruhige Stimme vermochte durchaus den einen oder anderen Wunsch einzufordern. So etwa auch den Ort, wo er lernte. Ral musste nur aufpassen, dass sie nicht in einen von Vaaltras Heilkundigen reinrannte – eben jene waren nur zu gern damit beschäftigt, Lothric wie ein Schatten zu folgen. Natürlich sehr zu dessen Begeisterung.
Auf leisen Sohlen schlich die angehende Magierin über den steinernen Weg in der Mitte und sah sich aufmerksam um. Sie hörte nichts, was zunächst ein gutes Zeichen war. Kurz überlegte sie, ob sie Crown als Wachposten irgendwo platzieren sollte, sodass ihr gefiederter Freund sie vorwarnen konnte. Man konnte leicht jemanden übersehen in all dem Grün. Auch einfache Mägde, die sich um den Garten kümmerten.
»Suchst du jemanden?«
Alternativ konnte man auch einfach die Person komplett übersehen, nach der man Ausschau hielt. Ral zuckte zusammen, als sie die halb amüsierte und halb spottende Stimme vernahm. Ihr Kopf drehte sich zur Seite, wodurch ihr einige Strähnen vor die Augen fielen.
»Nicht mehr, schätze ich.« Ral verschränkte leicht die Arme vor der Brust, lächelte aber.
»Hm!« Lothric hob seinen Kopf etwas an. Einen Augenblick wirkte er distanziert, arrogant, fast so, als würde er auf Ral hinabblicken. Dann jedoch wandelte sich seine Körpersprache und ein freundliches Lächeln trat auf seine Lippen. »Du hast dir ganz schön Zeit gelassen. Ich dachte schon, ich müsste nach dir schicken lassen.«
»Bitte nicht.« Seufzend überbrückte sie den Abstand und setzte sich zu ihrem Freund an einen Tisch, der zwischen all dem Grün stand. Keine Bücher und keine anderen Anwesenden. Scheinbar hatte der Prinz einfach nur auf sie gewartet oder die Ruhe des Gartens genossen. »Mein Vater sucht schon den halben Tag nach mir und ich kann wirklich darauf verzichten.«
Ihr Gegenüber schnaubte, deutete dann jedoch mit seinem Kopf auf den Tisch. Nicht eine, sondern zwei Teetassen standen dort. Und ein großzügiges Angebot an Gebäck daneben. »Nach deinem Auftritt von heute Morgen kann ich das durchaus verstehen.«
»Erinnere mich nicht dran.«
»Du hast sogar Lorian fast zum Grinsen gebracht!«
»Lothric, bitte …«
Der junge Prinz lachte leise, während sich Ral an die Nasenwurzel fasste. Für sie ein vertrautes Geräusch, für viele andere eine Seltenheit. Seine schlanken und blassen Finger griffen nach der Teekaraffe und er goss den beiden etwas ein. Die eisblauen Augen lagen dann wieder auf seiner Freundin, während er ihr eine Tasse rüberschob. »Wieso hast du dich überhaupt so verspätet?«
Ralvisae’s Finger schlossen sich um die Tasse und sie genoss die Wärme des Getränks zwischen ihren Händen. »Also ehrlich gesagt … hab ichs vergessen.«
Lothric verschluckte sich am Tee, als er die Antwort vernahm. Etwas irritiert hob er eine Braue und starrte seine Freundin fast schon in Grund und Boden – hier konnte man deutlich merken, dass der junge Mann eine regelrechte Autorität mit den Augen zum Ausdruck bringen konnte. Wollte er hier nicht, doch konnte man vermuten, dass die sonst kühle und distanzierte Art von Lothric allein mit einem Blick die anwesenden Personen taxieren konnte.
»Ja … ach, keine Ahnung. Ich war mit dem Kopf woanders«, kam es kleinlaut vom anderen Ende des Tisches. »Ich habe es völlig verplant.«
»Du bist wirklich … besonders.« Kopfschüttelnd nippte er dann weiter an seinem Tee. »Aber ich will mal nicht so sein. Das „Geschehnis“ in deiner Familie ist noch nicht allzu lang her. Ich kann verstehen, dass deine Gedanken anderswo unterwegs sind.«
Rals Blick verhärtete sich und sie blickte stumm in ihre Tasse.
»Verzeih, ich wollte nicht-«
»Schon gut. Du hast recht.« Sie holte tief Luft und beobachtete die kleinen Wellen aufgrund der Vibrationen auf dem Tisch im Tee. »Das Geschehnis hat viel verändert. Aber ich bin froh, dass ich bei Mutter lebe und nicht bei Vater. Auch wenn das bedeutet, dass ich einen ziemlich langen Weg Bergauf habe.«
Lothric blieb eine Weile ruhig. Er war einer der wenigen, die das ganze Drama aus erster Hand mitbekommen hatten. Es war aber auch nicht unbedingt ein Geheimnis am Hof: Der Hauptmann der Wache hatte seine Frau mit einer anderen ersetzt. Normalerweise interessierte Lothric solcher Tratsch nicht. Aber normalerweise betraf es eben auch nicht seine einzige Freundin.
»Lass uns das Thema wechseln.« Ein sanftes Lächeln umspielte die Mundwinkel des jungen Prinzen. »Worauf hast du heute Lust? Einen Spaziergang? Den Sonnenuntergang auf dem Dach beobachten? Oder die Küche plündern gehen?«
Ralvisae lachte leicht. »Ich bin überrascht, dass du heute scheinbar keinerlei Verpflichtungen zu haben scheinst.« Verstohlen sah sie sich um. »Oder verstecken sie sich heute nur besonders gut?«
»Man ist so gütig gewesen, mich heute von allerlei „Verpflichtungen“ zu befreien.«
»Ich nehme an, weil dein Bruder zurückgekehrt ist?«
Lothric schmunzelte Ral über seine Tasse hinweg an, was diese nur mit einem Augenrollen quittierte. Er konnte es aber auch nicht lassen, sie mit Lorian aufzuziehen! »Auch, ja«, erwiderte er dann jedoch und nickte sacht. »Ich bin bislang allerdings noch nicht wirklich dazu gekommen, Zeit mit ihm zu verbringen. Berichterstattung dort, wichtiges Gespräch hier.« Der Silberhaarige hob die Schultern an. »Ich schätze, das ist normal, wenn er fast einen Monat nicht hier gewesen ist und im Namen des … Königs Dinge erledigt hat.« Selten nannte Lothric seinen Vater beim Namen. Ähnlich wie Ral hatte er nicht das beste Verhältnis zu ihm. »Und nebenbei ist er noch General der Armee, weswegen er auch meist Trainingsstunden absolviert – für sich oder seine Männer - und ... ja, „Bruder sein“ ist da manchmal etwas schwierig für ihn unterzukriegen. Zeitlich gesehen zumindest. Allerdings mache ich Lorian keinen Vorwurf.« Er schüttelte leicht seinen Kopf und seufzte tonlos. »Er ist der beste Bruder, den ich mir wünschen kann.«
»Hm, dann war dein Tag bislang also vergleichbar durchwachsen wie meiner. Also … minus der Schwimmstunde und des Blamierens natürlich.«
Beide lachten leise und nippten an ihrem Tee. Es war auch eine Weile ruhig zwischen ihnen, woran sich keiner störte. Oft saßen sie beisammen und genossen die gemeinsame Ruhe. Mal las jeder ein Buch und sagte nur hin und wieder etwas, wenn er was Spannendes gefunden hatte. Mal saßen sie auf einem Balkon oder gar Dach und betrachteten die Ferne. Heute tranken sie einfach Tee und genossen die angenehme Ruhe des Gartens.
»Wo hast du eigentlich Crown gelassen?« Verwundert sahen sich die blauen Augen um. Und in der Tat: Vom schwarzen Vogel fehlte jede Spur. »Sag mir nicht, Rekuntrix hat sie dir genommen.«
»Nein, nein«, winkte Ral ab, verdrehte jedoch die Augen bei der Nennung von Vaaltra’s Nachnamen. »Ich habe ihr nur keine spezielle Aufgabe gegeben, weswegen sie ihre Kreise zieht am Himmel oder irgendwo auf einem Vorspring sitzt und … Vogelsachen macht?« Sie hob etwas die Schulter an und grinste schief. »Aber ich kann sie rufen, wenn du magst. Ich wollte sie sowieso als Alarmglocke platzieren, sodass sie uns rechtzeitig warnen kann, sollte unliebsamer Besuch hier auftauchen.«
Gesagt, getan. Dank der Verbundenheit zu ihrer gefiederten Gefährtin brauchte sie nur einen einfachen Gedanken formen, der Crown erreichte. Und schon setzte sich der Vogel in Bewegung. Praktisch, so ein Familiar! Es dauerte zwar einige Augenblicke, doch dann kündigte sich der Rabe bereits mit einem Krächzen an und segelte durch den offenen Balkon, ehe sie beinahe lautlos auf dem Tisch landete und einmal ihr Gefieder schüttelte.
»Ah, viel besser.« Wie sonst auch, fuhr Lothric Crown einmal durch das plüschige Gefieder. »Also nehme ich an wir verbringen unseren Tag hier?«
Ral nickte. »Da ich mehr oder weniger auf der Flucht bin - ja.«
Schnaubend erhob sich Lothric. Er war deutlich größer als Ral, obwohl er fast ein Jahr jünger als sie war. Da die königliche Linie Elfenblut besaß, war es jedoch nicht weiter verwunderlich. Tatsächlich war Lothrics und Lorians leibliche Mutter eine Elfin gewesen, demzufolge waren die beiden Prinzen Halbelfen. Halbelfen, die einen wesentlich ausgeprägteren Elfenanteil in sich trugen.
Während ihr Freund sich durch den Raum bewegte, wies sie Crown an, weiter drinnen Wache zu halten, um ihnen rechtzeitig Bescheid zu geben, sollte ungewollter Besuch im Wintergarten auftauchen. Krächzend hopste sie dann vom Tisch und positionierte sich weiter entfernt und gut versteckt im Grün, während der Prinz an den Tisch zurückkehrte.
Er platzierte zwei Bücher auf dem Tisch. Dadurch bedingt, dass er meist hier anzutreffen war, konnte man auch viel von seinen persönlichen Besitztümern finden. Dazu gehörten unter anderem die zwei Bücher, die sich als neue Lektüre entpuppten, wie Ral feststellte. Neugierig linste sie auf deren Einbände.
»Lorian hat sie mir mitgebracht, als er in Castriél war.« Er setzte sich ihr gegenüber und strich die dunkle Seidenkleidung wieder glatt, die er trug. Einige Goldstickereien waren auf dem dunklen Stoff zu erkennen und man erkannte deutlich, dass diese Kleidung hochwertig war - eines Prinzen würdig. »Ich habe bislang noch keinen tieferen Blick riskiert.«
»Eines stammt aus Kiveth!« Ral hob beide Brauen an. Kiveth war die Hauptstadt des gleichnamigen Landes und beherbergte den Hauptsitz der drei großen Magiezirkel. Die Wüstenstadt war damit die Quelle für Wissen für jeden Magier und jene, die es werden wollten! »Ich fange an, Castriél um die Handelsbeziehungen zu beneiden. Dass sie selbst Güter aus Kiveth haben, ist unglaublich! Für gewöhnlich schafft es nur wenig über das riesige Gebirge.«
Lothric hob nur sacht eine Schulter, fand die Begeisterung seiner Freundin jedoch niedlich. Hatte er also richtig vermutet, dass sich Ral für diese neue Lektüre interessieren würde. »Das andere Buch ist ebenfalls aus Kiveth«, meinte er schmunzelnd, was Ral fassungslos auch auf den anderen Einband sehen ließ.
»Huh … Prinz müsste man sein.«
»So toll ist das nicht«, erwiderte Lothric trocken und lehnte sich etwas zurück. »Auch wenn es den einen oder anderen Vorteil manchmal hat, zugegeben.«
Die Beiden merkten nicht, wie sich jemand durch den Garten bewegte. Jemand, der ihren Stimmen folgte. Wohlwissend, wo sie sich befanden. Vermutlich war man sogar auf der Suche nach einem der Beiden. Von Crowns Warnung fehlte jedoch jede Spur – aber ihre Aufgabe lautete auch, vor unliebsamen Besuch zu warnen.
»Also bitte. Wenn mir mein Bruder so etwas mitbringt, dann wäre ich ihm vermutlich um den Hals gefallen. Und ich habe nicht mal einen.« Ral schüttelte den Kopf und zog das eine Buch zu sich, während Lothric hinter sie blickte.
»Würdest du das?«, fragte er dann mit einem gefährlich amüsierten Unterton. »Du kannst es ja an statt meiner tun.«
»Sicherlich.«
»Nicht? Lorian würde dich bestimmt gewähren lassen.« Ein freches Grinsen erschien auf den schmalen Lippen des jungen Prinzen.
»Fängst du schon wieder damit an …« Ral sah vom Buch auf und strafte Lothric mit einem bösen Blick. Als sie jedoch das Grinsen sah, hielt sie inne. Was war denn daran jetzt so lustig? Als die hellen Augen des Jüngeren etwas hinter ihr fokussierten, gefror sie in der Bewegung. Eine böse Vorahnung krabbelte ihre Wirbelsäule hinab. Langsam folgte sie dann dem Blick und begegnete den goldgelben Augen Lorians, der mit einem belustigten Grinsen locker an einer der Säulen lehnte.
»Natürlich steht er da …«, murmelte Ral fassungslos und gar eine Spur hilflos. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit!
Der Ältere richtete sich dann auf und neigte seinen Kopf etwas. Er war nochmal ein gutes Stück größer als Lothric und trug mittlerweile nicht mehr seine komplette Rüstung wie noch am Morgen. »Verzeiht mein unangemeldetes Erscheinen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du bereits Gesellschaft hast, Bruder.« Sein Blick glitt hinüber zur jungen Frau und sein Mundwinkel hob sich. »Aber schön zu sehen, dass alles in Ordnung ist nach dem abenteuerlichen Ausflug heute Morgen.«
Könnte Ral im Boden versinken, würde sie es nun liebend gern tun.
»Schon gut. Ich freue mich dich zu sehen, auch wenn ich erstaunt und gleichermaßen verwundert darüber bin, wie du es geschafft hast, den ganzen Leuten zu entkommen.« Lothric schien wenig bis gar kein Mitleid mit seiner Freundin zu haben. Allerdings bewertete er diese Zusammenkunft auch als angenehm und keinesfalls als schlimm. Wie er Ral vertraute, vertraute er auch seinem älteren Bruder. Insofern inoffiziell klang es auch, wenn sie miteinander sprachen.
Und Lorian schien keinerlei Probleme damit zu haben, sich anzupassen, wenngleich sie nicht allein waren. Die junge Frau erwies sich jedoch auch nicht als Fremde; im Gegenteil. »Ja, mich erstaunt es auch. Aber ich bin froh darum. Ich habe kaum atmen können heute, ohne eine Frage beantworten zu müssen. Fraglich, wie lange das so bleibt.«
Während der ältere Prinz nun zu ihnen gelaufen kam, fuhr sich Ral einmal mit der Hand über das Gesicht. Dieser Tag machte sie fertig.
»Es freut mich auch, Euch zu sehen«, kratzte Ralvisae den letzten Rest an Anstand zusammen, um sich nicht noch mehr oder ein drittes Mal an diesem Tag vor Lorian zu blamieren. Verlegen wich sie seinem Blick aus, als er sie erneut ansah. Wie auch sein jüngerer Bruder besaß er einen Blick, der unter die Haut gehen konnte. Mit dem Unterschied, dass ihre Wangen nur beim Älteren anfingen zu glühen.
»Nochmal zurück zu der um den Hals fallen Thematik …«, schnitt Lothric unterdessen erneut das Thema an, als er Ral beobachtete.
Wie in Zeitlupe sah sie hinüber zu ihrem besten Freund und „Wenn Blicke töten könnten“ bekam in diesem Moment eine ganz neue Bedeutung.
»Schon gut, schon gut!« Lachend hob Lothric beide Arme und auch Lorian ließ ein leises Lachen hören. »Dann lass uns da weitermachen, wo wir gerade aufgehört haben.«
Wer solche Freunde hatte, brauchte wohl keine Feinde.