W O H N Z I M M E R W U N D E R W E L T E N
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N u r__e i n__H a u c h
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Quelle
» Von der allerersten Sekunde an hatte Sophie diese wunderschöne massive Tür aus dunklem Walnussholz geliebt. Trotz ihrer Größe und dem vergoldeten Griff wirkte sie niemals ausladend oder dekadent, im Gegenteil; sie strahlte eine Wärme und Anziehungskraft aus, der sich Sophie nicht entziehen konnte. In dieser schmalen Gasse, die aus nicht viel mehr als gedrungenen Häusern und jede Menge Kopfsteinpflaster bestand, wirkte sie umso mehr wie etwas Magisches. Vielleicht lag es aber auch an dem kleinen Fenster, das in die Eingangstür des kleinen Ladens ihrer Tante eingelassen war, und das gerade so groß war, dass man erahnen konnte, was sich dahinter verbarg. Die Holztür würde von zwei Fenstern flankiert, doch beide waren zu weit oben angebracht und zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Selbst wenn Sophie sich streckte so weit sie konnte – es war unmöglich alles zu sehen. Also bettelte und drängte sie ihre Tante Amélie schon fast dazu, sie möge doch nun endlich die Türe aufschließen und ihr den Laden zeigen, von dem sie schon so oft Geschichten gehört hatte.
Das Schloss öffnete mit einem leisen Klacken und sogleich ertönte der sanfte Klang eines Glöckchens, als Amélie die Tür aufschob und Sophie hineinließ. Diese fand sich in einem dunklen Raum wieder, so dunkel, dass sie nicht mehr als Lichtreflexe und etwas Grau erkennen konnte. Sie gab sich Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen; das hier war garantiert nicht das kleine Wunder, das ihre Tante ihr versprochen hatte.
Sie schmunzelte bei dieser Erinnerung. Wie jung sie noch gewesen war, als Amélie sie das erste Mal mitgenommen hatte. Ob es die kribbelnde Neugier oder doch nur die Einsamkeit war, die sie ihre Tante bedrängen ließ, ihr zu zeigen, wohin sie die meiste Zeit des Tages verschwand, vermochte sie jetzt, gut zwanzig Jahre später, nicht mehr zu sagen. Obwohl eher letzteres der Grund war, denn einsam war sie zu dieser Zeit auf jeden Fall gewesen. Noch zu jung, um in die Schule zu gehen, und gerade erst mit dem Verlust ihrer Eltern gezeichnet.
Noch immer war es viel zu dunkel, um auch nur eine winzige Kleinigkeit zu erkennen, und langsam wurde Sophie ungeduldig. Was konnte es spannendes hinter dieser wunderschönen Tür geben, das nun hier vollkommen im Dunkeln lag? Warum verbrachte ihre Tante so viel ihrer Zeit hier, anstatt sich um sie zu kümmern und mit ihr zu spielen?
Schmollend drehte sie sich um, zurück zu der Tür, die mittlerweile ins Schloss gefallen war. Sie wollte hinaus, auf die Straße, wo es nach süßem Gebäck und Frühlingsblumen duftete. Sophies Hand lag schon auf der Tür, fuhr tastend und suchend über das weiche Holz, als sie inne hielt. Irgendetwas hielt sie davon ab, noch länger nach dem Türgriff zu suchen, etwas, das ihr sanft und weich und beinahe liebkosend in die Nase stieg. Ein Geruch, der so viel schöner war als das, was sie draußen erwartete. Vielleicht sogar besser als der Duft von frisch gebackenen Croissants.
Sophie bemerkte erst, dass sie die Augen geschlossen hatte, als sie sie öffnete und der Laden auf einmal in ein warmes Licht getaucht war. Staunend sah sie sich um – der Raum war klein und verwinkelt und voll gestellt; überall waren Tische mit mindestens hunderten von Schubladen und Regale, die bis unter die Decke ragten, mindestens fünf mal so hoch wie Sophie groß war. Alles schien fein säuberlich sortiert zu sein, jede Schublade sorgfältig geschlossen und in einer geschwungenen Schrift mit Etiketten versehen. Es war vollkommen still, nicht einmal der Lärm der Leute vor der Tür kam bis zu ihnen durch. Das kleine Mädchen hatte das Gefühl, sich wahrhaftig in einer vollkommen anderen Welt zu befinden.
Lavendel. Damals hatte sie den Geruch von Lavendel in der Nase gehabt, als sie kurz davor war, dieses Wunder zu verlassen ohne auch nur einen Blick darauf geworfen zu haben. Wäre sie damals nicht zu überwältigt und überrascht gewesen, hätte sie noch so viele andere Düfte wahrnehmen können – denn während es für manche kaum möglich war, auch nur einen der Gerüche wahrzunehmen oder auch nur zu benennen, hatte Sophie schon immer eine besonders sensible Nase gehabt. Und Lavendel hatte sie schon immer am meisten geliebt.
Gedankenverloren betrachtete sie die sorgfältig aufgereihten Flacons und Fläschen auf dem Tisch vor ihr. Die verschiedenen Glasgefäße waren mit Amélies Handschrift versehen: auf der einen Seite reihten sich Jasmin-, Lavendel- und Rosenessenzen aneinander, aber auch exotischere Blüten wie Nachthyazinthe und Neroli. Daneben waren die Gewürze beinahe penibel angeordnet; Ingwer, Vanille, Nelken, Zimtrindenöl und viele weitere, die Sophie allerdings bei weitem nicht so häufig für ihre Parfums verwendete. Auch wenn sie es liebte, immer wieder vollkommen neue Düfte zu entdecken, indem sie die verschiedensten Öle und Essenzen miteinander verband und kombinierte, so griff sie doch immer wieder auf ähnliches zurück. Bei ihrem ersten Besuch als Kind hatte sie wohl kaum erfassen können, was für ein Wunderwerk Amélie Tag für Tag in ihrem Laden immer wieder aufs Neue vollbrachte.
Der Tag war schon lange der Nacht gewichen, und die schwachen Lampen beleuchteten nur spärlich den Raum. Sophie wusste nicht, ob es der Kummer und die Trauer war, die sie immer wieder zurück in den Laden führten, oder die Macht der Gewohnheit. Wie viele Tage, Stunden, Sekunden hatte sie hier in ihrem Leben schon verbracht?
Vorsichtig, aber routiniert öffnete sie eines der vorderen Gefäße, wohl einer der letzten Düfte, an denen ihre Tante gearbeitet hatte, und ließ mithilfe einer Pipette einen einzigen Tropfen auf ihr Handgelenk fallen. Sanft und bedacht hob sie die Hand zu ihrer Nase – und wie von allein fand der Duft seinen Weg in ihr Innerstes, bis er an jedem ihrer Sinne Anklang fand. Dieses Parfum war schlichtweg überwältigend. Fließend ging ein Geruch in den anderen über, überlagerte den nächsten und wie aus dem Nichts kam ein weiterer, vollkommen neuer hinzu, der sich wunderbar harmonisch zu den anderen fügte. Sophie vermochte nicht zu sagen, welche Bestandteile dieser Duft enthielt, und es war ihr unmöglich, jeden einzelnen herauszufiltern, so sehr sie sich auch konzentrierte. Auf der Suche nach Hinweisen drehte sie das Gefäß, und was sie dort las trieb ihr die Tränen in die Augen. Nur zwei Worte standen auf dem Aufkleber, in einer vertraut geschwungenen Handschrift: » Für dich. «
Sie konnte nicht sagen, was ihr Leben mehr verändert hatte; war es das erste Mal, als sie Amélies Laden betreten hatte, oder doch der Moment, als Sophie den Flacon gefunden hatte, der eigens für sie bestimmt war – lange nachdem Amélie gestorben war? Mit den Jahren war der Wunsch in ihr, eines Tages das Lebenswerk ihrer Tante fortzuführen, immer weiter gewachsen, doch nur Sekunden nach diesem einen Augenblick war sie sich in ihrem Entschluss sicher; obwohl sie wusste, dass sie niemals an Amélies Kreationen herankommen würde, so blieb es doch an Sophie, ihr Vermächtnis in Ehren zu halten.
Ihre zarte Hand, mittlerweile gezeichnet vom Alter, zitterte leicht, doch sie zögerte nicht, als sie zum letzten Mal die schwere Holztür zuzog und den schmalen Messingschlüssel im Schloss herumdrehte. Mit leisem Kummer im Herzen setzte sie einen langsamem Schritt hinaus in die kühle Herbstluft. Als sie den Blick hob, um noch einmal den Anblick des Ortes, den sie so sehr liebte, in sich aufzunehmen, seufzte sie vernehmlich und ihr Atem tanzte vor ihr in der Luft. Dunkelrote und strahlend orangene Herbstblätter wirbelten um Sophie herum, als sie sich, mit einer Hand auf auf ihren Stock gestützt, auf den Weg machte; in der anderen Hand hielt sie einen Flacon wie eine kleine Kostbarkeit. Ein leises Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen, während sie erneut tief in Gedanken versank, getragen von diesem einen Duft, der unendlich viele Erinnerungen zurückzubringen vermochte. Zurück zu unzählbar vielen glücklichen Sekunden in Amélies Gesellschaft, eingehüllt in den Geruch von Zimt, Vanille und Lavendel.
» [font='Jokerman,sans-serif']A n m e r k u n g . . .
Parfums und vor allem Gerüche allgemein haben mich schon immer fasziniert – es gibt doch nichts schöneres, als sich mit einem angenehmen Duft zu umgeben? Doch, es gibt noch etwas schöneres, etwas, das ich noch mehr liebe – wenn ein einzelner Duft hunderte Erinnerungen zum Leben erweckt und man sich in diesem einen Moment genau so fühlt, als würde man die Erinnerung erneut durchleben. Entstanden ist diese Kurzgeschichte wie so viele für einen Wettbewerb, dem ersten der diesjährigen Saison um genau zu sein. Ich glaube, es war sogar der Abgabetag und ich hatte schon fast aufgegeben, als ich diese Dokumentation über traditionelle Parfum Herstellung in Frankreich gesehen habe – und zusammen mit dem Thema des Wettbewerbs (Erinnerungen) hat es dann beinahe sofort Klick gemacht. Ich liebe diese Momente! Ich freue mich, eure Gedanken zu diesem Text zu lesen. ♥